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Full text of "Geheime Gesellschaften, Geheimbünde und Geheimlehren"

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N'EDI. 


RAN8FER 


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Geheime  Gesellschaften, 
Geheimbunde  und  Geheimlehren. 

, Von 

Charles  William  Heckethorn. 

Autorisierte  deutsche  Ausgabe, 
bearbeitet  von 

, LEOPOLD  KÄTSCHER. 


in  Ur*.unschwcig 
LEIPZIG  1900 


RENGERSCHE  BUCHHANDLUNG 

CEBHARIJT  & WILISCH. 


-1  M- 


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HARVARD 

luNiVERSlTY 

LIBRARY 

JUN  25  1957 


Druck  von  Hugo  Wilisch  in  Chemniu. 


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Vorbemerkungen  des  Bearbeiters. 

Jahrzehntelang  beschäftigte  der  anziehende  Gegenstand  dieses 
Buches  die  Aufmerksamkeit  des  bekannten  englischen  Schriftstellers 
Heckethorn.  Es  hatte  für  ihn  einen  eigentümlichen  Reiz,  die 
zahlreichen,  zum  Teil  sehr  schwer  zugänglichen  Quellen  über 
die  verschiedenartigsten  geheimen  Verbindungen  etc.  aller  Länder 
und  Zeiten  zu  erforschen.  Endlich  entschlofs  er  sich,  die  Er- 
gebnisse seiner  Studien  in  dem  vorliegenden  Werk  niederzulegen, 
dessen  zweite,  gründlich  umgearbeitete  Auflage  ich  hiermit  in 
freier  Verdeutschung  darbiete.  Wir  haben  es  da  mit  einer  sehr 
verdienstlichen  Arbeit  zu  thun,  denn  sie  zeichnet  sich  nicht  nur 
durch  wohlthuende  Objektivität  der  Darstellung  aus,  sondern  bildet 
auch  die  bislang  zusammenfassendste  und  ausführlichste  Darstellung 
eines  Stoffes,  welcher  angesichts  des  allgemein  herrschenden 
Interesses  für  die  Geheimnisthuerei  den  weitesten  Kreisen  entgegen- 
kommt. Des  Verfassers  Arbeit  war  mühsam  und  gewissenhaft,  seine 
Zusammenstellung  ist  sorgfältig,  sein  Ton  fast  durchweg  mafsvoll, 
seine  Gelehrsamkeit  ebenso  grofs  wie  seine  Belesenheit.  In  letzterer 
Beziehung  sei  auf  das  ungemein  reiche  Quellenverzeichnis  hin- 
gewiesen. Dieses  Verzeichnis  hat  es  dem  Autor  und  dem  Be- 
arbeiter ermöglicht,  den  Leser  mit  der  nur  zu  üblichen  Fülle  von 
Fufsnoten  und  bibliographischen  Verweisungen  zu  verschonen. 


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IV 


Vorwort. 


Was  die  Auswahl  der  aufgenoinmenen  Gesellschaften  u.  s.  w. 
betrifft,  so  fehlt  wohl  kaum  etwas,  worüber  Heckethorn  sich  über- 
haupt Aufschlüsse  verschaffen  konnte,  wenngleich  dieselben  zu- 
weilen, wie  das  ja  in  der  Natur  der  Sache  liegt,  nicht  sehr  ein- 
gehend sind.  Von  den  bestehenden  Vereinigungen  erscheinen 
alle  eingereiht,  die  entweder  an  sich  geheim  sind  oder,  wenn 
bekannt,  geheime  Riten  und  Zeremonien  oder  geheime  Zeichen 
und  Worte  haben  oder  geheime  Lehren  predigen  oder  ein  geheimes 
Verfahren  besitzen.  Deshalb  werden  z.  B.  auch  die  Alchimisten, 
die  Inquisition,  der  Jesuitenorden  u.  dgl.  m.  behandelt. 

Obschon  Heckethoms  Buch  zweifellos  das  »Standard  work" 
über  den  Gegenstand  ist,  bringt  es  der  letztere  mit  sich,  dafs  es  nicht 
an  Irrtümern  fehlt;  soweit  ich  konnte,  habe  ich  dieselben  teils  im 
Text,  teils  im  »Anhang11  richtig  gestellt.  Dies  sowohl,  als  auch  ge- 
wisse Breiten  der  Darstellung  und  Schärfen  im  Meinungsausdruck 
haben  manche  redaktionelle  Änderung  bei  der  Verdeutschung 
nötig  gemacht;  desgleichen  die  Rücksichtnahme  auf  die  neuesten 
Daten  und  Ereignisse,  sowie  auf  das  Verständnis  des  deutschen 
Lesers.  Selbstverständlich  mufste  ich  insbesondere  die  lediglich 
für  das  englische  Publikum  berechneten  Stellen  kürzen,  zuweilen 
auch  weglassen  und  dafür  den  im  Originalwerk  etwas  stiefmütter- 
lich bedachten  deutschen  Verhältnissen  mehr  Raum  widmen.  Dies 
gilt  namentlich  von  den  Partien  über  die  Freimaurerei,  wo  ich  nicht 
nur  viele  einzelne  Daten  etc.,  vornehmlich  aus  den  letzten  Jahren, 
sondern  auch  ein  ganzes  Kapitel  (»Deutsches  und  Nachträge") 
eingeschaltet  habe.  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  nebenbei  bemerkt, 
dafs  das  strenge  Urteil  des  Verfassers  über  die  moderne  Freimaurerei 
sich  in  erster  Reihe  auf  die  englische  und  erst  in  allerletzter  — 
wenn  überhaupt  - auf  die  deutsche  Maurerei  bezieht. 

Wesentliche,  d.  h.  die  Anschauungen  des  Autors  betreffende 
Änderungen  habe  ich  nicht  vorgenommen.  Dagegen  hielt  ich 
es  stellenweise  für  Gewissenspflicht,  die  Einteilung  und  Anordnung 


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Vorwort. 


V 


des  Stoffes  erheblich  abzuändern  und  die  Daten  bis  zur  neuesten 
Zeit  zu  ergänzen.  Bei  meinen  Richtigstellungen  von  Angaben 
und  bei  meinen  Ergänzungen  gebe  ich,  wo  sie  nicht  auf  eigener 
Kenntnis  beruhen  oder  von  Heckethorn  der  mir  in  dankens- 
werter Weise  an  die  Hand  gegangen  ist  — herrühren,  meine 
Quellen  an.  Ich  hoffe,  durch  die  Art  meiner  Bearbeitung  die 
ohnehin  grofse  Nützlichkeit  des  Buches  noch  beträchtlich  gesteigert 
zu  haben ; freilich  dürfte  mir  kaum  gelungen  sein,  es  gänzlich  von 
thatsächlichen  Unrichtigkeiten  zu  befreien.  Bei  so  »geheimen“ 
Stoffen  halte  ich  das  überhaupt  für  unmöglich  und  daher  rechne 
ich  für  den  Verfasser  und  für  mich  auf  ein  reiches  Mals  von 
Nachsicht  — wir  haben  unser  Möglichstes  gethan. 

Ende  Februar  1 900. 

Leopold  Kätscher. 


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Inhalts  -Verzeichnis. 


Vorwort  des  Bearbeiters . ^ 

Einleitung  des  Verfassers  . . 

LU 

1 

Fünftes  Buch: 

Ketzer  und  Ritter. 

Erstes  Buch: 

Alte  Mysterien. 

Ketzer  (Albigenser,  Katharen, 
Waldenser.  Troubadours 

etc.) 

113 

Die  Magier  und  der  Zoroastris- 
mus 

Militär  und  Religion  (Kitter) 

120 

17 

Die  Tempelherren  I " " — 

122 

Die  Milhrasanbcter  . . . . 

?5 

BrahminenundOymnosophisten 

26 

Sechstes  Buch: 

Die  ägyptischen  Mysterien  . . 

33 

Geheimgerichte. 

Krata  Kepoa  

40 

Wandlungen  der  Isis-Legende . 

46 

Die  heilige  Feme  (Westfalen) 

133 

Chinesische  und  lapanischeMys- 
terien 

31 

Die  Beatt  Raoli  (Sicilien)  . . 

Die  Inouisition  7 7 7 T 

~TT7 

TJÜ 

Mexikanische  und  peruvianische 
Mysterien 

54 

Der  Ku-Klux-Klan  (Verein. 

Staaten)  

152 

Die  Druiden  

59 

Skandinavische  Mysterien  . . 

63 

Siebentes  Buch: 

Zweites  Buch: 

F.manationisten. 

Mystiker. 

Die  Alchimisten 

157 

Die  Kabbala  

69 

akob  Böhme 

161 

Die  Söhne  der  Witwe  ...  74 

imamiel  Swedenborg  . ! . 

16.5 

78 

Der  Mnrtinismus  . . . „ 

_LH> 

Die  Fssener Kl 

Rosen  kreuzer  . , , , * 

171 

Asiatische  Briider  .... 

182 

Drittes  Buch: 

Christliche  Mysterien. 

Die  Mysterien 

87 

Achtes  Buch: 

Gesellschaftsfeindliche  Ver- 
einigungen. 

Die  Apokalypse 

90 

Viertes  Buch: 

Die  Thugs  (Indien)  .... 

191 

Die  Brenner  (Frankreich!  . T” 

196 

Ischmaeliten. 

Die  Garduna  (Spanien)  . . 

201 

Die  Camorra  (Neapel)  . . . 

20/ 

Die  Weisheitsloge  (Afrika)  . . 

95 

Die  Mala  Vita  (Neapel)  . . 

216 

Die  Assassinen  . , , , , 

98 

Die  Matia  (Sicilien)  . . ! . 

217 

Die  Roschenia  (Afghanistan)  . 

103 

Bettler  . Strolche  und  Diebe 

221 

Die  Drusen  (Syrien  und  Agyp- 

Die  Jesuiten 

223 

teil) 

105 

Die  Skopzen  (Ku Island)  7 — 

228 

Die  Derwische  . . . 

Hi) 

Die  Mucker  (Deutschland) 

235 

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I n hal  ts -Verzei  ch  n is. 


VII 


Neuntes  Buch: 

Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 

Der  Wilhelmsbader  Konvent 
Unter  den  Napoleons  und  der 
Restauration 

434 

Die  Illuminaten 

241 

Die  Freimaurerei  in  Italien 

441 

Die  Deutsche  Union  . . . 

250 

Cagliostro  und  die  ägyptische 
Maurerei 

Französische  Gesellen-Verhin- 

446 

düngen  

251 

Adoptionslogen  und  zweige- 

Deutsche  Qesellen-Verhimhm- 

schlechtTge  Maurerei  . . 

449 

gen 

Schismatische  Riten  und  Sekten 

456 

Deutsche  Studenten  . 

265 

Verbreitung  und  jetziger  Stand 
Verfolgungen 

4 59 

463 

Zehntes  Buch: 

Deutsches  und  Nachträge 

468 

Politische  Geheimgesellschaften. 

Chinesische  Geheimgescllschaf- 

ten  ........  211 

Die  Zwecklosigkeit  der  mo- 

dernen  Freimaurerei  ~ . 
Zwölftes  Buch: 

JiJ 

Die  Comuneros  (Spanien) 

Die  Hetairia  (Griechenland)  . 
Die  ( jrbonari  . 7 7 7 7 T 

278 

281 

291 

Verschiedene  andere  Vereinigungen. 

A-B-C-Freunde 477 

Moselklub  und  Tugendbund 

Abeliten  . , . . . . . 

(Deutschland)  .... 
Der  Babismus  (Persien)  . . 

308 

Accoltellatori  .... 

477 

312 

Akademie  der  Alten . . 

478 

Die  Nihilisten  (Rufsland)  . . 

318 

Almusseri , . . . . . 

_zLZS 

Allerlei  italienischef  iesellschaf- 

Anarchisten 

47*i 

ten 

Antifreimaurerische  Partei 

4 <80 

Irische  Gesellschaften  . . 

350 

Antifreimaurer 

481 

Napoleonische  und  antinapo- 

Apokalypsen-Ritter  .... 

4SI 

leonische  ( iesellschaften 

3hl 

Arbeitsntter 

481 

Allerlei  französische  Gesell- 

Areoiten  . ... 

489 

schäften  (19.  lahrhundert) 
Die  Internationale  ... 

365 

Belly  Paaro  

483 

370 

*ockreiter 

"TKT 

Slawische  Gesellschaften . . 

370 

Cambridger  Gehei  mgesellschaf  t 

4S4 

Türkische  und  armenische  Ge- 

Cougourde 

485 

Seilschaften 

3X4 

Die  Dreizehn 

485 

Duk-Duk 

485 

Elftes  Buch: 

Die  Freimaurerei. 

Egbo-Gesellschaft  (Obeah) 
Erlösunesorden  ..... 

486 

486 

Fraticelh 

486 

Die  Tempellegende  .... 

389 

Grofse  Armee  der  Republik  . 

487 

Überlieferte  und  wahre  Ge- 

Grüne  Insel 

487 

schichte 

393 

Hanfraurher 

487 

Riten  und  Grade 

397 

Hampari 

Gebräuche  und  Logen  . . . 

399 

Heldin  von  lericho  .... 

488 

Lin  weihungszeremonien  . . 

403 

Huseanawer 7~ 

_j!S9 

Royal  Arch 

411 

Indianische  Gesellschaften 

Grofsbautneister 

_jLLJ 

Die  läger 

491 

Ritter  von  Kadosch  . . 

416 

ehu-Gcsellschaft 

491 

Prinz  von  Rose-Croix  (Adler- 

<alifornische  Gesellschaft  . . 

49? 

Ritter) 

419 

Karpokratier 

492 

Misraim-  und  Memphis-Ritus 

422 

Klo  ibergoll  7 7 7 7 7 T~ 

492 

Das  Klerikal  der  I empelherren 

424 

Know-Nothings 

493 

Die  Freimaurerei  in  irofshri- 

Kumaische  Mysterien  . . . 

ludlamshöhle 

493 

tannien  und  Frankreich  . 

42.8 

493 

Clermontsches  Hochkapitel, 

Magierorden 

494 

strikte  und  laxe  ()  iser- 

Maharadschas 

494 

vanz , „ , . , . 

_tu 

Mano  Negra 

494 

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VIII 


I nhal  ts  -Verzeich  nis. 


Melanesische  Gesellschaften  . 

495 

Sonderbare  Gesellen  . . . 

507 

Menschliche  Leoparden  . . 

496 

Sophisier 

507 

Minas  

497 

Stern  von  Bethlehem  . . . 

507 

Moderne  Druiden . . . . 

497 

Tabakologische  Gesellschaft  . 

508 

Miimhn-Dsrhnmhn . _ 

49S 

leppa  . . . . . . T” 

“3W 

Odd  Fellows , , , . . 

jas 

Idieosophen 

511 

O-Kih-Pa 

499 

Utopia  (All-Schlaralha)  . — 

S 1 3 

Pantheisten 

499 

Vendieatori  . . . . 

51 5 

Patriotischer  Orden  der  Söhne 

Verrückte  Ratsherren  . . . 

513 

Amerikas 

500 

Wahahis 

513 

Phi-Beta-Kappa 

500 

Wiedergeburt.  alleemeine  . . 

514 

Phintiasritter 

501 

Anhang: 

Pi  leer 

501 

Portueiesische  Gesellschaften 

50  t 

I.  Nachträge  des  Herausgebers: 

Purrah . . . . , . . _ 

1.  Mexikanische  Mysterien 

517 

Rehekkaiten 

503 

2.  Gnostiker  u.  Ketzer 

517 

Ritterorden  .... 

so* 

3.  Marti nisnius  .... 

51 S 

Rothäute  . . . . . . . _ 

404 

4.  Freimaurerei  in  England 

518 

Salpeterer 

504 

5~~ Gamorra  und  Mafia  . 

_ilä 

Sic  l- Fanatiker 

505 

II.  Quellenverzeichnis  . . . 

.525 

Silberkreis-Ritter  . , _ 

506 

III.  Sachregister 

536 

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Einleitung. 


Einteilung.  — Religiöse  Gesellschaften.  — Politische  Gesellschaften.  — 
Ziele  der  letzteren.  — Der  vollkommenste  Menschentypus.  — Ursachen 
der  hohen  geistigen  Entwicklung.  — Urkultur.  — Die  wahren  Lehren  von 
Natur  und  Dasein.  — Die  grundlegenden  Prinzipien  der  wahren  Er- 
kenntnis im  Besitz  der  Alten.  — Die  mystische  Lehre.  — Verlust  der 
wahren  Erkenntnis.  — Ursprünglicher  Geist  der  Mysterien.  — Ergebnisse 
ihres  Verfalls.  — Ihre  astronomischen  Seiten.  — Ihr  düsterer  Charakter. 
— Einheitlichkeit  der  Dogmen.  — Jetzige  Überflüssigkeit  der  geheimen 

Gesellschaften. 

Die  geheimen  Gesellschaften  lassen  sich  in  folgende  Gruppen 
teilen:  1.  religiöse,  wie  z.  B.  die  eleusinischen  oder  die  ägyp- 
tischen Mysterien;  2.  militärische,  wie  die  Tempelherren;  3.  gericht- 
liche, z.  B.  die  Vehmgerichte;  4.  wissenschaftliche,  wie  die  Al- 
chemisten; 5.  bürgerliche  (Freimaurerei  etc.);  6.  politische  (Car- 
bonari  u.  dgl.) ; 7.  gesellschaftsfeindliche,  wie  die  Garduna.  Doch 
läfst  sich  die  Grenze  nicht  immer  genau  ziehen:  die  politischen 
Vereinigungen  z.  B.  müssen  notwendig  das  bürgerliche  Leben 
beeinflussen  und  manche  wissenschaftlichen  namentlich  die 
Rosenkreuzer  — befafsten  sich  auch  mit  Gotteslehre.  Es  ist 
daher  praktischer,  die  geheimen  Gesellschaften  blofs  in  zwei 
Hauptgruppen  zu  teilen:  in  religiöse  und  politische. 

Geheimgesellschaften  religiöser  Art  kannte  schon  die  älteste 
Geschichte.  Solche  entstanden  zuerst  in  einer  Zeit,  da  die  von 
den  Urmenschen  besessene  wahre  religiöse  Erkenntnis  (d.  h.  die 
Kenntnis  der  Beschaffenheit  des  Weltalls,  der  ewigen  Schöpfer- 
kraft und  der  natürlichen  Weltgesetze)  bei  der  Mehrheit  der 
Menschen  in  Verfall  zu  geraten  begann.  Die  wahre  Erkenntnis 
erhielt  sich  grofsenteils  in  den  alten  „Mysterien".  Freilich  waren 
diese  bereits  einigermaßen  geringerwertig  als  die  ursprüngliche 
Naturweisheit,  denn  sie  stellten  nur  die  Erscheinungen  der  äufseren, 
zeitlichen  Natur  dar,  nicht  mehr  die  Wirklichkeiten  der  inneren, 
ewigen  Natur,  deren  äufserliche  Kundgebung  das  sichtbare  Welt- 
all ist. 

Heckethorn-Katscher,  Geheim  blinde  u.  Gehcimlehren.  1 

4 


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Einleitung. 


Die  Geheirngesellschaften  politischer  Richtung  dienten  ihrer 
Zeit  als  ntäfsigende  Elemente  und  Sicherheitsventile  und  der  Zu- 
kunft als  mächtige  Hebel.  Ohne  sie  würde  die  Gewaltherrschaft 
in  der  gesamten  Weltgeschichte  allmächtig  gewesen  sein;  auch 
würde  sie  kein  Ziel  und  keine  Wirkung  gehabt  haben,  wenn  sie 
nicht  den  menschlichen  Willen  zum  Widerstand  aufgestachelt  hätte. 

Jede  geheime  Gesellschaft  ist  ein  Ergebnis  angesammelter, 
festgelegter  Überlegung,  folglich  eine  That  des  Gewissens.  Man 
kann  sagen,  dafs  diese  Gesellschaften  in  der  Geschichte  einiger- 
mafsen  den  Ausdruck  des  Gewissens  bilden,  denn  jedermann 
wohnt  ein  Etwas  inne,  das  zu  ihm  gehört,  sich  aber  aufserhalb 
seiner  Person  zu  befinden  scheint.  Dieses  dunkle  Etwas  ist 
stärker  als  er;  deshalb  kann  er  sich  nicht  gegen  dessen  Herrschaft 
auflehnen  oder  sich  demselben  irgendwie  entziehen.  Dieses 
Etwas  ist  unantastbar.  Der  Dolch  des  Mörders,  das  Beil  des 
Henkers  kann  es  nicht  erreichen;  es  läfst  sich  durch  Gebete  nicht 
erweichen,  durch  Lockungen  nicht  verführen,  durch  Drohungen 
nicht  schrecken.  Es  ruft  in  uns  eine  Zweiheit  hervor,  die  sich 
in  Gestalt  von  Gewissensbissen  fühlbar  macht.  Der  tugendhafte 
Mensch  lebt  in  Seelenfrieden  und  wird  von  jenem  geheimnis- 
vollen Etwas  nicht  gequält.  Wer  aber  Übles  thut,  dessen 
besserer  Teil  lehnt  sich  gegen  das  Üble  auf.  Nun  denn,  die 
Geheimgesellschaften  drücken  diese  Zweiheit  im  grofsen  aus:  in 
ihrer  Anwendung  auf  ganze  Völker;  sie  sind  in  der  Politik  jenes 
dunkle  Etwas,  das  auf  das  öffentliche  Gewissen  einwirkt  und 
rächende,  reinigende  Gewissensbisse  erzeugt,  die  niemand  sieht, 
die  aber  jedermann  fühlen  kann  — wie  ein  unsichtbarer,  weit 
entfernter  Himmelskörper,  dessen  Licht  unser  Auge  wahrzu- 
nehmen vermag. 

Thatsächlich  entstehen  viele  Geheimgesellschaften  durch  den 
Wunsch  nach  Rache,  aber  edler  oder  weiser  Rache,  welche,  wohl 
zu  unterscheiden  von  persönlichem  Groll,  nicht  Personen,  sondern 
Einrichtungen  und  Ideen  zu  treffen  und  zu  bestrafen  sucht.  Wir 

haben  es  da  mit  jener  grofsartigen , vom  Vater  auf  den  Sohn 

vererbten,  frommen  Volksrache  zu  thun,  die  den  Hafs  heiligt, 
die  Verantwortlichkeit  des  Menschen  vergrößert  und  seinen 
Charakter  erhöht.  Ja,  es  giebt  einen  berechtigten  und  not- 
wendigen Hafs,  der  die  Völker  zu  retten  pflegt  den  Hafs 

gegen  das  Böse.  Wehe  dem  Volk,  das  die  Heuchelei,  die  Un- 
duldsamkeit, die  Knechtschaft  und  den  Aberglauben  nicht  zu 
hassen  versteht! 

Die  Sektierer  verfolgen  das  Ziel,  den  idealen  Tempel  des 
Fortschritts  zu  erbauen  und  in  die  Herzen  schlummernder  oder 
geknechteter  Nationen  die  Keime  einer  künftigen  Freiheit  zu 
pflanzen.  Der  herrliche  Bau  ist  freilich  leider  noch  nicht  vollendet 

f 


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Einleitung. 


3 


und  wird  es  vielleicht  niemals  sein;  allein  schon  der  Versuch 
zu  seiner  Errichtung  verleiht  den  geheimen  Gesellschaften  sittliche 
Gröfse,  während  ohne  solche  Endzwecke  ihr  Kampf  zu  klein- 
lichen, selbstsüchtigen  Parteistreitigkeiten  herabsinken  würde.  Auf 
jenem  Ziel  beruht  der  Bestand  und  die  Berechtigung  der  poli- 
tischen Geheimgesellschaften,  denen  viele  Staaten  mittelbar  oder 
unmittelbar  ihr  Dasein  und  ihre  Freiheiten  verdanken,  wie  z.  B. 
das  jetzige  Griechenland  und  das  moderne  Italien. 

Aber  die  ersten  Geheimgesellschaften  wurden  weniger  für 
politische  als  vielmehr  für  religiöse  Zwecke  ins  Leben  gentfen. 
Da  sie  sich  mit  allen  jeweilig  bekannten  Künsten  und  Wissen- 
schaften befafsten,  ist  die  Religion  mit  Recht  die  Altertumswissen- 
schaft der  menschlichen  Kenntnisse  genannt  worden.  Die  ver- 
gleichende Götterlehre  führt  all  die  vielen,  scheinbar  einander 
widersprechenden  und  entgegengesetzten  Glaubensbekenntnisse 
auf  Eine  ursprüngliche,  grundlegende,  wahre  Auffassung  der 
Natur  und  ihrer  Gesetze  zurück;  nur  sind  diese  einfachen  phy- 
sischen Thatsacheh  im  Laufe  der  Zeit  von  den  verschiedenen 
Völkern  in  verschiedener  Weise  gefälscht,  entstellt  oder  sonstwie 
verändert  worden  — teils  absichtlich , teils  zufällig.  Die  rich- 
tige Naturauffassung  war  ein  Vorrecht  der  höchstentwickelten 
Menschenrasse:  der  arischen,  die  ihren  Sitz  im  Norden  des 
Himalajagebirges  hatte  und  deren  Paradies  das  wunderbar  üppige 
Kaschmirthal  mit  seinem  ewigen  Frühling  war.  In  einem  solchen 
Klima  mufste  sich  allmählich  ein  überlegener  Typus  herausbilden, 
gleichsam  die  Quintessenz  jener  üppigen  Natur  und  daher  fähig, 
dieselbe  vollauf  zu  begreifen.  Der  arische  oder  kaukasische 
Mensch  ist  denn  auch  der  einzige  Typus,  der  die  Aufmerksamkeit 
des  Erforschers  der  Geistesgeschichte  der  Menschheit  verdient. 

Es  wäre  müfsig,  untersuchen  zu  wollen , wie  lange  es  ge- 
dauert haben  mag,  bis  der  Mensch  eine  hohe  geistige  Ent- 
wicklungsstufe erreichte.  Das  läfst  sich  ebensowenig  feststellen 
wie  der  Zeitraum,  dessen  die  Spinne  bedurfte,  um  ihr  kunst- 
volles Netz  so  geschickt  spinnen  zu  lernen  oder  wie  die  Zeit 
des  Erscheinens  und  die  Beschaffenheit  der  ersten  Menschen  auf 
der  Erde.  Selbst  die  von  Darwin  aufgefrischte  oder  aufgewärmte 
Lehre  vom  Protoplasma  kann  das  Rätsel  nicht  lösen  helfen.  Nur 
Eines  ist  sicher:  dafs,  wie  wir  aus  uralten  Denkmälern  und 
litteraturartigen  Aufzeichnungen  wissen,  die  Menschen  vor  vielen 
Jahrtausenden  grofse  wissenschaftliche  Kenntnisse  besafsen,  die 
im  Osten  entstanden,  allmählich  nach  dem  Westen  kamen  und 
unterwegs  zum  grofsen  Teil  in  Verlust  gerieten. 

Dafs  solche  Verluste  in  uralten  Zeiten  möglich  waren,  kann 
nicht  überraschen,  denn  bekanntlich  kamen  sie  auch  noch  in 
geschichtlichen  Zeiten  vor.  Auf  den  Glanz  der  klassischen  Kunst, 

r 


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4 


Einleitung. 


Wissenschaft  und  Gelehrsamkeit  des  Altertums  folgte  die  geistige 
Nacht  des  Mittelalters  mit  ihrer  finstern  Unduldsamkeit  und 
Unterdrückung.  Tausende  von  Jahren  vor  unserer  Zeitrechnung 
wufsten  die  Chaldäer,  dafs  die  Erde  rund  ist  und  von  Ost  nach 
West  eine  gröfsere  Ausdehnung  hat  als  von  Nord  nach  Süd. 
Dafs  sie  auch  ihren  Umfang  kannten,  geht  daraus  hervor,  dafs 
sie  sagten,  man  brauche  365  Tage  zu  ihrer  Umwanderung,  was 
ziemlich  genau  stimmt,  denn  wenn  jemand  ganz  gemächlich  — 
die  Stunde  zu  rund  -I1/«  Kilometern  gerechnet  — um  die  Erde  herum 
spazierte,  würde  er  in  einem  Jahre  zu  Rande  kommen.  Trotzdem 
behaupteten  die  in  Salamanca  mit  Kolumbus  disputierenden  Mönche 
steif  und  fest,  die  Erde  sei  flach.  In  Blaew's  „Novus  Atlas"  vom 
Jahre  16-12  findet  sich  eine  Karte  von  Afrika,  auf  der  alle  Städte, 
Dörfer,  Seen  und  Flüsse,  die  in  unserem  Jahrhundert  vermeintlich 
zum  erstenmal  entdeckt  wurden,  fein  säuberlich  eingezeichnet  sind. 
Das  ist  doch  gewifs  nicht  sehr  lange  her  und  dennoch  ging 
diese  Kenntnis  verloren  und  mufste  in  unserer  Zeit  mit  ge- 
waltigen Gefahren  und  Opfern  neuerlich  erworben  werden.  Die 
im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  veröffentlichten  Karten  von 
Afrika  weisen  das  Innere  des  dunkeln  Weltteils  unbedruckt  auf. 

In  den  vorgeschichtlichen  Zeiten,  wie  gesagt,  besafs  der 
Mensch  richtige  Kenntnisse  von  der  Natur  und  ihrer  Thätigkeit. 
Es  ist  daher  nicht  verwunderlich,  dafs  die  Mysterien  auch  der 
von  einander  entferntesten  Völker  in  dogmatischer  wie  in  inner- 
licher Hinsicht  so  vieles  mit  einander  gemein  hatten,  dafs  weiter 
in  sämtlichen  auf  gewisse  Ziffern  und  Ideen  so  grofses  Gewicht 
gelegt  wurde  und  dafs  sie  endlich  durchweg  düsterer  Art  waren. 
Aufser  dem  grofsen  Mystiker  Jakob  Böhme  hat  kein  Autor  die 
der  Zahl  Sieben  in  allen  Ländern  und  Zeiten  beigemessene 
Heiligkeit  richtig  erklärt.  Aus  dem,  was  wir  über  diesen  Punkt 
auf  Grund  der  Böhmeschen  Erläuterungen  Vorbringen  werden, 
wird  hervorgehen,  dafs  die  Übereinstimmung  der  religiösen  und 
wissenschaftlichen  Lehren  bei  den  von  einander  entlegensten 
Nationen  ihrer  Herkunft  von  einer  gemeinsamen  Quelle  zuzu- 
schreiben sein  mufs;  allerdings  wurden  die  rätselhaften  und  ge- 
heimnisvollen Formen,  in  denen  diese  Kenntnisse  aufbewahrt 
wurden,  im  Laufe  der  Zeit  als  die  Thatsachen  hingenommen. 

Da  w'ir  den  Ursprung  und  die  Bedeutung  der  Lehren  der 
»Mysterien“  nicht  verstehen  können,  ohne  von  der  Urkultur  und 
den  frühesten  Kenntnissen  des  Menschen  einen  klaren  Begriff 
zu  haben,  müssen  wir  uns  vorher  eine  solche  Vorstellung  zu 
verschaffen  suchen. 

Die  vorgeschichtlichen  Zeiten  erscheinen  gewöhnlich  dunkel 
und  man  glaubt  zumeist,  dafs  die  Dunkelheit  desto  gröfser  sein 
mufs,  je  weiter  man  nach  rückwärts  blickt.  Halten  wir  jedoch 


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Einleitung. 


5 


die  Augen  gehörig  offen,  so  erhellt  sich  die  Finsternis  immer 
mehr;  sie  erweist  sich  als  nichts  anderes  denn  verdichtetes  Licht 
und  löst  sich  schliefslich  in  Licht  auf,  sodafs  wir  deutlich  sehen, 
wie  alle  Religionsbekenntnisse  - auch  die  von  dem  ärgsten  Aber- 
glauben und  den  erniedrigendsten  Zeremonien  überwucherten  — 
desto  reiner,  edier,  erhabener  erscheinen,  je  mehr  wir  uns  ihrem 
Ursprung  nähern  und  je  besser  wir  ihre  Quellen  erkennen.  Die 
Ethik  Buddhas  und  Zoroasters  wurde  und  wird  vielfach  als  Vor- 
läuferin der  Lehren  des  Christentums  betrachtet,  und  selbst  der 
Heilige  Augustin  bemerkte:  „Was  wir  jetzt  die  christliche  Religion 
nennen,  das  bestand  schon  im  Altertum,  ja  sogar  seit  den  An- 
fängen des  Menschengeschlechts;  nur  wird  die  bereits  vorhandene 
wahre  Religion  seit  dem  Erscheinen  Christi  die  christliche  Religion 
genannt“  Alle  höheren  Glaubensbekenntnisse  hatten  gewisse  Grund- 
anschauungen mit  einander  gemein,  wenngleich  diese  in  der 
Form  oft  erheblich  von  einander  abweichen.  So  z.  B.  den  Be- 
griff der  Dreifaltigkeit;  die  Lehre,  dafs  der  „Logos“  (das  all- 
schöpferische Wort)  alles  durch  die  Offenbarung  des  Nichts 
erschuf;  die  Anbetung  des  Lichts;  die  Ansicht,  dafs  das  Feuer 
die  Seelen  läutere  u.  dgl.  m. 

Die  Erkenntnis,  auf  der  die  Lehren  der  Mysterien  be- 
ruhten, umfafste  den  Urgrund  und  die  Entstehung  aller  Dinge, 
den  gesamten  Zustand  und  Fortschritt  der  Natur,  ihre  ganze 
Entwicklung  und  Thätigkeit,  sowie  die  Einheit,  welche  Himmel 
und  Erde  erfüllt.  Diese  Einheit  wurde  vor  wenigen  Jahren 
geräuschvoll  als  neue  Entdeckung  ausposaunt,  während  doch  schon 
der  alte  Homer  im  achten  Buch  seiner  „lliade“  von  der  „gol- 
denen Kette"  sang,  die  Himmel  und  Erde  verbindet  derselben 
goldenen  Sympathiekette,  demselben  geheimen,  alldurchdringenden 
und  alleinigenden  Einflufs,  der  anderwärts  als  „Weltseele“, 
„Jakobsleiter",  „magisches  Feuer«,  „mercurius  philosophorum“ 
u.  s.  w.  vorkommt.  Infolge  der  menschlichen  Abwechslungs- 
liebe wurde  diese  Erkenntnis  allmählich  durch  falsche  oder  un- 
sinnige Auslegungen  entstellt  und  mit  allerlei  Phantasiegebilden 
ausgeschmückt  oder  verdeckt.  So  entstanden  ganze  Rattenkönige 
von  Aberglauben,  die  der  gedankenlosen  Menge  als  Glaubens- 
bekenntnisse dienten  und  noch  heutzutage  dienen.  Daher  rührt 
es,  dars  zahllose  Millionen  in  geistlicher  Knechtschaft  leben  und 
vor  tausend  Phantomen  zittern,  die  ihnen  von  der  eigenen  Un- 
wissenheit oder  vom  Pfaffentum  vorgegaukelt  werden. 

Die  in  den  alten  Mysterien  enthaltenen  Lehren  berech- 
tigen uns  zu  dem  Glauben,  dafs  die  Menschen  vor  Tausenden 
von  Jahren  das  Folgende  wufsten  (freilich  war  die  Erkenntnis 
in  den  Mysterien,  wie  bereits  bemerkt,  schon  getrübt  und  ver- 
stümmelt, nämlich  veräufserlicht): 


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6 


Einleitung. 


1 . Allenthalben  machen  sich  Beweise  eines  alldurchdringenden 
Lebens  geltend;  es  tnufs  daher  ein  allumfassendes,  allmächtiges 
und  allerhaltendes  Leben  geben. 

2.  Hinter  oder  über  diesem  Urieben,  auf  dem  das  Welt- 
system beruht,  macht  sich  der  ..unbewegte  Beweger»  fühlbar, 
das  einzige  übernatürliche  Wesen  (ens),  das  mittels  des  ,. logos" 
(Machtwort)  alles  Bestehende  aus  sich  heraus  gesprochen  hat; 
das  schliefst  keinen  Pantheismus  in  sich,  denn  die  vom  Sprecher 
ausgehenden  Worte  sind  nicht  mit  ihm  selbst  identisch. 

3.  Das  Universalleben  ist  ewig. 

4.  Die  Materie  ist  ewig , denn  sie  ist  das  Gewand, 
in  welches  das  Leben  sich  kleidet  und  in  welchem  es  sich 
offenbart. 

5.  Die  Materie  ist  das  Licht,  denn  der  dunkelste  Stoff  kann 
auf  sie  zurückgeführt  werden. 

6.  Alles  äufserlich  Wahrnehmbare  ntufs  ideell  durch  alle 
Ewigkeiten  in  einer  urbildlichen  Gestalt  bestanden  haben,  wieder- 
gespiegelt in  der  » Ewigen  Freiheit"  der  indischen  Götterlehre, 
dem  Spiegel  »Maja",  von  welchem  Wort  die  Worte  »Magier», 
»Magie11,  »magisch",  »imago»  (Bild),  »Imagination»  stammen,  die 
durchweg  mit  der  Darstellung  der  ursprünglichen,  körperlosen, 
nicht  wahrnehmbaren  lebenden  Materie  durch  Gestalten,  Formen 
oder  Geschöpfe  Zusammenhängen.  Die  moderne  Theosophie 
nennt  den  Majaspiegel  den  Ewigen  Wunderspiegel,  die  Jungfrau 
Sophia  (Licht)  stets  hervorbringend,  doch  immer  jungfräulich 
bleibend  — das  Urbild  der  Marienlehre. 

7.  Das  sich  im  sichtbaren  Universum  bekundende  ewige 
Leben  wird  von  denselben  Gesetzen  regiert  wie  die  unsichtbare 
Kräftewelt. 

8.  Diese  Gesetze  sind  die  sieben  Eigenschaften  (oder  Merk- 
male) der  ewigen  Natur.  Sechs  davon  sind  thätiger  Art,  während 
in  der  siebenten  die  sechs  ersten  vollkommen  harmonisch  zu- 
sammengefafst  sind.  Diese  sieben  Merkmale  bilden  zugleich  die 
Grundlage  aller  Siebenzahlen,  denen  wir  in  den  Naturerschei- 
nungen und  in  allen  antiken  und  modernen  Kenntnissen  begegnen. 
Es  sind:  1.  Anziehung,  2.  Abstofsung  oder  Rückschlag,  3.  Um- 
lauf, 4.  Feuer,  5.  Licht,  6.  Schall,  7.  Körper,  der  Inbegriff 
aller  sechs. 

9.  Diese  Siebenzahl  ist  in  zwei  Dreizahlen  oder  Pole  teil- 
bar, zwischen  denen  sich  das  durch  ein  Kreuz  dargestellte  Feuer 
befindet.  Diese  beiden  Pole  bilden  die  ewige  Zweiheit,  den 
ewigen  Gegensatz  in  der  Natur:  die  ersten  drei,  Materie  und 
Dunkelheit,  Schmerz  und  Angst  erzeugend,  bedeuten  die  Hölle, 
kosmisch  den  Winter;  die  anderen  drei  bringen  Licht  und  Ent- 
zücken hervor  und  bedeuten  das  Paradies,  kosmisch  den  Sommer. 


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Einleitung. 


7 


10.  Das  Feuer  ist  der  grofse  Chemiker,  Reiniger  und  Um- 
wandler der  Natur,  denn  es  macht  aus  der  Finsternis  Licht. 
Daher  seine  ungeheure  Verehrung  und  allgemeine  Anbetung 
seitens  vieler  alter  Völker.  Die  zoroastrischen  Priester  trugen 
sogar  Schleier  vor  dem  Mund,  um  das  Feuer  nicht  mit  ihrem 
Atem  zu  verunreinigen.  Wir  haben  es  da  selbstverständlich  mit 
dem  himmlischen,  elektrischen  Fetter  zu  thun,  dessen  Vorhanden- 
sein und  Beschaffenheit  die  Alten  ziemlich  gut  kannten.  Diese 
unterschieden  das  bewegende  Prinzip  von  dem  bewegten  Gegen- 
stand und  nannten  das  erstere  feurigen  Äther  oder  Geist,  Lebens- 
prinzip, Gottheit,  Jupiter,  Vulkan,  Phtha,  Kneph. 

11.  Alles  Licht  entsteht  aus  der  Finsternis  und  ntufs,  um 

wahrnehmbar  zu  werden,  durchs  FeueV  gehen.  Der  Weg  zum 
Licht  kann  nur  durch  die  Dunkelheit  oder  den  Tod  oder  die 
Hölle  führen  dieser  Gedanke  findet  sich  in  sämtlichen  alten 

Mysterien.  So  wenig  wie  die  Pflanze  sich  der  Schönheit  des 
Blühens  und  Blätter-  oder  Früchtetragens  erfreuen  kann,  ohne 
vorher  die  Finsternis  des  Verborgenseins  in  der  Erde  durch- 
gemacht zu  haben,  wo  sie  durch  das  Feuer  chemisch  verwandelt 
wird  - so  wenig  kann  der  Geist  höhere  Erkenntnis  und  Er- 
leuchtung erlangen,  ohne  vorher  durch  einen  Zustand  der  Selbst- 
verdunkelung und  Gefangenschaft,  gleichsam  durch  den  läuternden 
Ofen  der  Geburtswehen  gegangen  zu  sein. 

Dafs  die  Urmenschen  die  vorstehend  dargelegten  Kenntnisse 
besafsen,  wissen  wir  nicht  nur  aus  den  positiven  wie  aus  den 
sich  durch  Folgerung  ergebenden  Lehren  der  Mysterien,  sondern 
auch  aus  den  Denkmälern  des  Altertums,  die  an  Grofsartigkeit 
der  Konzeption  und  der  Idealität  alle  Leistungen  der  modernen 
Kunst  übertreffen.  Wenn  der  Leser  sich  diese  Thatsache  vor 
Augen  hält,  wird  er  in  den  wahren  Sinn  der  Einweihungsdogmen 
besser  eindringen  als  dies  die  Eingeweihten  selbst  konnten;  auch 
wird  er  begreifen,  dafs  der  Grund  der  grofsen  Übereinstimmung 
der  Lehren  der  verschiedenen  Mysterien  in  der  Thatsache  liegt, 
dafs  diese  Lehren  die  Erklärung  von  Naturerscheinungen  bil- 
deten, die  allüberall  die  gleichen  sind. 

Die  Geheimlehren  waren  theologischer,  moralischer  und 
wissenschaftlicher  Art.  In  theologischer  Hinsicht  wies  man  die 
Eingeweihten  auf  die  Irrtümer  der  marktläufigen  Vielgötterei  hin 
und  brachte  ihnen  die  Lehre  von  der  Einheit  und  einem  Jenseits 
mit  Belohnungen  und  Strafen  bei.  Die  moralischen  Vorschriften 
verdichteten  sich  in  dem  Ausspruch  des  Confucius:  .AVenn  du 
im  Zweifel  bist,  ob  eine  Handlung  recht  oder  unrecht  sei,  unter- 
lafs  sie  gänzlich.“  Und  was  die  wissenschaftlichen  Grundsätze 
betrifft,  so  haben  wir  sie  vorhin  in  1 1 Punkten  auseinander- 
gesetzt. 


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8 


Einleitung. 


Interessant  und  wichtig  ist  es,  zu  beobachten,  wieso  die 
ursprünglich  richtige  Naturerkenntnis  im  Lauf  der  Zeit  verfälscht 
und  durch  Irrtümer  entstellt  worden  ist.  Die  Anhänger  der 
ältesten  Religionen,  über  die  schriftliche  Nachrichten  auf  uns  ge- 
kommen sind,  waren  Gestirn-Anbeter  (Sabäer,  Helio-Arkiten). 
Den  wahren,  anfänglichen  Eingeweihten  aber  galten  Sonne,  Mond 
und  Sterne  als  die  äufseren  Kundgebungen  und  Sinnbilder  der 
inneren  Kräfte  des  Ewigen  Lebens.  Doch  konnten  solche  ab- 
strakte Wahrheiten  der  unwissenden,  hauptsächlich  mit  der  Ge- 
winnung des  täglichen  Brotes  beschäftigten  Menge  nicht  ver- 
ständlich gemacht  werden,  wenn  man  nicht  zur  Verpersönlichung 
der  Himmelskörper  und  der  Jahreszeiten  griff.  Allmählich  wurden 
die  betreffenden  Personifikationen  nicht  mehr  als  Symbole  be- 
trachtet, sondern  als  Darstellungen  wirklicher  menschenähnlicher 
Wesen,  die  vermeintlich  wirklich  auf  Erden  gelebt  hatten.  Die  Ur- 
menschen hielten  die  Sonne  für  die  äufserliche  Offenbarung  des  all- 
erhaltenden, allrettenden,  ewigen  Lebensprinzips.  In  verschiedenen 
Zeiten  und  Ländern  wurde  dieses  als  Krischna,  Fo,  Osiris,  Hermes, 
Herkules  u.  s.  w.  verpersönlicht  und  schliefslich  glaubte  man, 
diese  Personen  hätten  thatsächlich  gelebt  und  seien  wegen  ihrer 
den  Menschen  erwiesenen  Wohlthaten  zu  Göttern  erhoben  worden. 
Man  zeigte  die  angeblichen  Grabstätten  dieser  vermeintlichen 
Götter  und  erneuerte  alljährlich  durch  Feste  den  Schmerz  ob  ihres 
Verlustes.  Der  Durchgang  der  Sonne  durch  die  Zeichen  des 
Tierkreises  rief  allerlei  Mythen  hervor,  z.  B.  die  Verwandlungen 
Wischnus,  die  Heldenthaten  des  Herakles,  des  letzteren  Verlust 
seiner  Kräfte  im  Winter,  deren  Wiedergewinnung  im  Sommer, 
den  Tod,  die  Höllenfahrt  und  die  Auferstehung  von  Osiris  und 
Mithras.  Kurz,  was  in  dem  einen  Zeitalter  reine  Naturweisheit 
war,  wurde  im  nächsten  zur  Mythologie  und  im  dritten  zur  Sage, 
in  jedem  Lande  in  lokaler  Weise  ausgeschmückt. 

In  den  Mysterien  war  alles  astronomisch,  aber  hinter  den 
astronomischen  Sinnbildern  verbarg  sich  eine  tiefere  Bedeutung. 
Wenn  die  Eingeweihten  den  Verlust  der  Sonne  beklagten, 
trauerten  sie  in  Wirklichkeit  um  den  Verlust  des  lebengebenden 
Lichtes,  während  die  Thätigkeit  der  Elemente  nach  den  Gesetzen 
der  Wahlverwandtschaft  blofs  Verfalls-  und  Todes-Erscheinungen 
hervorruft.  Die  Eingeweihten  strebten  danach,  sich  der  Herrschaft 
der  Sklavin  Nacht  zu  entziehen  und  in  die  herrliche  Freiheit  der 
freien  Sophia  (Licht)  zu  gelangen,  d.  h.  geistig  im  Licht,  in  der 
Gottheit  aufzugehen.  Als  später  die  Lehren  der  alten  Natur- 
weisheit den  Jüngern  vorgetragen  wurden,  blieb  es  mehr  Sache 
der  inneren  Eingebung  der  letzteren,  sie  zu  erfassen,  als  Sache 
des  mündlichen  Unterrichts.  Aus  diesem  Grund  verfielen  die 
Mysterien  immer  mehr;  die  ideellen  Seiten  traten  stetig  in  den 


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Einleitung. 


9 


Hintergrund,  die  konkreten  gewannen  die  Oberhand.  Die  Folge 
war  das  Vorherrschen  des  Sabäismus  und  des  Arkismus.  Die 
vielen  Sinnbilder  und  Wahrzeichen  im  Heiligtum  des  Todes  und 
der  Auferstehung  deuteten  ursprünglich  das  Geheimnis  an , dafs 
die  Augenblicke  des  höchsten  seelischen  Genusses  dem  körper- 
lichen Dasein  am  abträglichsten  sind,  d.  h.  dafs  das  gröfste  Ent- 
zücken einem  Blick  ins  Paradies  gleichkommt.  Nun  denn,  diese 
Bilder  und  Zeichen  wurden  schliefslich  nur  noch  auf  die  äufser- 
liche  Natur  angewendet  und  ihre  falsche  Auffassung  führte  zur 
Entstehung  all  der  Glaubensbekenntnisse  oder  Aberglauben-Systeme, 
welche  die  Erde  mit  allerlei  Verbrechen,  blutigen  Kriegen,  mör- 
derischer Grausamkeit  und  den  schlimmsten  Verfolgungen  erfüllt 
haben.  Scheufsliche  Fanatiker,  die  über  Worte  stritten,  deren 
Sinn  sie  nicht  verstanden,  stellten  gegensätzliche,  auf  beiden  Seiten 
falsche  Dogmen  auf  und  erfanden  die  teuflischsten  Foltern,  um 
einanderzur  Bekehrung  zu  zwingen.  Die  beiden  mohammedanischen 
Sekten  bekämpfen  sich  wegen  der  Frage,  ob  die  Waschungen 
beim  Ellbogen  oder  beim  Handgelenk  beginnen  sollen;  allein  sie 
vereinigen  sich,  um  Christen  zu  bekehren  oder  umzubringen. 
Die  Christen  selbst  sind  in  zahllose  Sekten  zersplittert,  die  einander 
keineswegs  freundlich  gesinnt  sind;  einzelne  von  ihnen  haben 
einander  mit  mehr  als  heidnischer  Grausamkeit  verfolgt.  Die 
Katholiken  haben  mit  Scheiterhaufen  und  Inquisition  gewütet; 
die  Protestanten  haben  sich  dadurch  gerächt,  dafs  sie,  wo  sie  die 
Oberhand  hatten,  den  Katholiken  die  bürgerlichen  Rechte  entzogen. 

Da  die  Mysterien,  wie  sie  auf  uns  gekommen  sind  (und 
in  der  Freimaurerei  werden  sie  noch  immer  geübt,  freilich  in 
entstellter  Weise),  vornehmlich  ein  astronomisches  Gepräge  tragen, 
wollen  wir,  um  bei  ihrer  Einzelbehandlung  unnötige  Wieder- 
holungen zu  ersparen,  hier  über  ihre  gemeinsamen  Hauptzüge 
einige  allgemeine  Bemerkungen  machen. 

In  der  ältesten  indischen  Glaubenslehre  begegnen  wir  der 
Geschichte  vom  Fall  der  Menschheit  durch  das  Naschen  der 
Frucht  vom  Baum  der  Erkenntnis  und  von  der  Vertreibung  aus 
dem  Paradies.  Die  unwissenden  Juden  hielten  diese  Allegorie  für 
eine  wahre  Begebenheit  und  fügten  sie  dem  Buche  Genesis  ein 
- 900  Jahre  nach  dessen  Abfassung  und  lange  nach  Abfassung 
der  übrigen  Teile  des  Alten  Testaments.  Unter  Beachtung  seiner 
geheimnisvollen  astronomischen  Beziehungen  gelesen,  würde  die 
Erzählung  vom  Sündenfall,  wie  wir  sie  im  ersten  Buch  des 
Pentateuchs  finden,  etwa  die  folgende  Gestalt  annehmen.  Nach- 
dem Adam  (nicht  ein  einzelner  Mensch,  sondern  die  Menschheit 
ist  damit  gemeint)  mit  seiner  Gefährtin  Eva  (=  Leben)  den 
Frühling  und  den  Sommer  im  Garten  Eden  verbracht  hatte, 
standen  sie  notwendigerweise  vor  der  Jahreszeit,  da  Tvphon  — 


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10 


Einleitung. 


die  Schlange  — als  Sinnbild  des  Winters  ankündigt,  dafs  die 
Herrschaft  des  „ Übels"  (eben  des  Winters)  bevorstehe.  In  der 
allegorischen  Wissenschaft  heilst  aber  „malum“  nicht  nur  «Übel“, 
sondern  auch  „Apfel“.  Dieser  deutet  als  Erzeugnis  des  Herbstes 
an,  dafs  die  Ernte  vorüber  sei  und  der  Mensch  wieder  beginnen 
müsse,  im  Schweifse  seines  Angesichts  den  Boden  zu  bebauen. 
Da  die  kalte  Jahreszeit  kommt,  mufs  er  sich  mit  dem  allegorischen 
Feigenblatt  bedecken.  Die  Sphäre  dreht  sich  und  der  Mann  der 
Konstellation  Bootes  (=  Adam)  scheint  von  dem  ihm  voran- 
schreitenden Weibe,  der  Jungfrau,  die  einen  früchtebeladenen 
Zweig  in  der  Hand  hält,  bestrickt  zu  sein.  Ein  Blick  auf  die 
Himmelskarte  wird  das  erklärlich  machen. 

Ferner  kennen  sämtliche  Mysterien  irgend  einen  heiligen 
Zweig  oder  eine  heilige  Pflanze.  Man  denke  nur  an  den  Lotus 
Indiens  und  Ägyptens,  den  Feigenbaum  des  Atys,  die  Myrte  der 
Venus,  den  Mistelzweig  der  Druiden,  den  goldenen  Zweig  Ver- 
gib, den  Rosenstrauch  der  Isis,  die  Akazie  der  Freimaurerei  u.  s.  w. 
Auch  in  der  Meyerbeerschen  Oper  „Robert  der  Teufel"  kommt 
der  mystische  Zweig  der  Mysterien  vor. 

Sodann  finden  wir  in  allen  Mysterien,  dafs  ein  Gott,  ein 
höheres  Wesen  oder  ein  aufsergewöhnlicher  Mensch  den  Tod 
erleidet,  um  ein  neues,  glanzvolleres  Dasein  zu  beginnen.  Überall 
versetzt  die  Erinnerung  an  einen  grofsartigen  Trauerfall  die  Völker 
in  Kummer,  auf  den  alsbald  die  lebhafteste  Freude  folgt.  Osiris 
wird  von  Typhon,  Uranus  von  Saturnus,  Susannan  von  Sudra, 
Adonis  von  einem  wilden  Eber  umgebracht,  Ormuzd  wird  von 
Ahriman  besiegt,  Atys,  Mithras  und  Herkules  begehen  Selbstmord; 
Kain  tötet  Abel,  Loke  tötet  Baldr,  die  Riesen  töten  Bacchus;  die 
Assyrer  beweinen  den  Tod  Thammuz',  die  Skyther  und  Phönikier 
denjenigen  Acmons,  die  ganze  Natur  den  des  grofsen  Pan,  die 
Freimaurer  jenen  Hirams  u.  dgl.  m.  Den  Urspmng  dieses  all- 
gemeinen Glaubens  haben  wir  weiter  oben  bereits  angedeutet. 

Auch  die  Lehre  von  der  Einheit  und  der  Dreifaltigkeit 
kehrt  in  sämtlichen  Mysterien  wieder.  In  den  ältesten  Religionen 
begegnen  wir  dem  Urbild  des  christlichen  Glaubensartikels,  wonach 
eine  Jungfrau  einen  Erlöser  zur  Welt  bringt  und  dennoch  eine 
Jungfrau  bleibt.  Dem  äufseren  Sinn  nach  handelt  es  sich  da 
um  die  Jungfrau  des  Tierkreises,  während  der  erstandene  Er- 
löser die  Sonne  ist;  der  innerlichste  Sinn  aber  bezieht  sich  auf 
das  Ewige  Ideal,  innerhalb  dessen  das  ewige  Leben  und  Ver- 
ständnis, die  Kraft  der  Elektrizität  und  die  Wundermacht  des 
Lebenselixirs  diese  beiden  als  Erhalter  und  Verschönerer  des 
begreifbaren  Daseins  — sozusagen  in  den  zahllosen  Geschöpfen, 
die  das  Weltall  erfüllen,  verkörpert  sind  — ja  sogar  im  Weltall 
selbst.  Und  genau  so  wie  die  Luft  Laute,  das  Licht  Farben  und 


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Einleitung. 


11 


der  Geist  Gedanken  hervorbringt,  ohne  dafs  sich  dadurch  ihr 
* eigenes  und  eigentliches  Wesen  verändert,  bleibt  die  Jungfrau 
trotz  der  Hervorbringung  des  Erlösers  Jungfrau. 

Weiter  sehen  wir,  dafs  alle  Mysterien  das  Licht  als  aus 
der  Dunkelheit  hervorgegangen  darstellen.  Die  Gottheit  Maja 
Bhawani  heifst  bald  Kali,  bald  Isis,  hier  Ceres,  dort  Proserpina. 
Persephone,  die  „Königin  des  Himmels",  ist  die  Nacht,  aus  deren 
Schofs  das  Leben  hervorgeht,  um  wieder  dahin  zurückzukehren 
eine  geheime  Vereinigung  von  Leben  und  Tod;  sie  wird  auch 
die  Rosige  genannt  und  in  deutschen  Mythen  finden  wir  die 
Rosige  als  das  wiederherstellende  Lebensprinzip  bezeichnet.  Sie 
ist  nicht  nur  die  Nacht,  sondern  als  Mutter  der  Sonne  auch  die 
Morgenröte,  hinter  der  die  Sterne  scheinen.  Wenn  sie  als  Ceres 
die  Erde  versinnbildlicht,  stellt  man  sie  mit  Kornähren  dar. 
Gleich  der  traurigen  Proserpina,  ist  sie  schön  und  strahlend, 
aber  auch  schwermütig  und  schwarz.  So  verbindet  sie  die  Nacht 
mit  dem  Tag,  die  Freude  mit  der  Traurigkeit,  die  Sonne  mit 
dem  Mond,  die  Hitze  mit  der  Feuchtigkeit,  das  Göttliche  mit 
dem  Menschlichen.  Die  alten  Ägypter  stellten  die  Gottheit  oft  durch 
einen  schwarzen  Stein  dar,  und  der  von  den  Arabern  verehrte 
schwarze  Stein  Kaaba,  von  dem  geglaubt  wird,  er  sei  ursprünglich 
weifser  als  Schnee  gewesen,  verkörpert  denselben  Gedanken  - mit 
dem  Nebengedanken,  dafs  das  Licht  der  Finsternis  vorangegangen  sei. 

In  sämtlichen  Mysterien  begegnen  wir  dem  Kreuz  als  einem 
Wahrzeichen  der  Reinigung  und  Rettung.  Überall  galten  die 
Zahlen  3,  4 und  7 für  heilig,  ln  den  meisten  Götterlehren 
finden  wir  zwei  Säulen,  in  allen  mystische  Gastniäler,  Feuer-, 
Wasser-  und  Luftproben.  Der  Zirkel  und  das  Dreieck  — das 
einfache  und  das  doppelte  - vertraten  allenthalben  den  Dualismus 
oder  die  Polarität  der  Natur.  In  allen  Einweihungsriten  sah 
man  den  Aufnahmewerber  als  das  vom  Übel  (Nacht)  über- 
wundene „gute  Prinzip"  (Licht)  an,  welches  danach  strebte,  die 
frühere  Überlegenheit  wiederzugewinnen,  d.  h.  gleichsam  wieder- 
geboren oder  umgestaltet  zu  werden,  und  zwar  dadurch,  dafs 
der  Novize  auf  dem  Wege  durch  sieben  Höhlen  oder  über  sieben 
Stufen  die  Schrecknisse  des  Todes  und  der  Hölle  bildlich  durch- 
lebte. All  diese  Riten  bedeuteten  recht  eigentlich  den  ewigen 
Kampf  des-  Lichtes  um  die  Befreiung  von  der  Stofflichkeitsbürde, 
mit  der  es  während  des  Durchmachens  der  drei  ersten  Eigen- 
schaften der  Ewigen  Natur  belastet  worden  ist;  und  als  die  Kennt- 
nis dieser  tieferen  Bedeutung  den  Menschen  verloren  gegangen 
war,  stellten  die  Riten  den  Durchgang  der  Sonne  durch  die 
sieben  Zeichen  des  Tierkreises  vom  Widder  bis  zur  Wage  vor, 
wie  wir  ihn  in  der  sogenannten  Royal-Arch-Freimaurerei  und  in 
der  siebensprossigen  Leiter  des  Ritters  von  Kadosch  finden. 


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12 


Einleitung. 


Alle  Mysterien  hatten  die  gleichen  Funktionäre  gemein. 
Überall  verkörperten  die  letzteren  astronomische  oder  kosmische 
Erscheinungen.  Allenthalben  erkannten  die  Eingeweihten  einander 
an  gewissen  Zeichen  und  Losungsworten.  Auch  wurden  in 
sämtlichen  die  gleichen  Aufnahmebedingungen  gestellt:  Voll- 
jährigkeit und  Reinheit  des  Lebenswandels;  aus  letzterem  Grunde 
■wagte  es  Nero,  als  er  in  Griechenland  weilte,  nicht,  sich  um  die 
Einweihung  in  die  eleusinischen  Geheimnisse  zu  bewerben.  In 
vielen  Fällen  war  der  Oberpriester  genötigt,  ein  zurückgezogenes 
Leben  voll  ewiger  Keuschheit  zu  führen,  um  durch  nichts  von 
der  Betrachtung  himmlischer  Dinge  abgelenkt  zu  werden.  Behufs 
vollkommener  Erreichung  dieser  läuternden  Abgeschiedenheit 
pflegten  die  Priester  das  Fleisch  durch  den  Genufs  gewisser 
Kräuter  zu  ertöten,  denen  man  die  Eigenschaft  zuschrieb,  dafs 
sic  jede  Anwandlung  von  Leidenschaft  zu  unterdrücken  vermochten. 

In  sämtlichen  Ländern,  welche  Mysterien  kannten,  wurde 
die  Einweihung  allmählich  für  ebenso  notwendig  angesehen  wie 
später  bei  den  Christen  die  Taufe  — eine  Zeremonie,  die  wir 
auch  in  allen  Mysterien  antreffen.  Die  Eingeweihten  nannte  man 
„ Epopten",  d.  h.  Leute,  die  die  Dinge  so  sehen  wie  sie  wirklich 
sind.  Alle  Mysterien  hatten  „gröfsere“  und  „kleinere“  Geheim- 
nisse, eine  exoterische  und  eine  esoterische  Lehre,  sowie  drei 
Grade.  Überall  galt  der  Verrat  der  Geheimnisse  für  schändlich 
und  wurde  mit  den  schwersten  Strafen  belegt.  Darum  mufsten 
die  Aufnahmebewerber  die  Geheimhaltung  mit  den  furchtbarsten 
Eiden  beschwören.  Alkibiades  wurde  wegen  Ausplauderns  der 
Ceres-Mysterien  verbannt  und  den  Furien  überantwortet;  auch 
Prometheus,  Tantalus,  Oedipus  und  Orpheus  erlitten  ihre  wohl- 
bekannten  Strafen  für  das  gleiche  Vergehen. 

Im  Reiche  des  Gedankens  sind  geheime  Gesellschaften 
heutzutage  nicht  mehr  nötig.  Dagegen  wird  im  Gebiete  der 
Politik  wohl  noch  lange  die  Notwendigkeit  bestehen,  solche  ab 
und  zu  — je  nach  Anlafs  und  Bedarf  — ins  Leben  zu  rufen; 
und  obgleich  sie  ihre  unmittelbaren  Ziele  nur  selten  erreichen, 
erringen  sie  dem  Volk  doch  zuweilen  gröfsere  oder  kleinere  Vor- 
teile. Im  grofsen  und  ganzen  sind  sie  in  den  meisten  Ländern 
überflüssig  geworden,  denn  das  religiöse,  philosophische  und 
politische  Denken  wird  trotz  aller  sich  geltend  machenden  Un- 
duldsamkeit ja  doch  immer  freier.  Die  echten  Freunde  der 
Wahrheit  und  Freiheit  bedürfen  nicht  mehr  der  Zeichen  und 
Losungsworte,  um  einander  zu  erkennen,  denn  sie  brauchen  nicht 
mehr  im  geheimen  zu  wirken,  sondern  können  sich  öffentlich 
kundgeben.  Sie  sind  Gegner  aller  Geheimkrämerei,  denn  sie 
wissen,  dafs  die  Öffentlichkeit  das  beste  Förderungsmittel  für 
Wahrheit  und  Freiheit  bildet.  Freilich  sind  politische  Geheim- 


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Einleitung. 


13 


gesellschaften  auch  jetzt  noch  in  manchen  Ländern  — selbst 
Europas  — unentbehrlich,  und  auch  in  den  freiesten  Staaten 
kann  man  durchaus  noch  nicht  jede  religiöse,  philosophische 
oder  politische  Wahrheit  äufsem,  ohne  getadelt,  verleumdet  oder 
auch  bestraft  zu  werden.  Noch  immer  gelten  Fausts  Worte: 
„Wer  darf  das  Kind  beim  rechten  Namen  nennen? 

Die  Wenigen,  die  was  davon  erkannt, 

Die  thöricnt  g'nug  ihr  volles  Herz  nicht  wahrten, 

Dem  Pöbel  ihr  Gefühl,  ihr  Schauen  offenbarten, 

Hat  man  von  je  gekreuzigt  und  verbrannt." 

Wird  man  heute  auch  nicht  mehr  körperlich  gekreuzigt  und  ver- 
brannt, so  verfügt  die  Staatskunst  und  noch  mehr  das  Pfaffentum 
doch  noch  über  moralische  Daumschrauben  und  glühende 
Eisen,  mit  denen  man  den  Geist  einengt  oder  den  Ruf  brand- 
markt. Darum  mufs  man,  bei  allem  Zweifel  an  der  Berechtigung 
mancher  und  dem  Erfolg  andrer  Geheimgesellschaften,  die  mutigen 
Leute  bewundern  und  preisen,  auf  welche  sich  James  Russell 
Lowells  Worte  nicht  anwenden  lassen,  dafs  »ein  Sklave  ist,  wer 
nicht  für  die  Gefallenen  und  Schwachen  einzutreten  wagt;  wer 
nicht  lieber  Hafs  und  Spott  erduldet,  als  schweigend  die  Wahr- 
heit zu  unterdrücken,  die  er  denkt;  wer  sich  Zweien  oder 
Dreien  gegenüber  nicht  getraut,  das  als  richtig  Erkannte  zu 
verfechten.“ 


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ERSTES  BUCH. 


ALTE  MYSTERIEN. 


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Die  Magier  und  der  Zoroastrismus. 

Ableitung  des  Wortes.  — Zeit  des  Magiertums.  — Zoroaster  und  seine 
Lehre.  — Licht-Anbetung.  — Ursprung  des  Wortes  „deus"  (Gott).  — Lin- 
weihungsverfahreii.  — Rustam-Sage. 

„Magier“  kommt  von  „Maja“,  dem  Spiegel  der  indischen 
Götterlehre,  in  dem  Brahma  von  allem  Anfang  an  sich  selbst, 
seine  Macht  und  seine  Wunderschöpfungen  betrachtet.  Daher 
auch  die  Ausdrücke  „Magie",  „magisch*,  „imago“  (Bild),  „Imagi- 
nation“, die  durchweg  auf  die  Festlegung  der  Kräfte  des  körper- 
losen, lebendigen  Urstoffes  in  Gestalten,  Formen  oder  Geschöpfen 
hindeuten.  Ein  Magier  ist  daher  jemand,  der  sich  bemüht,  die 
Wirksamkeit  des  ewigen  Lebens  zu  erforschen.  (Littre  leitet 
„Magier“  von  „mahat"  [=  grofsj  ab;  da  jedoch  nach  der  in- 
dischen Mythologie  „mahatit"  — ebenso  wie  „pirkirti“  — von 
„jotna“  [=  Macht],  dem  Spröfsling  Majas,  erzeugt  worden  ist, 
bleibt  Maja  jedenfalls  das  Stamm  wort  von  „Magier".) 

Die  Magier  — d.  h.  die  altpersischen  Priester  — gründeten 
nicht  nur  eine  Lehre  oder  Religion,  sondern  auch  eine  Monarchie. 
Ihre  Macht  war  eine  wahrhaft  königliche;  daher  werden  die' 
„Weisen  aus  dem  Morgenland",  die  der  Stern  zu  Christi  Krippe 
leitete,  ebenso  oft  Könige  („die  heiligen  drei  Könige“)  genannt 
wie  Magier.  Ihre  Priesterherrschaft  ist  älter  als  die  Blütezeit 
Assyriens,  Mediens  und  Persiens.  Aristoteles  verlegt  sie  vor  die 
Gründung  des  ägyptischen  Reiches  und  Plato  legt  seiner  Be- 
rechnung ihres  Alters  sogar  Myriaden  von  Jahren  zu  Gmnde. 
Gegenwärtig  nehmen  die  meisten  Gelehrten  an,  die  Herrschaft 
der  Magier  habe  etwa  fünftausend  Jahre  vor  dem  trojanischen 
Kriege  begonnen. 

Gegründet  wurde  der  Orden  von  Zoroaster,  der  nicht,  wie 
manche  glauben,  ein  Zeitgenosse  des  Darius  war,  sondern  un- 
gefähr im  50.  Jahrhundert  vor  Christus  lebte.  Er  stammte  nicht 
aus  Indien,  sondern  aus  Baktrien,  das  in  nächster  Nähe  der 

Heckcthorn*Katicher,  Geheimlehren  u.  Geheimbünde.  2 


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IS 


Alte  Mysterien. 


indischen  Gebirge  im  Gebiete  der  grofsen  Flüsse  Oxus  und 
Jaxartes  lag,  sodafs  die  indischen  Brahminen  als  die  Nachkommen 
der  Magier  gelten  können. 

Zoroasters  Lehre  war  die  vernunftgemäfseste  und  voll- 
kommenste der  Geheimlehren  des  Altertums.  Alle  späteren  Theo- 
sophien lehnten  sich  an  sie  an  und  ihre  Spuren  finden  sich 
auch  in  der  alten  Zend-Avesta,  die  alle  Einzelheiten  der  Natur- 
thätigkeit  behandelt  und  nicht  mit  dem  heutzutage  als  Zend- 
Avesta  geltenden  Buch  — einem  blofsen  Brevier  — verwechselt 
werden  darf. 

Zoroaster  lehrte  nicht,  wie  man  behauptet  hat,  den  Glauben 
an  die  zwei  entgegengesetzten,  aber  gleich  mächtigen  Prinzipien 
Ahriman  und  Oromazes  (Ormuzd),  denn  das  Böse  (Ahriman)  ist 
dem  Guten  (Oromazes)  nicht  gleichgestellt.  Das  Böse  ist  nicht 
unerschaffen  und  ewig,  sondern  vorübergehend  und  in  seiner 
Macht  beschränkt.  Plutarch  verzeichnet  eine  dahingehende  An- 
schauung — die  wir  alsbald  bestätigt  finden  werden  — dafs  Ahri- 
man und  seine  Engel  werden  vernichtet  werden  und  dafs  die  gegen- 
sätzliche Zweiheit  nicht  ewig,  sondern  zeitlich  begrenzt  ist  Die 
Zweiheit  bildet  das  grofsartige  Drama  der  Zeit,  in  der  sie  die 
stetige  Ursache  der  Bewegung  und  Umgestaltung  ist  Hier  haben 
wir  die  Lehre  der  von  der  Kirche  so  heftig  befehdeten  Anhänger 
der  Beseitigung  des  Teufels.  Das  Höchste  Wesen  oder  Ewige 
Leben  wird  auch  »Zeit  ohne  Grenze"  genannt,  da-  ihm  kein  Ur- 
sprung nachgewiesen  werden  kann;  weil  es  Eigenschaften  und 
Attribute  besitzt,  die  unserm  Verständnis  unfafsbar  sind,  gebührt 
ihm  schweigende  Anbetung. 

Das  Schöpfungswerk  begann  mittels  „Emanation“  (Aus- 
strömung). Die  erste  Emanation  des  Ewigen  war  das  Licht  und 
aus  diesem  ging  Ormuzd,  der  König  des  Lichts,  hervor,  der 
durch  das  Wort  die  reine  Welt  schuf,  deren  Erhalter  und  Richter 
er  ist.  Er  ist  ein  heiliges,  himmlisches  Wesen,  der  Inbegriff  der 
Erkenntnis.  Dieser  Erstgeborne  der  unbegrenzten  Zeit  schuf 
zunächst  nach  seinem  Ebenbild  sechs  Genien,  die  seinen  Thron 
umgebenden  „Amschaspands“,  welche  zwischen  ihm  und  den 
untergeordneten  Geistern,  sowie  den  Menschen  vermitteln;  den 
letzteren  gelten  sie  als  Vorbilder  der  Reinheit  und  Vollkommen- 
heit. Sodann  liefs  Ormuzd  die  28  „izads"  erstehen,  die  Wächter 
des  Glücks,  der  Unschuld  und  der  Erhaltung  der  Welt;  sie 
sind  Muster  von  Tugend  und  verdolmetschen  die  Gebete  der 
Menschen.  Weit  zahlreicher  ist  die  dritte  Schar  reiner  Geister: 
die  „farohars",  d.  h.  die  Gedanken  des  Oromazes,  nämlich  seine 
schöpferischen  Ideen,  die  der  Schöpfung  der  Dinge  vorangingen. 
Nicht  nur  die  farohars  der  heiligen  Männer  und  der  unschuldigen 
Kinder  stehen  vor  ihm,  sondern  er  hat  selber  einen  eigenen 


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Die  Magier  und  der  Zoroastrismus. 


19 


farohar  — die  Verpersönlichung  seiner  Weisheit,  seines  Ver- 
standes, seines  Logos.  Diese  Geister  umschweben  das  Haupt 
jedes  Menschen  - ein  Glaube,  den  die  Griechen  und  Römer 
übernahmen,  wie  der  Familiengeist  des  Sokrates,  der  böse  Genius 
des  Brutus  und  der  begleitende  Genius  des  Horaz  beweisen. 

Die  Erschaffung  all  der  angeführten  guten  Geister  war  die 
notwendige  Folge  der  gleichzeitigen  Herausbildung  des  bösen 
Prinzips.  Der  Zweitgeborne  des  Ewigen,  Ahriman,  ging  wie 
Ormuzd  aus  dem  Urlicht  hervor  und  glich  diesem  an  Reinheit, 
war  jedoch  ehrgeizig  und  hochmütig  und  wurde  infolgedessen 
mifsgünstig.  Zur  Strafe  .verurteilte  das  Höchste  Wesen  ihn  zu 
einem  Aufenthalt  im  Bereich  der  Finsternis  auf  die  Dauer  von 
zwölftausend  Jahren  — ein  Zeitraum,  der  zur  Beendigung  des 
Kampfes  zwischen  Gut  und  Böse  hingereicht  haben  würde,  wenn 
Ahriman  nicht  zahllose  böse  Geister  ins  Leben  gerufen  hätte, 
welche  die  Erde  mit  Elend,  Krankheit  und  Schuld  erfüllten. 
Die  wichtigsten  der  bösen  Dämonen  waren:  Unreinheit,  Gewalt- 
thätigkeit,  Habgier,  Grausamkeit,  Kälte,  Hunger,  Armut,  Magerkeit, 
Unfruchtbarkeit,  Unwissenheit;  als  der  allerschlimmste  galt  »pitasch", 
die  Verleumdung. 

Nach’  dreitausendjähriger  Herrschaft  erschuf  Ormuzd  die 
stoffliche  Welt  in  sechs  Perioden,  und  zwar  in  derselben  Reihen- 
folge, die  auch  im  Buch  Genesis  angegeben  ist:  das  irdische 
Licht  (nicht  zu  verwechseln  mit  dem  himmlischen),  das  Wasser, 
die  Erde,  die  Pflanzen,  die  Tiere,  den  Menschen  oder  vielmehr 
eine  Zusammensetzung  von  Mann  und  Stier.  An  der  Entstehung 
der  Erde  und  des  Wassers  beteiligte  sich  Ahriman,  denn  die 
Dunkelheit  hatte  bereits  auf  diese  Elemente  übergegriffen,  die 
Ormuzd  dann  nicht  mehr  verbergen  konnte.  Auch  bei  der 
Schöpfung  und  nachträglichen  Verderbung  und  Vernichtung  des 
Menschen,  den  Ormuzd  durch  einen  Willensakt  mittels  des 
Wortes  erschuf,  half  Ahriman  mit.  Aus  dem  Samen  des  stier- 
artigen  Mannes  erschuf  Oromazes  nachher  das  erste  Menschen- 
paar: Meschia  und  Meschiane.  Aber  Ahriman  verlockte  zuerst 
den  Mann  und  dann  das  Weib  durch  den  Genufs  gewisser 
Früchte  zum  Bösen.  Er  veränderte  übrigens  nicht  nur  das 
Wesen  des  Menschen,  sondern  auch  das  der  Tiere,  indem  er  den 
gutgearteten  Tieren  Ungeziefer,  insekten,  Schlangen  und  Wölfe 
entgegensetzte.  Allein  er  und  seine  bösen  Geister  werden  schliefs- 
lich  überwunden  und  gänzlich  vertrieben  werden.  Bei  dem 
schweren  Kampf  haben  die  fleifsigen  und  arbeitsamen  Menschen 
nichts  zu  fürchten,  denn  nach  Zoroaster  ist  die  Arbeit  die  Ver- 
tilgerin alles  Übels  und  man  gehorcht  dem  gerechten  Allrichter 
am  besten,  wenn  man  den  Erdboden  mit  Fleifs  bebaut,  damit 
er  Getreide  und  Obstbäume  hervorbringe. 


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20 


Alte  Mysterien. 


Sobald  die  Erde  nicht  mehr  mit  den  Übeln  der  Geister 
der  Finsternis  behaftet  sein  wird  — also  nach  Ablauf  von  zwölf- 
tausend Jahren  — werden  drei  Propheten  erscheinen,  den  Menschen 
mit  Hilfe  ihrer  Kenntnisse  und  ihrer  Macht  Beistand  leisten,  der 
Erde  ihre  ursprüngliche  Schönheit  wiedergeben,  über  die  Guten 
wie  die  Bösen  zu  Gericht  sitzen  und  die  ersteren  in  einen  Zu- 
stand ewiger  Glückseligkeit  einführen.  Ahriman  und  seine  ge- 
fangenen Dämonen  werden  in  einem  Meer  von  flüssigem  Metall 
geläutert  werden  und  das  Gesetz  des  Oromazes  wird  allent- 
halben herrschen. 

Astronomisch  bedeuten  Zoroasters  sechs  gute  Geister  die 
warmen  Monate,  die  bösen  die  Wintermonate,  die  28  izads  die 
28  Tage  des  Mondmonats.  Theosophisch  beziehen  sich  die  sechs 
Perioden  der  Schöpfung  auf  die  sechs  thätigen  Eigenschaften 
der  Natur. 

Da,  wie  wir  gesehen  haben,  Zoroaster  das  Licht  als  die 
erste  Emanation  des  Ewigen  Lebens  hinstellte,  bildet  in  den 
Schriften  der  Parsi  die  ewige  Flamme  das  Symbol  der  Gottheit 
oder  des  unerschaffenen  Lebens.  Aus  diesem  Grunde  sind  die 
Magier  und  die  Parsi  Feueranbeter  genannt  worden;  aber  sie 
sahen  im  Feuer  nicht  eine  Gottheit,  sondern  lediglich  die  Ur- 
sachen der  Hitze  und  der  Bewegung.  Damit  kamen  sie  den 
Errungenschaften  der  modernen  Physik  um  viele  Jahrtausende 
zuvor.  Sie  hatten  überhaupt  keinerlei  Gott,  keinen  „einzig  wahren“ 
Gott  und  beteten  keine  aufserhalb  des  Lebens  stehende  Macht 
an.  Sie  bauten  auf  keinerlei  unsichere  Überlieferung,  sondern 
wählten  aus  sämtlichen  verborgenen  Naturkräften  diejenige  aus, 
welche  alle  übrigen  beherrscht  und  sich  am  furchtbarsten  offen- 
bart. Die  modernen  Guebren  (Feueranbeter)  sind  die  Abkömm- 
linge der  alten  Magier. 

Wie  gesagt,  die  Magier  hatten,  gleich  den  Chinesen,  keine 
eigentliche  Theologie.  Diejenigen  Magier,  welche  der  Geheim- 
wissenschaft Magie  ihren  Namen  liehen,  übten  keine  Zauberei 
und  glaubten  nicht  an  Wunder.  Inmitten  der  orientalischen  Un- 
beweglichkeit verurteilten  sie  die  Bewegung  nicht;  vielmehr  be- 
trachteten sie  dieselbe  als  das  herrliche  Sinnbild  der  Ewigen 
Ursache.  Während  andere  Kasten  danach  strebten,  das  Volk  in 
Armut,  Unwissenheit  und  Aberglauben  zu  erhalten,  war  es  den 
Magiern  zu  verdanken,  dafs  an  die  Stelle  des  mit  monströsen 
Gestalten  bevölkerten  indischen  Olymps  der  Begriff  der  Gottes- 
einheit trat,  der  in  der  Geschichte  des  Denkens  stets  einen  Fort- 
schritt bedeutet.  Die  älteste  Zend-Litteratur  erkennt  nur  Ein 
schöpferisches  Wesen  (ens)  an,  dessen  Name  „dao“  (=  Licht 
und  Weisheit)  die  Wurzel  „daer"  (=  scheinen)  hat,  von  der  die 
Worte  „deus"  (=  Gott),  „dies"  (=  Tag)  u.  dgl.  m.  abgeleitet 


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Die  Magier  lind  der  Zoroastrismus. 


21 


sind.  Die  Gottheit  wurde  ursprünglich  als  »das  Leuchtende" 
oder  Helle  aufgefafst,  woher  denn  auch  das  sanskritische  »diaus" 
(=  Himmel),  das  zur  Erdichtung  so  vieler  mythologischer  Fabeln 
führte.  Aber  die  ursprüngliche  Idee  beruhte  auf  einer  richtigen 
Auffassung  des  Ursprungs  und  Wesens  der  Dinge,  denn  das 
Licht  bildet  ja  wirklich  den  Grundstoff  aller  Dinge.  Jede  Materie 
ist  nur  verdichtetes  Licht.  So  gründeten  die  Magier  also  ein 
Moralsystem  und  ein  Reich.  Sie  hatten  eine  Litteratur,  eine 
Wissenschaft  und  eine  Dichtkunst.  Fünftausend  Jahre  vor  der 
»Iliade“  entstand  ihre  »Zend-Avesta“  mit  den  drei  grofsartigen 
Dichtungen:  einer  ethischen,  einer  militärischen  und  einer  wissen- 
schaftlichen. 

Nun  zum  Einweihungsverfahren.  Der  Bewerber  wurde 
durch  viele  Weihe-Reinigungen  mit  Feuer,  Wasser  und  Honig 
vorbereitet.  Die  Zahl  der  Erprobungen,  denen  er  sich  unter- 
werfen mufste,  war  sehr  grofs  und  endete  mit  einem  fünfzig- 
tägigen Fasten.  Alle  Erprobungen  fanden  in  völliger  Einsamkeit 
unter  andauernder  Schweigsamkeit  in  einer  unterirdischen  Höhle 
statt.  Manche  büfsten  dieses  Noviziat  mit  dem  Leben  oder  mit 
Geistesverwirrung:  wer  es  wohlbehalten  überwand,  dem  waren 
die  höchsten  Ehren  zugänglich.  Nach  Ablauf  des  Noviziats  wurde 
der  Kandidat  in  die  Einweihungshöhle  gebracht  und  von  seinem 
Führer  — der  als  Vertreter  des  ungeheuerlichen  Greifs  Simorgh, 
welcher  im  Getriebe  der  persischen  Mythologie  eine  grofse  Rolle 
spielte,  gedacht  war  - mit  Zauberwaffen  und  Talismanen  ver- 
sehen, damit  er  imstande  sei,  all  die  ihm  von  den  bösen  Geistern 
unterwegs  als  Hindernisse  entgegengestellten  scheufslichen  Gestalten 
zu  bekämpfen.  In  einem  innern  Gemach  erfolgte  seine  Läuterung 
durch  Feuer  und  Wasser,  ehe  er  die  sieben  Stadien  der  Ein- 
weihung durchmachte.  Zuerst  erblickte  er  ein  tiefes,  gefähr- 
liches Gewölbe;  er  stand  am  Rande  des  Abgrundes  und  ein  ein- 
ziger Fehltritt  hätte  genügt,  ihn  hinunter  stürzen  zu  lassen  zum 
»Thron  der  furchtbaren  Notwendigkeit“  (die  ersten  drei  Eigen- 
schaften der  Natur).  Sich  in  der  dunkeln  Höhle  mühsam  zurecht 
tastend,  sah  er  bald  einzelne  Strahlen  des  heiligen  Feuers  ein- 
dringen  und  seinen  Weg  etwas  erhellen;  gleichzeitig  hörte  er 
aus  der  Ferne  das  Geheul  blutdürstiger  Tiere:  das  Gebrüll  von 
Löwen  und  Tigern,  das  wilde  Bellen  von  Hunden  u.  s.  w.  Sein 
Begleiter,  vollkommen  schweigsam,  drängte  ihn  in  die  Gegend, 
aus  der  dieser  Lärm  kam.  Plötzlich  öffnete  sich  die  Thüre  und 
er  befand  sich  in  einer  nur  sehr  trüb  erleuchteten  Raubtierhöhle. 
Sofort  fielen  Eingeweihte  in  Gestalt  von  Wölfen , Greifen, 
Tigern,  Löwen  etc.  über  ihn  her  und  in  den  meisten  Fällen 
wurde  er  übel  zugerichtet.  Sodann  gelangte  er  in  eine  andere, 
ganz  finstere  Höhle,  in  der  er  furchtbare  Donnerschläge  hörte 


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22 


Alte  Mysterien. 


und  bei  entsetzlich  grellen  Blitzstrahlen  rachsüchtige  Kobolde 
umherhüpfen  sah,  die  ihn  wegen  seines  Eindringens  in  ihren 
Wohnsitz  angriffen.  Um  ihm  ein  wenig  Erholung  zu  gönnen, 
führte  sein  Begleiter  ihn  jetzt  in  ein  Gemach,  wo  seine  Aufregung 
sich  durch  das  Riechen  köstlicher  Düfte  und  das  Anhören  schöner 
Musik  einigermafsen  legte.  Sobald  er  sich  bereit  erklärte,  das 
Einweihungsverfahren  fortzusetzen,  erschienen  auf  ein  Zeichen 
seines  Führers  drei  Priester,  deren  erster  ihm  als  Zeichen  der 
Wiedergeburt  oder  Neuerstehung  eine  lebende.  Schlange  in  den 
Busen  steckte.  Nun  öffnete  sich  eine  Thüre  und  sofort  wurde 
der  Novize  wieder  von  schrecklichen  Empfindungen  befallen, 
denn  er  vernahm  gräfsliches  Schmerzgeheul  und  Jammergeschrei. 
Die  Augen  auf  den  Ort  richtend,  von  dem  der  unbeschreibliche 
Lärm  herkam,  erblickte  er  die  Untenveit  mit  allen  Qualen  der 
Sündigen.  Allmählich  durchwanderte  er  ein  gewundenes  Wirrsal 
von  sieben  geräumigen,  durch  Schlängelgalerien  mit  einander 
verbundenen  Gewölben,  deren  jedes  den  Schauplatz  gefährlicher 
Abenteuer  bildete.  Schliefslich  erreichte  er  das  Allerheiligste 
(sacelium),  das  wunderbar  erleuchtet  war  und  von  Gold  und 
Edelsteinen  erglänzte.  Eine  herrliche  Sonne  und  ein  Planeten- 
system bewegten  sich  bei  den  Klängen  köstlicher  Musik.  Im 
Osten  safs  der  Obermagier  auf  einem  Thron  von  strahlendem 
Gold,  auf  dem  Haupt  eine  prachtvolle,  mit  Myrtenzweigen  ge- 
schmückte Krone.  Er  war  in  einen  himmelblauen  Mantel  gehüllt 
und  von  den  Erteilern  der  Mysterien  umgeben.  Diese  empfingen 
den  Neuling  mit  Glückwünschen,  nahmen  ihm  die  Verschwiegen- 
heitseide ab  und  vertrauten  ihm  die  verschiedenen  heiligen  Worte 
an,  insbesondere  die  Tetraktys,  den  vierbuchstabigen  Namen 
Gottes.  Die  pythagoreische  Tetraktys  entspricht  dem  hebräischen 
Tetragramm  (=  vierbuchstabiger  „Jahve").  Die  Vierzahl  galt  als 
die  vollkommenste,  weil  in  den  vier  ersten  Eigenschaften  der 
Natur  die  übrigen  inbegriffen  sind;  auch  ergeben  die  vier  ersten 
Ziffern  (1 +2  + 3 + -I)  die  Zehnzahl,  nach  welcher  ja  alles  nur 
Wiederholung  ist. 

Aus  dem  Einweihungsverfahren  der  zoroastrischen  Priester, 
welches  sie  das  „Erklimmen  der  Leiter  zur  Vollkommenheit"  nann- 
ten,  ging  die  Sage  von  Rustam  hervor,  dem  persischen  Herkules, 
der,  auf  dem  Ungeheuer  Rakschi  — dem  arabischen  Namen 
Simorghs  — reitend,  auf  die  Eroberung  von  Mazendaraun  auszog, 
das  als  ein  vollkommenes  Erdenparadies  berühmt  war.  Nachdem 
er  sieben  gefahrvolle  Stadien  glücklich  durchgemacht,  gelangt  er 
zur  Höhle  des  Weifsen  Riesen,  der  alle  seine  Angreifer  stets  mit 
Blindheit  geschlagen  hat.  Rustam  überwindet  ihn  und  macht 
mit  Hilfe  dreier  Tropfen  seines  Blutes  alle  Gefangenen  wieder 
sehend.  Den  sinnbildlichen  drei  Blutstropfen  begegnen  wir  in 


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Die  Mithras-Anbeter. 


2J 

dieser  oder  jener  Gestalt  in  sämtlichen  Mysterien:  in  Mexiko 
waren's  drei  Blutstropfen,  im  alten  Britannien  drei  Wassertropfen, 
in  Indien  drei  dreifache  Fäden,  in  China  die  drei  Striche  des 
Buchstaben  Y u.  s.  w.  Die  Blindheit  bezieht  sich  auf  die  geistige 
Blindheit  des  Novizen,  der  Weifse  Riese  auf  die  Einweihung 
in  die  Riten. 


Die  Mithras-Anbeter. 

Entartung  des  Zoroastrismus.  - Ursprung  des  Mithrasdienstes.  - Glaubens- 
lehre. — Einweihungsriten.  - Thammuz. 

Auf  den  Stamm  der  so  überaus  geistig  gearteten,  götzen- 
dienstfeindlichen Religion  Zoroasters  welche  ikonoklastische 
Streifzüge  nach  Babylonien,  Assyrien,  Syrien  und  Lybien  unter- 
nahm, mittels  des  Schwertes  Kambyses  das  ägyptische  Priestertum 
ausrottete,  die  griechischen  Götter  und  Tempel  vernichtete,  den 
Hebräern  die  Pharisäer  gab  und  einen  so  einfachen  und  reinen 
Gottesdienst  hatte,  dafs  man  die  Parsi  die  Puritaner  des  Alter- 
tums und  Kyros  den  Gesalbten  des  Herrn  nennen  konnte  — 
wurden  nachträglich  götzendienerische  Zweige  gepfropft,  vor  allem 
der  Mithrasdienst,  dessen  Entstehung  Dupuis  in  die  Zeit  -1500 
vor  Christus  verweist 

Mithras  ist  ein  heilbringender,  die  Sonne  beherrschender 
Genius,  der  mächtigste  der  28  izads  oder  Lichtgeister,  der  vor- 
nehmste Vermittler  zwischen  Oromazes  und  den  Menschen.  Ur- 
sprünglich wurde  er  nicht  mit  der  Sonne  verwechselt,  sondern 
neben  ihr  verehrt;  aber  im  Lauf  der  Zeit  wurde  die  Vorstellung 
von  ihm  korrumpiert  und  schliefslich  nahm  er  göttliche  Attribute 
an.  Solche  Bcfördenmgen  kleinerer  Gottheiten  zu  höheren  kommen 
in  der  Götterlehre  durchaus  nicht  selten  vor;  es  sei  nur  an 
Siwa  und  Wischnu  in  der  indischen,  an  Serapis  in  der  ägyp- 
tischen, an  Jupiter  in  der  griechischen  Mythologie  erinnert.  Er- 
leichtert wurden  die  Fälschungen  durch  die  Verwechslung  des 
Sinnbildes  mit  der  versinnbildlichten  Sache,  des  Genius  der  Sonne 
mit  der  Sonne  selbst,  welche  allein  in  der  Sprache  verblieb;  das 
neupersische  Wort  für  »Sonne"  (mihr)  ist  nämlich  die  regel- 
richtige Abänderung  des  zendischen  Wortes  »Mithras". 

Der  persische  Mithras  darf  nicht  mit  dem  indischen  ver- 
wechselt werden,  der  unstreitig  seit  den  ältesten  Zeiten  den  Gegen- 


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Alte  Mysterien. 


stand  eines  eigenen  geheimnisvollen  Gottesdienstes  bildete  und 
den  Eingeweihten  als  die  Sonne  galt.  Ziehen  wir  den  Zahlen- 
wert der  Buchstaben  des  griechischen  Wortes  „Meithras"  in 
Betracht,  so  erhalten  wir  365,  die  Zahl  der  Tage  des  Sonnen- 
jahres. Den  gleichen  Ziffernwert  hat  „Abraxas“,  der  der  Gott- 
heit durch  Basilides  beigelegte  Name,  sowie  „Belenos“,  welchen 
Namen  die  Sonne  in  Gallien  führte. 

Die  mithraischen  Denkmäler  enthalten  Darstellungen  der 
Sonnenkugel,  der  Keule  und  des  Stiers,  die  Sinnbilder  der 
höchsten  Wahrheit,  der  höchsten  Schöpferthätigkeit  und  der 
höchsten  Lebenskraft.  Diese  Dreifaltigkeit  stimmt  überein  mit 
der  des  Plato  (=  der  Höchste  Gott,  das  Wort,  die  Weltseele), 
mit  der  des  Hermes  Trismegistus  (Licht,  Verstand,  Seele)  und 
der  des  Porphyrius  (der  Vater,  das  Wort,  die  Höchste  Seele). 
Nach  Herodot  machten  die  Babylonier  und  Assyrer  aus  Mithras 
Mylitta  bezw.  Venus,  die  Fruchtbarkeitsgöttin,  der  ein  obscöner 
Dienst  gewidmet  wurde,  welcher  sich  auf  das  weibliche  Schöpfungs- 
prinzip bezog.  Vielleicht  ist  auch  die  armenische  Göttin  Anaitis 
mit  Mithras  identisch.  Die  Anbetung  des  persischen  Mithras 
(=  Apollo)  verbreitete  sich  über  Italien,*)  Gallien,  Germanien  und 
Britannien,  ln  Rom  überwand  sie  die  griechischen  und  römischen 
Götter  und  die  zu  Ende  gehende  Vielgötterei  setzte  der  Sonne 
Christus  die  Sonne  Mithras  entgegen. 

Die  Heiligtümer  des  Mithrasdienstes  befanden  sich  stets 
unter  der  Erde  und  in  jedem  derselben  gab  es  eine  siebensprossige 
Leiter,  auf  der  man  die  „Wohnsitze  der  Glückseligkeit"  erklomm. 
Die  Einweihungsriten  ähnelten  denen  der  Magier,  waren  aber  so 
streng  und  langwierig,  dafs  nur  wenige  Bewerber  bis  zum  Schlufs 
ausdauerten,  der  allein  die  vollkommene  Kenntnis  der  Mysterien 
sicherte.  Der  erste  Grad  wurde  durch  allerlei  Reinigungen  und 
Läuterungen  eingeleitet;  während  der  Kandidat  dem  Gott  einen 
Laib  Brodes  und  eine  Schale  Wassers  opferte,  trug  er  auf  der 
Stirn  ein  gewisses  geheimes  Zeichen;  sodann  reichte  man  ihm 
auf  der  Spitze  eines  Schwertes  eine  Krone,  die  er  sich  aufs 
Haupt  setzte,  wobei  er  sagen  mufste:  „Mithras  ist  meine  Krone.“ 
Im  zweiten  Grad  legte  er  eine  Rüstung  an,  um  gegen  Riesen 
und  Ungeheuer  gewappnet  zu  sein,  ln  den  unterirdischen  Höhlen 
entwickelte  sich  eine  wilde  Jagd.  Die  Priester  und  Funktionäre 
des  Tempels  verkleideten  sich  als  Löwen,  Tiger,  Leoparden,  Bären, 

*)  Vor  einigen  Jahren  wurde  in  Rom  unterhalb  der  Klemenskirche 
ein  überraschend  gut  erhaltener  Mithrastempel  entdeckt,  sodafs  an  einer 
und  derselben  Stelle  die  Sonnen-  oder  Lichtgottheit  oben  und  unten 
vertreten  ist.  18S6  entdeckte  man  in  Ostia  einen  ebenfalls  vorzüglich 
erhaltenen  Mithrastempel,  der  Mosaikarbeiten  aufweist,  welche  alle  Sinn- 
bilder des  persischen  Sonnengottesdienstes  darstellen. 


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Die  Mithras-Anbeter. 


25 


Wölfe  und  andere  Raubtiere  und  überfielen  den  Kandidaten  unter 
furchtbarem  Geheul,  ln  diesen  Scheinkämpfen  lief  er  grofse 
Gefahr.  Übrigens  sollen  auch  die  Angreifer  manchmal  schlecht 
angekommen  sein;  so  wird  z.  B.  erzählt,  dafs  Kaiser  Kommodus 
den  Scherz  so  weit  trieb,  einen  der  ihn  während  seiner  Ein- 
weihungszeremonien überfallenden  Raubtierpriester  zu  erschlagen. 

Im  dritten  Grad  hüllte  der  Neuling  sich  in  einen  Mantel, 
auf  dem  sich  die  gemalten  Zeichen  des  Tierkreises  befanden. 
Sodann  wurde  ein  Vorhang  zurückgezogen  und  er  sah  sich  von 
scheufslichen  Greifen  umgeben.  Nach  einigen  anderen  Er- 
probungen begrüfste  man  ihn,  falls  er  nicht  vorzeitig  den  Mut 
verlor,  als  einen  „Löwen  des  Mithras"  eine  Anspielung  auf 
das  Tierkreiszeichen,  in  welchem  die  Sonne  ihre  gröfste  Kraft 
entfaltet.  (Derselbe  Gedanke  liegt  in  der  Freimaurerei  dem  Grad 
eines  „Meisters“  - 3.  Grad  — zu  Grunde.)  Hierauf  wurde  er 
in  das  grofse  Geheimnis  eingeweiht.  Die  Natur  des  letzteren 
kennt  man  nicht  mehr  genau;  doch  läfst  sich  annehmen,  dafs  es 
in  den  verläfslichsten  priesterlichen  Überlieferungen,  den  be- 
glaubigtesten Weltschöpfungslehren  und  den  Attributen,  Voll- 
kommenheiten und  Leistungen  des  Oromazes  bestand.  That- 
sächlich  stellen  die  Mithras-Mysterien  das  Fortschreiten  von  der 
Finsternis  zum  Licht  vor.  Nach  Guignault  bedeutet  Mithras  die 
Liebe.  In  Bezug  auf  das  Ewige  ist  er  der  Sohn  der  Barm- 
herzigkeit, in  Bezug  auf  Oromazes  und  Ahriman  das  Feuer 
der  Liebe. 

Eine  andere  Phase  der  Sonnenanbetung  bestand  in  den  mit 
der  Verehrung  des  chaldäischen  Sonnengottes  Thammuz  verbun- 
denen Zeremonien.  Lenormant  war  der  erste  Forscher,  der  aus 
den  assyrischen  Tafeln  nachwies,  dafs  Thammuz  das  Urbild  des 
Adonis  und  sämtlicher  später  in  verschiedenen  Ländern  unter 
allerlei  Namen  angebetenen  Sonnengötter  war.  Diese  Tafeln  be- 
lehren auch  über  die  Geschichte  der  Istar,  das  Urbild  der  Astarte, 
der  Isis  und  der  übrigen  weiblichen  Gottheiten,  welche  nach- 
träglich kosmisch  das  weibliche  Prinzip  und  astronomisch  den 
Mond  vertraten.  Das  grofse  Thammuzfest  wurde  um  die  Zeit 
der  Sommersonnenwende  gefeiert.  (Noch  jetzt  heifst  der  Haupt- 
monat des  Sommers  im  jüdischen  Kalender  Tammuz.)  Es  dauerte 
sechs  Tage  und  die  jedem  dieser  Tage  zugeschriebenen  Obliegen- 
heiten weisen  eine  seltsame  Übereinstimmung  mit  den  ent- 
sprechenden Eigenschaften  der  Natur  auf.  Der  erste  Tag  galt 
als  Tag  der  Ruhe,  der  Bewegungslosigkeit  und  Unthätigkeit. 
Am  zweiten  und  dritten  feierte  man  den  Kampf  des  gefangen 
gehaltenen  Lebens  um  die  Befreiung;  das  waren  also  Tage  der 
Trauer  und  des  Leidens.  Den  vierten  widmete  man  der  Über- 
windung der  Löwen  und  Schlangen;  d.  h.  das  Feuer,  die  vierte 


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Alte  Mysterien. 


Eigenschaft  der  Natur,  begann,  die  drei  ersten  — dunkeln  — 
Eigenschaften  zu  überwinden.  Am  fünften  wurde  der  heilsame 
Einflufs  des  wiedererstandenen  Lichtes  (Sonne)  bereits  wahrnehm- 
bar und  man  nahm  daher  Opferungen  vor.  Der  sechste  Tag 
galt  der  Feier  — durch  Freudengesänge  — der  Vereinigung  der 
Sonne  (Sol)  mit  Istar.  . Das  achte  Kapitel  des  biblischen  Buches 
Ezechiel  umfafst  den  Tag  der  Trauer  um  Thammuz  und  den 
Tag  seines  Wiedererstehens  (Auferstehung). 

Interessant  ist,  dafs  die  Chinesen  Thammuz  „Tonios"  nennen 
und  dafs  auf  diesem  Umstand  die  Sage  beruht,  der  Heilige 
Thomas  sei  in  China  und  Indien  gewesen.  Die  ersten  römisch- 
katholischen  China-Missionäre  glaubten,  als  sie  von  „Tomos" 
hörten,  St.  Thomas  habe  in  jenen  Ländern  das  Evangelium  ge- 
predigt. Daher  nannten  sich  die  ersten  dortigen  Christen 
..Christen  des  Heiligen  Thomas";  sie  dichteten  diesem  allerlei 
Wunderthaten  an  und  erzählten,  er  sei  von  den  Brahminen,  weil 
er  ihnen  ins  Handwerk  gepfuscht,  umgebracht  worden. 


Brahminen  und  Gymnosophisten. 

Die  indische  Volksreligion.  Geheimlehre.  Die  Schöpfungslehre  der 
Hindus.  Der  Buddhismus  und  seine  Lehren.  — Askese.  — Gymnosophie. 
— Einweihunfesorte  und  -Riten.  Der  unaussprechliche  Name  Aum.  — 
Lingam.  — Der  Lotus.  — Die  Dschains. 

Ob  wir  die  indische  Religion  nun  als  eine  Verfälschung 
des  Magismus  oder  als  den  gemeinsamen  Stamm  aller  asiatischen 
Theosophien  betrachten,  jedenfalls  ist  ihr  Reichtum  an  Gottheiten 
weit  gröfser  als  der  jeder  andern  Religion.  Dieser  Reichtum 
bildet  ein  sicheres  Zeichen  der  Armut  und  Dummheit  des  Volkes, 
das  die  Naturgesetze  nicht  kennt,  vor  den  Naturerscheinungen 
Angst  hegt  und  hinter  allem  Unbekannten  übernatürliche  Wesen 
vermutet.  Die  300000  Götter  der  Brahminen  haben  das  Leben 
der  Indier  zu  einem  knechtischen  und  stillstehenden  gemacht,  die 
Kasteneinteilung  und  die  Unwissenheit  aufrecht  erhalten  und  das 
Dasein  des  betrogenen  Volkes  gramvoll  und  unerträglich  gestaltet. 

Für  die  Eingeweihten  jedoch  giebt  es  keine  Götzen;  sie 
wissen,  dafs  es  sich  bei  den  dem  Volk  unerklärlichen  Erschei- 
nungen nicht  um  die  Leistungen  oder  Launen  zahlloser  Gottheiten, 
sondern  lediglich  um  äufserliche  Kundgebungen  der  Ersten  Ur- 
sache handelt. 


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Brahminen  und  Gymnosophisten.  27 

Jene  Phantasiegebilde  wurden  von  den  Brahminen  für  das 
Volk  ersonnen,  weil  sie  es  nicht  für  fähig  hielten,  die  Geistes- 
religion in  ihrer  Reinheit  zu  erfassen  und  zu  bewahren.  Darum 
auch  verschleierten  sie  ihre  Naturerkenntnis  nach  Möglichkeit  und 
erfanden  auch  eine  der  Menge  unverständliche  Sprache,  die  uns 
durch  grofse  Forscher  verständlich  gemacht  worden  ist,  sodafs 
wir  genau  wissen,  dafs  die  indische  Religion  eine  der  reinsten 
aller  Zeiten  war.  Wir  lesen  z.  B.  im  zweiten  Kapitel  des  ersten 
Teiles  des  »Wischnu  Purana“:  »Gott  hat  keine  Gestalt,  keinen 
Beinamen,  keine  Erklärung.  Er  kann  nicht  beschrieben  werden. 
Er  ist  frei  von  Mängeln  und  unfähig,  vernichtet  oder  verändert 
zu  werden,  Kummer  oder  Schmerz  zu  fühlen.  Wir  können  nur 
sagen,  dafs  er  — d.  h.  das  Ewige  Wesen  - Gott  ist.  Gewöhn- 
liche Menschen  glauben,  Gott  sei  im  Wasser;  aufgeklärtere 
Leute  versetzen  ihn  in  Himmelskörper,  die  Unwissenden  in  Holz 
und  Stein;  die  Weisen  jedoch  wissen,  dafs  er  sich  im  Weltgeist 
befindet."  In  der  »Mahanirwana"  heifst  es:  »Zahlreiche  Ge- 
stalten, die  der  Beschaffenheit  verschiedener  Kräfte  und  Gewalten 
entsprechen,  wurden  für  jene  erfunden,  denen  es  am  nötigen 
Verständnis  fehlt.  . . . Wir  haben  keine  Vorstellung  davon,  wie 
das  Ewige  Wesen  geschildert  werden  könnte;  dieses  steht  über 
allem,  was  der  Geist  erfassen  kann,  über  der  Natur.  . . Jener 
Einzige,  den  keine  Sprache  je  zu  umschreiben  vermocht  hat,  ist 
das  Höchste  Wesen.  . . Dieses  Wesen  erstreckt  sich  über  alles 
Vorhandene.  Es  ist  blofser  Geist  ohne  Körpergestalt,  ohne  mefs- 
bare  Ausdehnung,  organlos,  eindruckslos,  rein,  vollkommen,  all- 
wissend, allgegenwärtig,  der  Lenker  des  Verstandes,  die  Seele  des 
ganzen  Weltalls.“ 

Die  Schöpfungslehre  der  Hindus  ist  die  älteste  aller  auf 
uns  gekommenen  Kosmogonien.  Die  dieselbe  enthaltenden 
Gesetze  des  Menu  wurden  vor  Mosis  Geburt  geschrieben ; wir 
lesen  in  ihnen: 

»Dieses  Weltall  war  vorerst  nur  in  den  göttlichen  Ur- 
gedanken  vorhanden,  unentwickelt,  gleichsam  in  Dunkel  gehüllt. 
Dann  erschien  die  einzige  von  und  durch  sich  selber  bestehende 
Macht  in  unvermindertem  Glanz  und  breitete  ihre  Gedanken 
aus.  . . Er  hatte  sich  entschlossen,  verschiedene  Wesen  aus  seiner 
eigenen  göttlichen  Wesenheit  heraus  zu  erschaffen;  zuerst  erschuf 
er  die  Gewässer.  . . Aus  dem  Seienden,  der  ersten  Ursache, 
wurde  das  Göttlich-Männliche  erzeugt.  . . Er  gestaltete  oben  den 
Himmel,  unten  die  Erde  und  in  die  Mitte  setzte  er  den  feinen 
Äther.  Er  rief  alle  Geschöpfe  ins  Leben  und  gab  ihnen  auch 
ihre  ersten  besonderen  Namen.  . . Nachdem  die  Allmacht  ihre 
eigene  Wesenheit  geteilt  hatte,  wurde  sie  halb  männlich,  halb 
weiblich.  Nach  Erschaffung  dieses  Weltalls  löste  sie  sich  wieder 


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2S 


Alte  Mysterien. 


in  Geist  auf,  indem  sie  die  Zeit  der  Thätigkeit  mit  der  Zeit  der 
Ruhe  vertauschte." 

Man  sieht,  wie  grofsartig  die  Äufserungen  sind,  von  denen 
wir  im  Buch  Genesis  einen  überaus  schwachen  Widerhall  ver- 
nehmen — so  schwach,  wie  wenn  ein  Kind  versuchen  wollte, 
die  Lehren  eines  grofsen  Weisen  wiederzugeben. 

Den  Brahminenpriestern,  ihren  Überlieferungen  und  ihrer 
Litteratur  erwuchs  ein  gefährlicher  Gegner  im  Buddhismus.  Als 
Prediger  der  Gleichheit  aller  Menschen  leugnete  Buddha  den 
Wert  und  die  Notwendigkeit  des  vedischen  Systems.  Die  unter 
dem  Joch  der  brahminischen  Tyrannei  seufzenden  Menschen  be- 
grüfsten  freudig  das  neue  Brüderliehkeits-  und  Barmherzigkeits- 
Evangelium,  welches  überdies  durch  den  halblauten  Skeptizismus 
einiger  vediseher  Philosophieschulen  unterstützt  wurde.  Nament- 
lich im  Süden  Indiens  hiefs  man  den  Buddhismus  willkommen 
und  auf  Ceylon  fand  er  bereits  2-40  vor  Christus  Eingang. 
Gegenwärtig  ist  Ceylon  der  einzige  Teil  Indiens,  in  welchem 
sich  der  Buddhismus  unverändert  erhalten  hat;  im  eigentlichen 
Indien  rotteten  ihn  die  Brahminen  durch  blutige  Verfolgungen 
so  ziemlich  aus. 

Sakiamuni  (dies  der  eigentliche  Name,  denn  »Buddha"  ist 
nur  ein  Attribut,  und  zwar  „Weiser“)  wurde  angeblich  im  sechsten 
Jahrhundert  vor  Christus  geboren.  Doch  ist  nicht  erwiesen,  dafs 
er  wirklich  jemals . gelebt  hat;  vielmehr  haben  die  neueren 
Forschungen  ergeben,  dafs  seine  Geschichte  ein  Sonnenmythos 
ist,  der  ursprünglich  von  Krischna  erzählt  wurde.*)  Die  heiligsten 
buddhistischen  Sinnbilder  und  die  häufigsten  buddhistischen 
Gleichnisse  haben  in  der  Veda  Analogien;  der  Unterschied  ist 
nur  der,  dafs  die  Brahminen  ‘ das  Individuum  in  einem  persön- 
lichen Gott  aufgehen  lassen,  während  die  Buddhisten  es  in  das 
allgemeine  Nichts  (Nirwana)  auflösen.  Der  Buddhismus  lehrt 
nämlich,  dafs  der  Ürstoff  (prakriti)  das  einzige  durch  sich  selbst 
bestehende  Göttliche  sei  und  dafs  dieser  Materie  zwei  Kräfte 
innewohnen,  aus  denen  zwei  verschiedene  Zustände  hervorgehen: 
die  Ruhe  und  die  Thätigkeit.  In  dem  einen  Zustand  verharrt 

*)  Auch  die  vor  kurzem  erfolgte  Führersche  Entdeckung  beweist 
nicht,  dafs  Buddha  thatsächlich  gelebt  habe.  Der  genannte  Forscher  ent- 
deckte den  Lu m bi ni- Garten , den  angeblichen  Geburtsort  Buddhas,  und 
in  demselben  eine  Steinsäule  mit  der  Inschrift:  „Hier  wurde  der  An- 
betungswürdige geboren.“  Die  Überlieferung  besagt,  dafs  Sakiamuni 
dort  zur  Welt  gekommen  sei  und  dafs  mehrere  Jahrhunderte  später 
ein  König  zur  Verenigung  dieses  Ereignisses  eine  Steinsäule  aufstellen 
liefs.  Führer  hat  also  nicht  die  Thatsache  der  Geburt  nachgewiesen, 
sondern  nur  die  in  der  Überlieferung  angedeutete  Örtlichkeit  festgestellt. 
Immerhin  bleibt  seine  Entdeckung  — das  Ergebnis  gründlicher,  geist- 
reicher Untersuchungen  — wichtig,  scharfsinnig  und  lichtvoll. 


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Brahminen  und  Gymnosophisten. 


29 


der  Urstoff  mit  bewufster  Ruhe  in  völlig  unthätiger  Leere 
(Nichtigkeit);  das  ist  der  Glückseligkeitszustand  des  Umichts.  In 
dem  zweiten  Zustand  geht  die  Materie  infolge  ihrer  Thätigkeit 
aus  sich  selbst  heraus  und  nimmt  begrenzte  Gestalten  oder 
Formen  an.  Dabei  verliert  sie  ihre  Bewufstheit,  doch  gewinnt 
sie  dieselbe  bei  ihrer  Menschwerdung  zurück.  Es  giebt  somit 
eine  ursprüngliche  und  eine  erzeugte  Bewufstheit.  Das  Ziel  des 
Menschen  ist,  die  ursprüngliche  Bewufstheit  wieder  hervorzurufen. 
Sobald  er  diese  erlangt,  erfährt  er,  dafs  es  aufser  der  Urmaterie 
nichts  Wirkliches  giebt;  dann  wird  sein  Geist  identisch  mit  dem 
bewufsten  Umichts,  d.  h.  seine  persönliche  Seele,  von  ihrem  leib- 
lichen Kerker  befreit,  kehrt  zur  Weltseele  zurück,  wie  das  in 
einem  Stück  Holz  eingekerkerte  Sonnenlicht  nach  Verbrennung 
des  Holzes  ins  allgemeine  Lichtmeer  zurückkehrt. 

Auf  diese  Lehre  wurden  später  gepfropft  der  Irrglaube  an 
die  Seelenwanderung  und  jene  menschenfeindliche  Selbstverleug- 
nung, die  in  Indien  zur  Selbstfolterung  zahlreicher  Fakire  und 
andrer  Fanatiker  führte  und  in  christlichen  Gemeinwesen  zur 
Askese  durch  Fasten,  Bufsen,  Kasteiungen,  Einsamkeit,  Geifselung 
und  die  sonstigen  wahnsinnigen  Übungen  von  Mönchen,  Ein- 
siedlern und  anderen  Religionseiferern. 

Diese  Askese  beruht,  wie  gesagt,  auf  der  Vorstellung,  dafs 
das  Absolute  (das  All)  das  wirkliche  Dasein,  die  persönlichen 
Erscheinungen  jedoch  - namentlich  alles  Stoffliche,  Körperliche 
— lediglich  Hirngespinste  seien,  die  möglichst  vermieden  werden 
sollen,  weil  sie  die  Entfernung  vom  Absoluten  vergröfsern,  und 
dafs  durch  Kasteiung  des  Leibes  das  Aufgehen  in  der  Gottheit 
schon  hienieden  erlangt  werden  könne.  Noch  heute  ist  die  As- 
kese in  Indien  verbreitet,  aber  nicht  mehr  so  sehr  wie  früher. 
In  zehntausenden  von  Fällen  wurde  sie  durch  das  Suchen  des 
Todes  auf  die  Spitze  getrieben.  Während  des  Festes  der  furcht- 
baren Göttin  Bhowani  — der  Gemahlin  Siwas  - warfen  sich 
jedesmal  zahlreiche  Fanatiker  unter  Freudengeheul  vor  die  mit 
Schneiden  versehenen  Räder  des  Wagens,  auf  dem  das  schwere 
Götzenbild  ans  Ufer  des  Ganges  gefahren  wurde.  Beim  Klange 
von  Trompeten  liefsen  sie  sich  von  den  Rädern  freiwillig  in 
Stücke  schneiden.  Anderwärts  rief  die  Askese  andere  seltsame. 
Auswüchse  hervor. 

Von  den  sogenannten  Gymnosophisten,  den  Magiern 
des  Brahminismus,  wissen  wir  nur  sehr  wenig.  Sie  waren  die 
strengsten  Wächter  der  Naturerkenntnis  und  ursprünglich  am 
freiesten  von  Betrügerei.  Sie  verbreiteten  sich  auch  über  Afrika. 
In  Äthiopien  lebten  sie  als  Einsiedler  und  an  den  Nil-Ufern 
erneuerten  sie  viele  Phasen  der  asiatischen  Theosophie;  zahlreiche 
Spuren  davon  finden  sich  in  den  Lehren  der  Derwische.  Als 


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Alte  Mysterien. 


fahrende  Priester  sollen  sie  eine  Geheimlehre  gehabt  haben,  als 
deren  Früchte  und  äufsere  Kundgebung  die  Einfachheit  ihrer 
Lebensweise  und  die  Reinheit  ihrer  Sitten  betrachtet  werden 
können;  in  späteren  Zeiten  freilich  arteten  sie  zu  einer  der  aus- 
schweifendsten und  unsittlichsten  Sekten  Indiens  aus. 

Die  Gymnosophisten  gingen  fast  nackt  (ihr  Name  bedeutet 
»nackte  Weise")  und  lebten  von  Kräutern,  waren  jedoch  gegen 
Menschen  von  geringerer  Mäfsigkeit  und  Einfachheit  nicht  un- 
duldsam. Sie  glaubten  an  nur  Einen  Gott,  an  die  Unsterblich- 
keit der  Seele  und  an  die  Seelenwanderung.  Wenn  sie  durch 
Krankheit  oder  Alter  litten,  bestiegen  sie  den  Scheiterhaufen,  denn 
sie  betrachteten  solche  Leiden  für  verächtlich.  Alexander  der 
Grofse  sah  einen  von  ihnen  sein  Leben  in  dieser  Weise  beschliefsen. 

Die  Priesterschaften  von  Äthiopien  und  Ägypten  standen 
mit  einander  in  lebhafter  Verbindung.  Osiris  ist  eigentlich  eine 
äthiopische  Gottheit.  Alljährlich  kamen  beide  Priesterschaften 
an  den  Grenzen  der  zwei  Länder  zusammen,  um  Ammon  — 
ein  anderer  Name  für  Jupiter  — Opfer  darzubringen  und  das 
sogenannte  Sonnentafelfest,  das  die  Griechen  »heliotrapeza"  nann- 
ten, zu  feiern.  Angesichts  des  Fetischismus,  der  in  Afrika  vor- 
herrschte — und  zwar  teils  infolge  des  Klimas,  teils  infolge  der- 
selben Umstände,  aus  denen  der  indische  Fetischismus  hervor- 
ging - gebührt  Bewunderung  den  Gymnosophisten,  jener  Nieder- 
lassung von  Denkern,  die  den  Fortschritten  des  Despotismus 
lange  Widerstand  leisteten  und  deren  Vernichtung  das  Rachewerk 
der  Unduldsamkeit  und  der  Gewaltherrschaft  war. 

Die  Mysterien  wurden,  wie  anderwärts,  in  unterirdischen 
Höhlen  gefeiert.  In  Indien  waren  die  letzteren  in  die  Natur- 
felsen gehauen  und  sie  übertreffen  an  Grofsartigkeit  der  Anlage 
und  Vollkommenheit  der  Ausführung  alles  sonstwo  Vorhandene. 
Besonders  herrlich  sind  die  Felsentempel  zu  Elephanta,  Ellora 
und  Salsette,  die  aus  grofsen  Sälen,  Palästen,  Kapellen,  Pagoden 
und  aus  Zellen  für  tausende  von  Priestern  und  Pilgern  bestehen, 
- alles  mit  Säulen,  Obelisken,  Basreliefs,  ungeheuren  Götter- 
standbildern, Elefanten  und  anderen  heiligen  Tieren  vollgemeifselt. 

Die  Zeit  der  Einweihungszeremonien  richtete  sich  nach 
dem  Stande  des  Mondes.  Die  Geheimnisse  waren  in  vier  Grade 
geteilt,  in  deren  ersten  man  schon  nach  Ablauf  des  achten  Lebens- 
jahres eingeweiht  werden  konnte.  Ein  Brahmine  bereitete  den 
Bewerber  auf  den  zweiten  Grad  vor,  dessen  Erprobungen  haupt- 
sächlich darin  bestanden,  dafs  der  Kandidat  seine  Zeit  fast  gänzlich 
mit  Gebeten,  Waschungen,  Fasten  und  dem  Studium  der  Himmels- 
kunde zubringen  mufste.  Er  mufste  im  Sommer,  während  die 
Sonne  heifs  herniederbrannte,  zwischen  vier  lodernden  Feuern 
sitzen,  im  Winter  nasse  Kleider  tragen,  im  Regen  barhaupt  gehen. 


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Brahminen  und  Gymnosophisten. 


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Seine  Reinigung  wurde  durch  allerlei  mit  dem  Grab  der  Sonne 
(Finsternis,  Hölle,  Sarg  des  Hiram,  lauter  Sinnbilder  der  ersten 
drei  Eigenschaften  der  Natur)  zusammenhängende  Proben  voll- 
endet und  schliefslich  brachte  man  ihn  nächtlicherweile  in  die 
glänzend  erleuchtete  Einweihungshöhle,  an  deren  Ost-,  West-  und 
Südseiten  die  drei  Oberpriester  safsen,  die  die  Götter  Brahma 
(als  Vertreter  der  Materie  rot  bemalt),  Wischnu  (als  Vertreter  des 
Raumes  blau  bemalt)  und  Siwa  (im  Gegensatz  zur  schwarzen 
Nacht  der  Ewigkeit  weifs  bemalt)  darstellten  und  von  angemessen 
gekleideten  Mystagogen  (Mysterien-Erteilern)  umgeben  waren.  Die 
Riten  begannen  mit  einer  Anrufung  der  Sonne,  die  hier  „purush“ 
genannt  wurde,  worunter  man  die  »Lebensseele“  verstand,  einen 
Bestandteil  von  Brahms  Allgeist.  Nach  einigen  ferneren  Zere- 
monien mufste  der  Novize  die  Höhle  dreimal  umwandern  und 
nun  wurde  er  durch  sieben  dunkle  Gewölbe  geleitet,  wobei  Ein- 
geweihte die  Klagen  des  Gottes  Mahadewa  um  den  Verlust 
Siwas  durch  düsteres  Geheul  darstellten  und  den  Kandidaten 
durch  Blitze,  Geheul  und  scheufsliche  Ungeheuer  zu  erschrecken 
und  zu  verwirren  trachteten.  Nach  Erreichung  der  letzten  Höhle 
ertönte  die  heilige  Muscheltrompete,  eine  Flügelthüre  öffnete  sich 
und  der  Neuling  betrat  ein  von  blendendem  Licht  und  herrlichen 
Düften  erfülltes  Gemach,  das  mit  Bildsäulen  und  allegorischen 
Gestalten,  die  mit  Kleinoden  beladen  waren,  geschmückt  war. 
Dieses  Allerheiligste  vertrat  das  Paradies  und  führte  im  Tempel 
von  Ellora  auch  wirklich  diesen  Namen.  Man  sagte  dem  No- 
vizen, er  müsse,  die  Augen  unentwegt  auf  den  Altar  gerichtet, 
das  Herabsteigen  der  Gottheit  in  das  pyramidenförmige  Feuer, 
das  auf  demselben  loderte,  erwarten;  von  Begeisterung  oder 
Schwärmerei  erfafst,  mochte  er  vielleicht  wirklich  glauben,  Brahm*) 
auf  dem  Lotus  sitzend  zu  erblicken,  den  Zirkel  und  das  Feuer 
— die  Sinnbilder  der  Ewigkeit  und  der  Macht  — in  den  Händen 
haltend.  Das  Einweihungssymbol  war  eine  aus  sieben  dreimal 
geknüpften  Fäden  bestehende  Schnur. 

Der  nunmehr  für  wiedergeboren  geltende  Novize  durfte 
eine  Tiara,  ein  weifses  Gewand  und  einen  heiligen  Gürtel  an- 
legen.  Auf  seine  Stirne  wurde  ein  gewöhnliches  Kreuz  (+),  auf 
seine  Brust  ein  Antoniuskreuz  (Tau  T,  crux  ansata)  gezeichnet. 
Dann  übergab  man  ihm  den  Schlangenstein  als  Gegengift  gegen 
Schlangenbisse  und  das  zur  Erlangung  der  Vollkommenheit 
Wischnus  dienende  Salagramma  (schwarzer  Stein).  Schliefslich 


*)  Wir  sprechen  manchmal  von  Brahm , manchmal  von  Brahma. 
Der  erstere  ist  das  Ewige  Leben,  der  letztere  dessen  Verkörperung.  Die 
beiden  Worte  entsprechen  der  Bodenlosen  Gottheit  und  der  Jungfrau 
Sophia  der  christlichen  Theosophie. 


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Alte  Mysterien. 


vertraute  man  ihm  den  heiligen  Namen  des  Sonnenfeuers  an,  der 
auch  das  grofse  Trimurti  umfafste,  d.  h.  das  vereinigte  Prinzip, 
das  dem  Bestand  aller  Dinge  zu  Grunde  liegt  (=  die  indische 
Dreieinigkeit).  Dieses  Wort  war  OM  oder  AUM;  in  der  letz- 
teren Gestalt  vertrat  es  die  erschaffende,  erhaltende  und  zer- 
störende Gewalt  der  Gottheit,  personifiziert  durch  Brahma,  Wischnu 
und  Siwa.  Diesem  Namen , dessen  Sinnbild  ein  gleichseitiges 
Dreieck  ist,  schrieben  die  Eingeweihten  die  wunderbarsten  Fähig- 
keiten zu,  gerade  wie  die  Royal-Arch-Freimaurer  dem  Worte 
Jabulon.  Man  durfte  es  nur  still  denken,  nicht  aussprechen,  denn 
sein  Aussprechen  — so  glaubte  man  — würde  Himmel  und  Erde 
erbeben  lassen  und  sogar  den  Engeln  Furcht  einjagen.  Dem 
Neu-Eingeweihten  wurden  noch  die  verschiedenen  Abzeichen  und 
Aporeme  der  Mysterien  erläutert;  auch  sagte  man  ihm,  dafs  die 
Kenntnis  des  OM  ihn  mit  der  Gottheit  vereinige.  Bei  den  Per- 
sern bedeutete  die  Silbe  HOM  den  Lebensbaum  (Mann  und 
Baum  in  Einem),  den  Wohnsitz  der  Seele  Zoroasters;  gleich  den 
Indiern,  bestraften  sie  die  Enthüllung  des  Wortes  mit  dem  Tode. 
(Das  „Jahwe“  der  Hebräer  durfte  bekanntlich  ebenfalls  nicht  aus- 
gesprochen werden.)  Dieser  „heilige  Name“,  der  die  Verwerfung 
der  Vielgötterei  in  sich  schliefst,  bildet  den  goldenen  Faden,  der 
die  alten  Geheimgesellschaften  mit  den  modernen  verbindet. 

Zu  den  im  Allerheiligsten  sichtbaren  Sinnbildern  und  Ab- 
zeichen gehörte  der  Lingam  (Phallus),  der  das  männliche  Prinzip, 
die  Schöpferkraft  des  höchsten  Wesens  darstellte.  Er  fand  und 
findet  sich  an  den  Wänden  der  meisten  Hindutempel  und  sein 
Dienst  verpflanzte  sich  von  Indien  nach  Ägypten,  Griechenland, 
Skandinavien  und  anderen  Ländern.  Ein  solcher  Kultus  mufste 
zu  grofsen  Mifsbräuchen  führen;  ganz  besonders  war  dies  bei 
den  Gymnosophisten  der  Fall. 

Die  Schaffenskraft  der  höchsten  Gottheit  wurde  in  Indien 
aufserdem  noch  durch  den  Lotus  versinnbildlicht.  Der  auch  in 
Ägypten  heilig  gehaltene  Lotus,  die  Lilie  des  Nils,  bildete  das 
grofse  pflanzliche  Amulett  der  Völker  des  Ostens.  Die  Hindus 
dachten  sich  ihre  Götter  stets  auf  dem  Lotus  sitzend.  Er  be- 
deutete auch  die  Freiheit  der  Seele  nach  der  Befreiung  aus  ihrem 
irdischen  Schrein,  dem  Körper,  denn  er  wurzelt  in  dem  Schlamm 
des  Flufsbettes,  entwickelt  sich  vom  Keim  zu  einer  vollkommenen 
Pflanze,  wächst  über  den  Wasserspiegel  hinaus  und  schwebt  frei 
in  der  Luft,  unabhängig  von  jeder  äufseren  Stütze.  Als  Symbol 
Siwas  ruht  er  auf  einem  goldenen  Tisch  auf  dem  Gipfel  des 
Berges  Meru,  des  heiligen  Berges,  den  die  Hindus,  die  Tataren, 
die  Mandschuren  und  die  Mongolen  als  den  Mittelpunkt  der  Erde 
verehren.  Man  vermutet  ihn  im  Norden  Indiens  und  schreibt 
ihm  drei  Gipfel  zu  — einen  goldenen,  einen  sibernen  und  einen 


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Die  ägyptischen  Mysterien. 


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■eisernen  — auf  denen  die  Dreieinigkeit  Brahma,  Wischnu  und 
Siwa  ruht  Es  handelt  sich  offenbar  um  die  tatarische  Hoch- 
ebene, die  im  Süden  vom  Himalajagebirge  begrenzt  ist.  Auch 
die  Juden  pflegten  Berge  mit  drei  Spitzen  heilig  zu  halten;  der 
ölberg  bei  Jerusalem  z.  B.  galt  ihnen  als  Wohnsitz  der  Gott- 
heit. Im  Buche  Zachariä  lesen  wir,  dafs  während  der  drohenden 
Zerstörung  Jerusalems  der  Allmächtige  seine  Füfse  auf  die  beiden 
äufseren  Gipfel  des  Ölberges  setzte  und  dafs  der  mittlere  sich 
von  Ost  nach  West  spaltete,  ein  grofses  Thal  erzeugend. 

Bevor  wir  dieses  Kapitel  schliefsen,  müssen  wir  von  den 
Dschains  sprechen,  einer  buddhistischen  Sekte,  die  mit  den 
eigentlichen  Buddhisten  die  Göttlichkeit  der  Vedas  leugnet,  die 
Kasteneinteilung  jedoch  beibehält.  Sie  kennt  vier  Kasten;  obenan 
steht  die  Priesterkaste  (die  Brahminen).  Man  weifs,  dafs  deren 
Mitglieder  sich  einem  Einweihungszeremoniell  (upanajana)  unter- 
ziehen; aber  man  weifs  nicht,  worin  es  besteht.  „Dschain“ 
(oder  „dschina")  bedeutet  »Eroberer";  während  jedoch  bei  den 
eigentlichen  Buddhisten  der  Mensch  durch  Betrachtungen  zum 
„Eroberer“  wird,  wird  er  es  bei  den  Dschains  durch  Enthalt- 
samkeit Auf  dem  Berge  Abu  (in  Radschputana)  besitzen  sie 
den  prachtvollsten  Tempel  von  ganz  Indien.  Er  ist  ein  herrlicher 
Marmorbau  in  Kreuzform  und  soll  nicht  weniger  als  360  Millionen 
Mark  (? !)  gekostet  haben.  Er  bildet  das  Hauptziel  der  Wall- 
fahrten der  Dschains,  die  übrigens  in  Karlih  (Präsidentschaft 
Bombay)  ein  zweites  grofses  Heiligtum  haben,  einen  Felsentempel. 


Die  ägyptischen  Mysterien. 

Hohes  Alter  der  ägyptischen  Kultur.  — Altägyptische  Tempel.  - Ägyp- 
tische Priester  und  könige.  — Exoterische  und  esoterische  Lehren.  — 
Ägyptische  Götterlehre.  — Der  Phönix.  — Das  Kreuz.  — Einweihungs- 
örtlichkeiten. — Einweihungsverfahren.  - Serapis-Mysterien.  — Osins- 
Mysterien.  — Isis. 

Ein  langer,  schmaler  Streifen  Landes,  durch  ungeheure 
Überschwemmungen  bewässert,  von  ausgedehnten  Einöden  um- 
geben, durch  hohe,  steile  Felsen  vor  den  Einfällen  der  Nomaden- 
stätnme  geschützt,  erfreute  das  alte  Ägypten  sich  einer  der 
ältesten  und  glanzvollsten  Kulturen.  Ein  Thal,  ein  Flufs  und 
eine  Rasse  genügten  dort  zur  Hervorbringung  einer  Welt  von 
Wundern  zu  einer  Zeit,  da  es  in  Europa  noch  Menschen  gab, 
die  nackt  gingen  und  sich  die  Haut  färbten,  wie  z.  B.  die  alten 

Heckethorn*Knt»cher.  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  3 


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Alte  Mysterien. 


Bretonen,  oder  die  — wie  die  Griechen  — mit  Pfeil  und  Bogen 
ein  Nomadenleben  führten.  Viele  Tausende  von  Jahren  vor  dem 
trojanischen  Krieg  hatten  die  Ägypter  das  Schreiben  erfunden, 
wie  uns  der  jetzt  im  Berliner  Museum  aufbewahrte,  aus  der  Zeit 
Rhamses  des  Zweiten  stammende  hieratische  Papyrus  beweist, 
welcher  Vorschriften  für  die  Behandlung  zahlreicher  Krankheiten 
enthält.  Die  Ägypter  kannten  auch  bereits  viele  der  Bequem- 
lichkeiten, die  unser  Stolz  modern  nennt.  Die  griechischen 
Schriftsteller,  von  den  ägyptischen  Priestern  »Kinder"  genannt, 
füllen  ihre  Werke  mit  Erinnerungen  an  jenes  geheimnisvolle 
Land;  sie  sprechen  vom  Vater  Nil,  vom  hundertthorigen  Theben, 
vom  Labyrinth,  vom  Meroe-See,  von  den  Pyramiden,  der  Sphinx 
und  der  die  aufgehende  Sonne  begrüfsenden  Memnonssäule. 

Die  ägyptische  Chronologie,  das  Muster  und  Vorbild  aller 
anderen,  ist  in  unvergängliche  Denkmäler  eingegraben.  Aber 
lange  blieb  alles  für  uns  Geheimnis:  die  wegen  ihrer  flammen- 
ähnlichen Form  der  Sonne  heiligen  Obelisken,  die  Labyrinthe, 
die  die  denkende  Seele  vorstellenden  menschenköpfigen  Vögel, 
die  die  Schaffenskraft  andeutenden  heiligen  Pillenkäfer,  die  die 
Kraft  vertretenden  Sphinxe,  die  das  Leben  und  die  Ewigkeit  ver- 
sinnbildlichenden Schlangen,  die  Hieroglyphen  u.  s.  w.  u.  s.  w. 
Vielleicht  blieben  all  diese  Dinge  ein  ewiges  Geheimnis  auch  für 
das  ägyptische  Volk,  welches  in  Furcht  und  Schweigsamkeit  die 
Pyramiden  errichtete.  Die  Gesamtheit  dieser  Symbole  bildete 
die  Sprache  einer  der  umfassendsten  und  ausgedehntesten  Geheim- 
gesellschaften aller  Zeiten. 

Beim  Durchwandern  jener  gigantischen  Tempel,  beim  Durch- 
schreiten jener  Kreuzgänge,  die  nach  vielen  Windungen  ins 
Allerheiligste  führen,  mufs  man  unwillkürlich  an  die  Stille  und 
Einsamkeit  denken,  die  stets  in  diesen  Räumen  geherrscht  hat, 
welche  nur  die  Auserwählten  betreten  durften,  während  heutzutage 
jeder  weltliche  Fufs  Zutritt  hat.  Der  Tempel  von  Luxor  ist 
der  gröfste  auf  der  ganzen  Erde.  Er  hat  sechs  Vorhallen  mit 
langen  Reihen  von  Säulen,  Kolossen,  Obelisken  und  Sphinxen, 
sowie  sechs  Kreuzgänge.  Siebzig  Jahrhunderte  hindurch  fügte 
jedes  neue  Königsgeschlecht  einen  neuen  Teil  hinzu,  sodafs  die 
Gläubigen  sich  vom  Sitz  der  Gottheit  immer  weiter  entfernt 
sahen  und  das  Wunder  wie  das  Geheimnis  immer  gröfser  wurde. 
Die  sechste  Säulenhalle  blieb  unvollendet  — ein  Geschichtsbruch- 
stück, das  nie  vollendet  werden  wird.  Die  Wände  lind  die 
Säulen  der  Tempel  sind  mit  religiösen  und  astronomischen  Dar- 
stellungen bedeckt.  Daraus,  dafs  viele  der  letzteren  menschliche 
Wesen  in  verschiedenen  Leidens-  und  Folterungsstadien  zeigen, 
schlofs  man  auf  die  Grausamkeit  der  ägyptischen  Riten,  bis  man 


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Die  ägyptischen  Mysterien. 


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sich  durch  spätere  Forschungen  überzeugte,  es  handle  sich  da 
nur  um  die  den  Sündern  angeblich  im  Jenseits  drohenden  Strafen. 

Da  Wissen  Macht  ist,  herrschte  die  Priesterkaste  zuerst 
und  allein,  denn  nur  sie  war  im  Besitz  des  gesamten  Wissens. 
Zu  ihrem  eigenen  Schutz  bewaffnete  sie  einen  Teil  der  Bevöl- 
kerung, während  sie  die  grofse  Menge  durch  Aberglauben  und 
Korruption  im  Schach  hielt.  Allmählich  jedoch  lehnte  sich  der 
Wehrstand  gegen  den  Lehrstand  auf,  das  Militär  knickte  die 
Alleinherrschaft  der  Geistlichkeit  und  neben  den  Hohepriestern 
begannen  Könige  zu  regieren.  Doch  behielten  die  ersteren  die 
Oberhand.  Die  Pfaffen  hatten  den  Nil  entlang  festungsartige 
Tempel,  die  zugleich  herrliche  Wohnpaläste  waren  und  auch  als 
landwirtschaftliche  Anstalten,  Handelsemporien  und  Karawanen- 
stationen dienten.  Sie  ernannten  und  beherrschten  die  Könige 
und  regelten  aufs  genaueste  deren  Thun  und  Lassen.  Ihnen 
gehörten  die  höchsten  Ämter;  als  Gelehrte,  Richter  und  Ärzte 
genossen  sie  die  höchsten  Ehren.  Ihre  bedeutendsten  Schulen 
befanden  sich  in  Theben,  Memphis,  Heliopolis  und  Sais.  Sie 
besafsen  einen  grofsen  Teil  des  Bodens,  hoben  Zehnten  ein  und 
zahlten  keine  Steuern.  Sie  bildeten  die  auserwählte,  bevorrechtete 
und  einzig  freie  Klasse  der  Bevölkerung. 

Sie  waren  keine  Anhänger  des  Götzenglaubens  des  Volkes; 
doch  betrachteten  sie  es  als  für  sich  selbst  zu  gefährlich,  das  Volk 
aufzuklären.  Sie  unterliefsen  dies  daher  und  hielten  ihre  An- 
schauungen von  der  Einheit  Gottes  geheim.  Nur  Jene,  die  sich 
nach  vielen  Erprobungen  dessen  würdig  erwiesen,  wurden  in  die 
Mysterien  eingeweiht.  Wie  die  Priesterschaften  anderer  Länder, 
hatte  also  auch  die  ägyptische  eine  exoterische  und  eine 
esoterische  Lehre,  ein  Evangelium  für  die  »dumme  Menge“  und 
ein  anderes  für  den  eigenen  Gebrauch.  Die  Mysterien  selbst 
zerfielen  in  zwei  Gruppen:  die  »kleineren“  oder  Isis-  und  die 
»gröfseren"  oder  Osiris-  und  Serapis-Geheimnisse.  Die  der  Isis 
wurden  zur  Zeit  der  Frühlings-Tag-  und  Nachtgleiche  gefeiert, 
die  des  Serapis  während  der  Sommersonnenwende  und  die  des 
Osiris  um  die  herbstliche  Tag-  und  Nachtgleiche. 

Nun  einiges  über  die  ägyptische  Götterlehre,  doch  nur 
soweit  zum  Verständnis  der  Mysterien  unerläfslich.  Wie  bereits 
in  der  »Einleitung“  dargethan,  hatten  alle  Sinnbilder  und  Zere- 
monien sämtlicher  alten  Religionen  ursprünglich  eine  tiefe  und 
allgemeine  kosmische  Bedeutung;  doch  war  diese  in  der  Blüte- 
zeit der  Mysterien  schon  vielfach  verloren  gegangen  und  hatte, 
wie  auch  aus  dem  Nachstehenden  hervorgehen  wird,  einer  blofs 
astronomischen  Platz  gemacht. 

Osiris  versinnbildlicht  die  Sonne.  In  Ägypten  wurde  er 
als  ein  von  einem  Auge  überragtes  Scepter  dargestellt,  weil  die 

3* 


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Alte  Mysterien. 


Sonne  alles  sieht  und  beherrscht.  Das  Wort  »Osiris"  stammt 
offenbar  von  „Iswara",  einem  der  Beinamen  Brahmas.  Es  be- 
deutet »Höchster  Herr“  und  ist  somit  kein  Eigenname,  sondern 
ein  Titel.  Dieselben  Abenteuer,  welche  die  Hindus  von  Brahma 
erzählten,  schrieben  die  Ägypter  Osiris  zu.  Dieser  wird  von 
Typhon  getötet,  einer  aus  dem  Nilschlamm  erzeugten  Schlange. 
Typhon  ist  aber  nur  eine  Umstellung  von  Python,  das  von  dem 
griechischen  av&o > herkommt  (=  faulen,  verwesen,  modern)  und 
auf  die  schädlichen  Ausdünstungen  deutet,  die  von  dampfendem 
Schlamm  aufsteigen  und  die  Sonne  verbergen.  Deshalb  heifst 
es  z.  B.  in  der  griechischen  Götterlehre,  Apollo  ebenfalls  ein 
Symbol  der  Sonne  - habe  mit  seinen  Pfeilen  Python  erschlagen, 
d.  h.  die  Nebeldünste  mit  seinen  Strahlen  zerstreut.  Der  Tötung 
Osiris  durch  Typhon  wohnt  die  weitere  Bedeutung  des  vermeint- 
lichen Verschwindens  der  Sonne  zur  Winterszeit  inne.  Nach 
Osiris’  Tod  begiebt  sich  seine  Gattin  Isis  (-  der  Mond)  auf  die 
Suche  nach  ihm  und  schliefslich  findet  sie  seine  Leiche  in  14 
Stücke  zerschnitten,  was  auf  die  vierzehn  Tage  zwischen  Voll- 
mond und  Neumond  hinweist.  Sie  sammelt  die  Stücke,  mit  einer 
Ausnahme,  die  sie  durch  ein  anderes  ersetzt,  den  Phallus,  der 
zu  einem  Kultus  führte,  welcher  dem  indischen  Lingamdienst 
ähnelte.  Die  Bewohner  von  Sidon  nannten  Isis  Aschtarot 
(—  Astarte).  Dieses  Wort  besagt  »Herden",  »Reichtümer",  bild- 
lich den  Überflufs  der  Erde,  während  unter  »asliera"  (wörtlich 
»Säule")  der  Phallus  verstanden  wurde,  der  »Mast  des  Isisschiffes“. 

Galt  der  Menge  Isis  nur  als  der  Mond,  so  war  sie  für  die 
Eingeweihten  die  Allmutter  Hathor,  die  Urharmonie  und  Ur- 
schönheit  Jophis  (griechisch  Sophia).  Zu  Sais  wurde  ihr  Abbild 
als  »verschleierte  Isis"  verehrt;  die  Inschrift  lautete:  „Ich  bin 
alles  Gewesene,  alles  Vorhandene  und  alles  Zukünftige,  und  kein 
Sterblicher  hat  je  meinen  Schleier  gelüftet.“  Kosmisch  bedeutet 
die  Göttin  Hathor  die  Finsternis,  aus  der  das  Licht  hervorgeht 
— die  Nacht,  welche  die  Sonne  gebiert,  das  Urbild  der  Schwarzen 
Jungfrauen  des  römischen  Katholizismus. 

Der  Stier  (Apis)  bildete  in  der  ganzen  alten  Welt  einen 
Gegenstand  der  Verehrung,  weil  einst  das  Tierkreiszeichen  des 
Stiers  die  Frühlings-Tag-  und  Nachtgleiche  eröffnete. 

Das  ägyptische  Jahr  begann  mit  dem  Aufstieg  des  Hunds- 
sterns (Sirius).  Da  nun  auf  den  jährlichen  Überschufs  von  einem 
Vierteltag  keine  Rücksicht  genommen  wurde,  fing  jedes  vierte 
Jahr  um  einen  Tag  zu  früh  an.  Demgemäfs  begann  das  Jahr 
immer  an  einem  anderen  Tag:  der  Reihe  nach  an  jedem  Tag 
des  Jahres  während  eines  Zeitraums  von  4x365  -- 1460  Jahren. 
Die  Ägypter  glaubten,  es  müsse  allen  Jahreszeiten  zum  Segen 
gereichen,  wenn  das  Isisfest  ein  so  bewegliches  sei.  Dasselbe 


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Die  ägyptischen  Mysterien. 


37 


wurde  zusammen  mit  dem  Siriusfest  gefeiert,  obwohl  es  vom 
Hundsstern  zeitlich  oft  sehr  entfernt  war.  Daher  gingen  Ab- 
bildungen von  Hunden  oder  auch  lebende  Hunde  vor  dem  Wagen 
der  Isis  einher.  Wenn  dann  im  1-461.  Jahr  das  Isisfest  wieder 
mit  dem  Aufgang  des  Sirius  zusammenfiel,  so  erwartete  das  Volk 
ein  fruchtbares  Jahr,  das  durch  einen  wunderschönen  Vogel  dar- 
gestellt wurde,  den  es  Phönix  (,.deliciis  abundans“)  nannte;  es 
glaubte,  derselbe  sterbe  auf  dem  Altar  der  Sonne  und  aus  seiner 
Asche  entstehe  ein  kleiner  Wurm,  der  einen  dem  verbrannten 
Vogel  vollkommen  gleichenden  zur  Welt  bringe. 

Von  den  astronomischen  Zeichen  sprechend,  müssen  wir 
das  Kreuz  erwähnen.  Dafs  es  eigentlich  das  Feuer  bedeutet, 
wissen  wir  bereits;  in  Ägypten  jedoch  kannte  man  es  lediglich 
als  Nilmesser,  dessen  Querbalken  je  nach  dem  Stande  des  Flusses 
hinauf  oder  hinunter  geschoben  wurde.  Da  man  nun  den  Aus- 
tritt des  Nils  als  die  Rettung  Ägyptens  betrachtete,  zollte  man 
dem  Kreuzzeichen  bald  Verehrung  und  schrieb  ihm  geheime 
Tugenden  zu,  u.  a.  die  Macht,  Böses  abzuwenden,  weshalb  es 
in  kleinem  Format  (Form  T = Antoniuskreuz,  Tau)  Kindern  und 
Kranken  um  den  Hals  gehängt,  wie  auch  auf  den  zur  Einhüllung 
der  Mumien  dienenden  Schnüren  oder  Streifen  angebracht  wurde. 
Kurz,  das  Kreuzzeichen  galt  als  Amulett,  wie  später  bei  anderen 
Völkern  und  noch  jetzt  bei  den  katholischen  Christen.  In  den 
ägyptischen  Mysterien  galt  das  Tau  als  Sinnbild  des  ewigen 
Lebens,  anderwärts  aber  wurde  es  als  ein  astronomisches  Zeichen 
verehrt.  In  Indien  wurde  der  Novize  durch  das  Zeichen  des 
Kreuzes  geheiligt.  Bei  den  meisten  Völkern  des  Altertums  be- 
deutete es,  weil  es  auf  die  vier  Himmelsrichtungen  hinweist, 
das  Weltall.  Die  Errichtung  von  Tempeln  in  Kreuzesform  ist  so 
alt  wie  die  Baukunst  überhaupt  - das  beweisen  schon  die 
grofsen  Pagoden  zu  Benares  und  Mathura.  Aber  der  ältere 
und  tiefere  Sinn  des  Kreuzes  bezieht  sich,  wie  gesagt,  auf  das 
Feuer  und  das  Doppelwesen  der  Natur,  ihren  Dualismus,  ihre 
Gegensätzlichkeit.  Das  dreifache  Tau  ist  das  Abzeichen  der 
Royal-Arch-Freimaurer. 

In  Ägypten  (wie  auch  in  Indien,  Medien,  Persien  und 
Mexiko)  war  die  Einweihungsstätte  eine  über  unterirdischen 
Höhlen  errichtete  Pyramide.  Angesichts  ihrer  Gröfse,  Form  und 
Stärke  können  die  Pyramiden  als  künstliche  Berge  betrachtet 
werden.  Ihre  Gestalt  versinnbildlichte  nicht  nur  die  aufsteigende 
Flamme,  sie  hatte  einen  tieferen  Ursprung  in  der  konischen 
Form  — der  Urform  aller  natürlichen  Produkte.  Und  die  Grofse 
Pyramide  — das  Grab  Osiris'  - wurde  in  solcher  Lage  und 
Höhe  errichtet,  dafs  während  der  Tag-  und  Nachtgleichen  des 


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Alte  Mysterien. 


Herbstes  und  des  Frühlings  die  Sonne  genau  zu  Mittag  auf  dem 
Gipfel  zu  ruhen  schien. 

Der  Einweihungsbewerber  wurde  von  seinem  Führer  zu  einem 
in  der  Pyramide  angebrachten  tiefen,  dunkeln  Schacht  geführt, 
in  den  er,  mit  einer  Fackel  versehen,  auf  einer  Leiter  hinabstieg, 
die  sich  an  einer  Innenwand  befand.  Unten  angelangt,  sah  er 
zwei  Thüren,  deren  eine  er  verriegelt  fand,  während  er  die  andere 
leicht  öffnen  konnte.  Die  Schwelle  überschreitend,  hörte  er  die 
Thür  mit  gewaltigem  Getöse  zufallen  und  erblickte  einen  ge- 
schlängelten Gang,  an  dessen  Mauern  er  Inschriften  nach  Art 
der  folgenden  las:  „Wer  diesen  Weg  allein  zurücklegt,  ohne 
nach  rückwärts  zu  schauen,  wird  durch  Wasser,  Feuer  und  Luft 
gereinigt  werden.  Die  Todesfurcht  überwindend,  wird  er  aus 
den  Eingeweiden  der  Erde  ans  Tageslicht  emporsteigen,  um  seine 
Seele  zum  Empfang  der  Isismysterien  vorzubereiten."  Fort- 
schreitend, gelangte  der  Kandidat  zu  einem  von  drei  bewaffneten 
Männern  bewachten  eisernen  Thor;  die  drei  Männer,  deren  glän- 
zende Helme  von  sinnbildlichen  Tieren  überragt  waren,  ent- 
sprechen dem  Cerberus  des  Orpheus.  Jetzt  bot  sich  ihm  die 
letzte  Gelegenheit  zur  Umkehr,  falls  er  umkehren  wollte.  Ent- 
schied er  sich  für  die  Fortsetzung  des  Weges,  so  hatte  er  zunächst 
die  Feuerprobe  zu  bestehen,  indem  er  eine  Halle  durchschreiten 
mufste,  die  mit  allerlei  brennenden  Stoffen  erfüllt  war;  den  Fufs- 
boden  bedeckte  ein  Gitterwerk  von  rotglühenden  Eisenstangen 
mit  engen  Zwischenräumen,  die  der  Neuling  sorgfältig  benutzen 
mufste,  wenn  er  sich  nicht  die  Füfse  verbrennen  wollte.  Nach 
Überwindung  dieses  Hindernisses  kommt  die  Wasserprobe  an 
die  Reihe.  Der  Pilger  mufs,  sein  Lämpchen  auf  dem  Kopf, 
einen  breiten,  dunkeln  Kanal,  der  vom  Nil  gespeist  wird,  durch- 
schwimmen. Jenseits  erwartet  ihn  die  schwere  Luftprobe.  Er 
landet  auf  einer  Terrasse,  die  zu  einer  Elfenbeinthüre  führt,  welche 
sich  zwischen  zwei  kupfernen  Wänden  befindet,  in  deren  jede 
ein  ungeheures  Kupferrad  eingefügt  ist.  Nach  einem  vergeblichen 
Versuch,  die  Thüre  zu  öffnen,  erspäht  er  an  ihr  zwei  grofse 
Eisenringe;  kaum  hat  er  diese  ergriffen,  versinkt  die  Terrasse 
unter  seinen  Füfsen,  ein  eisiger  Windstofs  verlöscht  sein  Lämp- 
chen, die  beiden  Räder  drehen  sich  mit  furchtbarer  Geschwindig- 
keit und  betäubendem  Lärm,  während  er  an  den  Ringen  über 
einem  tiefen  Abgrund  hängt.  Ehe  er  jedoch  erschöpft  ist,  kehrt 
die  Terrasse  zurück,  die  Elfenbeinthüre  öffnet  sich  und  er  erblickt 
einen  herrlichen,  glänzend  erleuchteten  Tempel  voll  Isispriester 
mit  den  geheimnisvollen  Abzeichen  ihrer  Verrichtungen,  an  der 
Spitze  der  Oberpriester.  Nunmehr  hat  er  eine  lange  Reihe  von 
Fasttagen  durchzumachen,  zuletzt  neunmal  neun  Tage  umfassend. 
Während  der  ganzen  Zeit  mufs  er  die  strengste  Schweigsamkeit 


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Die  ägyptischen  Mysterien. 


39 


beobachten;  erst  nach  dem  Bestehen  dieser  letzten  Erprobung 
wird  er  in  die  vollen  Isismysterien  eingeweiht.  Vor  der  drei- 
fachen Statue  von  Isis,  Osiris  und  Horus  (Horus  bedeutet  eben- 
falls die  Sonne)  schwört  er,  die  im  Allerheiligsten  empfangenen 
Oeheimlehren  nicht  zu  verraten.  Dann  trinkt  er  das  ihm  vom 
Oberpriester  dargereichte  Lethewasser,  um  alles  zu  vergessen, 
was  er  in  seinem  früheren  — ungeheiligten  — Zustand  jemals 
gehört.  Nachher  trinkt  er  vom  Wasser  der  Mnemosyne  (=  Ge- 
dächtnis), um  alle  neuen  Weisheitslehren  gut  zu  behalten.  Ferner 
wird  er  in  den  geheimsten  Teil  des  heiligen  Gebäudes  geführt, 
wo  ein  Priester  ihm  die  Anwendung  der  daselbst  befindlichen 
Symbole  erläutert.  Endlich  verkündet  man  öffentlich  seine  er- 
folgte Einweihung  in  die  Isis-Mysterien,  die  den  ersten  Grad  der 
ägyptischen  Riten  bildeten. 

Der  zweite  Grad  waren  die  Serapis-Mysterien , von  denen 
wir  nur  wenig  wissen.  Als  Theodosius  den  Serapis-Tempel  zer- 
störte, wurden,  unter  der  Erde  Gänge  und  in  ihnen  Vorrichtungen 
entdeckt,  mittels  deren  die  Priester  die  Einweihungskandidaten  er- 
probten. Geringfügige  Anspielungen  finden  sich  bei  Apulejus, 
Porphyrius  und  Herodot. 

Der  dritte  Grad  der  ägyptischen  Laieneinweihung  bestand 
in  den  Osiris-Mysterien,  in  denen  die  Legende  von  der  Ermor- 
dung Osiris  durch  Typhon  dargestellt  wurde.  Der  Kandidat 
hatte  den  Gott  zu  verpersönlichen.  (Dieses  Verfahren  wird  von 
den  Freimaurern  bei  der  Verleihung  ihres  dritten  Grades,  des 
Meistergrades,  genau  nachgeahmt;  nur  tritt  an  Osiris'  Stelle  Hiram 
Abiff,  einer  der  drei  Grofsmeister  beim  Bau  des  Tempels  Salo- 
monis.)  Der  vollkommen  eingeweihte  Novize  hiefs  „Al-om-dschak“ 
und  die  Lehre  von  der  Einheit  Gottes  bildete  das  hauptsächlichste 
der  ihm  anvertrauten  Geheimnisse.  Wie  grofs  und  gefährlich 
dieses  Geheimnis  war,  läfst  sich  an  dem  Umstand  ermessen,  dafs 
nach  Ablauf  von  mehreren  Jahrhunderten  seit  Einführung  der 
Mysterien  Sokrates  die  Verkündigung  derselben  Lehre  mit  dem 
Tode  büfste.  Nach  Jamblichus  starben  die  in  die  höchsten  Ge- 
heimlehren Eingeweihten  für  ihr  eigenes  Ich  gleichsam  ab;  sie 
gingen  in  der  Gottheit  auf  und  wurden  verklärt.  Weder  Feuer 
noch  Eisen  konnte  ihnen  etwas  anhaben,  kein  Naturhindernis 
hemmte  ihren  Schritt,  der  Hauch  des  göttlichen  Geistes  umwehte 
sie.  Wir  haben  es  bei  diesen  heidnischen  Einbildungen  offenbar 
mit  den  vermeintlichen  Vorrechten  der  späteren  christlichen 
Mystiker  und  den  angeblichen  Verzückungen  der  römisch-katho- 
lischen Heiligen  zu  thun. 

Isis  führte  nicht  nur  viele  Namen,  sie  wurde  auch  mit  zahl- 
reichen Abzeichen  und  Sinnbildern  dargestellt,  welche  ihre  viel- 
fachen Eigenschaften  vertraten.  Das  leuchtende  Rund,  die  Schlange, 


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Alte  Mysterien. 


die  Kornähren  und  das  Rassel-Instrument  Sistrum  bedeuteten  die 
Titelgottheiten  der  Mysterien  der  Hekate,  des-  Bacchus  und  der 
eleusinischen  wie  jonischen  Geheimnisse,  d.  h.  die  mystischen 
Riten  überhaupt,  um  derentwillen  die  Allegorie  ersonnen  wurde. 
Die  schwarze  Palla,  in  welche  die  Göttin  gehüllt  ist,  weist  mit 
ihrer  Mond-  und  Sternen-Stickerei  darauf  hin,  dafs  die  Riten  in 
der  Nacht  gefeiert  wurden.  Ihre  Namen  finden  wir  in  dem  fol- 
genden Ausspruch,  den  Apulejus  ihr  in  seinem  »Goldenen  Esel“ 
in  den  Mund  legt: 

»Sieh,  Lucius,  von  deinen  Bitten  bewegt,  bin  ich  bei  dir  - 
ich,  die  ich  die  Natur  bin,  der  Ursprung  aller  Dinge,  die  Königin 
aller  Elemente,  die  Ur-Erzeugerin  der  Zeitalter,  die  höchste  der 
Gottheiten,  die  Beherrscherin  der  Geister  der  Toten,  das  erste 
der  himmlischen  Wesen,  der  Universalstoff,  die  einheitliche  und 
doch  vielförmige  Gestalt  der  unerschaffenen  Wesenheit.  Ich  be- 
herrsche mit  meinem  Wink  die  leuchtenden  Berggipfel,  die  Winde  des 
Meeres,  die  Stille  der  unteren  Reiche.  Der  ganze  Erdball  betet 
meine  Eingöttlichkeit  an  — in  mannigfaltiger  Weise,  mit  ver- 
schiedenen Riten  und  unter  allerlei  Namen.  Die  Phrygier  nennen 
mich  Pessinuntika,  die  Mutter  der  Götter;  die  Eingeborenen  von 
Attika:  die  kekropische  Minerva;  die  schwimmenden  Kyprer:  die 
Venus  von  Paphos;  die  pfeiltragenden  Kreter:  Diana  Dictynna; 
die  dreizüngigen  Sizilier:  stygische  Proserpina;  die  Eleusinier: 
die  alte  Göttin  Ceres.  Noch  andere  nennen  mich  Juno  oder 
Bellona  oder  Hekate  oder  Rhamnusia.  Die  Äthiopier,  Arier  und 
Ägypter,  die  in  der  alten  Gelehrsamkeit  bewandert  sind,  legen 
mir  meinen  wahren  Namen  bei:  Königin  Isis." 

Wir  sehen  also  klar,  dafs  Isis  den  Eingeweihten  nicht  blofs 
den  Mond  bedeutete.  Im  Allerheiligsten  wurden  die  vielfältigen 
Formen  auf  eine  Einheit  zurückgeführt;  all  die  zahlreichen  Götzen 
verschwanden  und  machten  Einer  Gottheit  Platz  — der  Urmacht, 
dem  Urgeist. 


Krata  Repoa. 


Vorbereitung.  — Erster  Grad.  — Zweiter  Grad.  — Das  Thor  des  Todes.  — 
Die  Schattenschlacht.  — Balahate.  Der  sechste  Grad.  — Der  höchste  Grad. 

»Krata  Repoa“  hiefsen  die  höheren  und  geheimeren  Grade 
der  ägyptischen  Mysterien.  Nur  die  Könige  und  Priester  des 
Landes  konnten  derselben  teilhaftig  werden  und  man  bedurfte 


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Krata  Repoa. 


•41 


behufs  Zulassung  zur  Bewerbung  der  besonderen  Empfehlung 
eines  bereits  Eingeweihten.  Gewöhnlich  ging  die  Empfehlung 
vom  König  selbst  aus.  Die  Priester  von  Heliopolis  wiesen  den 
Bewerber  an  die  von  Memphis,  von  dort  schickte  man  ihn  nach 
Theben,  sodann  wurde  er  beschnitten,  worauf  er  sich  verpflichten 
mufste,  keinen  Wein  zu  trinken  und  entweder  keine  Hülsen- 
früchte oder  keine  Fische  zu  essen.  Ferner  blieb  er  monatelang 
in  einer  unterirdischen  Höhle  sich  selbst  überlassen  und  man 
lud  ihn  ein,  seine  während  dieser  Zeit  angestellten  Betrachtungen 
niederzuschreiben.  Dann  wurde  er  in  eine  Galerie  gebracht, 
wo  er  die  auf  den  dortigen  Hermessäulen  eingemeifselten  Sitten- 
sprüche auswendig  lernen  mufste.  Sobald  er  sie  erlernt  hatte, 
erschien  sein  Thesmophor  (Einführer),  in  der  Hand  eine  dicke 
Peitsche,  die  den  Zweck  hatte,  profane  Zuschauer  von  dem  Thor 
femzuhalten,  durch  das  der  Kandidat  gehen  mufste.  Schliefslich 
verband  man  ihm  die  Augen  mit  einem  Tuch  und  fesselte  ihm 
die  Hände  mit  Stricken. 

Nach  diesen  Vorbereitungen  wurde  er  zum  »Thor  der 
Menschen"  geführt,  wo  der  Thesmophor  die  Schulter  eines  das 
Thor  bewachenden  Portophors  (Lehrlings)  berührte,  auf  dessen 
Klopfen  hin  das  Thor  sich  öffnete.  Nun  sah  der  Neuling  sich 
dem  Oberpriester  gegenüber,  dem  er  verschiedene  Fragen  beant- 
worten mufste.  Demnächst  wurde  er  bei  einem  künstlichen  Un- 
wetter mit  Sturm,  Regen,  Donner  und  Blitz  umhergeführt.  Legte 
er  hierbei  keine  Furcht  an  den  Tag,  so  erklärte  Menies  (der 
Erläuterer)  ihm  die  Gesetze  der  Krata  Repoa,  mit  denen  er  sein 
Einverständnis  kundgeben  mufste.  Sodann  kniete  er,  wieder  vor 
den  Oberpriester  gebracht,  vor  diesem  nieder  — wobei  die  Kniee 
nackt  sein  mufsten  und  schwor,  während  ihm  die  Spitze 
eines  Schwertes  an  die  Kehle  gesetzt  wurde,  Treue  und  Ver- 
schwiegenheit; als  Eideszeugen  rief  er  Sonne,  Mond  und  Sterne 
an.  Jetzt  nahm  man  ihm  die  Binde  von  den  Augen  und  stellte 
ihn  zwischen  zwei  Betilien  (schlanke  Säulen  oder  Pfeiler),  neben 
denen  eine  siebensprossige  Leiter  lag,  die  zu  acht  Thüren  aus 
verschiedenen  Metallen  führte,  deren  jedes  reiner  war  als  das 
vorhergehende.  Der  Oberpriester  redete  die  Anwesenden  als 
»Kinder  der  Arbeit  der  Himmelserforschung"  an  und  ermahnte 
sie,  ihre  Leidenschaften  zu  zügeln  und  ihre  Gedanken  auf  Gott 
gerichtet  zu  halten.  Der  Kandidat  erfuhr  nun,  dafs  die  Leiter, 
die  er  zu  erklimmen  hatte,  das  Sinnbild  der  Wanderungen  der 
Seele  sei.  Man  teilte  ihm  die  Ursachen  von  Wind,  Donner  und 
Blitz  mit  und  unterrichtete  ihn  in  der  Anatomie,  der  Heilkunde, 
der  symbolischen  Sprache  und  der  gewöhnlichen  Hieroglyphen- 
schrift Der  Oberpriester  vertraute  ihm  das  Losungswort  an 
(»amoun"  - Verschwiegenheit),  mittels  dessen  die  Eingeweihten 


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42  Alte  Mysterien. 

einander  erkannten,  sowie  eine  pyramidenförmige  Kappe  und  eine 
besondere,  Xylon  genannte  Schürze.  Um  den  Hals  trug  der 
Novize  ein  kragenartiges  Kleidungsstück,  das  die  Brust  eng  um- 
spannte. Er  hatte  als  Portophor  (Lehrling)  die  Pflicht,  das  »Thor 
der  Menschen"  zu  bewachen,  so  oft  ihn  die  Reihe  traf. 

Bewährte  sich  der  Portophor,  so  wurde  er  nach  einer 
langen  Fastenzeit  in  eine  dunkle  Zelle  oder  Kammer  (»Endimion" 
= Einladungsgrotte)  gebracht  und  mit  dem  zweiten  Grad,  dem 
eines  Neokoris,  bekleidet.  Die  schönen  Gattinnen  der  Priester 
reichten  ihm  Leckerbissen  und  suchten  seine  Liebe  zu  erregen. 
Widerstand  er  den  Versuchungen,  so  erschien  sein  Thesmophor, 
katechisierte  ihn  und  führte  ihn  in  die  Versammlung.  Dort  begofs 
ihn  der  Wasserträger  (stolista)  mit  Wasser,  worauf  der  Thesmophor 
eine  lebende  Schlange,  auf  ihn  warf,  um  sie  dann  unter  seiner 
— des  Neokoris  — Schürze  wieder  hervorzuziehen.  Behufs  Er- 
probung seines  Mutes  war  der  ganze  Raum  von  Schlangen  er- 
füllt. Demnächst  geleitete  man  ihn  zu  zwei  Säulen,  zwischen 
denen  ein  Greif  ein  Rad  vor  sich  her  rollte.  Die  Säulen  be- 
deuteten Ost  und  West,  der  Greif  die  Sonne,  die  vier  Radspeichen 
die  Jahreszeiten.  Nun  wurde  der  Neokoris  im  Gebrauch  des 
Richtscheits,  in  der  Baukunst  und  der  Geometrie  unterwiesen, 
mit  einem  schlangenumwundenen  Stab  versehen,  in  das  Losungs- 
wort „Heve“  (=  Schlange)  eingeweiht  und  mit  der  Geschichte 
des  Sündenfalls  vertraut  gemacht.  Er  hatte  die  Verpflichtung, .die 
Säulen  zu  waschen.  Das  Erkennungszeichen  bestand  im  Kreuzen 
der  Arme  über  der  Brust. 

Beim  Aufrücken  in  den  dritten  Grad  erhielt  der  Neokoris 
den  Namen  Melanophor.  Er  wurde  in  eine  Vorhalle  geführt, 
über  deren  Eingang  die  Inschrift  »Thor  des  Todes"  zu  lesen 
war.  Die  Wände  dieser  Vorhalle  waren  mit  Darstellungen  von 
Särgen  und  einbalsamierten  Leichen  bemalt.  Dieser  Raum  diente 
zur  Aufnahme  der  zu  secierenden  und  einbalsamierenden  Leichen, 
ln  der  Mitte  stand  der  Sarg  des  Osiris.  Befragt,  ob  er  an  der 
Ermordung  des  Gottes  teilgenommen,  antwortete  er  selbstver- 
ständlich mit  »Nein",  worauf  zwei  Tapixeiten  (=  Totengräber) 
ihn  in  einen  Saal  führten,  in  welchem  er  zahlreiche  andere  Me- 
lanophoren  in  schwarzer  Kleidung  erblickte.  Der  bei  solchen 
Anlässen  ebenfalls  stets  anwesende  König  sprach  den  Kandidaten 
freundlich  an  und  bat  ihn,  er  möge  für  den  Fall,  dafs  ihm  der 
Mut  fehle,  sich  der  nächsten  Probe  zu  unterziehen,  die  goldene 
Krone  annehmen,  die  er  — der  König  — ihm  anbot.  Aber 
einer  ihm  vorher  erteilten  Weisung  getnäfs  warf  er  die  Krone 
zu  Boden  und  trat  sie  mit  Füfsen.  Da  rief  der  König:  »Be- 
leidigung! Rache!"  und  berührte  mit  seiner  Opfer-Axt  flüchtig 
den  Kopf  des  Prüflings.  Sofort  warfen  die  zwei  Tapixeiten  diesen 


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Krata  Repoa.  -13 

nieder,  worauf  die  Pariskisten  (Sektoren)  ihn  wie  eine  Mumie 
einschnürten.  Während  alle  Anwesenden  in  Thränen  ausbrachen, 
wurde  er  zu  einem  Thor  geführt,  dessen  Inschrift  lautete:  »Heilig- 
tum der  Geister.“  Beim  Öffnen  des  Thores  empfingen  ihn 
Donner  und  Blitz.  Der  Höllenfährmann  Charon  nahm  den 
scheinbar  Toten  in  sein  Boot  auf  und  führte  ihn  vor  die  Richter 
der  Unterwelt.  Er  sah  Pluto,  von  Rhadamanthus,  Minos,  Orpheus, 
Arthon,  Nykreus  und  Alaster  umgeben,  auf  dem  Richterstuhl 
thronen.  Hier  wurden  sehr  strenge  Fragen  bezüglich  seines 
Erdenlebens  an  ihn  gestellt  und  das  Urteil  lautete  stets  dahin, 
dafs  er  in  der  vermeintlichen  Unterwelt  zu  verbleiben  habe. 
Man  nahm  ihm  die  Mumien-Umhüllung  ab  und  lehrte  ihn,  nie 
blutdürstig  zu  sein,  nie  eine  Leiche  unbegraben  zu  lassen,  sowie 
an  die  Auferstehung  der  Toten  und  an  ein  Jüngstes  Gericht  zu 
glauben.  Er  mufste  malen  lernen,  um  Särge  verzieren  zu  können. 
Auch  erhielt  er  Unterricht  in  der  sogenannten  » hierogramma- 
tischen"  Priester-Geheimschrift,  in  der  die  Geschichte  Ägyptens 
und  verschiedene  astronomische  und  kosmographische  Werke 
geschrieben  waren.  Das  Erkennungszeichen  war  eine  besondere 
Art  von  Umarmung,  welche  die  Macht  des  Todes  andeuten  sollte. 
Das  Losungswort  lautete:  »Ich  zähle  ^die  Tage  des  Zornes" 
(„monarch  karon  mini“). 

Der  unterirdische  Aufenthalt  dauerte,  bis  der  Melanophor 
eines  höheren  Grades  würdig  erachtet  wurde,  in  der  Regel 
anderthalb  Jahre.  Der  Thesmophor  erschien  nach  Ablauf  der 
»Tage  des  Zornes“,  gab  ihm  ein  Schwert  und  einen  Schild  und 
führte  ihn  durch  allerlei  finstere  Gänge,  bis  sie  einigen  gräfslich 
aussehenden  Personen  mit  Fackeln  und  Schlangen  in  den  Händen 
begegneten  und  von  ihnen  angefallen  wurden,  wobei  die  An- 
greifer »Panis!“  schrieen.  Der  Führer  ermunterte  den  Melanophor, 
sich  tapfer  zu  verteidigen.  Aber  die  Unholde  nahmen  ihn  schliefs- 
lich  gefangen,  verbanden  ihm  die  Augen,  legten  ihm  einen  Strick 
um  den  Hals,  schleppten  ihn  in  die  zur  Einweihung  in  den 
vierten  Grad  der  Krata  Repoa  dienende  Halle  und  verschwanden. 
Angesichts  der  Versammlung  nahm  man  ihm  die  Binde  von  den 
Augen  und  er  erblickte  an  den  Wänden  der  prachtvollen  Halle 
zahlreiche  schöne  Gemälde.  Der  König  und  der  höchste  Funk- 
tionär (demiurgos)  waren  ebenfalls  gegenwärtig.  Alle  Anwesenden 
trugen  den  »Orden  der  Wahrheit",  ein  Abzeichen  aus  Saphiren. 
Den  König  umgaben  der  Schriftführer,  der  Schatzmeister,  der 
Zeremonienmeister  u.  s.  w.  Der  »odos«  (=  Redner)  hielt  an 
den  Christophor  — dies  der  Name  der  Inhaber  des  vierten 
Grades  — eine  Ansprache,  in  der  er  ihn  zu  seinem  Mut  be- 
glückwünschte. Der  Neuling  mufste  nun  eine  Schale  »Kyke" 
(ein  aus  Haferschleim,  Wasser,  Wein  und  Milch  oder  auch  Honig 


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44  Alte  Mysterien. 

gemischtes  Getränk)  bis  zur  Neige  leeren,  worauf  er  den  Schild 
der  Isis  erhielt,  die  Schuhe  Anubis’  anzog,  den  Orkus-Mantel 
umnahm  und  die  Orkusmütze  aufsetzte.  Nun  gab  man  ihm  ein 
Schwert  in  die  Hand,  mit  dem  er  einer  Person,  die  er  in  einer 
Höhle  antreffen  werde,  das  Haupt  abschlagen  sollte,  um  es  dem 
König  zu  überbringen.  Alle  Anwesenden  riefen  aus:  »Niobe, 
dort  ist  die  Höhle  der  Feindin!“ 

In  der  betreffenden  Höhle  sah  der  Christophor  ein  aufser- 
ordentlich  schönes  Weib,  das  zu  leben  Schien,  in  Wirklichkeit 
aber  aus  schönen  Hautstücken  kunstvoll  zusammengestellt  war. 
Er  ergriff  es  bei  den  Haaren,  köpfte  es  und  brachte  das  Haupt 
dem  König,  der  ihn  ob  seiner  Kühnheit  pries  und  ihm  eröffnete, 
er  habe  Oorgona  getötet,  die  Gemahlin  Typhons,  die  Ursache 
des  Todes  Osiris’.  Er  erhielt  die  Genehmigung,  die  ihm  ge- 
schenkten Gewänder  jederzeit  zu  tragen,  sein  Name  wurde  in 
das  Verzeichnis  der  Richter  eingeschrieben,  er  durfte  fortan  un- 
gehindert mit  dem  König  verkehren  und  wurde  aus  der  Hof- 
küche verköstigt.  Auch  wurde  ihm  der  erwähnte  Wahrheitsorden 
Isis  als  Eule  darstellend  - verliehen,  der  jedoch  nur  an- 
läfslich  der  Einweihung  eines  Christophors  getragen  werden  durfte. 
Ferner  vertraute  man  jjjm  an,  dafs  der  »grofse  Gesetzgeber“ 
Joa  heifse,  welches  Wort  zugleich  als  Losungswort  diente.  Endlich 
mufste  er  das  Ammonitische  (die  Geheimsprache)  lernen,  da  er 
bald  in  die  höchsten  Mysterien  eingeweiht  werden  sollte.  Die 
Christophoren  hielten  Kapitel  ab,  welche  Pyxon  hiefsen  und  bei 
denen  der  Name  Sasychis  — ein  ägyptischer  Priester  der  grauen 
Vorzeit  — das  Losungswort  bildete. 

Zu  dem  fünften  Grad  (balahate)  war  jeder  Christophor 
eo  ipso  berechtigt;  derselbe  konnte  keinem  versagt  werden.  Er 
wurde  in  einen  Saal  geführt,  wo  er  der  einzige  Zuschauer  einer 
Art  von  Theatervorstellung  war.  Mehrere  Balahaten,  an  der 
Spitze  der  »Orus",  gingen  umher,  als  ob  sie  etwas  suchten. 
Plötzlich  zog  der  Orus  sein  Schwert  und  der  Kandidat  sah 
Typhon,  von  Flammen  umgeben,  in  einer  Höhle  sitzen.  Der 
Orus  näherte  sich  dem  aufstehenden  Typhon  und  erschlug  ihn 
trotz  seiner  hundert  Köpfe,  seiner  aufserordentlich  langen  Arme 
und  seines  schuppenbedeckten  Leibes.  Der  neue  Balahate  empfing 
nun  die  Belehrung,  dafs  Typhon  eigentlich  das  Feuer  bedeute, 
eines  der  furchtbarsten  Elemente,  ohne  welches  jedoch  das  Leben 
auf  der  Erde  unmöglich  wäre.  Auch  wurde  er  in  der  Chemie 
unterwiesen , wie  denn  auch  das  Losungswort  der  Balahaten 
»Chymia"  lautete. 

Beim  Aufrücken  in  den  sechsten  Grad  wurde  der  Balahate 
nach  dem  Betreten  des  Versammlungssaales  mit  Stricken  oder 
Ketten  gefesselt.  Dann  brachte  der  Thesmophor  ihn  zum  Thor 


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Krata  Repoa.  45 

des  Todes  zurück,  von  welchem  viele  Stufen  zu  einer  von  Wasser 
erfüllten  Höhle  führten,  in  der  er  die  Leichen  zahlreicher  Ver- 
räter der  Mysterien  schwimmen  sah.  Sein  Begleiter  sagte  ihm, 
dafs  ihm  für  den  Fall  eines  Verrates  das  gleiche  Schicksal  drohe, 
und  führte  ihn  zurück,  damit  er  seinen  Verschwiegenheitseid  er- 
neuere. Darauf  erhielt  er  Unterricht  in  der  Astronomie  und 
wurde  vor  der  Astrologie  und  der  Horoskopie  gewarnt,  den  ver- 
abscheuenswerten Quellen  jedes  Götzendienstes  und  Aberglaubens. 
Zum  «Thor  der  Götter"  geleitet,  sah  er,  nachdem  dieses  sich 
geöffnet  hatte,  an  den  Wänden  des  betreffenden  Saales  die  Bild- 
nisse aller  Götter,  deren  Geschichte  der  Demiurgos  ihm  erzählte. 
Endlich  lehrte  man  ihn  einen  priesterlichen  Tanz,  der  den  Lauf 
der  Himmelskörper  nachahmen  sollte.  Das  Losungswort  war 
Ibis,  das  Sinnbild*  der  Wachsamkeit. 

Der  siebente  und  höchste  Grad  der  Krata  Repoa  umfafste 
den  Rest  der  Geheimnisse  und  konnte  nur  mit  Zustimmung  des 
Königs  und  aller  Inhaber  dieses  Grades  verliehen  werden.  Nach 
Abhaltung  öffentlicher  Umzüge  (Pamylach  genannt,  d.  h.  die  Be- 
schneidung der  Zunge)  verliefsen  die  Mitglieder  des  Ordens 
nächtlicherweile  insgeheim  die  Stadt  und  zogen  sich  in  einige 
aufserhalb  derselben  auf  einem  Viereck  erbaute  Häuser  zurück, 
die  im  Volksmunde  »maneras"  hiefsen,  weil  man  glaubte,  dafs 
die  Manen  abgeschiedener  Menschen  in  ihnen  umgingen.  Diese 
Häuser  waren  von  Säulen  umgeben,  neben  denen  abwechselnd 
Schilde  und  Särge  lagen.  Beim  Eintreffen  erhielt  der  neue 
«Prophet“  — dies  der  Titel  der  Inhaber  des  siebenten  Grades, 
oder  auch  «Saphenat  Panka“,  d.  h.  ein  Mann,  der  alle  Geheim- 
nisse kennt  eine  Schale  Oimellas  (wahrscheinlich  eine  Mischung 
von  Wein  und  Honig)  und  die  Versicherung,  dafs  alle  Prüfungen 
vorüber  seien.  Auch  händigte  man  ihm  ein  Kreuz  von  eigen- 
tümlicher Geheimbedeutung  ein,  das  er  fortan  stets  tragen  sollte, 
und  bekleidete  ihn  mit  einem  weiten,  weifsgestreiften  Gewände, 
das  die  Bezeichnung  »etangi“  führte.  Dann  wurde  ihm  das 
Haupthaar  abrasiert  und  er  mufste  stets  eine  viereckige  Kappe 
tragen.  Er  durfte  alle  in  ammonitischer  Sprache  geschriebenen 
heiligen  Bücher  lesen,  und  er  konnte  es,  weil  er  den,  «könig- 
licher Strahl“  genannten  Schlüssel  zu  dieser  Sprache  besafs. 
Sein  gröfstes  Vorrecht  bestand  in  seiner  Stimmberechtigung  bei 
der  Königswahl.  Das  Losungswort  war  «adon“,  das  Erkennungs- 
zeichen das  Kreuzen  der  Arme  innerhalb  der  weiten  Ärmel 
des  etangi. 

Was  die  Worte  »Krata  Repoa“  bedeuten,  ist  unbekannt. 
Der  Orden  selbst  scheint  erst  im  Jahre  1 785  bekannt  geworden 
zu  sein,  und  zwar  durch  eine  deutsche  Broschüre,  auf  deren 
Titelblatt  weder  ein  Verfasser  noch  ein  Drucker  oder  Verlags- 


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46 


Alte  Mysterien. 


ort  genannt  war.  Der  französische  Freimaurer  Razon,  der  1821 
eine  Übersetzung  dieser  Broschüre  herausgab,  hält  die  Krata 
Repoa  für  eine  deutsche  Erdichtung,  die  alles  zusammenzufassen 
scheine,  was  sich  bei  Schriftstellern  des  Altertums  über  Ein- 
weihungsriten und  dergleichen  findet.  Der  Anonymus  von  1785 

giebt  als  Quellen  für  seine  Angaben  denn  auch  die  folgenden 
alten  Autoren  an:  Porphyrius,  Herodot,  Jamblichus,  Apulejus, 
Cicero,  Plutarch,  Eusebius,  Arnobius,  Diodor  von  Sizilien,  Ter- 
tullian,  Heliodor,  Lucian,  Rufinus. 


Wandlungen  der  Isis-Legende. 

Ausbreitung  der  ägyptischen  Mysterien.  — Dyonisische  (bacchische)  Mys- 
terien. — Sabaziscne  Mysterien.  Kabirische  Mysterien.  — Eleusinischc 
Mysterien.  — Altjukatanische  Mysterien.  — Horn-  und  Elfenbeinthiiren.  — 
Unterdrückung  der  eleusinischen  Geheimnisse.  Die  Thesmophorien.  — 
Der  Zweck  der  griechischen  Mysterien  mehr  sittlich  als  religiös.  — Der 
orphische  Bund. 

Die  Ausstrahlungen  der  ägyptischen  Geheimlehren  erleuch- 
teten und  belebten  die  Geheimlehren  von  Phönizien,  Kleinasien, 
Griechenland  und  Italien.  Wie  in  Ägypten  Isis  und  Osiris, 
waren  sie  auf  Samothrake  der  Mutter  der  Götter,  in  Böotien  dem 
Bacchus,  auf  Cypern  der  Venus,  auf  Kreta  dem  Jupiter,  in  Athen 
der  Ceres  und  der  Proserpina,  auf  Lemnos  dem  Vulkan,  in 
Amphissa  Kastor  und  Pollux  gewidmet  und  anderwärts  anderen. 
Ihr  Zweck  war  aber  überall  der  gleiche:  der  Glaube  an  nur 
Einen  Gott  und  an  ein  Jenseits. 

Die  dyonisischen  oder  bacchisehen  Mysterien  zerfielen  in 
..grofse“  und  -.kleine".  Die  letzteren  wurden  alljährlich  um  die 
herbstliche  Tag-  und  Nachtgleiche  gefeiert  und  zu  ihnen  hatten 
auch  weibliche  Personen  Zutritt.  Man  opferte  und  verzehrte  ein 
unreines  Tier,  worauf  die  Kandidaten  nebst  den  Eingeweihten 
sich  unter  heiligen  Tänzen  zum  Tempel  begaben.  Den  Kane- 
phoren,  welche  goldene  Gefäfse  voll  der  auserlesensten  Früchte 
trugen,  folgten  die  mit  langen  Stangen  versehenen  Träger  des 
Abzeichens  der  Schaffenskraft  — ein  Abzeichen,  das  die  an- 
wesenden Frauen  ebenfalls,  und  zwar  um  den  Hals,  tragen 
inufsten.  Den  Trägern,  die  mit  Epheu  (der  dem  Bacchus  heilig 
war)  bekränzt  waren,  folgten  als  Weiber  verkleidete  Männer,  die 
sich  wie  betrunken  zu  benehmen  hatten,  ln  der  nächsten  Nacht 
wurden  die  Einweihungsfeierlichkeiten  begangen,  bei  denen  man 


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Wandlungen  der  Isis-Legende. 


■17 


die  Sage  von  Bacchus'  Tötung  durch  die  Titanen  scenisch  dar- 
stellte; den  Bacchus  spielte  der  Aufnahmebewerber. 

Die  Feier  der  „grofsen"  Geheimnisse  erfolgte  nur  in  jedem 
dritten  Jahr,  und  zwar  zur  Zeit  der  Frühlings-Tag-  und  Nacht- 
gleiche in  der  Umgebung  eines  Sumpfes,  wie  das  Saisfest  der 
Ägypter,  ln  der  Nacht  vor  der  Einweihung  opferte  die  Gattin 
des  Oberpriesters  einen  Widder,  wobei  sie  die  Gemahlin  des 
Bacchus  vorstellte;  während  sie  sich  in  dieser  Eigenschaft  auf 
den  Thron  setzte,  riefen  die  Priester  und  die  Eingeweihten  (auch 
die  weiblichen):  »Heil,  Gattin!  Heil,  neues  Licht!“  Nun  wurde 
der  Kandidat  durch  allerlei  schwierige  Feuer-,  Wasser-  und  Luft- 
proben gereinigt,  um  schliefslich,  myrtenbekränzt  und  in  ein 
Rehkalbfell  gehüllt,  ins  Allerheiligste  eingeführt  zu  werden. 

Es  gab  Bacchus  zu  Ehren  noch  andere  Mysterien:  die 
sabazischen.  Sabazius,  einer  der  Namen  Bacchus’,  war  vermutlich 
von  Siwa  abgeleitet,  der  in  astronomischer  Hinsicht  das  Planeten- 
system mit  seinen  zahllosen  Gestirnen  bedeutete.  Diese  nachts 
abgehaltenen  Geheimnisse  bildeten  eine  Darstellung  der  Liebschaft 
zwischen  Proserpina  und  Jupiter,  der  Schlangengestalt  angenommen 
hat.  Dem  Kandidaten  wurde  eine  Schlange  (nach  einigen  Quellen 
eine  goldene,  nach  anderen  eine  lebende)  in  den  Busen  geworfen 
und  er  mufste  ausrufen:  „Evoe!  Sabai!  Baechis!  Anes!  Attes! 
Hues!“  In  den  meisten  Sprachen  des  Altertums  bedeutete  „Evoö“ 
oder  „Eva“  sowohl  „Leben“  als  auch  „Schlange";  daher  der 
Name  des  Weibes  des  ersten  biblischen  Menschen.  Hierin  ist 
auch  der  Ursprung  des  Schlangendienstes  der  alten  Welt  zu 
suchen.  Als  Moses  den  betrübten  Hebräern  in  der  Wüste  eine 
eherne  Schlange  zeigte,  wufsten  sie,  dafs  sie  erhalten  bleiben 
werden.  Wie  Sabai  (Sabazius),  waren  auch  „Hues“  und  „Attes“ 
andere  Namen  des  Bacchus.  Diese  Mysterien  erhielten  sich  bis 
zum  vollständigen  Verschwinden  des  Heidentums;  unter  Domitian 
gab  es  in  Rom  allein  rund  siebentausend  Eingeweihte. 

Wir  gelangen  nun  zu  den  kabirischen  Mysterien.  Das 
Wort  „Kabiri“  (so  nannte  man  die  auf  einigen  griechischen 
Inseln  verehrten  Naturgottheiten)  bedeutet  „mächtig"  und  kam 
ursprünglich  aus  Phöniziern  Es  gab  vier  Kabiri:  Aschieros, 
Adiiochersus,  Achiochersa,  Kaschmala;  sie  entsprachen  dem  Pluto, 
dem  Kamillus,  der  Ceres  und  der  Proserpina  der  Griechen. 
Kamillus  wurde  von  seinen  drei  Brüdern  erschlagen,  die  seine 
Zeugungsorgane  wegtrugen;  dieser  allegorische  Mord  kam  in  den 
geheimen  Riten  zum  Ausdruck.  Kamillus  war  identisch  mit 
Osiris,  Adonis  u.  s.  w.,  die  alle  die  gleiche  Verstümmelung  er- 
leiden und  dadurch  andeuten,  dafs  die  Sonne  im  Winter  ihre 
Schaffenskraft  verliert.  Diese  Mysterien  wurden  namentlich  auf 
Samothrake  und  Lemnos  gefeiert.  Die  Priester  hiefsen  Kory- 


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48  Alte  Mysterien. 

banten.  Über  die  ganze  Sache  herrscht  Unklarheit,  denn  diese 
Mysterien  sollen  angeblich  auch  zu  Ehren  Atys’,  des  Sohnes  der 
Kybele,  eingeführt  worden  sein.  Da  Atys  die  Sonne  vertrat  und 
die  Geheimnisse  um  die  Frühlings-Tag-  und  Nachtgleiche  ge- 
feiert wurden,  erscheint  es  als  zweifellos,  dafs  sie,  gleich  allen 
übrigen  Mysterien  in  der  Zeit  ihres  Verfalls,  den  rätselhaften 
Tod  der  Sonne  im  Winter  und  ihre  Auferstehung  im  Frühling 
darstellten.  Die  Feierlichkeiten  dauerten  drei  Tage,  deren  erster 
der  Trauer  galt;  an  ihm  fällte  man  eine  kreuzförmige  Fichte,  an 
die  man  ein  Bildnis  Atys'  befestigt  hatte,  denn  der  verstümmelte 
Leichnam  Atys’  war  unter  einer  solchen  Fichte  entdeckt  worden. 
Arrf  zweiten  Tag  wurden  Trompeten  geblasen,  damit  der  Gott 
aus  seinem  Todesschlaf  erwache;  am  dritten  feierte  man  unter 
grofsen  Freudenbezeugungen  seine  Auferstehung. 

Was  die  eleusinischen  Geheimnisse  betrifft,  so  waren  sie 
Ceres  geweiht,  der  griechischen  Isis.  An  Osiris'  Stelle  trat  Pro- 
serpina;  Osiris'  Tod  und  Proserpinens  Entführung  in  die  Unter- 
welt bedeuten  einerlei,  nämlich  das  Verschwinden  der  Sonne  im 
Winter.  Ursprünglich  blofs  in  der  attischen  Stadt  Eleusis  im 
Schwang,  verpflanzten  diese  Mysterien  sich  später  nach  Italien 
und  sogar  nach  England.  Auch  sie  bestanden  aus  gröfseren 
und  geringeren;  die  letzteren  dauerten,  wie  die  dyonisischen  und 
kabirischen,  neun  Tage  und  waren  aus  Reinigungen  und  Opfern 
zusammengesetzt,  also  lediglich  vorbereitender  Art.  Die  Ein- 
weihungsriten der  »gröfseren"  Geheimnisse  begannen  damit,  dafs 
der  Herold  ausrief:  »Ziehet  euch  zurück,  ihr  Profanen!“  Gleich- 
zeitig wurde  ein  langes,  schmales  Stück  Holz  oder  ein  Rad  in 
der  Luft  so  kräftig  herumgewirbelt,  dafs  es  einen  grofsen  Lärm 
machte.  Bei  der  Vorstellung  erschien  der  Einweihungsbewerber 
nackt,  womit  seine  vollständige  Hilflosigkeit  und  seine  Abhängig- 
keit von  der  Vorsehung  angedeutet  werden  sollte.  Mit  einem 
Kalbfell  bekleidet,  mufste  er  den  Verschwiegenheitseid  leisten. 
Auf  die  Frage:  »Hast  du  Brod  gegessen?“  antwortete  er:  »Nein; 
ich  habe  den  heiligen  Trank  getrunken,  bin  aus  dem  Korb  der 
Ceres  genährt  worden,  habe  gearbeitet  und  bin  ins  Bett  gestiegen.“ 
Unter  »Bett“  ist  das  Pastös  (Ort  der  Wiedergeburt)  zu  verstehen, 
in  dem  er  während  der  Prüfungszeit  eingemauert  war.  Nun 
mufste  er  sich  einer  Reihe  von  Erprobungen  unterziehen,  die 
denen  der  anderen  Mysterien  mehr  oder  minder  ähnelten. 
Schliefslich  gelangte  er  ins  Innerste  des  Tempels,  wo  er  die 
Bildsäule  der  Ceres  von  blendendem  Licht  umgeben  erblickte. 
War  er  bisher  ein  »Novize“  (mystes)  gewesen,  so  erhielt  er  jetzt 
den  Beinamen  »epoptes“  (=  Augenzeuge)  und  wurde  in  die  Ge- 
heimlehre eingeweiht.  Der  Oberpriester  schlofs  dann  die  Ver- 
sammlung mit  den  aus  dem  Sanskrit  korrumpierten  Worten 


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Wandlungen  der  Isis-Legende. 


49 


»Konx  om  pax*.  Nach  den  Mitteilungen  des  Kapitäns  Wilford 
werden  die  sanskritischen  Originalworte  »Kamscha  om  pakscha“ 
noch  jetzt  bei  den  religiösen  Versammlungen  und  Feierlichkeiten 
der  Brahminen  gesprochen  - ein  Beweis  mehr  für  den  östlichen 
Ursprung  der  Mysterien.  »Kamscha“  bedeutet  den  Gegenstand 
unserer  glühendsten  Wünsche;  »om«  = »Amen*;  »pakscha*  ■=■ 
Wechsel  oder  Glück.  — Auch  in  den  alt-jukatanischen  Mysterien, 
von  denen  wir  übrigens  sehr  wenig  wissen,  kam  eine  ähnliche 
Redewendung  vor,  indem  die  Priester  ihre  geheimen  Versamm- 
lungen mit  den  Worten  »Kon-ex  omon  pault!“  schlossen;  doch 
sollen  dieselben  bei  ihnen  so  viel  bedeutet  haben,  wie  »Fremd- 
linge, entfernt  euch!“ 

Apulejus'  »Goldner  Esel"  und  das  sechste  Buch  von  Vergils 
»Aeneide*  enthalten  Schilderungen  der  Vorgänge  bei  der  Ab- 
haltung der  eleusinischen  Mysterien.  Vergil  läfst  Aeneas  und 
seinen  Führer  nach  Beendigung  ihres  Rundganges  durch  die 
Unterwelt  zum  elfenbeinernen  Thor  der  Träume  hinausgehen. 
Aufserdem  gab  es  ein  Hornthor,  durch  das  der  Einweihungs- 
kandidat eintrat.  Alle  Einweihungshöhlen  hatten  zwei  Thore: 
den  »Abstieg  zur  Hölle*  und  den  »Aufstieg  der  Gerechten."  Die 
alten  Dichter  sagten,  dafs  aus  dem  Hornthor  wirkliche,  aus  dem 
elfenbeinernen  trügerische  Erscheinungen  hervorgingen.  Da  nun 
Aeneas  und  sein  Führer  die  Hölle  durch  das  Elfenbeinthor  ver- 
liefsen,  glaubten  manche  Kritiker,  dafs  Vergil  damit  andeuten 
wollte,  alles,  was  er  über  die  Untenveit  mitgeteilt  habe,  sei  Er- 
findung. Dies  aber  konnte  der  Dichter  nicht  gut  haben 

andeuten  wollen;  was  er  meinte,  war,  dafs  es  thatsächlich  ein 
Jenseits  gebe,  dafs  jedoch  die  Darstellungen  desselben  in  den 
Mysterien  nur  Schatten  waren.  Das  Elfenbeinthor  selbst  war 
nichts  anderes  als  die  Prunkthüre  des  Tempels,  durch  welche 
die  Eingeweihten  nach  Schlufs  der  Feierlichkeit  herauskamen. 

Die  eleusinischen  Mysterien  überlebten  alle  übrigen ; sie 
behaupteten  sich  noch  in  ihrem  vollen  Glanz,  als  die  kabi- 
rischen  und  die  ägyptischen  bereits  verschwunden  waren.  Unter- 
drückt wurden  sie  erst  396  n.  Chr.  Geb.  durch  Theodosius  den 
Grofsen,  der  in  seinem  christlichen  Fanatismus  gegen  Anders- 
gläubige die  gröfsten  Grausamkeiten  beging. 

Wir  müssen  hier  noch  die  Thesmophorien  erwähnen.  Dieser 
Ausdruck  bedeutet  ein  Gesetzgebungsfest  und  bezieht  sich  im  be- 
sonderh  auf  die  sinnbildlichen  Riten,  welche  einen  Bestandteil 
des  Ceresfestes  bildeten.  Von  Ceres  glaubte  man  nämlich,  dafs 
sie  den  Griechen  gute  Eigentums-  und  Landwirtschaftsgesetze 
gegeben  habe.  Zur  Erinnerung  hieran  trugen  auserwählte  Frauen 
bei  den  mit  den  Thesmophorien  verbundenen  feierlichen  Umzügen 
(zu  Eleusis)  die  Tafeln,  auf  denen  jene  Gesetze  verzeichnet  waren. 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Gehcimlchren.  4 


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so 


Alte  Mysterien. 


Von  diesen  Feierlichkeiten  wissen  wir  nicht  viel;  aus  den  „Thes- 
mophoriasuzae“  des  Aristophanes  erfahren  wir,  dafs  sie  im 
Oktober  stattfanden  und  drei  bis  vier  Tage  dauerten.  Nur 
weibliche  Personen  durften  an  ihnen  teilnehmen;  den  Männern 
war  die  Betretung  des  Tempels  bei  Todesstrafe  verboten.  Jeder 
athenische  Stamm  wählte  zwei  ehelich  geborene,  verheiratete  und 
durch  Tugendhaftigkeit  hervorragende  Frauen.  Die  Besitzer  eines 
Vermögens  von  mindestens  drei  Talenten  hatten  die  Pflicht, 
ihren  Gattinnen  das  zur  Bestreitung  der  Kosten  des  Festes  er- 
forderliche Geld  zu  geben.  Da  die  Thesmophorien  nicht  nur 
die  Landwirtschaft  (das  Säen)  und  die  Gesetzgebung,  sondern 
auch  die  engsten  Beziehungen  zwischen  Gatte  und  Gattin  be- 
trafen, mufsten  sich  alle  Ehepaare  neun  Tage  lang  gänzlicher 
Enthaltsamkeit  befleifsigen.  So  wie  Ceres  (=  die  Erde)  die  Abwesen- 
heit Proserpinens  (d.  h.  der  Sonne)  betrauerte,  betrauerte  während 
der  Thesmophorien  die  athenische  Frauenwelt  die  Abwesenheit 
des  Lichtes  der  Liebe. 

Der  Zweck  der  Einweihung  in  die  griechischen  Mysterien 
war  mehr  ein  sittlicher  als  ein  religiöser  - im  Gegensatz  zu 
den  indischen  und  ägyptischen  Geheimnissen,  die  mehr  religiöser, 
wissenschaftlicher  und  politischer  Natur  waren.  Dies  rührt  daher, 
dafs  zur  Zeit  der  Einführung  der  Mysterien  in  Griechenland  die 
Wissenschaft  nicht  mehr  ein  Vorrecht  weniger  bildete  und  das 
politische  Leben  des  Volkes  dieses  bereits  zum  thatkräftigen  Bau- 
meister der  eigenen  Gröfse  gemacht  hatte.  Wir  erblicken  in  den 
griechischen  Mysterien  schon  die  Morgenröte  einer  neuen  Zeit, 
den  Verfall  der  alten  Naturverehrung  und  eine  Hinneigung  der 
Menschen  zu  dem  Bestreben,  die  Natur  zu  überwinden,  also  den 
geraden  Gegensatz  zum  Geiste  des  Altertums,  der  die  vollständige 
Unterordnung  des  Individuums  unter  die  Einflüsse  des  Alls  be- 
vorzugte. Einer  der  ersten  Vertreter  der  neuen  Richtung  war 
Pythagoras,  der  seine  Jünger  in  Exoteriker  und  Esoteriker  teilte. 
Die  letzteren  schlossen  sich  nach  seinem  Tode  dem  »orphischen 
Bund“  an,  dessen  Name  sich  von  dem  sagenhaften  Sänger 
Orpheus  herleitete.  Die  diesem  zugeschriebenen  Hymnen  waren 
vermutlich  Werke  des  Onomakritos,  der  im  sechsten  Jahrhundert 
vor  Christi  Geburt  lebte,  und  zeugten  von  Frömmelei.  Die 
fahrenden  Priester  dieses  Bundes,  die  „Orpheothelesten",  wurden 
als  Quacksalber  und  Betrüger  berüchtigt. 


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Chinesische  und  japanische  Mysterien. 


51 


Chinesische  und  japanische  Mysterien. 

Chinesische  Metaphysik.  Einführung  der  chinesischen  Mysterien.  — Ver- 
gleichung zwischen  Buddhismus  und  Christentum.  Lao-tse.  — Japa- 
nische Mysterien.  — Japanische  Lehren.  — Der  tibetanische  Grofs-Lama. 

In  der  chinesischen  Schöpfungslehre  finden  wir  Spuren  der 
einst  allgemein  verbreiteten  Kenntnis  der  Eigenschaften  der  ewigen 
Natur.  Die  Materie  — das  erste  stoffliche  Prinzip  — verfährt 
aus  sich  selbst  heraus  und  bringt  die  dualistischen  (zweiheitlichen, 
gegensätzlichen)  Kräfte  der  Natur  hervor.  Dieses  erste  stoffliche 
Prinzip,  „tai-keik“  genannt,  galt  für  das  erste  Glied  in  der  Kette 
der  Ursagen,  die  äufserste  Grenze  inmitten  der  Unbegrenzbarkeit, 
obgleich  es  inmitten  des  Nichts  stets  ein  unendliches  „Le" 
(Prinzip  der  Ordnung)  gegeben  habe.  Das  Le  wurde  als  un- 
endlich bezeichnet,  weil  es  sich  durch  keinerlei  Gestalt  darstellen 
läfst,  da  es  das  »Ewige  Nichts“  ist.  Diese  fragmentarische  Über- 
lieferung des  ältesten  metaphysischen  Systems  der  Welt  hat  den 
Spott  vieler  moderner  Schriftsteller  hervorgerufen;  bei  Licht 
besehen  aber  ist  sie  trotz  ihrer  Unvollkommenheit  oder  Un- 
beholfenheit  im  Ausdruck  nichts  andres  als  die  Lehre  der  Theo- 
sophen.  Besonders  auffallend  macht  sie  sich  in  der  Verehrung 
geltend,  die  die  Chinesen  der  Siebenzahl  zollen  — der  Zahl  des 
Todes,  der  Zerstörung'-  als  dem  stofflichen  Ende  und  dem 
himmlischen  Anfang. 

Die  Chinesen  übten  bis  zu  einigen  Jahrhunderten  vor 
Christus  den  Buddhismus  in  seiner  einfachsten  Form  und  beteten, 
einen  unsichtbaren  Gott  an.  Aus  den  Lehren  des  Confucius, 
der  im  fünften  Jahrhundert  vor  unsrer  Zeitrechnung  lebte,  geht 
hervor,  dafs  es  zu  seiner  Zeit  keine  Mysterien  gab.  Diese 
wurden  erst  notwendig,  als  die  Chinesen  Götzendiener  geworden. 
Das  Hauptziel  der  Einweihung  war  das  Aufgehen  in  der  Gottheit 
O-mi-to  Fo.  »O-mi-to“  stammte  von  dem  sanskritischen  armida 
(=  unmefsbar) ; »Fo“  war  einer  der  Namen  Buddhas.  Der 
Buchstabe  Y stellte  den  dreieinigen  Gott  vor  und  galt  für  ebenso 
unaussprechlich  wie  die  Tetraktys  des  Pythagoras  oder  das  Tetra- 
gramm der  Juden,  ln  den  chinesischen  Mysterien  spielte  der 
Regenbogen  eine  grofse  Rolle  als  Symbol  des  Wiedererscheinens 
der  Sonne.  Dies  war  übrigens  auch  in  Mexiko  der  Fall. 

Die  allgemeine  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Buddhismus  und 
dem  römischen  Katholizismus  ist  so  grofs,  dafs  sie  von  den 
Katholiken  selbst  anerkannt  wird;  nur  schreiben  diese  sie  dem 

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Alte  Mysterien. 


Umstand  zu,  dafs  Satan  die  wahre  Religion  gefälscht  und  nach- 
gemacht habe.  Die  Ähnlichkeit  erstreckt  sich,  wie  wir  sehen 
werden,  sogar  auf  manche  kleinen  Einzelheiten. 

Nach  der  Legende  stieg  Buddha  vom  Himmel  herab,  um 
als  Mensch  geboren  zu  werden,  und  zwar  zu  dem  ausgesprochenen 
Zweck,  allem  Fleisch  Frieden  und  Ruhe  zu  sichern,  die  Erde 
von  Kummer  und  Trauer  zu  befreien  und  die  Wahrheit  zu 
predigen.  Zur  Zeit  seiner  Geburt  erleuchtete  ein  helles  Licht 
das  Weltall  und  die  seinen  Eintritt  in  die  Welt  ankündigenden 
Gottheiten  begrüfsten  seine  Mutter  mit  den  Worten:  „Hohe  Freude 
dir,  Königin  Maja!  Juble  und  frohlocke,  denn  das  Kind,  welches 
du  geboren  hast,  ist  heilig!"  Maja  war,  gleich  Maria,  eine 
Jungfrau.  Simons  Anbetung  im  Tempel  erinnert  lebhaft  an  die 
Anbetung  des  Kindleins  Buddha  durch  den  ehrwürdigen  Axiten. 
Wie  die  buddhistische,  hat  auch  die  römische  Kirche  ein  Ober- 
haupt, und  zwar  ein  unfehlbares,  ferner  die  Ehelosigkeit  der 
Priester,  Gebete  in  einer  dem  Volk  unbekannten  Sprache,  Mönchs- 
und Nonnenklöster,  die  Anbetung  von  Heiligen  und  anderen  Ver- 
mittlern zwischen  Himmel  und  Erde,  namentlich  einer  Jungfrau 
mit  einem  Kind,  sodann  Gebete  für  die  Toten,  die  häufige 
Wiederholung  eines  Gebetes  mit  Hilfe  des  Rosenkranzes,  „über- 
flüssige" Wohlthaten  und  gute  Werke,  Selbstkasteiungen,  Geifse- 
lungen,  einen  zeremoniösen  täglichen  Gottesdienst  mit  Gesängen, 
brennenden  Kerzen , Weihwasserbesprengungen , Verneigungen 
und  Niederknieen,  ferner  Fast-  und  Festtage,  Prozessionen,  gött- 
liche Bildnisse,  Heiligenbilder,  Wunderlegenden,  die  Reliquien- 
verehrung, das  Fegefeuer,  das  Sakrament  der  Beichte.  Der 
römische  Katholizismus  und  einige  andere  Glaubensbekenntnisse 
sind  nichts  andres  als  modernisierter  Buddhismus.  Die  Über- 
lieferung vom  „Priester  Johannes"  („Prester  John")  hat  ihren 
Ursprung  in  der  grofsen  Übereinstimmung  zwischen  dem  Budd- 
hismus und  einem  durch  Aberglauben  arg  entstellten  Christentum. 
Im  zwölften  Jahrhundert  gab  es  nämlich  in  China  einen  grofsen 
Mongolenstamm,  der  sich  zum  Buddhismus  bekannte,  den  Rei- 
sende irrigerweise  für  eine  orientalische  Sekte  des  Christentums 
hielten;  die  unter  den  Mongolen  lebenden  nestorianischen  Christen 
nannten  das  Haupt  der  vermeintlichen  Sekte  „Priester  Johannes“; 
so  entstand  die  Überlieferung,  es  gebe  im  Herzen  Asiens  eine 
christliche  Kirche,  deren  Päpste  „Priester  Johannes"  heifsen. 

Während  Confucius  der  Religions-Gesetzgeber  Chinas  war, 
war  Lao-tse  der  grofse  Philosoph  der  Chinesen  und  er  übertraf 
jenen  an  Tiefe  und  Selbständigkeit  des  Denkens.  „Lao“  (=  „Le") 
wird  von  den  Chinesen  mit  „ein  unbestimmbares,  ungreifbares, 
aber  dennoch  Formen  aufweisendes  Ding"  wiedergegeben,  während 
Lao-tse  selbst  darunter  „Verstand,  Verständnis“  zu  verstehen 


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Chinesische  und  japanische  Mysterien.  53 

scheint  Seine  Philosophie  ist  friedlich  und  liebevoll  — Punkte, 
in  denen  sie  der  christlichen  Lehre  vielfach  ähnelt. 

Was  die  alten  Japaner  betrifft,  so  glaubten  sie,  dafs  die 
Welt  vor  ihrer  Erschaffung  in  einem  Riesen -Ei  eingeschlossen 
war,  bis  dieses  von  einem  Stier  zerschlagen  wurde.  Das  ist  eine 
Abart  der  bei  so  vielen  alten  Völkern  vorkommenden  Allegorie, 
die  sich  auf  den  Stier  des  Tierkreises  bezieht  welcher  dereinst 
das  Jahr  eröffnete,  die  Frühlings-Tag-  und  Nachtgleiche.  Es  ist 
das  derselbe  Stier,  den  die  Ägypter  als  Apis  verehrten,  den  die 
Israeliten  in  der  Wüste  als  goldenes  Kalb  anbeteten  und  der  in 
den  mitraitischen  Mysterien  geopfert  wurde,  um  mit  seinem  Blute 
die  Erde  zu  befruchten.  Die  Japaner  verehrten  eine  von  ihnen 
»Sohn  des  unbekannten  Gottes“  genannte  Gottheit  (Tensio-dai- 
sin),  die  sie  als  den  Schöpfer  der  Sonne  und  des  Mondes  betrach- 
teten. Die  Einweihungsbewerber  wurden  durch  künstliche  Sphären 
geleitet,  die  aus  beweglichen  Kreisen  bestanden  und  die  Um- 
drehungen der  Planeten  darstellen  sollten.  Ein  Spiegel  bildete 
das  bedeutsame  Sinnbild  des  allsehenden  Auges  der  Haupt- 
gottheit  Der  Schlufs  der  Vorbereitungszeremonien  bestand  darin, 
dafs  der  Kandidat  ins  Pastös  (=  Ort  der  Wiedergeburt)  eingesperrt 
wurde,  dessen  Thor  vermeintlich  eine  furchtbare  Gottheit  mit 
gezücktem  Schwert  bewachte.  Mancher  Bewerber  verfiel  im  Lauf 
seiner  Erprobung  in  einen  so  hohen  Grad  von  Schwärmerei, 
dafs  er  das  Pastös  durchaus  nicht  verlassen  wollte  und  darin 
blieb,  bis  er  einfach  verhungerte.  Für  ein  solches  Martyrium 
war  ewige  himmlische  Glückseligkeit  in  Aussicht  gestellt.  Wir 
haben  es  da  nur  mit  einer  Abart  des  Buddhismus  zu  thun.  Als 
Xavier  sah,  wie  sehr  die  Riten  der  Japaner  denen  der  römischen 
Katholiken  glichen,  rief  er  aus:  »Der  Teufel  äfft  die  Kirche 
Christi  nach!»  Wie  der  chinesische  und  tibetanische  Buddhismus, 
ähnelt  der  japanische  Gottesdienst  thatsächlich  so  sehr  dem 
römisch-katholischen,  dafs  man  den  Ausruf  Xaviers,  der 
weder  ein  Gelehrter  noch  ein  Philosoph  war,  ganz  gut  be- 
greifen kann. 

Die  Japaner  glaubten  und  glauben,  dafs  der  Gott  Tensio- 
dai-sin  zwölf  Apostel  habe  und  die  Sonne  - der  Planetenheld 
— mit  Ungeheuern  und  den  Elementen  kämpfe.  Die  Priester 
des  Sonnentempels  tragen  feuerfarbene  Mäntel  und  feiern 
alljährlich  vier  Feste:  den  dritten  Tag  des  dritten  Monats, 
den  fünften  des  fünften,  den  siebenten  des  siebenten,  den  neunten 
Tag  des  neunten  Monats.  Bei  einem  dieser  Feste  wird  eine 
dem  Adonismythos  ähnliche  Sage  zur  Darstellung  gebracht, 
wobei  die  Natur  von  einem  vielfarbig  gekleideten  Priester  ver- 
persönlicht  wird.  Die  »Jammabos»,  d.  h.  die  in  die  japanischen 
Mysterien  Eingeweihten,  müssen  sich  für  die  Einführung  durch 


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Alte  Mysterien. 


längere  Enthaltsamkeit  vom  Fleischgenufs  und  durch  vielerlei 
Reinigungen  und  Läuterungen  vorbereiten. 

Die  Gottheit  der  Tibetaner  Dalai-Lama  - nimmt,  wie  die 
Priester  dem  Volk  einreden,  Menschengestalt  an.  Die  wahre 
Religion  jedoch  — identisch  mit  der  Schöpfungslehre  — wird 
nur  in  den  fast  unzugänglichen  Mysterien  gelehrt.  Der  Ober- 
priester, d.  h.  die  jeweilige  Verkörperung  des  Gottes,  wird  der- 
artig verehrt,  dafs  das  Volk  Pillen,  die  aus  seinem  Unrat  gedreht 
werden,  ifst,  weil  es  sie  für  heilig  hält!  Diese  scheufsliche 
Übung  ist  ein  Ausflufs  des  Glaubens  an  die  Seelenwanderung  — 
die  der  indischen  Lehre  von  der  Verwesung  und  Wiedererzeugung 
entspricht  - und  soll  in  Wirklichkeit  bedeuten,  dafs  sämtliche 
Teile  des  Weltalls  unablässig  absorbiert  werden,  um  in  einander 
überzugehen.  Das  ist  die  Schlange,  die  ihren  eigenen  Schweif 
verzehrt.  Die  Lamawürde  stammt  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert; 
im  vierzehnten  vollzog  ein  Teil  der  Geistlichkeit  eine  Spaltung 
und  bildete  eine  eigene  Sekte.  Die  beiden  rivalisierenden  Reiigions- 
gesellschaften  werden  nach  der  Kopfbedeckung  ihrer  Anhänger 
»Rote  Quasten"  und  »Gelbe  Mützen"  genannt. 


Mexikanische  und  peruvianische  Mysterien. 

Die  Eingeborenen  von  Amerika.  — Mexikanische  Gottheiten.  — Grausam- 
keit des  mexikanischen  Gottesdienstes.  — Einweihung  in  die  mexikanischen 
Mysterien.  — Die  höheren  Geheimnisse.  — Menschenopfer.  — Blutige  Häute 
als  Gewandung.  — Peruvianische  Mysterien.  — Die  Einweihung  bei  den 

Quiches. 

Die  Ethnologen  wissen  uns  bis  jetzt  noch  nichts  über  den 
Ursprung  der  Urbewohner  des  amerikanischen  .Festlandes  zu 
sagen.  Wir  wissen  aber,  dafs  eine  dieser  Völkerschaften  in  vor- 
geschichtlichen Zeiten  eine  hochentwickelte  Kulturnation  war. 
Das  geht  aus  den  in  Zentral-Amerika  entdeckten  Trümmern 
schöner  Städte  hervor.  Auch  beweisen  alte  archäologischen  Über- 
bleibsel, dafs  die  Religion  von  Mexiko  und  Peru  im  grofsen 
und  ganzen  dieselbe  war  wie  die  der  asiatischen  Völker  - ganz 
naturgemäfs,  denn  die  moralischen  und  physischen  Gesetze  des 
Weltalls  sind  überall  die  gleichen  und  in  der  gleichen  Weise 
wirksam,  weshalb  sie  auch  die  gleichen  Ergebnisse  haben  müssen, 
nur  dafs  diese  durch  klimatische  und  andere  örtliche  Verhältnisse 
mehr  oder  minder  abgeändert  werden. 

Das  Religionssystem  der  Mexikaner  war  von  sehr  düsterer 
Strenge.  Die  hauptsächlichsten  der  vielen  Gottheiten,  die  sie 


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Mexikanische  und  peruvianische  Mysterien.  55 

verehrten,  waren:  Teotl,  das  unsichtbare  höchste  Wesen;  Virococha, 
der  Schöpfer;  Vitzliputzli  oder  Heritsilopochtli,  der  Gott  der  Barm- 
herzigkeit (ihm  wurden  die  blutigsten  Opfer  dargebracht  — ein 
Beweis  dafür,  dafs  die  mexikanischen  Priester  in  dieser  Beziehung 
ebenso  inkonsequent  waren  wie  die  fanatischen  Pfaffen  Europas, 
die  im  Namen  des  Gottes  der  Barmherzigkeit  Mitmenschen  wegen 
Andersgläubigkeit  folterten  und  verbrannten);  Teskalipuka,  der 
Gott  der  Rache;  Quetsalkoatl  (=  »mit  grünen  Federn  bekleidete 
Schlange“),  der  mexikanische  Merkur;  Miktlaneiheratl,  die  Göttin 
der  Hölle;  Tlalok-teatli  (=  Neptun);  Ixciana  (=  Venus).  Vitzliputzli, 
dessen  Name  sich  auf  die  Sonne  bezog,  schrieb  man  die  Er- 
neuerung der  Welt  zu.  Man  glaubte,  er  sei  von  einer  Jungfrau 
geboren,  deren  Befnichtung  durch  ein  ihr  vom  Himmel  in  den 
Schofs  gefallenes  Federbüschel  erfolgt  sei,  welches  in  allen  Regen- 
bogenfarben geprangt  habe.  Er  wurde  in  der  Gestalt  eines  Furcht 
einflöfsenden  Mannes  dargestellt  und  safs  auf  einer  azurblauen 
Kugel  über  einem  geräumigen  Altar,  der  während  der  mit  der 
Feier  der  Mysterien  verbundenen  Umzüge  auf  einer  himmelblauen 
Sänfte  umhergetragen  wurde.  Er  hatte  eine  blaue  Stirne  und 
auf  der  Nase  einen  blauen  Streifen.  Bekanntlich  bildete  auch  in 
den  Zelten  der  alten  Juden  Blau  die  vorherrschende  Farbe.  Hier 
wie  dort  besafs  diese  eine  astronomische  Bedeutung.  Auch 
Wischnu  war,  wie  wir  bereits  wissen,  blau  bemalt.  In  der 
rechten  Hand  hielt  Vitzliputzli  eine  Schlange,  das  Sinnbild  des 
Lebens.  Darstellungen  dieses  Reptils  finden  sich  auf  sämtlichen 
Tempeln  Mexikos  und  Perus.  Spuren  des  Schlangendienstes  der 
abendländischen  Welt  begegnen  wir  auch  in  den  nordamerika- 
nischen  Staaten  Ohio  und  Jowa,  wo  es  tausend  Fufs  lange  und 
noch  längere  künstliche  Schlangenhügel  aus  Erde  giebt.  Von 
Teskalipuka  glaubte  man,  er  bestrafe  die  Sünden  der  Menschen 
mit  Pest,  Hungersnot  u.  dgl.  und  sein  Zorn  könne  nur  durch 
Menschenopfer  besänftigt  werden,  weshalb  ihm  zu  Ehren  nicht 
selten  Tausende  an  einem  Tag  hingeschlachtet  wurden. 

Die  mexikanischen  Tempel  waren  voll  schrecklicher  Götzen, 
die  durchweg  in  Menschenblut  gebadet  waren.  Die  Kapelle 
Vitzliputzlis  wurde  mit  den  Schädeln  der  ihm  geopferten  Menschen 
geschmückt;  die  Wände  und  der  Fufsboden  waren  zollhoch  mit 
Blut  bedeckt;  vor  dein  Götzenbild  konnte  man  häufig  die  noch 
zuckenden  Herzen  der  getöteten  Opfer  sehen.  Die  Haut  der 
letzteren  diente  den  Priestern  als  Kleidung.  Dieser  widerliche 
Gebrauch  rührte  nach  der  Legende  von  dem  Umstand  her,  dafs 
Tosi,  »die  grofse  Mutter»,  menschlichen  Ursprungs  war;  Vitzli- 
putzli schärfte,  um  ihr  göttliche  Ehren  zu  verschaffen,  den  Mexi- 
kanern ein,  sie  zu  ihrer  Königin  zu  machen,  sie  dann  zu  töten, 
ihr  die  Haut  abzuziehen  und  mit  dieser  einen  jungen  Mann  zu 


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Alte  Mysterien. 


bedecken;  so  ihres  Menschentums  entledigt,  wurde  sie  unter  die 
Götter  versetzt.  Eine  andere  empörende  Unsitte,  die  ebenfalls 
eine  Folge  dieser  Sage  war,  werden  wir  später  erwähnen. 

Der  Einweihungskandidat  mufste  sich  ähnlichen,  aber 
gröfseren  Schrecken,  Leiden  und  Bufsen  unterziehen  wie  den  im 
Morgenland  üblichen.  Er  wurde  mit  Knotenstricken  gegeifselt, 
man  schnitt  ihm  mit  Messern  ins  Fleisch  und  steckte  Schilfrohr 
in  die  Wunden,  damit  das  Blut  rascher  fliefse  oder  man  brannte 
die  Wunden  mit  glutroter  Asche  — Erprobungen,  unter  denen 
viele  zu  Grunde  gingen.  Die  ..Reinigungen“  erfolgten  nicht  mit 
Wasser,  sondern  mit  Blut  und  des  Bewerbers  Gewand  war  schwarz 
statt  weifs.  Vor  der  Einweihung  erhielt  er  ein  Getränk,  das  an- 
geblich die  Furcht  bannen  sollte,  in  Wirklichkeit  aber  nicht  selten 
geistesstörend  wirkte.  Sodann  wurde  der  Kandidat  in  die  finsteren 
Einweihungshöhlen  geführt,  die  sich  unter  dem  Fundament  des 
mächtigen  pyramidenförmigen  Vitzliputzlitempels  zu  Mexiko  be- 
fanden und  die  Bezeichnung  «Pfad  der  Toten"  führten.  Die 
Mysterien,  die  er  nun  mitmachte,  versinnbildlichten  die  Wan- 
derungen der  Götter,  d.  h.  den  Lauf  der  Sonne  durch  die 

Zeichen  des  Tierkreises.  Alles,  was  die  Einbildungskraft  er- 
schrecken und  den  Mut  erproben  konnte,  liefs  man  den  Kandi- 
daten erblicken  und  hören.  Er  vernahm  das  Geschrei  Verzwei- 
felter und  das  Ächzen  Sterbender.  Er  kam  an  den  Kerkern 

vorbei,  in  denen  die  Unglücklichen  vor  ihrer  Opferung  gemästet 
wurden,  und  durch  Höhlen  mit  von  halbgeronnenem  Blut 

schlüpfrig  gewordenem  Fufsboden.  Bald  sah  er  den  zuckenden 
Körper  eines  Sterbenden,  dem  soeben  das  Herz  ausgerissen 

worden,  um  dem  blutdürstigen  Gotte  der  Barmherzigkeit  dar- 
gebracht zu  werden ; bald  erblickte  er  im  Dach  die  Öffnung, 
durch  welche  die  Opfer  vom  Altar  hinabgestürzt  wurden.  Schliefs- 
lich  gelangte  er  am  Ende  der  schier  grenzenlosen  Höhlenreihe 
zu  einer  engen  Steinspalte,  durch  die  er  geschoben  wurde,  um 
von  einer  lauten  Menge  als  ein  wiedergeborener  Mensch  begrüfst  zu 
werden.  Die  weiblichen  Personen  entkleideten  sich  hierauf, 
tanzten  in  nacktem  Zustande  dreimal  einen  bacchantischen  Tanz 
und  gaben  sich  dann  den  zügellosesten  Ausschweifungen  hin. 

Wie  die  morgenländischen  Völker,  hatten  'auch  die  Mexi- 
kaner, aufser  der  exoterischen  Lehre  für  die  niedrigeren  Ein- 
geweihten, eine  esoterische,  die  nur  den  Priestern  zugänglich  war 
und  auch  diesen  erst  nach  Darbringung  eines  Menschenopfers. 
Die  geheimsten  Kenntnisse  wurden  ihnen  um  Mitternacht  beigebracht, 
und  zwar  unter  Auferlegung  äufserst  strenger  Verpflichtungen, 
deren  Verletzung  unbarmherzig  mit  dem  Tode  bestraft  wurde. 
Die  eigentliche  Lehre  war  astronomischer  Natur,  indem,  wie  bei 
den  übrigen  alten  Völkern,  bei  den  grofsen  Festen  das  Ver- 


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Mexikanische  und  peruvianische  Mysterien. 


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schwinden  der  Sonne  beklagt  und  schliefslich  bei  dem  ..Fest  des 
neuen  Feuers"  ihr  Wiedererscheinen  freudig  gefeiert  wurde.  Nach 
dem  Auslöschen  alles  Feuers,  selbst  des  heiligen  im  Tempel, 
begab  sich  die  ganze  Bevölkerung  der  Stadt  Mexiko  unter  An- 
führung der  Priesterschaft  zu  einem  nahen  Hügel.  Dort  wartete 
man,  bis  die  Plejaden  in  der  Mitte  des  Himmels  standen,  worauf 
ein  Menschenopfer  dargebracht  wurde.  Das  zum  Anzünden  des 
neuen  Feuers  durch  die  Priester  benutzte  Werkzeug  legte  man 
auf  die,  dem  zur  Opferung  bestimmten  Gefangenen  beigebrachte 
Brustwunde;  nach  dem  Anzünden  des  Feuers  warf  man  den 
Bedauernswerten  auf  den  schon  bereitstehenden  ungeheuren 
Scheiterhaufen  und  setzte  diesen  in  Brand.  Das  mit  Freuden- 
geschrei empfangene  neue  Feuer  wurde  von  Dorf  zu  Dorf  ge- 
tragen, dort  in  den  Tempeln  aufbewahrt  und  von  hier  aus  in  die 
Wohnungen  der  Bevölkerung  verteilt.  Bei  Sonnenaufgang  erneute 
sich  das  Jubelgeschrei. 

Den  gänzlich  eingeweihten  Priestern  wurde  ferner  bei- 
gebracht die  Lehre  von  der  Unsterblichkeit,  von  einer  dreieinigen 
Gottheit  und  von  der  Urbevölkerung,  welche  sich  unter  Anführung 
Vitzliputzlis,  der  mit  einem  schlangenförmigen  Stab  in  der  Hand 
in  einem  quadratischen  Kasten  safs,  schliefslich  auf  einem  lotus- 
reichen  See  niederliefs,  auf  dem  sie  ihr  Allerheiligstes  errichtete. 
Es  war  dies  der  See,  in  dessen  Mitte  die  inselartige  Stadt  Mexiko 
ursprünglich  stand. 

Dafs  kein  Priester  ohne  vorherige  Opferung  eines  Menschen 
Esoteriker  werden  konnte,  haben  wir  bereits  erwähnt.  Diese 
schreckliche  Zeremonie  mufsten  die  spanischen  Eroberer  oft  an 
ihren  gefangen  genommenen  Landsleuten  vollziehen  sehen.  Der 
Oberpriester  trug  ein  langes,  scharfes  Feuersteinmesser,  ein 
anderer  Priester  einen  Holzkragen  und  vier  Priester  umstanden 
einen  pyramidenförmigen  Opferstein,  dessen  oberes  Ende  rund- 
erhaben  war,  so  dafs  der  mit  dem  Rücken  darauf  gelegte  Mann 
derart  gekrümmt  wurde,  dafs  der  Magen  beim  ersten  Einschnitt 
des  Messers  losgetrennt  werden  konnte.  Zwei  Priester  hielten 
dem  Unglücklichen  die  Füfse,  zwei  die  Hände  fest,  der  fünfte 
legte  ihm  den  Holzkragen  um;  sodann  trennte  der  Oberpriester 
ihm  den  Magen  los  und  rifs  ihm  das  Herz  aus,  welches  er  zuerst 
gegen  die  Sonne  emporhielt  und  nachher  einem  der  Götzen  vorwarf, 
während  der  Körper  des  Geopferten  die  Stiege  hinab  gestürzt 
wurde,  die  sich  um  das  ganze  riesige  pyramidenförmige  Gebäude 
wand.  In  dieser  entsetzlichen  Weise  opferte  man  binnen  wenigen 
Stunden  vierzig  bis  fünfzig  Menschenleben.  Häftlinge  von  hohem 
Rang  oder  bewährtem  Mut  genossen  das  Vorrecht,  diesem  grau- 
samen Tode  zu  entgehen  und  sogar  ihre  Freiheit  zu  erlangen, 
falls  es  ihnen  glückte,  sechs  mexikanische  Krieger  der  Reihe 


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SS  Alte  Mysterien. 

nach  zu  bekämpfen;  gelang  ihnen  das  nicht,  so  wurden  sie  hin- 
geopfert. 

Die  bereits  erwähnte  Benutzung  der  Haut  der  Opfer  als 
Hülle  fand  auch  noch  bei  anderen  Gelegenheiten  statt.  Bei  ge- 
wissen Festen  kleidete  man  einen  Mann  in  die  noch  rauchende 
Haut  des  Opfers.  Auch  Könige  und  Qrofswürdenträger  hielten 
es  nicht  unter  ihrer  Würde,  sich  so  zu  verkleiden  und  dann  in 
den  Strafsen  um  Almosen  für  wohlthätige  Zwecke  zu  betteln, 
und  zwar  so  lange  bis  die  Haut  zu  verwesen  begann.  An  einem 
gewissen  Feiertag  wurde  ein  Weib  getötet  und  mit  der  Haut  ein 
Mann  bekleidet,  der  in  diesem  Zustand  zwei  Tage  lang  mit 
seinen  Mitbürgern  herumtanzte. 

Die  Inkas,  die  Beherrscher  von  Peru,  rühmten  sich,  von 
der  Sonne  und  dem  Mond  abzustammen,  die  daher  angebetet 
wurden.  Der  Hauptgott  der  Peruvianer  war  jedoch  Pacha-Kamak 
(=  «Der  dem  Weltall  Leben  Gebende“),  dessen  Name  für  so 
heilig  galt,  dafs  er  nur  den  Eingeweihten  mitgeteilt  wurde.  Dieser 
Gottheit  errichteten  sie  keine  Tempel.  Sie  hatten  auch  einen 
Götzen  namens  Tangatango  (=  »Einer  in  drei  und  drei  in 
Einem").  Ihre  Mysterien,  von  denen  wir  fast  gar  nichts  wissen, 
wurden  am  ersten  September -Mondtag  gefeiert;  man  blieb  die 
ganze  Nacht  wach  und  öffnete  bei  Sonnenaufgang  die  östlichen 
Thore  des  grofsen  Tempels  zu  Cuzco,  so  dafs  die  Sonnenstrahlen 
das  dort  angebrachte  goldene  Abbild  der  Sonne  beleuchten 
konnten.  Decke  und  Wände  dieses  Tempels  waren  vollständig 
mit  Goldplatten  bedeckt  und  das  aus  einem  runden,  von  Strahlen 
und  Flammen  umgebenen  Gesicht  bestehende  Bildnis  des  grofsen 
Tagesgestirns  nahm  fast  eine  ganze  Wand  ein.  Sodann  um- 
wanderten  die  »Sonnenjungfrauen“  welchen,  gleich  den 
römischen  Vestalinnen,  das  heilige  Feuer  anvertraut  war  und  die 
sich  ewiger  Keuschheit  befleifsigen  mufsten  — den  Altar,  während 
die  Priester  den  Versammelten  die  milden  und  gerechten  Gesetze 
von  Peru  erläuterten.  Im  Gegensatz  zur  Gottesverehrung  ihrer 
Nachbarn,  der  Mexikaner,  war  die  der  Peruvianer  unblutig. 
Immerhin  aber  kam  es  bei  ganz  besonderen  Anlässen  auch  bei 
ihnen  vor,  dafs  ein  Kind  oder  ein  junges  Mädchen  geopfert 
wurde;  doch  waren  das  seltene  Ausnahmen. 

Wir  haben  in  einem  früheren  Kapitel  bemerkt,  dafs  die  die 
Maja-Sprache  redenden  Völker  Mysterien  hatten.  Einer  dieser 
Stämme,  die  Quiches  von  Xibalba,  der  im  Herzen  des  Gebirges 
von  Guatemala  lebte,  besafs  seine  eigenen  Einweihungsriten.  Das 
heilige  Buch  der  Quicjies,  »Popol-wuh“  genannt,  sagt,  dafs  der 
Kandidat  zwei  Flüsse  zu  passieren  hatte  einen  aus  Blut,  einen 
aus  Morast  - um  die  vier  Strafsen  zu  erreichen,  an  deren  Ende 
ihn  ein  Priester  erwartete.  Dieser  hiefs  ihn  niedersetzen,  aber 


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Die  Druiden. 


59 


der  Sitz  war  glühend  heifs.  Nun  verbrachte  er  die  Nacht  im 
»Dunklen  Hause“,  wo  er  zwei  Erprobungen  bestand;  die  dritte 
machte  er  im  »Speerhause“  durch,  wo  er  mit  Speeren  bewaffnete 
Männer  bekämpfen  mufste,  die  vierte  im  »Eishause“,  die  fünfte 
im  »Tigerhause“,  die  sechste  im  »Feuerhause“,  die  siebente  im 
»Fledermaushause";  hier  erschien  der  Gott  der  Fledermäuse, 
Kamasotz,  dem  Kandidaten  und  enthauptete  ihn,  falls  er  nicht 
auf  seiner  Hut  war. 


Die  Druiden. 

Etymologisches.  — Tempel.  — Einweihungsorte.  — Riten.  Lehren. 
Politische  und  richterliche  Macht.  Priesterinnen.  Verfall  und  Ende. 

Die  Geheimlehren  der  Druiden  ähnelten  vielfach  denen  der 
morgenländischen  Priester  des  Altertums  und  zerfielen  in  exo- 
terische und  esoterische.  Sowohl  in  Gallien  als  auch  in  Britannien 
geübt,  erlangten  die  druidischen  Riten  ihre  gröfste  Ausbildung 
in  dem  letzteren  Lande,  wo  die  Insel  Anglesey  als  ihr  Hauptsitz 
galt  Gewöhnlich  wird  das  Wort  »Druiden"  vom  griechischen 
igf'»  (=  Eiche)  abgeleitet,  einem  Baum,  der  als  besonders  heilig 
verehrt  wurde;  doch  läfst  es  sich  auch  vom  gälischen  »druidh“ 
ableiten,  das  einen  »weisen  Mann“  oder  »Zauberer“  bedeutet. 

Die  Tempel,  in  denen  die  Druiden  ihr  heiliges  Feuer  auf- 
bewahrten, standen  zumeist  auf  Anhöhen  und  in  dichten  Eichen- 
hainen. Ihre  Bauart  war  entweder  kreuzförmig,  weil  das  Kreuz 
als  das  Sinnbild  der  Wiedergeburt  betrachtet  wurde,  oder  kreis- 
rund, weil  der  Kreis  das  Weltall  bedeutete,  oder  flügelförmig,  um 
die  Bewegung  des  göttlichen  Geistes  anzudeuten,  oder  schlangen- 
artig, weil  die  Schlange  das  Symbol  des  druidischen  Osiris 
Hu  — bildete,  oder  eirund,  um  an  das  Welt-Ei  zu  erinnern,  aus 
dem  nach  der  Überlieferung  vieler  Völker  das  Weltall,  nach 
anderen  Überlieferungen  das  erste  Menschenpaar  hervorging. 
Der  Bau  wurde  aus  unbehauenen  Steinen  aufgeführt,  deren  Zahl 
sich  nach  gewissen  astronomischen  Berechnungen  richtete.  Der 
Mittelstein  war  gröfser  als  alle  übrigen  und  genofs  als  Vertreter 
der  Gottheit  hohe  Ehren.  Besonders  hervorragend  waren  die 
Steintempel  von  Stonehenge,  Abury  und  Shap  in  England.  Wo 
kein  Steinmaterial  zur  Verfügung  stand,  traten  an  dessen  Stelle 
rohe  Erdaufschüttungen;  in  solchen  Fällen  bestand  der  Tempel 
aus  einem  von  Gräben  umgebenen  hohen  Wall.  An  die  Her- 
stellung dieser  Tempelhügel  wandte  man  eine  Riesenarbeit;  so 


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Alte  Mysterien. 


z.  B.  würde  heutzutage  nach  Stukeleys  Berechnung  das  Aufwerfen 
eines  Hügels  wie  der  Silbury  - Hill  etwa  zwanzigtausend  Pfund 
Sterling  kosten. 

Das  Allerheiligste  der  Mysterien  nannte  man  einen  Kromlech 
oder  Dolmen.  Es  wurde  als  Pastös  (Ort  der  Einweihung  oder 
Wiedergeburt)  benutzt  und  bestand  aus  drei  aufrecht  stehenden 
Steinen,’  auf  denen  ein  flacher  Querstein  lag,  so  dafs  eine  Art 
Zelle  entstand.  Doch  bildeten  diese  Kromlechs  oder  Dolmens  nur 
einen  kleinen  Teil  der  ausgedehnten  Räume,  die  zum  Einweihungs- 
Apparat  notwendig  waren.  Der  Oesamtsitz  der  Mysterien  hiefs 
Coer  Sidi  und  umfafste  eine  lange  Reihe  von  an  den  eigentlichen 
Tempel  angebauten  Gebäuden  mit  zahlreichen  Gemächern,  Zellen, 
Gewölben,  Bädern,  kunstvollen  Gängen  u.  s.  w.,  die  mit  den  in 
allen  Mysterien  üblichen  Vorrichtungen  zur  Erschreckung  und 
Erprobung  der  Einweihungskandidaten  versehen  und  in  der  Regel 
unterirdisch  waren. 

Der  Druidismus  umfafste  alle  zu  seiner  Zeit  in  jenen 
Ländern  bekannten  religiösen  und  philosophischen  Studien.  Die 
Riten  bezogen  sich  unzweifelhaft  auf  astronomische  Thatsachen. 
Die  Hauptgottheiten  lassen  sich  in  zwei  zusammenfassen:  eine  männ- 
liche und  eine  weibliche,  den  grofsen  Vater  und  die  grofse  Mutter: 
Hu  und  Ceridwen,  die  in  jeder  Hinsicht  Osiris  und  Isis  oder 
Bacchus  und  Ceres  etc.  entsprechen.  Die  Einweihungsfeierlich- 
keiten fanden  vierteljährlich  statt;  die  genaue  Zeit  hing  vom  Lauf 
der  Sonne  ab,  namentlich  vom  Eintritt  der  Wenden  und  der 
Gleichen.  Das  Jahresfest  wurde  am  Vorabend  des  1.  Mai  ab- 
gehalten und  mit  dem  Anzünden  von  Freudenfeuern  auf  sämt- 
lichen Steinhügeln  und  Kromlechs  des  ganzen  Landes  eingeleitet 
Dieselben  brannten  die  Nacht  hindurch  und  um  sie  herum 
wurden  zu  Ehren  der  Sonne,  die  damals  vermeintlich  aus  dem 
Grabe  stieg,  Tänze  mit  Chorgesang  aufgeführt.  Das  ausgelassene 
Fest  fand  seine  Fortsetzung  bis  zur  Mittagszeit  des  ersten  Mai; 
sobald  das  Tagesgestirn  im  Zenith  stand,  zogen  sich  Priester  und 
Publikum  in  die  Wälder  zurück,  um  sich  den  schlimmsten 
Orgien  hinzugeben. 

Die  feierliche  Einweihung  von  Kandidaten  erfolgte  um 
Mitternacht  und  umfafste  drei  Grade:  die  Eubaten,  die  Barden 
und  die  Druiden.  Der  Aufnahmebewerber  wurde  in  einen  Sarg 
gelegt,  womit  der  Tod  Hu’s  - d.  h.  der  Sonne  — angedeutet 
werden  sollte,  während  seine  Auferstehung  im  dritten  Grade  das 
Wiedererscheinen  der  Sonne  versinnbildlichte.  Die  Erprobungen 
seines  Mutes  ähnelten  den  bei  den  anderen  Mysterien  des  Alter- 
tums üblich  gewesenen. 

Das  Fest  des  25.  Dezember  wurde  mit  dem  Anzünden 
grofser  Hügelfeuer  behufs  Verkündigung  des  Geburtstages  des 


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Die  Druiden. 


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Sonnengottes  gefeiert.  An  diesem  Tage  — so  glaubte  man  -- 
begann  er,  nach  der  vermuteten  Wintersonnwende,  zu  wachsen 
und  allmählich  aufzusteigen.  Dieses  Fest  begingen  nicht  nur  die 
Druiden,  sondern  die  ganze  alte  Welt.  Die  Feuer  stellten  die 
Kraft  und  Glut  der  Sonne  dar,  während  das  benutzte  Immergrün 
die  Einwirkung  der  erneuten  Macht  des  Tagesgestirns  auf  die 
Vegetation  darstellte.  Die  Feier  der  Sommersonnwende  fand 
am  24.  Juni  statt  Auch  die  christliche  Kirche  hat  diese  heid- 
nischen* Festtage  übernommen,  den  einen  als  Weihnachtstag,  den 
andern  als  Sankt-Johannistag,  nur  dafs  an  die  Stelle  der  einstigen 
astronomischen  Bedeutung  eine  theologische  getreten  ist  Der 
Gebrauch  von  Immergrün  in  christlichen  Kirchen  zur  Weih- 
nachtszeit bildet  eine  Fortsetzung  der  gleichen  Sitte  der 
Druiden. 

Die  Fiauptlehren  der  Druiden  betrafen  ein  einziges  höchstes 
Wesen,  ein  Jenseits  mit  Belohnungen  und  Strafen,  die  Unsterb- 
lichkeit der  Seele  und  die  Seelenwanderung.  Ferner  glaubten 
sie,  dafs  das  Wasser  das  eigentliche  Urprinzip  sei  und  vor  der 
Schöpfung  in  unbefleckter  Reinheit  vorhanden  war.  Diese  Ansicht 
stand  offenbar  im  Widerspruch  mit  einer  anderen  ihrer  Lehren : 
dafs  nämlich  der  Tag  aus  der  Nacht  hervorging,  weil  die  letztere 
(«  das  Chaos)  vor  der  Erschaffung  des  ersteren  bestand.  Sie 
hegten  auch  die  Anschauung,  dafs  die  Zeit  nur  ein  aufgefangenes 
Bruchstück  der  Ewigkeit  sei  und  dafs  es  eine  endlose  Reihe  von 
Welten  gebe.  Im  grofsen  Ganzen  glichen  ihre  Lehren  denen 
der  Pythagoräer.  Hohe  Verehrung  zollten  sie  den  Zahlen  3,  7,  19 
(=  der  Mondcyklus)  und  147  - der  letzteren,  weil  sie  das 
Ergebnis  der  Multiplikation  der  zweiten  Potenz  von  7 (49)  mit 
3 ist  Auch  auf  das  Wahrsagen  hielten  sie  grofse  Stücke ; sie 
bedienten  sich  dabei,  des  Vogelfluges,  der  Menschenopfer,  der 
weifsen  Pferde,  des  Kreiseziehens  des  Wassers,  sowie  des  Lose- 
ziehens.  Doch  besafsen  sie  auch  beträchtliche  wissenschaftliche 
Kenntnisse. 

Die  Macht  der  Druiden  überstieg  häufig  die  der  Herrscher. 
Sie  waren  die  einzigen  Ausleger  der  Religion  und  hatten  die 
Aufsicht  über  alle  Opferungen;  ohne  ihre  Genehmigung  durfte 
keine  Privatperson  ein  Opfer  darbringen.  Sie  besafsen  das  Recht, 
die  Exkommunikation  zu  verhängen  - die  furchtbarste  Strafe 
nächst  der  Todesstrafe  — von  deren  Folgen  nicht  einmal  die 
höchsten  obrigkeitlichen  Personen  ausgenommen  waren.  Ohne 
Zustimmung  der  Druiden  konnte  der  grofse  Reichsrat  weder 
Krieg  erklären  noch  Frieden  schliefsen.  Sie  schlichteten  alle 
Streitigkeiten  durch  unabänderliche  Entscheidungen  ur^d  durften 
auch  zum  Tode  verurteilen.  Ihre  Altäre  schwammen  in  Menschen- 
blut Zuweilen  brachten  sie  ganze  Mengen  von  Männern,  Frauen 


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Alte  Mysterien. 


und  Kindern,  die  in  grofse  Türme  aus  Flechtwerk  gesperrt 
waren,  als  Brandopfer  dar,  die  zugleich  zur  Erhöhung  des  An- 
sehens dieser  ehrsüchtigen  und  blutdürstigen  Priesterschaft  dienten. 
Sie  zogen  es  — weil  angeblich  den  Göttern  angenehmer  — vor, 
Verbrecher  zu  opfern;  mangelte  es  jedoch  an  solchen,  so  »be- 
gnügten“ sie  sich  mit  Unschuldigen.  Solche  Opfer  wurden 
insbesondere  am  Vorabend  eines  Krieges  oder  zu  Zeiten  eines 
.grofsen  nationalen  Unglücks  oder  zur  Erlangung  der  Genesung 
gefährlich  erkrankter  hochstehender  Persönlichkeiten  dargebracht. 

Die  weifsgekleideten  Priesterinnen,  die  einen  Metallgürtel 
trugen,  weissagten  die  Zukunft  aus  der  Beobachtung  der  Natur- 
erscheinungen, noch  lieber  aber  aus  den  Menschenopfern.  Zu  ihren 
Aufgaben  gehörte  die  Tötung  der  Kriegsgefangenen  und  der  von 
den  Druiden  zum  Tode  verurteilten  Personen;  aus  den  rauchenden 
Eingeweiden  der  Umgebrachten  und  aus  der  Art,  in  der  das 
Blut  aus  den  Wunden  flofs,  zogen  sie  ihre  prophetischen  Schlüsse. 
Viele  von  ihnen  führten  ein  Leben  ewiger  Keuschheit,  während 
andere  sich  der  gröfsten  Zügellosigkeit  hingaben.  Sie  wohnten 
auf  einsamen , meerumspülten  Felsen,  und  ihre  Wohnungen 
wurden  von  den  Seeleuten  für  Tempel  voll  unnennbarer  Wunder 
gehalten.  Manche  dieser  Priesterinnen  wahrsagten  den  Schiffern, 
die  ihnen  alle  erdenklichen  Kräfte  zuschrieben;  dies  gilt  nament- 
lich von  den  neun  Priesterinnen,  die  auf  der  Insel  Sena  oder 
Liambis  - nach  der  Sage  der  Geburtsort  Merlins  — lebten. 
Die  in  der  Nähe  der  Loire -Mündung  wohnenden  Druiden- 
priesterinnen  pflegten  alljährlich  ihren  Tempel  zu  zerstören  und 
einen  neuen  zu  bauen;  passierte  es  nun  einer,  dafs  sie  etwas  von 
dem  neuen  „heiligen"  Baumaterial  fallen  liefs,  so  stürzten  sich 
die  übrigen  unter  gellendem  Geschrei  auf  sie,  um  sie  in  Stücke 
zu  zerreifsen  und  ihre  blutigen  Glieder  umherzustreuen. 

Je  weiter  die  Römer  vordrangen,  desto  mehr  verfiel  die 
Macht  der  Druiden.  Schliefslich  wurden  sie  61  n.  Chr.  in  ihrer 
Hauptveste  auf  der  insei  Anglesey  von  Suetonius  Paulinus  — 
der  unter  Nero  Gouverneur  von  Britannien  war  — angegriffen, 
gründlich  geschlagen  und  in  grofsen  Mengen  auf  den  Scheiter- 
haufen verbrannt,  welche  sie  selbst  für  die  Römer  vorbereitet 
hatten,  die  sie  gefangen  zu  nehmen  gedachten.  In  Gallien 
erhielten  sie  sich  — namentlich  auf  dem  Kap  Finisterre  und  in 
der  Nähe  der  Insel  Sena  — um  etwa  zweihundert  Jahre  länger, 
bis  das  Überhandnehmen  des  Christentums  sie  endgültig  ver- 
drängte. War  aber  der  Druidismus  als  solcher  auch  beseitigt, 
so  blieben  viele  ihrer  Religionsgebräuche  doch  noch  lange 
bestehen;  in  Britannien  z.  B.  erwies  es  sich  noch  unter  Kanut 
(1 1.  Jahrhundert)  als  notwendig,  dem  Volk  die  Anbetung  der 
Sonne,  des  Mondes  und  des  Feuers  zu  verbieten,  ln  der  Frei- 


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Skandinavische  Mysterien. 


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maurerei  leben  noch  jetzt  manche  druidischen  Übungen  fort; 
dieselbe  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als  Gestimverehrung  und 
einzelne  Fachschriftsteller  wollen  beweisen,  dafs  die  Freimaurerei 
bald  nach  dem  Edikt  Kanuts  und  infolge  desselben  gegründet 
wurde,  sowie  dafs  der  Grund  der  überaus  strengen  Geheim- 
haltung eben  in  dem  gänzlichen  Verbot  des  Dniidismus  zu 
suchen  ist. 


Skandinavische  Mysterien. 

Die  Drotten.  - Ihre  Ausrottung.  — Das  Rituale.  — Astronomische  Aus- 
legung. — Das  Julefest. 

Die  altskandinavische  Priesterschaft  hiefs  die  »Drotten"  und 
wurde  von  Sigge  ins  Leben  gerufen,  einem  skythischen  Prinzen, 
der  nach  der  Legende  später  den  Namen  Odin  angenommen 
haben  soll.  Diese  Körperschaft  bestand  aus  zwölf  Personen,  die 
übrigens  auch  das  Richteramt  versahen;  hierin  ist  der  Ursprung 
der  zuerst  in  England,  später  in  vielen  anderen  Ländern  auf- 
gekommenen zwölfgliedrigen  Geschwornengerichte  zu  suchen. 
Ihre  Macht  war  so  grofs,  dafs  sie  die  zur  Opferung  bestimmten 
Menschen  nach  Belieben  auswählen  durften  — sogar  den  Herr- 
scher, wenn  es  ihnen  pafste.  Hieraus  ergab  sich  das  allseitige 
Bestreben,  sich  mit  diesen  allmächtigen  Priestern  auf  guten  Fufs 
zu  stellen ; und  da  der  Orden  auf  eine  einzige  Familie  beschränkt 
blieb,  wurde  er  ungeheuer  reich.  Seine  Willkürwirtschaft  über- 
stieg schliefslich  alle  Grenzen  und  nur  darum,  weil  es  derselben 
ein  Ende  zu  machen  versprach,  wurde  das  Christentum  in  Skan- 
dinavien mit  grofser  Begeisterung  aufgenommen.  Vom  Durst 
nach  Rache  für  die  angehäufte  Unbill,  die  sie  erlitten,  angetrieben, 
tötete  die  Bevölkerung  die  Drotten,  rifs  ihre  Paläste  und  Tempel 
nieder,  zerbrach  die  Standbilder  ihrer  Götzen  und  zerstörte  alles 
drum  und  dran  des  gotischen  Aberglaubens.  Nur  was  der 
Vernichtung  durch  Menschenhand  widerstand,  blieb  bestehen: 
einige  Kromlechs,  einige  großartige  Rohstein-Denkmäler,  mehrere 
in  Naturfelsen  gehauene  Höhlenreihen  und  eine  kleine  Anzahl 
natürlicher  Grotten,  welche  Einweihungszwecken  gedient  hatten. 

Das  ganze  Rituale  hatte  eine  astronomische  Bedeutung. 
Die  Einweihungsstätten  waren,  wie  bei  den  meisten  übrigen 
Mysterien,  natürliche  oder  auch  künstliche  Höhlen  und  der  Auf- 
nahmebewerber mufste  sich  den  schrecklichsten  Erprobungen  unter- 
ziehen ; diese  recht  grausam  zu  gestalten,  liefsen  sich  die  Priester 


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Alte  Mysterien. 


angelegen  sein.  Der  Kandidat  hatte  aber  - im  Gegensatz  zu 
den  morgenländischen  Mysterien  — nicht  sieben,  sondern  neun 
(neun  ist  die  Quadratzahl  der  geheimnisvollen  Dreizahl)  unter- 
irdische Räume  zu  durchwandern.  Er  empfing  die  Weisung, 
den  Leichnam  Baldrs,  des  skandinavischen  Osiris,  zu  suchen, 
der  von  Loki,  dem  Fürsten  der  Finsternis,  getötet  worden  war; 
und  er  hatte  die  Aufgabe,  den  toten  Sonnengott  mit  Aufbietung 
aller  Mittel  ins  Leben  zurückzurufen.  Dies  gelang  ihm  denn 
auch  gewöhnlich,  worauf  er  im  Allerheiligsten  auf  ein  nacktes 
Schwert  einen  feierlichen  Verschwiegenheitseid  leisten  und  den- 
selben durch  das  Trinken  von  Met  aus  einem  Menschenschädel 
bekräftigen  mufste.  Schliefslich  wurde  ihm  das  auch  von  den 
Skandinaviern  heiliggehaltene  Kreuzzeichen  aufgedrückt  und  ein 
Zauberring  — das  Geschenk  Baldrs  des  Guten  — übergeben. 

Im  ersten  Gesang  der  „Edda",  offenbar  eine  Schilderung 
der  mit  der  Einweihung  in  die  Mysterien  verbundenen  Zeremonien, 
heifst  es,  dafs  der  Kandidat  bestrebt  sei,  die  im  Besitz  der  Götter 
(Äsen)  befindlichen  Kenntnisse  zu  erlangen.  Er  entdeckt  einen 
Palast,  dessen  unermefslich  grofses  Dach  mit  goldenen  Schilden 
bedeckt  ist.  Sodann  begegnet  er  einem  Mann,  der  damit  be- 
schäftigt ist,  sieben  Blumen  aufwärts  zu  schleudern.  Der  Palast 
bedeutet  die  Welt,  das  Dach  den  Ftimrnel,  die  goldenen  Schilde 
sind  die  Sterne,  die  sieben  Blumen  sind  die  sieben  Planeten. 
Nach  seinem  Namen  gefragt,  antwortet  der  Kandidat:  „Gangler“, 
d.  h.  Wanderer,  hier  jemand,  der  rings  umher  geht,  um  der 
Menschheit  Lebensbedürfnisse  zu  spenden.  Damit  ist  die  Sonne 
gemeint,  die  der  Einweihungsbewerber  darstellt.  Der  Palast  ist 
der  des  Königs;  so  nannten  die  alten  Mystagogen  das  Tages- 
gestirn. Der  Wanderer  erblickt  alsbald  drei  Sitze;  auf  dem 
niedrigsten  thront  Flar,  der  „erhabene  König“,  auf  dem  mittleren 
Jafuhar,  „der  dem  Erhabenen  Gleiche",  auf  dem  höchsten  Sitze 
die  Dreizahl.  Diese  drei  Sitzenden  entsprechen  den  von  den 
Neulingen  der  eleusinischen  Geheimnisse  erblickten  Persönlich- 
keiten: dem  Hierophanten,  dem  Fackelträger  (Daduchus)  und 
dem  Altarpriester  (Epibomit) ; sie  entsprechen  auch  dem  Meister 
und  dem  ersten  und  zweiten  Aufseher  der  Freimaurerei  — 
sinnbildlichen  Vertretern  der  Sonne,  des  Mondes  und  des  grofsen 
Weltenbaumeisters  (Deniiurgos).  Aber  die  skandinavische  Drei- 
einigkeit wird  gewöhnlich  durch  den  Obergott  Odin,  dessen 
erstgebornen  Sohn  Thor  (den  Vermittler  zwischen  Odin  und  den 
Menschen,  den  Besitzer  unbegrenzter  Macht  über  das  Weltall, 
weshalb  sein  Haupt  von  zwölf  Sternen  umgeben  dargestellt 
wurde)  und  den  Hermaphrodit  Freya  vertreten,  welch  letztere 
man  mit  allerlei  Abzeichen  der  Herrschaft  über  Liebe  und  Ehe 
ausstattete. 


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Skandinavische  Mysterien. 


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Die  dem  Neophyten  erteilten  Weisungen  enthielten  auch 
die  Belehrung,  der  gröfste  und  älteste  Gott  heifse  »alfader“ 
(=  Allvater)  und  habe  zwölf  Beinamen.  Diese  erinnern  an  die 
zwölf  Attribute  der  Sonne,  die  zwölf  Konstellationen  und  die 
zwölf  höchsten  Gottheiten  Ägyptens,  Griechenlands  und  Roms. 
Zu  den  Göttern  der  skandinavischen  Mythologie  gehörte  Baldr 
der  Gute,  dessen  Geschichte,  wie  schon  erwähnt,  den  Gegenstand 
der  Einweihungszeremonien  bildete.  Baldr  entspricht  dem  orien- 
talischen Mithras,  dem  Geliebten  der  Sonne.  Er  sieht  die  ihm 
drohende  Gefahr  vorher,  denn  er  träumt  davon.  Die  anderen 
Götter  der  Walhalla  — des  Olymps  der  alten  Skandinavier  — 
denen  er  seine  Furcht  mitteilt,  beruhigen  ihn  und  lassen,  damit 
ihm  nichts  geschehen  könne,  alle  Dinge  der  Natur  den  Eid 
leisten,  dafs  sie  ihm  nichts  zuleide  thun  werden ; nur  die  Mispel 
wird  wegen  ihrer  aufserordentlichen  Harmlosigkeit  nicht  zum 
Schwur  herangezogen.  Zum  Zeitvertreib  bewerfen  die  Götter 
Baldr  mit  allerlei  gefährlichen  Dingen,  ohne  ihn  zu  verletzen. 
Höder  der  Blinde  (=  das  Schicksal)  beteiligt  sich  anfänglich  nicht 
an  der  Unterhaltung;  aber  Loki  der  Böse  (=  die  Finsternis,  der 
Winter)  giebt  ihm  einen  Mispelzweig  in  die  Hand  und  beredet 
ihn,  denselben  zu  schleudern.  Die  Folge  ist,  dafs  Baldr  tot 
niederfällt.  Deshalb  pflegten  die  Druiden  Skandinaviens,  Galliens 
und  Britanniens  um  die  Wintersonnwende  Mispelzweige  zu 
sammeln;  sie  schnitten  dieselben  mit  einem  gebogenen  Messer 
ab,  um  den  Abschnitt  des  Tierkreises  anzudeuten,  unter  dessen 
Walten  die  Ermordung  Baldrs  stattfand.  In  Snorros  Edda  findet 
sich  eine  andere  Sage,  wonach  Odin  getötet  wurde  und  Freya, 
die  skandinavische  Isis  oder  Venus,  ausging,  um  seinen  Leichnam 
zu  suchen  — genau  dieselbe  Legende,  welche  die  Ägypter  von 
Osiris  und  Isis,  die  Griechen  von  Ceres  und  Proserpina  er- 
zählten; auch  die  astronomische  Bedeutung  ist  die  gleiche. 

Einer  der  Hauptfeiertage  der  Skandinavier,  wie  der  Druiden, 
war  das  Fest  der  Wintersonnwende.  Da  es  sich  hier  um  die 
längste  Nacht  des  Jahres  handelte,  schrieb  man  ihr  die  Er- 
schaffung der  Welt  aus  der  Urfinsternis  heraus  zu  und  nannte 
sie  »Mutter-Nacht“.  Dieses  Fest  hiefs  „Jule“  (aus  Helios  = Sonne 
verdorben)  und  wurde  mit  Freudenbezeigungen  gefeiert.  In 
England  und  Schottland  gebrauche  man  für  Weihnachten  noch  heute 
Jas  Wort  „yule“  fast  ebenso  häufig  wie  das  Wort  „christmas“. 


Heckethorn-Katscher,  Geheimbunde  u.  Geheimlehren. 


s 


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ZWEITES  BUCH. 

Emana¥onisteN. 


5* 


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Die  Kabbala. 


Ursprung.  - Hauptwerke.  — Das  Buch  der  Schöpfung.  — Verschiedene 
Arten  der  Kabbala.  — Ezechiels  Visionen.  — Die  Erschaffung  aus  dem 
Nichts.  — Das  Wiederaufleben  kabbalistischer  Lehren.  Rabbi  Löb  und 
Jakob  Franck.  — Ein  Urteil  über  die  Kabbala. 

Das  Wort  »Kabbala"  ist  von  dem  Namen  des  Hindus 
Kapila,  des  Urhebers  der  Philosophie  der  Zahlen,  abgeleitet. 
Die  Kabbala  bildet  das  Gesamtergebnis  der  Bestrebungen  der 
judäischen  Sekten  und  beschäftigt  sich  mit  der  mystischen  Aus- 
legung der  Heiligen  Schrift,  sowie  mit  metaphysischen  Grübeleien 
über  Gott  und  die  sichtbaren  und  unsichtbaren  Welten.  Die 
Juden  glaubten,  die  Kabbala  sei  Moses  von  Gott  selbst  mit- 
geteilt worden.  Nun  ist  es  zwar  nicht  ausgeschlossen  und  nicht 
einmal  unwahrscheinlich,  dafs  der  Schriftsteller,  der  unter  dem 
Namen  Moses  geschichtlich  wurde,  seinen  Nachfolgern  irgend- 
welche geheime  Lehren  hinterliefs;  allein  die  phantastischen  An- 
schauungen der  Kabbalisten  über  Engel  (gutes  Prinzip)  und 
Dämonen  (böses  Prinzip)  sind  rein  chaldäisch;  erst  in  Babylon 
pfropften  die  Israeliten  die  Lehre  von  diesen  zwei  Prinzipien 
auf  ihren  Monotheismus.  Der  Magier-Oberpriester  Daniel,  der 
zugleich  ein  Prophet  der  Juden  war,  kann  als  der  Hauptgründer 
der  Kabbala  gelten,  die  zu  Babylon  entstand  und  als  »die  ver- 
botene Frucht  des  fremden  Weibes“  betrachtet  wurde.  Die  alten 
Juden  hatten  zwar  Vorstellungen  von  Engeln,  aber  nur  un- 
bestimmte; sie  schrieben  den  Engeln  keine  bestimmten  Obliegen- 
heiten zu,  wenngleich  sie  jedem  ihrer  Patriarchen  einen  eigenen 
»vertrauten“  Geist  zuwiesen.  Die  alexandrinische  Schule  schmückte 
jene  chaldäischen  Kenntnisse  der  Israeliten  in  erheblichem  Mafse 
weiter  aus  — Philo  ergänzte  Daniel.  Namentlich  der  spekulative 
Teil  der  Kabbala,  der  auf  der  Emanationslehre  beruht,  wurde  in 
der  genannten  Schule  ausgebaut.  Man  verquickte  die  philo- 
sophischen Systeme  des  Pythagoras  und  des  Plato  mit  der 
morgenländischen  Philosophie;  hieraus  gingen  später  der  Gnosti- 
zismus und  der  Neoplatonismus  hervor. 


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Emanationisten. 


Die  ersten  beglaubigten  Äufserungen  der  Kabbala  fanden 
ungefähr  in  der  Zeit  zwischen  dem  ersten  Jahrhundert  vor  und 
dem  ersten  Halbjahrhundert  nach  Christi  Geburt  statt.  Einerseits 
die  höhere  Kultur  der  Juden,  anderseits  die  Spitzfindigkeit  der 
Rabbinen  und  die  grofse  Tyrannei,  die  der  Buchstabe  des  Gesetzes 
ausübte,  erwiesen  sich  der  Ausbreitung  theologischer  Geheimlehren 
förderlich.  Die  in  Betracht  kommenden  Hauptwerke  waren:  das 
Buch  der  Schöpfung  („sefer  jezira“),  wahrscheinlich  von  Akiba 
verfafst,  und  das  Buch  des  Lichtes  (zohar),  das  dem  Rabbi  Simon 
ben  Jochai,  einem  Jünger  Akibas,  zugeschrieben  wird  und  aus 
phantastischen  Erläuterungen  der  Bücher  Mosis  besteht. 

Zur  Beurteilung  des  im  „zohar"  enthaltenen  verworrenen 
Zeugs  genügt  die  Beschreibung  des  Aussehens  Gottes.  Dieser 
wird  als  ein  uralter  Greis  mit  1 000007  000  Locken  aus  weifser 
Wolle  und  mit  einem  bis  zum  Nabel  reichenden,  schneeweifsem 
Bart  dargestellt,  welcher  dreizehn  Abteilungen  habe,  deren  jede 
die  tiefsten  Geheimnisse  umfasse. 

Der  Mischnalehrer  Akiba  wurde  135  n.  Chr.  wegen  seiner 
Beteiligung  an  dem  Aufstande  Barkochbas  (=  „Sohn  des  Sternes“) 
hingerichtet.  Sein  „Buch  der  Schöpfung“  bildet  einen  Monolog 
Adams  über  die  Geheimnisse  des  Weltalls.  Adam  untersucht 
die  Kräfte  und  Fähigkeiten  des  Verstandes,  der  sich  bemüht,  das 
gemeinsame  Prinzip  zu  ergründen,  welches  alle  Grundlagen  der 
Dinge  verbindet.  Hierbei  wendet  er  eine  der  mosaischen  ent- 
gegengesetzte Methode  an,  indem  er  nicht  von  Gott  zur  Schöpfung 
hinab  steigt,  sondern  nach  Betrachtung  des  Universums  die 
Einheit  in  der  Vielfältigkeit,  das  Gesetz  in  der  Erscheinung  sucht 
und  so  von  der  Schöpfung  zu  Gott  hinaufsteigt.  Diese  Methode 
war  sehr  ergebnis-  und  sinnreich,  verleitete  die  Kabbalisten  jedoch 
zu  phantastischen  Vergleichen  zwischen  Himmel  und  Erde, 
zwischen  höheren  und  untergeordneten  Mächten,  zwischen  den 
Dingen  und  Gedankenzeichen.  All  dies  führte  zu  mancherlei 
Weissagungs-  und  Beschwörungskünsten  und  zu  sonstigen  höchst 
widersinnigen  Auswüchsen  des  Aberglaubens.  Nach  der  kabba- 
listischen Auffassung  ist  das  Weltall,  das  von  Pythagoras  als  ein 
Sinnbild  der  geheimnisvollen  Kräfte  der  Zahlen  betrachtet  wurde, 
lediglich  ein  wundervolles  Blatt,  auf  das  der  Schöpfer  alles  Bestehende 
mittels  der  ersten  zehn  Ziffern  und  der  22  Buchstaben  des 
hebräischen  Alphabets  geschrieben  habe.  Die  zehn  abstrakten 
Ziffern  seien  die  allgemeinen  Formen  der  Dinge,  „die  höchsten 
Gedankenkategorien“.  So  z.  B.  vertrete  1 den  Geist  des  leben- 
digen Gottes,  die  allgemeine  Schöpferkraft,  2 den  Atem  des 
belebenden  Geistes,  3 das  Prinzip  des  Wassers,  4 das  des  Feuers. 
Der  Aufdruck  der  Buchstaben  auf  dem  Universum  sei  unaus- 
löschlich und  nur  mit  Hilfe  dieses  Aufdrucks  lasse  sich  die 


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Die  Kabbala. 


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höchste  Ursache  entdecken  und  der  Name  Gottes,  der  der  Welt 
aufs  Antlitz  geschrieben  sei,  zusammenstellen.  Nicht  alle  Buch- 
staben haben  gleiche  Kräfte.  Drei  von  ihnen  - »die  Mütter* 
genannt  — geniefsen  Vorrang;  sie  beziehen  sich  auf  die  in 
verschiedenen  physischen  und  geistigen  Verhältnissen  vorhandenen 
Dreiheiten.  Sieben  andere  heifsen  »doppelte*,  weil  aus  ihnen 
jene  Dinge  entstehen,  die  einander  ewig  entgegengesetzt  sind. 
Die  zwölf  übrigen,  die  »einfachen",  vertreten  die  »zwölf  Attribute“ 
des  Menschen. 

Es  giebt  zweierlei  Kabbala : die  theoretische  und  die 
praktische.  Die  letztere  befafst  sich  mit  der  Zusammensetzung 
von  Talismanen  und  Amuletten,  ist  folglich  schwindelhaft  und 
daher  nicht  würdig,  hier  näher  behandelt  zu  werden.  Doch  sei 
die  interessante  Thatsache  angeführt,  dafs  die  praktische  Kabbala 
frühzeitig  zur  Hervorbringung  der  allgemein  für  modern  ge- 
haltenen spiritistischen  Erscheinungen  benutzt  wurde;  wie  wir 
aus  der  „Apologie“  wissen,  waren  in  Tertullians  Zeit  Zaubertische 
mit  Schreibvorrichtung  etwas  Gewöhnliches.  Friedrich  Brentz, 
ein  i.  J.  1610  getaufter  Jude,  setzte  in  einem  gegen  seine  früheren 
Glaubensgenossen  gerichteten  Buch  auseinander,  in  welcher  Weise 
dieselben  Tische  hoben,  die  mit  mehreren  Zentnern  belastet 
waren. 

Was  die  theoretische  Kabbala  betrifft,  so  zerfällt  sie  in  die 
der  Buchstaben  und  die  der  Dogmen.  Während  diese  eine 
Zusammenfassung  der  von  den  Kabbala-Gelehrten  gehegten  meta- 
physischen Anschauungen  bildet,  ist  jene  bemüht,  die  heiligen 
Dinge  in  mystischer  Weise  durch  eigentümliche  Buchstaben- 
deutungen zu  erklären.  Die  Buchstaben-Kabbala  oder  Mischna 
wird  in  drei  Zweige  geteilt.  Der  erste  („Gematrie")  prüft  die 
Worte  auf  den  Zahlenwert  ihrer  Buchstaben;  so  z.  B.  ist  der 
Zahlenwert  von  „Mithras“  — der  Name  des  indischen  Sonnen- 
gottes - 365,  was  der  Anzahl  der  Tage  des  Sonnenjahres  ent- 
spricht Der  zweite  Zweig  (»Notarikon")  setzt  einzelne  Worte 
aus  den  Anfangs-  oder  Endbuchstaben  mehrerer  oder  vieler 
anderer  zusammen,  während  der  dritte  die  Umstellung  oder 
Versetzung  der  Buchstaben  - wir  kennen  das  aus  den  modernen 
Anagrammen  — ins  Auge  fafst 

Die  kabbalistischen  Ausdrucksweisen  und  Erdichtungen 
wurden  - namentlich  sofern  sie,  was  zuweilen  der  Fall  war, 
poetische  Gedanken  enthielten  — von  den  Mystikern,  Sektierern 
und  Alchymisten,  wie  begreiflich,  gierig  aufgegriffen.  Zur  Be- 
urteilung des  Reichtums  der  Kabbala  an  phantastischer  und 
mythologischer  Legendenbildung  (ihr  betreffender  Zweig  wird 
»Markawa"  genannt)  wird  es  genügen,  die  kabbalistische  Schil- 
derung der  Visionen  des  Propheten  Ezechiel  flüchtig  anzuführen. 


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Emanationisten. 


Ezechiel  sieht  Gott  auf  einem  Thron  sitzen,  umgeben  von  selt- 
samen geflügelten  Gestalten : dem  Mann,  dem  Stier,  dem  Löwen 
und  dem  Adler  — vier  Zeichen  des  Tierkreises,  »gleich  dem 
Glanz,  den  er  am  Flusse  Chebar  sah“,  d.  h.  bei  den  wegen  ihrer 
astronomischen  Kenntnisse  berühmten  Chaldäern.  Die  Rabbinen 
nannten  diese  Visionen  die  Schilderung  des  himmlischen  Wagens 
und  glaubten  in  ihnen  tiefe  Geheimnisse  zu  entdecken;  Maimo- 
nides  führte  sie  auf  die  astronomischen  Vorstellungen  seiner  Zeit 
zurück;  die  Kabbala  umgab  sie  mit  unzählbaren  Engelscharen. 
Aufser  mit  den  Engeln,  die  sie  den  Sternen,  den  Elementen,  den 
Tugenden,  Lastern  und  Leidenschaften  zuteilte,  bevölkerte  die 
Kabbala  die  Welt  mit  Genien  beider  Geschlechter  — Wesen,  die 
Mittelgeschöpfe  zwischen  Engeln  und  Menschen  sind  und  etwa 
den  Naturgeistern  der  Rosenkreuzer  entsprechen.  Die  guten 
Engel  stehen  unter  dem  Oberbefehl  Metatrons,  der  auch  Sar- 
hapanim  (»Gottes  Angesicht")  heifst,  während  die  bösen  von 
Samual  (Samiel,  Satan,  Engel  des  Todes)  beherrscht  werden. 
Aufser  der  indischen  Seelenwanderung  kennen  die  Kabbalisten 
noch  eine  andere,  die  sie  »Impregnation"  nennen  und  die  in 
einer  Vereinigung  mehrerer  Seelen  in  einem  Körper  besteht; 
dieselbe  findet  statt,  wenn  eine  Seele  zur  Erlangung  der  Ver- 
klärung des  Beistandes  anderer  Seelen  bedarf. 

In  der  Kabbala  heifst  das  Urwesen  »der  Alte  der  Tage" 
(der  alte  Ring  des  Lichtes) ; es  ist  unfafsbar,  unendlich,  ewig, 
ein  geschlossenes  Auge.  Vor  seiner  Selbstoffenbarung  war  alles 
nachher  Geschaffene  in  ihm;  damals  war  es  »das  Nichts",  »die 
Nullwelt".  Vor  der  Erschaffung  der  Welt  erfüllte  das  Urlicht 
Gottes  alles,  sodafs  es  keine  Leere  gab.  Als  nun  das  höchste 
Wesen  beschlofs,  seine  Vollkommenheiten  zu  offenbaren,  zog  es 
sich  in  sich  selbst  zurück  und  vollbrachte  die  erste  Ema- 
nation, indem  es  einen  Lichtstrahl  ausschickte,  der  alles  Vor- 
handenen Ursache  und  Anfang  war  und  die  gesamten  Schöpfungs- 
und Vorstellungskräfte  in  sich  vereinigte.  Zunächst  liefs  Gott 
einen  nicht  wahrnehmbaren  Punkt  entstehen:  die  Punktwelt,  und 
mit  Hilfe  dieses  Gedankens  schuf  er  eine  heilige,  geheimnisvolle 
Form : das  Weltall,  das  er  in  ein  reiches  Gewand  hüllte.  Aus 
den  Schöpfungs-  und  Vorstellungskräften  ging  der  Erstgeborene 
Gottes  hervor:  die  Universalform,  der  Schöpfer  und  Erhalter, 
das  belebende  Weltprinzip,  Adam  Kadmon,  »Makrokosmos" 
zubenannt.  Aus  diesem  entstand  der  »Mikrokosmos“,  d.  h.  der 
Mensch,  der  alles  in  sich  begreift,  was  der  himmlische  Ur-Mann 
potentiell  umfafst.  Doch  ehe  »Ehn-sof"  (der  Endlose)  sich  in 
der  Form  des  Ur-Mannes  offenbarte,  waren  andere  Emanationen, 
andere  Welten  einander  gefolgt,  die  sogenannten  »Funken“,  die 
desto  schwächer  wurden,  je  entfernter  sie  vom  Mittelpunkt  der 


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Die  Kabbala. 


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Emanation  waren.  Um  Adam  Kadmon  herum  entstanden  die 
zahllosen  Kreise  der  nachmaligen  Emanationen,  welche  keine 
Wesen  mit  eigenem  Leben  sind,  sondern  Attribute  Gottes,  Gefälse 
der  Allmacht,  Typen  der  Schöpfung.  Die  zehn  Emanationen, 
die  von  Adam  Kadmon  ausgingen,  heifsen  »sefirot“;  es  sind  die 
»Kräfte“  Philos  und  die  „Aeonen“  der  Gnostiker. 

Wie  die  Apokalypse  unter  den  Christen,  hat  die  Kabbala 
unter  den  Juden  jederzeit  einzelne  eifrige  Anhänger  gehabt.  Ein 
solcher  war  der  berühmte,  1609  verstorbene  Hohe  Rabbi  Lob 
von  Prag.  Er  galt  für  so  heilig,  dafs  kein  weibgebornes  Wesen 
würdig  erachtet  wurde,  ihn  zu  bedienen;  er  liefs  sich  von  einem 
Homunkulus  bedienen,  den  er  mit  Hilfe  seiner  Zauberkünste 
selber  aus  Lehm  erzeugte.  Mit  allen  Geheimnissen  der  Kabbala 
aufs  innigste  vertraut,  besafs  er  vermeintlich  überirdische  Kräfte; 
aber  er  war  klug  genug,  seine  Kenntnisse  für  sich  zu  behalten 
und  nicht  einmal  Schüler  anzunehmen.  Um  die  Mitte  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  scharte  Jakob  Franck,  ursprünglich  ein 
Schnapsbrenner  in  Polen,  in  Podolien  zahlreiche  jüdische  An- 
hänger um  sich,  die  sich  dem  rabbinischen  Dogmatismus  ab- 
wandten und  zu  den  mystischen  Lehren  der  Kabbala  bekannten. 
Da  sie  sich  hauptsächlich  an  das  weiter  oben  erwähnte  Buch 
Zohar  hielten,  nannte  man  sie  die  Zohariten,  d.  h.  die  Erleuchteten. 
Anfänglich  wurden  sie  von  der  römisch-katholischen  Geistlichkeit, 
die  in  ihren  Lehren  eine  Annäherung  ans  Christentum  erblickte, 
beschützt;  allein  nach  dem  Tode  des  Bischofs  von  Podolien 
erlitten  sie  seitens  der  Rabbinen  so  arge  Verfolgungen,  dafs  ihr 
Bund  der  Auflösung  verfiel.  Franck  selbst  wurde  eingekerkert 
und  erst  1773  von  den  Russen  in  Freiheit  gesetzt.  Nunmehr 
liefs  er  sich  in  Wien  nieder,  von  wo  man  ihn  jedoch  bald  aus- 
wies. Er  begab  sich  dann  nach  Offenbach,  wo  er  viele  Anhänger 
gewann,  von  den  Juden  reiche  Gaben  erhielt  und  auf  grofsem 
Fufse  lebte.  Nach  seinem  1791  erfolgten  Tode  löste  sich  der 
Orden  auf;  doch  findet  man  noch  heute  in  Polen  einzelne 
Zohariten,  die  jetzt  aber  »christliche  Juden“  genannt  werden, 
gewisse  jüdische  Riten  üben  und  mystischen  Lehren  anhängen, 
die  sie  geheimhalten. 

Im  Jahre  1740  gründete  der  podolische  Jude  Israel  eine 
andere  kabbalistische  Sekte,  die  »neuen  Heiligen",  die  durch  die 
Benutzung  des  kabbalistischen  Namens  Jehovas  Wunder  vollbringen 
zu  können  glaubten.  Israels  Anhang  war  so  grofs,  dafs  er  bei 
seinem  Tode  nicht  weniger  als  vierzigtausend  Bundesmitglieder 
hinterliefs. 

Friedrich  Bahrdt  in  seiner  „Einleitung"  zu  Cornelius 
Agrippas  „Kabbala"  und  C.  Friedrich  Nicolai  in  seinen  „Reisen 
durch  Deutschland  und  die  Schweiz“  (1781)  erwähnen  die 


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Emanationisten. 


lateinisch  geschriebene  Kabbala  des  Kapuzinerpaters  Tertius  von 
Regensburg;  er  benutzte  sie  zu  Wahrsagungszwecken.  Eine 
ähnliche  Kabbala  wurde  um  1790  in  dem  wahrscheinlich  von 
Professor  Kanne  herausgegebenen  » Delphischen  Orakel"  ver- 
öffentlicht. 

Mit  vollem  Recht  bezeichnete  der  Jesuit  Pererius  (1 535—1610) 
in  seinem  Buche  »De  Magica"  die  Kabbala  als  ein  »unwissen- 
schaftliches, unsinniges,  lächerliches  System“.  Dennoch  konnte 
noch  im  letzten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ein  ge- 
wisser Alphonse  Louis  Constant,  der  unter  dem  Pseudonym 
Eliphas  Levi  Zahed  eine  Anzahl  von  Büchern  schrieb,  die  von 
den  jetzigen  »Okkultisten“  sehr  geschätzt  werden,  mit  seiner 
feierlichen  kabbalistischen  Heraufbeschwörung  des  Apollonius  von 
Tyana  das  Interesse  hervorragender  Persönlichkeiten  in  so  hohem 
Grade  erwecken,  dafs  Lord  Lytton  ihn  zu  sich  nach  Knebworth 
einlud.  Manche  Formen  des  Aberglaubens  sterben  eben  sehr 
schwer  aus! 


Die  Söhne  der  Witwe. 

Ursprung  der  Religion  der  Liebe.  — Manes.  — Der  Manichäismus.  — 
Man«'  Laufbahn.  - Verbreitung  des  Bundes.  Lehren.  — Ausläufer. 

Dreihundert  Jahre  nach  dem  Auftreten  Christi,  zu  einer 
Zeit,  da  der  Orientalismus  bereits  im  Begriffe  war,  aus  dem 
Abendland  zu  verschwinden,  ersann  ein  persischer  Sklave  mit 
mächtiger  Einbildungskraft  eine  zwar  trostlose,  aber  höchst 
originelle  und  abwechslungsreiche  Religionslehre,  die  den  Einflufs 
Asiens  auf  Europa  erneute  und  mit  Hilfe  der  Kreuzzüge  die 
katholische  Welt  mit  Zwiespalt  und  Auflehnung  erfüllte.  Dieser 
rebellische  Jünger  Zoroasters  und  Erneuerer  der  alten  Magier- 
religion in  einer  eigenartigen  Vermischung  mit  christlichen  Formen 
und  gnostischen  Sinnbildern  entwickelte  eine  Thätigkeit  von  solcher 
Ausdehnung,  dafs  sie  von  der  modernen  Kritik  im  Kern  der  Phi- 
losophie eines  grofsen  Teils  der  im  Schofs  des  Katholizismus 
entstandenen  Sekten  erkannt  wird.  An  der  Spitze  dieser  gewaltigen 
Verstandes-  und  Gewissensbewegung,  die  sich,  um  das  römische 
Joch  abzuschütteln , zu  den  sonderbarsten  Kundgebungen  des 
Aberglaubens  hergab,  standen  der  Gnostizismus  und  der  Mani- 
chäismus — orientalische  Sekten,  die  letzten  ruhmreichen  Aus- 
läufer einer  Theogonie,  die  angesichts  des  Abfalls  eines  so  grofsen 
Teiles  der  Erdenbewohner  den  Versuch  machte,  die  Anders- 


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Die  Söhne  der  Witwe. 


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gläubigen  mit  Hilfe  von  Geheimnissen  und  dichterischen  Hirn- 
gespinsten zu  gewinnen. 

Durch  eine  reiche  persische  Witwe  von  der  Knechtschaft 
losgekauft,  erhielt  Manes  den  Beinamen  »Sohn  der  Witwe", 
während  seine  Anhänger  »Söhne  der  Witwe"  hiefsen.  Manes, 
der  ein  einnehmendes  Aufsere  besafs,  war  in  der  alexandrinischen 
Philosophie  bewandert,  in  die  Mysterien  des  Mithrasdienstes  ein- 
geweiht, hatte  Indien  bereist,  China  berührt  und  die  Lehren  der 
Evangelisten  kennen  gelernt.  Jedes  der  Religionssysteme,  mit 
denen  er  vertraut  war,  gewährte  ihm  einige  Aufklärung  und 
Erleuchtung,  aber  keines  befriedigte  ihn  gänzlich.  Seine  Eigen- 
schaften befähigten  ihn,  die  günstige  Zeit,  in  der  er  lebte,  für 
schwierige  Unternehmungen  und  phantastische  Pläne  auszunutzen. 
Mit  grofsem  Scharfsinn  und  unbeugsamem  Willen  begabt,  erfafste 
er  die  Ausdehnungsfähigkeit  des  Christentums  und  machte  sie 
sich  zu  nutze,  indem  er  gnostische  und  kabbalistische  Ideen  in 
den  Mantel  christlicher  Namen  und  Riten  hüllte.  Er  bezeichnete 
sich  als  den  von  Christus  seinen  Jüngern  angekündigten  „Tröster" 
(Paraklet),  schrieb  sich  eine  grofse  Überlegenheit  über  die 
Apostel  zu,  verwarf  das  Alte  Testament  und  mafs  den  Weisen 
der  Heiden  eine  viel  höhere  Weltweisheit  bei  als  dem  Juden- 
tum. (270  n.  Chr.) 

Die  Hauptlehren  des  Manichäismus  beziehen  sich  auf 
düstere  Vorstellungen  von  einem  absolutesten  Dualismus,  von 
der  Ewigkeit  und  vollständigen  Bösartigkeit  der  Materie,  von 
der  Nicht-Auferstehung  des  Leibes  und  von  der  Endlosigkeit  des 
bösen  Prinzips.  Im  übrigen  verquickt  der  Manichäismus  Mithras 
mit  Christus,  das  Evangelium  mit  der  Zend-Avesta,  das  Magiertum 
mit  dem  Judentum.  Manes  verwirft  Zoroasters  unbekannten 
Vater  (das  Endlose  Wesen)  gänzlich  und  teilt  das  Weltall  in  zwei 
Gebiete,  die  mit  einander  unversöhnlich  sind  und  von  denen 
eins  dem  andern  überlegen  ist:  das  des  Lichts  und  das  der 
Finsternis.  Das  letztere  überwindet  das  erstere,  ohne  es  jedoch 
zu  unterdrücken  oder  zu  überzeugen.  Der  Gott  des  Lichts 
gebietet  über  zahllose  Legionen  von  Kämpfern  (Aeonen),  welche 
von  zwölf  „höheren"  Engeln  befehligt  werden,  die  den  zwölf 
Zeichen  des  Tierkreises  entsprechen.  Die  satanische  Materie  ist 
von  ähnlichen  Heerscharen  umgeben,  welche,  vom  Zauber  des 
Lichts  verlockt,  dieses  zu  überwinden  trachten  — eine  Gefahr, 
die  das  Oberhaupt  des  Himmelreichs  veranlafst,  einer  neuen  Macht 
Leben  einzuflöfsen  und  die  Bewachung  der  Himmelsgrenzen 
anzuvertrauen.  Diese  neue  Macht  heifst  „Mutter  des  Lebens« 
und  ist  die  Weltseele,  der  göttliche  Urgedanke  des  höchsten 
Wesens,  die  himmlische  Sophia  der  Gnostiker.  Als  unmittelbarer 
Ausflufs  des  Ewigen  ist  sie  zu  rein,  um  sich  mit  Stofflichem  zu 


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Emanationistrn. 


vermengen ; aber  ihr  wird  ein  Sohn  geboren,  der  erste  Mensch, 
und  dieser  unternimmt  den  grofsen  Kampf  gegen  die  bösen 
Geister;  als  er  zu  unterliegen  droht,  kommt  ihm  der  »Lebendige 
Geist"  zu  Hilfe,  führt  ihn  ins  Reich  des  Lichtes  zurück  und  erhebt 
über  die  Welt  hinaus  den  nicht  durch  Berührung  mit  den 
Dämonen  befleckten  Teil  der  himmlischen  Seele  — eine  voll- 
kommen reine  Seele,  identisch  mit  dem  Erlöser,  mit  Christus, 
der  das  Licht  und  die  Seele  des  ersten  Menschen  an  sich  zieht 
und  von  der  Materie  befreit  Hinter  diesen  abstrusen  Lehren 
verbirgt  sich  die  mithraitische  Sonnenanbetung. 

Die  Manichäer  zerfielen  in  »Auserwählte“  und  »Zuhörer". 
Erstere  mufsten  auf  alle  materiellen  Genüsse  verzichten,  die 
geeignet  sind,  das  himmlische  Licht  im  Menschen  zu  verdunkeln, 
während  die  »Zuhörer"  sich  minder  streng  halten  durften.  Beide 
Gruppen  konnten  mittels  Reinigung  in  einem  grofsen  See,  der 
im  Monde  lag  (d.  h.  Taufe  mit  himmlischem  Wasser)  und 
mittels  Heiligung  durch  das  Sonnenfeuer  (d.  h.  Taufe  mit  himm- 
lischem Feuer)  die  Unsterblichkeit  erlangen.  Das  Sonnenfeuer 
wurde  für  den  Wohnsitz  des  Erlösers  und  der  seligen  Geister 
gehalten. 

Manes  hatte  eine  sehr  bewegte  Laufbahn  — gleichsam  ein 
Spiegel  der  Stürme,  die  sich  gegen  die  von  ihm  gegründete  Sekte 
erheben  sollten.  Er  errang  nach  seinem  Loskauf  die  wandelbare 
Gunst  des  Hofes  und  den  Ruhm  eines  bedeutenden  Arztes.  Als  es 
ihm  einmal  nicht  gelang,  einem  erkrankten  Sohn  des  Herrschers 
das  Leben  zu  retten,  wurde  er  verbannt,  worauf  er  Turkestan, 
Hindostan  u.  s.  w.  durchstreifte.  Ein  Jahr  lang  lebte  er  als  Ein- 
siedler in  einer  Höhle  und  nährte  sich  von  Kräutern.  Seine 
Anhänger,  die  ohne  jedes  Lebenszeichen  von  ihm  blieben, 
erklärten,  dafs  er  zum  Himmel  aufgestiegen  sei  und  fanden  damit 
auch  beim  Volke  Glauben.  Schliefslich  rief  ihn  der  neue 
Herrscher  an  den  Hof  zurück,  errichtete  ihm  einen  prachtvollen 
Palast,  überschüttete  ihn  mit  Ehren  und  zog  ihn  in  allen  Staats- 
geschäften zu  Rate.  Allein  der  nächstfolgende  Fürst,  Barahm, 
verurteilte  ihn  auf  Anstiften  der  Magier  zum  Tode  und  liefs  ihn 
lebendig  martern. 

Das  Ableben  des  Urhebers  der  Sekte  that  ihrem  Bestand 
keinen  Abbruch.  Vielmehr  wurde  sie  samt  ihren  Graden, 
Erkennungszeichen,  Losungsworten  und  Einweihungsriten  von 
schlauen  Lenkern  weitergeführt,  die  dadurch,  dafs  sie  recht- 
gläubige Redensarten  im  Munde  führten  und  die  Wiederher- 
stellung der  ursprünglichen  Reinheit  des  Christentums  als  ihr 
Ziel  ausgaben,  immer  mehr  Christen  anlockten.  Aber  die  Sekte 
war,  weil  von  dem  rivalisierenden  Persien  ausgegangen,  der 
römischen  Kirche  ein  Dorn  im  Auge.  Darum  war  sie  zwei- 


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Die  Söhne  der  Witwe. 


77 


hundert  Jahre  lang  im  oströmischen  Reich  verpönt  und  der 
theodosische  Kodex  enthält  viele  Gesetze  gegen  sie.  Dafür  breitete 
sie  sich  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  in  Afrika  und  Spanien 
aus.  Unter  der  Herrschaft  der  Mutter  des  Kaisers  Anastasius 
(491-518)  blühte  sie  ungestört,  doch  erneute  Justinian  die  Ver- 
folgungen und  im  neunten  Jahrhundert  liefs  die  teuflische  Theo- 
dora, die  Gemahlin  des  Kaisers  Theophil,  über  hunderttausend 
Manichäer  niedermetzeln.  Unter  anderen  Namen  (Patarini, 
Katharen , Albigenser  etc.)  und  mit  anderer  Bildersprache 
breitete  sich  der  Manichäismus  nunmehr  in  Bulgarien,  Frankreich, 
der  Lombardei  u.  s.  w.  aus;  im  Verein  mit  den  Sarazenen  be- 
kriegten die  Manichäer  ganz  offen  den  oströmischen  Kaiser,  wobei 
ihrer  Tausende  auf  dem  Schlachtfeld  oder  auf  dem  Scheiterhaufen 
ums  Leben  kamen. 

Aus  dem  weltlichen  Stamm  der  »Religion  der  Liebe« 
gingen  die  sogenannten  Ketzereien  der  Hussiten  und  Wycliffiten 
hervor,  die  dem  Protestantismus  den  Weg  bahnten.  Überhaupt 
erstanden  im  finstern  Mittelalter  zahllose  Legionen  von  Sektierern, 
die  durch  ein  gemeinsames  Band  verbunden  waren  und  von 
deren  verborgenem  Dasein  wir  eigentlich  nur  durch  die  Thatsache 
ihrer  Verfolgung  oder  Ausrottung  Kenntnis  erlangt  haben.  Einen 
nicht  geringen  Teil  ihres  Rituals  erbten  zweifellos  die  Freimaurer 
durch  die  Templer.  Es  gab  ihrer  viele  an  allen  Höfen  und  sogar 
zu  Sankt  Peter  in  Rom. 

Die  heilige  Sprache  der  Manichäer  war  glutvoll  und  be- 
ruhte auf  jenem  Einklang  von  Stimmen  und  Gedanken,  den  die 
Pythagoräer  »Sphärenharmonie“  nannten.  Diese  stellte  zwischen 
den  mystischen  Graden  und  den  vermeintlichen  Sphären  mittels 
verabredeter  Ausdrücke  und  bildlicher  Redensarten  eine  Ver- 
bindung her;  auch  von  den  Albigensern  und  den  Patarini  weifs 
man,  dafs  sie  einander  durch  Zeichen  erkannten.  Ein  proven- 
qalischer  Patarino,  der  i.  J.  1240  nach  Italien  geflohen  war,  fand 
dadurch,  dafs  er  sich  den  »Brüdern«  mit  Hilfe  von  Losungs- 
worten zu  erkennen  gab,  überall  freundliche  Aufnahme;  er  fand 
die  Sekte  allerorten  trefflich  organisiert  - mit  Kirchen,  Bischöfen 
und  Aposteln,  die  in  Frankreich,  Deutschland  und  England  eine 
sehr  thätige  Propaganda  entfalteten.  Die  Sprechweise  der  Mani- 
chäer war  zwar  asketisch  und  liebevoll,  also  christlich;  allein  die 
Bekehrten  entfremdeten  sich  in  ihrem  Eifer  immer  mehr  der 
päpstlichen  Kirche. 

Die  manichäischen  Mysterien  hatten  zwei  Hauptziele:  zuerst 
die  früheren  Neigungen  und  Anschauungen  des  Neulings  un- 
merklich umzugestalten,  also  ihn  gleichsam  ohne  sein  Wissen  zu 
lenken,  und  dann  ihn  allmählich  in  die  verabredete  Sprache 
einzuweihen,  was  wegen  ihrer  Verwickeltheit  und  Mannigfaltigkeit 


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78 


Emanationisten. 


sehr  mühsam  und  zeitraubend  war.  Übrigens  wurden  nicht  alle 
Anhänger  zu  den  höchsten  Graden  zugelassen.  Wer  rückfällig 
wurde  oder  seinem  früheren  Ideenkreise  nicht  entsagen  konnte, 
blieb  dauernd  in  der  Kirche  und  gelangte  nie  ins  Allerheiligste; 
sie  blieben  eben  Christen  und  aufrichtige  „Zuhörer",  die  in  ihrem 
Neuerungseifer  nicht  selten  den  Tod  erlitten,  wie  z.  B.  die  Dom- 
herren von  Orleans,  die  König  Robert  i.  J.  1022  zum  Scheiter- 
haufen verurteilte.  Wer  jedoch  nicht  zurückfiel,  wurde  in  alles 
eingeweiht,  was  den  eigentlichsten  Mitgliedern  der  Sekte  zu  wissen 
frommte.  Der  Hauptzweck  der  letzteren  richtete  sich  auf  die 
Zerstörung  Roms  und  die  Errichtung  des  in  der  Apokalypse 
erwähnten  himmlischen  Jerusalem. 

Die  „Religion  der  Liebe“  endete  weder  mit  dem  Nieder- 
metzeln der  Albigenser,  noch  mit  den  Gesängen  der  Troubadours. 
Vielmehr  begegnen  wir  ihren  Spuren  noch  1550  in  einer  deut- 
schen Sekte,  welche  vorgab,  vom  heiligen  Geist  eine  über- 
natürliche Erleuchtung  zu  empfangen,  lind  fünf  Jahre  später  entstand 
in  Holland  eine  christliche  Sekte,  die  sich  „Familie  der  Liebe“ 
nannte  und  ihren  Ursprung  von  einem  gewissen  Heinrich  Nikolaus 
aus  Westfalen  herleitete.  Dieser  Mann  lehrte,  das  Wesentliche 
der  Religion  bestehe  im  Empfinden  der  göttlichen  Liebe,  die 
Vereinigung  der  Seele  mit  Christus  verwandle  dieselbe  in  die 
Wesenheit  der  Gottheit  und  die  Bibel  sei  allegorisch  auszulegen. 
Obgleich  diese  „Ketzereien“  nicht  sehr  bedenklich  waren,  wurde 
die  Sekte  bei  ihrem  Auftauchen  in  England  (um  1 580)  verboten 
und  ihre  Schriften  wurden  öffentlich  verbrannt. 


Die  Gnostiker. 

Beschaffenheit  des  Gnostizismus.  Gnostische  Lehren.  Geschichte  und 
Entwicklung.  Geist  des  Gnostizismus.  Erkennungszeichen. 

Den  Grundideen  des  Platonismus  begegnen  wir  auch  in 
den  Lehrmeinungen  der  Gnostiker  (=  „die  Wissenden«),  die  im 
zweiten  und  dritten  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  die  Schulen 
fortsetzten,  welche  zwischen  dem  Volksaberglauben  und  der  ge- 
heimen Philosophie  Schranken  zogen.  Von  diesem  Gesichtspunkt 
ist  der  Gnostizismus  die  verbreitetste  aller  Ketzereien  und  der 
Vater  vieler  späterer  Ketzereien,  sogar  des  Arianismus;  auch  in 
den  Anschauungen  der  Alchy misten,  der  Mystiker  und  der  mo- 
dernen transcendentalen  Philosophen  kehrt  er  wieder. 


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Die  Gnostiker. 


79 


Die  Gnostiker  glaubten  an  ein  unendliches,  unsichtbares 
Wesen,  einen  Abgrund  der  Finsternis,  der  in  seiner  Unfähigkeit, 
unthätig  zu  bleiben,  sich  in  Emanationen  ausbreitete,  welche  desto 
unvollkommener  waren,  je  entfernter  sie  sich  vom  Mittelpunkt 
ihres  Urhebers  befanden.  Die  Dreieinigkeit  der  Gnostiker  besteht 
aus  der  Materie,  dem  Dentiurg  und  dem  Erlöser.  Die  höheren 
Emanationen,  die  »Äonen«,  haben  teil  an  den  Attributen  der 
göttlichen  Wesenheit  und  sind  mit  Hilfe  symbolischer  Zahlen  in 
Klassen  geteilt,  ln  ihrer  Gesamtheit  bilden  sie  das  »Lichtmeer« 
(pleroma),  d.  h.  die  vollkommene  Erkenntnis.  Eine  der  zwei 
grofsen  Hauptgruppen,  in  welche  die  Gnostiker  zerfallen,  hielt 
den  Demiurg  für  die  letzte  und  unvollkommenste  Emanation, 
für  ein  Gemisch  von  Licht  und  Finsternis,  von  Stärke  und 
Schwäche,  und  glaubten,  dafs  er  ohne  die  Mitwirkung  des  un- 
bekannten Vaters  diese  Welt  erschaffen  habe,  um  in  ihr  die 
Seelen  gefangen  zu  halten,  denn  er  sei  das  dem  Ur-Guten  ent- 
gegengesetzte Ur-Böse.  Er  behafte  die  Seele  mit  dem  Stofflichen, 
von  welchem  sie  durch  Christus  erlöst  worden,  einer  der 
erhabensten  Mächte  des  Lichtmeeres,  identisch  mit  dem  göttlichen 
Gedanken  und  Geist.  Die  Menschheit  habe  die  Bestimmung, 
sich  vom  stofflichen  wieder  zum  ätherischen  Leben  empor- 
zuschwingen, sich  von  der  Natur  loszumachen  und  diese  zu  be- 
herrschen, um  abermals  ein  Leben  voll  unsterblicher  Schönheit 
zu  führen. 

Nach  der  Ansicht  der  andern  Gnostiker-Hauptgruppe  ist 
der  Demiurg  der  Vertreter  und  das  Werkzeug  des  höchsten 
Gottes,  den  der  göttliche  Wille  als  »Jehovah«  speziell  über  die 
Juden  gesetzt  hatte.  Die  Menschheit  zerfalle  in  drei  Klassen: 
die  eigentlichen  Erdenbewohner,  die  an  die  Materie  gekettet  sind; 
die  ätherischen  Pneumatiker,  die  sich  zum  göttlichen  Licht  auf- 
schwingen; die  Psychiker,  die  blofs  bis  zum  Demiurg  emporsteigen 
können.  Die  von  Jehovah  abhängigen  Juden  seien  Psychiker, 
die  Heiden  Erdmenschen,  die  »wahren«  Christen  (d.  h.  die 
Gnostiker)  Pneumatiker. 

Simon  Magus,  sein  Nachfolger  Menander,  der  Millenniums- 
Apostel  Cerinthes  und  einige  andere  Männer  des  ersten  Jahr- 
hunderts gelten  als  die  Stifter  des  Gnostizismus,  der  sich  bald 
in  so  viele  Sekten  zersplitterte  wie  er  Apostel  hatte.  Das  war 
die  nebelhafte  Zeit  des  Gnostizismus.  Bestimmtere  Gestalt  nahm 
er  an  durch  die  im  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  entstandene 
Sekte  des  Basilides  von  Alexandrien,  die  mehrere  Mittelpunkte 
in  Ägypten,  Syrien,  Rom,  Spanien  u.  s.  w.  hatte.  Basilides,  der 
den  Gnostizismus  mit  indischen  und  ägyptischen  Phan- 
tastereien verquickte,  nahm  365  Aeonen  oder  Schöpfungscyklen 
an,  die  er  unter  dem  Gesamtnamen  Abraxas  zusammenfafste  - 


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80 


Emanationisten. 


ein  Wort,  dessen  Buchstaben  im  Griechischen  einen  Zahlen  wert 
von  365  ergeben.  »Abraxas»  bedeutete  in  seinem  tieferen  Sinn 
den  höchsten  Gott;  auch  die  Worte  »Mithras»  und  „Belenus* 
bedeuten  gleichzeitig  365  und  den  höchsten  Gott,  d.  h.  die  Sonne. 

Die  Grundlehren  des  berühmten  Gnostikers  Valentinus 
gingen  dahin,  dafs  alle  Menschen  in  ihren  Urzustand  der  Voll- 
kommenheit werden  zurückversetzt  werden,  dafs  — was  übrigens 
auch  Zoroaster  lehrte  — die  Materie,  der  Sitz  alles  Übels,  durch 
Feuer  vernichtet  werden  wird  und  dafs  die  wieder  vollkommen 
gewordenen  Geister  zum  Lichtmeer  aufsteigen  werden,  um 
daselbst  die  ganze  Seligkeit  einer  vollständigen  Vereinigung  mit 
ihren  Genossen  zu  geniefsen.  Auf  den  Valentinianern  fufsten 
die  Ophiten  — ein  Name,  der  von  der  Schlange  herrührte,  die 
durch  die  Versuchung  Evas  der  Welt  die  Segnungen  der  Er- 
kenntnis schenkte  — und  die  Kainiten,  welche  behaupteten,  Kain 
sei  - im  Gegensatz  zu  dem  blindgläubigen  Abel  - der  erste 
Gnostiker  gewesen  und  aus  diesem  Grunde  vom  Demiurg 
Jehovah  verfolgt  worden  — ein  Gedanke,  auf  welchem  die 
Tempellegende  der  Freimaurer  beruht. 

Von  den  übrigen  gnostischen  Sekten  sind  erwähnenswert: 
die  Antitakten  (Gegner  des  Gesetzes),  welche  Hafs  gegen  alle 
positiven  Religionen  und  Staatsgesetze  predigten  (also  Vorläufer 
der  modernen  Edel-Anarchisten) ; die  Adamiten,  welche  die  Ehe 
für  ein  Ergebnis  der  Sünde  hielten,  die  Abschaffung  jeder  Be- 
kleidung befürworteten,  ihre  schlüpfrigen  Einweihungsriten  »Para- 
dies» nannten  und  alle  fleischlichen  Genüsse  als  erlaubt  erklärten; 
die  Pepuzianer,  welche  ihre  Mysterien  mit  Hilfe  von  Geister- 
erscheinungen abwechslungsreicher  gestalteten,  unter  denen  sich 
ein  Weib  befand,  das  mit  der  Sonne  und  mit  zwölf  Sternen 
gekrönt  war  und  den  Mond  unter  den  Füfsen  hatte  — die  Isis 
der  Ägypter  und  die  Ceres  der  Griechen.  Die  Pepuzianer  ent- 
nahmen ihre  ganze  Einweihungsredeweise  der  Apokalypse.  In 
dem  berühmten  Werk  des  Jesuiten  Laurent  Chifflet,  der  im 
1 7.  Jahrhundert  lebte,  ist  ein  gnostischer  Stein  mit  sieben  gleich- 
großen kleinen  Sternen  und  darüber  einem  gröfseren  Stern 
abgebildet;  wahrscheinlich  sollen  das  die  sieben  Planeten  mit 
der  Sonne  sein.  Auf  dem  Stein  sieht  man  auch  zwei  Kompasse, 
ein  Winkelmars  und  andere  geometrische  Sinnbilder.  So  sind 
denn  alle  religiösen  Mysterien  mehr  oder  minder  auf  Astronomie 
und  Naturerscheinungen  zurückzuführen. 

Die  heterogensten  Grundzüge  der  Vielgötterei,  des  Pan- 
theismus, des  Monotheismus,  die  philosophischen  Systeme  Platos, 
Pythagoras  und  Heraklits,  der  Mystizismus  und  Dämonenglaube  der 
Kabbala  - aus  alledem  wurde  der  Gnostizismus  zusammen- 
gewürfelt. Und  wenn  die  beispiellos  mächtige  und  zahlreiche 


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Die  Essener. 


81 


Geistesaristokratie  der  ersten  Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung 
diesen  neuen  Glauben  annahm,  so  konnte  sie  sich  nicht  ent- 
schliefsen,  denselben  vollständig  mit  den  »Niedrigen  und  Geistes- 
armen",  den  befreiten  und  unbefreiten  Sklaven  zu  teilen.  Neben 
der  Anziehungskraft  seiner  Lehren  verdankte  der  Gnostizismus 
zweifellos  gerade  seiner  Ausschliefslichkeit  - wegen  welcher  er 
von  den  Kirchenvätern  aufs  heftigste  als  verdamnienswerte  Ketzerei 
verfolgt  wurde  — seine  schnelle  Ausbreitung  nicht  nur,  sondern 
auch  seinen  dauernden  Einflufs  auf  die  modernen  Religions- 
systeme. 

Es  heifst  - bestimmt  weifs  man  es  nicht  - dafs  die 
Gnostiker  einander  daran  erkannten,  dafs  sie  beim  Händeschütteln 
die  Handfläche  schwach  kitzelten. 


Die  Essener. 

Verbindung  zwischen  Judentum  und  Gnostizismus.  — Essener  und  Thera- 
peuten. — Lehren  und  Sitten.  — Sekten-Unterschiede. 

Die  Zerstreuung  der  Juden  im  Herzen  Asiens  gab  Anlafs 
zu  Versuchen,  zwischen  den  Lehren  des  chinesischen  Philosophen 
Lao-tse  und  denen  der  Hebräer  Ähnlichkeiten  zu  entdecken.  Es 
ist  in  der  That  unleugbar,  dafs  die  Juden,  während  sie  einerseits 
ihre  Glaubensartikel  mit  denen  Zoroasters  verquickten,  anderseits 
gnostische  und  kabbalistische  Ideen  auf  der  Erde  verbreiteten.  Und 
Lao-tse  ist  von  manchen  Forschern  als  ein  Vorläufer  des  Gnosti- 
zismus betrachtet  worden.  Eine  Stelle  in  den  Schriften  dieses 
berühmten  Religionsstifters  lautet:  »Vor  dem  Chaos,  das  dem 
Entstehen  des  Weltalls  vorherging,  gab  es  ein  einziges  Wesen 
unbegrenzt,  schweigsam,  unveränderlich  und  doch  immer  thätig 
— das  man  die  »Mutter  des  Universums“  nennen  könnte.  Ich 
kenne  dessen  wirklichen  Namen  nicht,  möchte  es  aber  als 
»höchsten  Geist“  (Intelligenz)  bezeichnen.  Der  Mensch  hat  sein 
Vorbild  in  der  Erde,  die  Erde  im  Himmel,  der  Himmel  im 
höchsten  Geist  und  dieser  in  sich  selbst.“ 

Nach  ihrer  Rückkehr  nach  Palästina  zersplitterten  sich  die 
Juden  in  mehrere  Sekten : Pharisäer  (ein  wahrscheinlich  von 
»Parsi“  abgeleitetes  Wort)  und  Sadduzäer,  Chasidim  und  Zadi- 
kim  etc.  Hinsichtlich  des  mosaischen  Gesetzes  waren  die  Phari- 
säer Chasidim  („Frömmler“),  die  Samaritaner,  Essener  und 
Sadduzäer  aber  Zadikini  („Gerechte").  Die  ersteren  zerfielen 

Hecketho  r n-K  a tscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  6 


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82 


Emanationisten. 


später  in  Talmudisten,  Rabbinisten  und  Kabbalisten.  Allein 
diejenigen  Judensekten,  bei  denen  das  orientalische  Element  sich 
am  ausgeprägtesten  zeigte,  waren  die  Essener  und  die  Therapeuten, 
die  oft  mit  einander  verwechselt  worden  sind.  Man  hat  vielfach 
geglaubt,  dafs  der  Therapeutismus  nichts  andres  gewesen  sei  als 
der  höchste  Grad  des  Essenismus;  die  beiden  waren  jedoch  in 
Wirklichkeit  zwei  grundverschiedene  Sekten,  die  lediglich  die 
Moralvorschriften  gemein  hatten.  Ihre  Übungen  waren  keineswegs 
ausschliefslich  orientalisch,  vielmehr  .durch  die  alexandrinische 
Schule  auch  mit  abendländischen  Überlieferungen,  insbesondere 
den  Lehren  des  Pythagoras  verknüpft.  Die  Essener  näherten 
sich  mehr  der  zoroastrischen  Lehre,  dafs  die  Seele  nach  Möglich- 
keit von  stofflichen  Einflüssen  befreit  werden  müsse;  darum  übten 
sie  sich  im  Fasten  und  im  Selbstkasteien.  Die  Therapeuten,  die 
%’orwiegend  in  Ägypten  lebten,  strebten  nach  der  Vereinbarkeit 
der  orientalischen  Lehren  mit  den  alten  Überlieferungen  Griechen- 
lands; deshalb  wimmelt  die  Schilderung,  welche  der  ihnen  sehr 
gewogene  Philo  von  ihrer  Gesellschaft  entwarf,  von  morgen- 
ländischen  und  pythagoräischen  Ideen.  Übrigens  ist  es  zweifel- 
haft, ob  das  Philo  zugeschriebene  Werk  wirklich  von  Philo 
herrührt;  viele  halten  es  für  eine  Lobpreisung  des  asketischen 
Mönchtums  durch  einen  christlichen  Klosterbruder. 

Einige  Schriftsteller  haben  versucht,  die  Essener  von  der 
ephesischen  Priesterschaft  abzuleiten ; sie  fanden  Spuren  von 
Ähnlichkeit  zwischen  den  thrakischen  Orphikern,  den  kretischen 
Kureten  und  den  ephesischen  Priestern  und  vermuteten  den  Be- 
stand einer  gemeinsamen  alten  Lehre,  für  deren  kräftigsten  Ableger 
sie  Griechenland  hielten.  Es  dürfte  aber  ganz  sicher  sein,  dafs 
gerade  der  essenische  Ritus  von  griechischen  Beimischungen 
ziemlich  frei  war,  während  der  therapeutische  zahlreiche  griechische 
Elemente  hatte.  Viel  wahrscheinlicher  kamen  die  Essener  von 
den  Chasidäern  her  (vergl.  Makkabäer,  1 . Buch,  2.  Kap.,  -12.  Vers), 
die  infolge  des  Verrates  des  Alcimus  ihre  Verbindung  mit  dem 
Tempel  lösten.  Die  Chasidäer  (wörtlich  „Altgläubige“)  waren 
nicht,  wie  vermutet  worden  ist,  Krieger;  sie  suchten  — im 
Gegenteil  vor  allem  den  Frieden  (Makkabäer  I.,  VIL,  13),  denn 
sie  bildeten  kein  militärisches,  sondern  ein  religiöses  Gemein- 
wesen. 

Die  Essener  zeichneten  sich  durch  einen  sittlichen  und 
tugendhaften  Lebenswandel  aus.  Sie  mieden  die  Städte,  wohnten 
in  Dörfern,  trieben  Ackerbau,  übten  Gütergemeinschaft  und  hielten 
keine  Sklaven.  Ohne  geradezu  die  Ehelosigkeit  zu  geloben, 
unterliefsen  doch  die  meisten  die  Verheiratung  — aus  Furcht 
vor  der  Flatterhaftigkeit  und  Untreue  des  weiblichen  Ge- 
schlechts. Sie  verlegten  sich  aufs  Studium  der  Naturwissen- 


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Die  Essener. 


83 


schäften,  namentlich  der  Heilkunde.  Wer  Essener  werden  wollte, 
mufste  allmählich  eine  Reihe  von  Erprobungen  bestehen,  die  sich 
auf  mehrere  Jahre  verteilten.  Eine  Geheimgesellschaft  mufsten 
sie  sein,  weil  sie  Gegner  der  jüdischen  Priesterschaft  zu  einer 
Zeit  waren,  da  diese  Gegnerschaft  wegen  der  Allmacht  der 
Priester  für  äufserst  gefährlich  galt  Da  nun  die  essenischen 
Lehren  notwendigerweise  den  hebräischen  zuwiderliefen,  mufsten 
die  Essener  trachten,  der  Verfolgung  durch  das  Pfaffentum  zu 
entgehen.  Daher  legten  sie  sich  einen  unverdächtigen  Namen 
bei  („Essener“  rührt  von  „Essen“  her,  dem  Brustschild  des 
jüdischen  Hohepriesters)  und  gebrauchten  jede  mögliche  Vorsicht 
bei  der  Aufnahme  neuer  Mitglieder.  Ihr  Geheimbund  hatte  vier 
Grade;  aber  das  Einweihungsverfahren  war  so  eingerichtet,  dafs 
die  in  den  dritten  Grad  Eingeweihten  nur  dann  den  vierten  er- 
langen konnten,  wenn  sie  sich  als  vollkommen  vertrauenswürdig 
erwiesen ; andernfalls  hatten  sie  keine  Ahnung  von  der  wirklichen 
Natur  des  höchsten  Grades  und  hielten  dessen  Inhaber  nur  für 
die  im  Rang  Höchsten,  nicht  aber  für  Träger  einer  geheimsten 
Lehre.  Ebenso  halten  es  die  Freimaurer  noch  heute;  die  Brüder 
der  ersten  drei  Grade  wissen  nichts  von  dem  „grofsen"  Ge- 
heimnis. 

Die  Mitglieder  der  vier  essenischen  Grade  hiefsen:  1.  die 
Treuen,  2.  die  Erleuchteten,  3.  die  Eingeweihten,  4.  die  Voll- 
kommenen. Die  „Treuen“  erhielten  bei  ihrer  Aufnahme  einen 
neuen  Namen,  der  nebst  einem  geheimen  Zeichen  auf  einen  weifsen 
Stein  graviert  war,  den  der  Neuling  als  Beweis  seiner  Bundes- 
genossenschaft aufbewahrte.  (Wahrscheinlich  ist  dies  der  in  der 
Offenbarung  Johannis,  II,  17,  erwähnte  Stein;  dieses  Buch  war 
— wohlgemerkt!  — nicht  christlichen  Ursprungs.)  Das  ge- 
bräuchlichste Zeichen  war  das  Kreuz,  doch  benutzte  man  auch 
andere  Zeichen. 

Die  Therapeuten  neigten  mehr  zur  Betrachtung  als  zur 
Arbeit.  Sie  waren  gegen  das  weibliche  Geschlecht  minder  ein- 
genommen als  die  Essener  und  gestatteten  den  Frauen  auch,  an 
den  an  einigen  Feiertagen  aufgeführten  Tänzen  teilzunehmen. 
Dagegen  verbannten  sie  den  Wein  von  ihren  sämtlichen  Mahl- 
zeiten — Bacchus  und  Venus  zusammen  scheinen  sie  sich  nicht 
zugetraut  zu  haben ! Sie  glaubten,  den  Schlüssel  zur  richtigen 
Auslegung  der  Bücher  Mosis  und  die  wahre  Kenntnis  der  Kabbala 
allein  zu  besitzen.  Nach  ihrer  Überlieferung  war  Christus  der 
Sohn  von  Mitgliedern  dieser  Sekte,  die  das  Kind  zu  der  Rolle 
erzogen,  welche  es  nachmals  spielen  sollte. 

Die  Essener  und  die  Therapeuten  wohnten  vornehmlich  in 
Ägypten  und  in  der  Gegend  des  Toten  Meeres.  Sie  erhielten 
sich  bis  ins  vierte  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  hinein. 

6* 


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DRITTES  BUCH. 

CHRISTLICHE  MYSTERIEN. 


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Die  Mysterien. 


Verchristlichung  der  Horusmythe.  - Christliche  Mysterien.  — Ähnlichkeit 
der  christlichen  Riten  mit  heidnischen.  — Entnahme  christlicher  Symbole 
aus  heidnischen.  Feier  der  Mysterien.  Astronomische  Bedeutung  des 
Christentums.  — Der  gefesselte  Prometheus.  Beseitigung  der  Mysterien. 

Kaum  war  die  ägyptische  Horussage  infolge  einer  Ver- 
kettung von  Umständen  in  Alexandrien  zur  Christussage  um- 
gearbeitet, wurde  diese  mit  Mysterien  und  entsprechenden  Ein- 
weihungsriten ausgestattet.  Spuren  davon  finden  sich  bei  allen 
Evangelisten,  namentlich  bei  Paulus.  Manche  glauben,  Lukas  XIV 
enthalte  die  Erprobungen  der  christlichen  Einweihung;  andere  sind 
der  Ansicht,  Matthäus  XVII  bilde  eine  vollständige  Erklärung 
der  Mysterien.  Wenn  diese  Ausleger  Recht  haben  sollen,  so 
mufs  man  sagen , dafs  die  Sprache  der  betreffenden  Kapitel 
ebenso  rätselhaft  ist  wie  die  der  Alchemisten.  Aber  die  Geschichte 
von  der  Verklärung  auf  dem  ölberg  ist  eine  unvollkommene 
Schilderung  der  Abhaltung  einer  quasi-maurerischen  Logenver- 
sammlung des  höchsten  Grades. 

Je  gröfser  — hauptsächlich  infolge  der  ehrgeizigen  Be- 
strebungen des  Cerinthus  — die  Verbreitung  des  Geheimbundes 
wurde,  desto  mehr  solcher  Einweihungen  gab  es  und  so  entstand 
in  der  Kirche  allmählich  die  geheime  Disziplin.  Cerinthus  — 
ironisch  auch  »Merinthus“  (=  ,.Seil“)  genannt  — war  in  Wirk- 
lichkeit ein  Gnostiker  und  der  heilige  Johannes  verabscheute  ihn 
so  sehr,  dafs  er  zu  Ephesus  nicht  mit  ihm  zusammen  baden 
wollte,  weil  er  fürchtete,  das  Dach  könnte  über  dem  Ketzer  ein- 
stürzen.  Die  Urkirche  glaubte,  das  Evangelium  Johannis  sei 
gegen  Cerinthus  gerichtet  gewesen , wofür  dieser  sich  dadurch 
rächte,  dafs  er  Johannes  die  Apokalypse  zuschrieb. 

ln  den  Schriften  der  Kirchenväter  finden  sich  geheime  Be- 
zeichnungen und  Unterscheidungen  häufiger  erwähnt.  Der  heilige 
Augustin  führt  für  die  Anwendung  der  geheimen  Disziplin  seitens 
der  neuen  Gläubigen  drei  Gründe  an:  Erstens  sollten  die 

Mysterien  und  deren  einfache  Riten  von  den  nicht  gänzlich  Ein- 
geweihten und  den  Ungläubigen  nicht  verspottet  werden;  zweitens  . 


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88 


Christliche  Mysterien. 


wollte  man  diesen  Riten  gröfsere  Verehrung  sichern;  drittens  er- 
schien es  zweckmäfsig,  die  »heilige  Neugier“  der  Katechumenen 
(Neulinge)  soweit  zu  erregen,  dafs  sie  Neigung  verspüren,  in 
die  Geheimnisse  vollends  einzudringen. 

Im  Morgen-  und  im  Abendland  wurden  wenigstens  zwanzig 
verschiedene  menschgewordene  Götter  angebetet,  denen  durchweg 
eine  ganz  ähnliche  Geschichte  angedichtet  wurde  wie  dem  Er- 
. loser  der  Christenheit,  und  zwar  sollen  all  diese  Gottheiten  oder 
Religionsstifter  lange  vor  Christus  auf  die  Erde  gekommen  sein. 
Die  dem  letzteren  zugeschriebenen  Wunder  finden  sich  in  Tempeln 
bildlich  dargestellt,  die  zur  Zeit  der  Geburt  Christi  bereits  uralt 
waren.  Wir  haben  im  ersten  Buch  gesehen,  dafs  in  sämtlichen 
alten  Mysterien  der  Tod  des  Sonnengottes  (d.  h.  der  Sonne  im 
Winter)  die  Hauptrolle  spielte.  Nach  einigen  Quellen  wurde  die 
Darstellung  dieses  Todes  in  den  christlichen  Mysterien  durch  das 
Töten  eines  Kindes  nachgeahmt,  was  in  den  niedrigeren  Graden 
selbstverständlich  den  Tod  Christi  bedeutete.  Die  uralte  Gewohn- 
heit, den  Anhängern  einer  neuen  Religion  die  grausamsten 
Bräuche  zuzuschreiben,  hatten  auch  die  Römer;  sie  behaupteten, 
dafs  jeder  Bewerber  um  die  Aufnahme  in  den  Schofs  des  Christen- 
tums ein  ihm  vorgelegtes,  in  Mehl  gehülltes  männliches  Kind 
mit  Wunden  bedecken  mufste,  bis  es  tot  war,  worauf  die  Ver- 
sammelten das  Blut  gierig  aufsaugten,  den  Leichnam  in  Stücke 
rissen  und  verzehrten;  dadurch  seien  sie  zu  gegenseitiger  Ver- 
schwiegenheit verpflichtet  gewesen.  Die  Eingeweihten  zerfielen 
in  drei  Gruppen:  Hörer,  Katechumenen,  Getreue.  Die  »Hörer“ 
bildeten  ein  Noviziat,  sie  wurden  auf  den  Unterricht  in  den 
christlichen  Dogmen  vorbereitet.  Einen  Teil  dieser  Dogmen  ver- 
heimlichte man  übrigens  auch  noch  den  Katechumenen ; die  letzteren 
wurden  erst  nach  den  vorgeschriebenen  Reinigungen  getauft,  galten 
dann  für  »Diener  des  Glaubens",  hatten  Zutritt  zu  den  Tempeln 
und  erkannten  einander  am  Kreuzeszeichen.  Bei  allen  Einweihungen 
vollzog  man  feierliche  Tänze;  der  Ausdruck  »vom  Ball  kommen«, 
den  der  Rhetoriker  Aelius  Aristides  ca.  1 50  Jahre  n.  Chr.  G.  ge- 
braucht, bedeutet  so  viel  wie  »die  Geheimnisse  verraten." 

Die  meisten  Hieroglyphen  und  Sinnbilder  des  Heidentums 
behielt  das  Christentum  bei.  Die  Rebe  und  ihre  Verwandlung 
in  Wein  spielten  in  den  Bacchusriten  eine  grofse  Rolle ; die 
ersten  Christen  benutzten  sie  als  Symbole  für  die  Arbeit  im 
Weinberg  des  Glaubens.  Die  Kornähre  der  Ceres  vertrat  das 
Brot,  welches  Christus  unter  seine  Jünger  verteilte.  Die  Palme 
und  die  Krone,  die  bei  den  Heiden  weltliche  Siege  andeuteten, 
waren  bei  den  Christen  Abzeichen  geistlicher  Triumphe.  Die 
Flügel  der  Tauben  wurden  den  Engeln  und  Cherubim  verliehen. 
Aus  der  Taube  der  Venus  machte  man  den  heiligen  Geist,  aus 


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Die  Mysterien. 


89 


Dianas  Hirsch  das  Schmachten  der  Seele  nach  dem  lebendigen 
Wasser,  aus  Junos  Pfau  die  Seele  nach  der  Auferstehung.  Der 
Sphinx,  dem  Greif  und  der  Chimäre  der  Mythologie  dichteten 
die  Christen  dieselbe  Macht,  böse  Geister  und  Untreue  abzu- 
wenden, an,  die  früher  dem  Haupt  der  Gorgona  zugeschrieben 
worden  war.  Die  Janusschlüssel  drückten  bei  Petrus  die  Macht 
aus,  zu  binden  und  zu  lösen.  Ursprünglich  tmg  der  Ober- 
priester einen  Gürtel , von  dem  sieben  Schlüssel  und  sieben 
Siegel  herabhingen  - die  Abzeichen  der  Geheimnisse,  die  er  in 
Verwahrung  hielt.  Das  Kreuz  war  anfänglich  ein  nicht  offen  zur  Schau 
getragenes  Symbol  und  erst  im  sechsten  Jahrhundert  kamen  die 
Kruzifixe  auf.  Auch  der  Fisch,  den  die  Christen  als  Sinnbild  des  Er- 
lösers betrachteten,  war  ein  altes  heidnisches  und  auch  jüdisches  Sym- 
bol: Isis  und  der  chaldäische  Oannes  wurden  mit  dem  Fisch  in 
Zusammenhang  gebracht,  Wischnus  erste  Fleischwerdungsform  war 
die  des  Fisches,  Joschua  war  der  Sohn  Nuns  »des  Fisches"  etc. 

Die  Mysterien  zerfielen  in  zwei  Teile.  Der  erste  hiefs: 
»die  Messe  der  Katechumenen",  weil  die  letzteren  dabei  sein 
durften;  er  umfafste  den  Gottesdienst  vom  Anfang  bis  zum 
apostolischen  Glaubensbekenntnis.  Den  zweiten  nannte  man 
»Messe  der  Getreuen«;  er  bestand  aus  der  Vorbereitung  fürs 
Opfer,  aus  dem  Opfer  selbst  und  aus  dem  Dankgebet.  Sobald 
dieser  Teil  der  Messe  begann,  mufsten  die  Katechumenen  hinaus- 
gehen und  die  unter  sich  gebliebenen  »Getreuen"  sprachen  zu- 
nächst das  apostolische  Glaubensbekenntnis,  worauf  der  Gebrauch 
aller  blumenreichen  und  rätselhaften  Redensarten  als  überflüssig 
unterblieb  und  die  wahren  Mysterien  enthüllt  wurden:  die  astro- 
nomische Bedeutung  des  Christentums,  die  derjenigen  der 
Mysterien  des  Altertums  sehr  ähnelte.  Hier  sind  uns  nur  einige 
Andeutungen  möglich,  die  jedoch  vollauf  genügen  werden.  Die 
sieben  Kirchen  Asiens  waren  in  den  Augen  der  Urchristen  die 
sieben  Monate  März,  April,  Mai,  Juni,  Juli,  August  und  September; 
Christus  stellte  die  Sonne  dar  und  sein  erstes  Wunder,  die  Ver- 
wandlung von  Wasser  in  Wein , wird  von  dem  grofsen  Tages- 
gestirn alljährlich  vollbracht.  Sein  Todeskampf  zu  Gethsemane 
stellte  das  Keltern  der  Reben  vor,  seine  Höllenfahrt  das  Ver- 
schwinden der  Sonne  im  Winter;  seine  Kreuzigung  auf  dem 
Kalvarienberg  (calvus  = kahl  = der  Strahlen  beraubt)  bedeutete  das 
Kreuzen  des  Äquators  durch  die  Sonne  im  Herbst,  seine  Kreuzigung 
in  Ägypten  ihre  Äquatorkreuzung  im  Frühling.  Die  Enthauptung 
Johannis  des  Täufers  wurde  dahin  ausgelegt,  dafs  dem  Janus 
(Johannes,  Aquarius)  am  29.’ August  dies  ist  der  Johannis- 
tag — durch  die  Horizontlinie  der  Kopf  abgeschnitten  wird. 
Die  »Getreuen«  wufsten,  dafs  die  heilige  Jungfrau  mit  der 
Jungfrau  des  Tierkreises  identisch  sei  und  auch  mit  der  Göttin 


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Christliche  Mysterien. 


Ceres,  die  dem  Mann  (Adam)  das  Ernteergebnis  überreicht.  Die 
Vermählung  der  Jungfrau  Maria  mit  Josef  entspricht  der  astrono- 
mischen Thatsache,  dafs  das  Sternbild  des  Bärenhüters  stets  zu- 
sammen mit  dem  Sternbild  der  Jungfrau  aufgeht  und  untergeht. 

Ein  halbes  Jahrtausend  vor  unserer  Zeitrechnung  warf  die 
Christussage  ihre  Schatten  voraus  in  Aeschylos'  Tragödie  «Der 
gefesselte  Prometheus.“  Die  Kenntnis  dieses  Trauerspiels  seitens 
der  Griechen  macht  es  erklärlich,  dafs  die  Athener  sich  weigerten, 
an  einen  Jesus  zu  glauben,  der  unter  den  erstaunlichsten  irdischen 
und  himmlischen  Erscheinungen  gekreuzigt  worden  sein  sollte  — 
Erscheinungen,  die  von  den  Verbreitern  der  neuen  Religion  ein- 
fach erdichtet  worden  waren.  Sowohl  Christus  als  auch  Prome- 
theus sterben  auf  einem  Hügel ; beide  unterwerfen  sich  dem 
Befehl  eines  andern  Gottes,  um  die  Menschheit  zu  retten ; beiden 
wird  die  rechte  Seite  durchbohrt;  im  Sterben  geben  beide  Sühn- 
opfer den  gleichen  Gefühlen  Ausdruck,  d.  h.  die  Evangelien  legen 
Christus  dieselben  Worte  in  den  Mund,  die  Aeschylos  fünfhundert 
Jahre  vorher  dem  Prometheus  zugeschrieben  hat.  Der  letztere 
hatte  ferner  einen  Freund  Oceanus  oder  Piereus  (=  Petrus),  der 
ihn  in  dem  Augenblick  verleugnete,  da  er  ein  Opfer  der  Sünden 
der  Menschheit  wurde;  der  heilige  Petrus  that  unter  den  gleichen 
Umständen  dasselbe.  Man  sieht  also,  aus  welcher  Quelle  ein 
Teil  des  Jesusmythos  entnommen  worden  ist. 

Die  Mysterien  hörten  als  überflüssig  auf,  als  die  Christen- 
verfolgungen aufhörten.  Als  im  siebenten  Jahrhundert  die  Zahl 
der  »Getreuen“  sehr  grofs  geworden  war,  stiftete  die  Kirche  die 
kleineren  Orden,  darunter  die  »Thürsteher",  welche  an  die  Stelle 
der  Diakone  traten.  692  wurde  die  Bestimmung  getroffen,  dafs 
künftig  jedermann  zum  öffentlichen  christlichen  Gottesdienst  Zu- 
tritt haben  solle.  Gleichzeitig  erfolgte  die  gänzliche  Abschaffung 
der  Geheimlehre.  Aus  der  Kosmologie  und  Astronomie  des 
Ur-Christentums  machte  man  ein  Pantheon  voll  Götter  und 
Heiliger.  Von  den  Mysterien  blieb  nichts  übrig  als  der  Brauch, 
den  Mefskanon  leise  zu  murmeln.  In  der  griechischen  Kirche 
ist  auch  noch  der  Rest  vorhanden,  dafs  der  Priester  den  Gottes- 
dienst hinter  einem  Vorhang  verrichtet;  dieser  wird  während  der 
Erhebung  der  Hostie  zur  Seite  gezogen,  aber  es  wird  angenommen, 
dafs  die  Betenden  das  heilige  Sakrament  nicht  sehen,  weil  sie 
sich  in  dem  betreffenden  Augenblick  niederwerfen. 


Die  Apokalypse. 

Früher  allgemein  für  rein  christlichen  Ursprungs  gehalten, 
wird  dieses  Buch  seit  einiger  Zeit  von  ntafsgebenden  Forschern 


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Die  Apokalypse. 


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zum  allergrößten  Teil  als  eine  jüdische  Schrift  betrachtet  oder 
eigentlich  als  eine  jüdische  Apokalypse,  die  nach  dem  Fall  Jeru- 
salems (70  n.  Chr.  G.)  in  ein  christliches  Gewand  gehüllt  wurde. 
Die  ersten  drei  Kapitel  sind  echt  christlich,  aber  im  vierten  be- 
ginnt das  Buch  von  neuem  und  von  hier  bis  zum  Schluß  ist  es 

— mit  Ausnahme  einiger  eingeschobenen  Stellen  - rein  jüdisch 
oder  vielmehr  ein  Mischmasch  abendländischer,  judäischer  und 
sektiererischer  Lehren.  Der  größte  Teil  des  Ganzen  bildet  eine 
Beschreibung  der  heidnischen  Mysterien,  welche  der  christliche 
Bearbeiter  in  die  der  christlichen  Sagen  verwandelt  hat;  für  die 
letzteren  leistet  das  Werk  dasselbe,  was  Apulejus'  „Goldner  Esel“ 
und  das  sechste  Buch  von  Vergils  »Aeneide"  für  die  heidnischen 
Mysterien  leisten,  denen  jene,  wie  gesagt,  vollständig  entlehnt 
sind.  Das  mit  der  Sonne  bekleidete,  auf  dem  Mond  stehende 
Weib,  das  die  wahre  Kirche  versinnbildlicht,  ist  die  ägyptische 
Isis.  Der  durch  die  Aufsaugung  des  Wassers  durch  die  Erde 
vereitelte  Angriff  der  überschwemmenden  Schlange  auf  das  Weib 
und  dessen  Spröfslinge  entspricht  vollkommen  dem  Überfall  der 
diluvianischen  Schlange  Python  auf  Osiris  (Latona,  Horus)  und 
der  Tötung  dieses  Untiers.  Die  auf  den  Wässern  schwimmende 
oder  auf  einem  Ungeheuer  reitende  falsche  Kirche  — wo- 
runter die  heidnischen  Mysterien  zu  verstehen  sind  — und  deren 
schliefsliche  Versenkung  in  den  Höllensee  ist  der  Großen  Mutter 
des  Heidentums  nachgebildet,  die  auf  dem  Rücken  des  Löwen 
übers  Meer  reitet  und  während  der  ihr  zu  Ehren  gefeierten 
Mysterien  in  den  heiligen  Hades-See  versinkt. 

Paulus  selbst  stellt  einen  Einweihungskandidaten  vor  und 
demgemäß  ähneln  die  seinem  geistigen  Auge  vorschwebenden 
Bilder  gar  sehr  den  Schaustellungen  der  Mysterien.  Der  Prophet 
erblickt  vor  allem  eine  zum  prachtvollen  Himmelstempel  führende 
Thüre  und  der  Darsteller  des  Hierophanten  ladet  ihn  zum  Ein- 
tritt ein.  Er  wohnt  nun  der  Entsiegelung  des  heiligen  Buches 
bei,  wird  aber  sodann  unverzüglich  von  einer  Schar  scheußlicher 
Erscheinungen  überfallen,  unter  denen  sich  am  meisten  bemerk- 
bar machen  eine  gewaltige  Schlange  — das  wohlbekannte  Sinn- 
bild des  Grofsen  Vaters  — und  zwei  wilde  Tiere,  deren  eines 
dem  Meere  entsteigt,  während  das  andere  aus  der  Erde  kommt. 
Dieses  Heer  von  Schreckensgestalten  erinnert  lebhaft  an  die 
Hundeerscheinungen  der  Orgien  und  die  vielförmigen  Abbildungen 
des  Heldengottes,  den  man  allgemein  für  einen  Spröfsling  des 
Meeres  hielt.  Nachdem  er  den  Ungeheuern  glücklich  entronnen, 
wird  der  Prophet  von  dem  ihn  geleitenden  Engel  (Hierophant)  vor 
ein  weibliches  Wesen  geführt,  welches  - gleich  der  dem  Meere 
entsteigenden  und  sich  dem  Kandidaten  Apulejus  zeigenden  Isis 

— auf  dem  Rücken  eines  wilden  Seetieres  über  die  Oberfläche 


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92 


Christliche  Mysterien.  • 


vieler  Gewässer  dahinzuschweben  scheint.  Ebenso  wie  die  Grofse 
Mutter  das  erklärte  weibliche  Prinzip  der  Fruchtbarkeit  war  und 
häufig  durch  systematische,  vorschriftsmäfsige  Hurerei  versöhn- 
lich gestimmt  wurde,  gilt  auch  die  in  Rede  stehende  weibliche 
Gottheit  für  eine  regelrechte  Hure,  die  die  Könige  der  Erde  mit 
dem  goldenen  Becher  ihrer  Prostituierung  berauscht,  was  wieder 
daran  erinnert,  dafs  die  heidnischen  Eingeweihten  aus  einem 
heiligen  Becher  einen  Trunk  thun  mufsten.  Auf  ihrer  Stirne  ist 
das  Wort  »Geheimnis"  zu  lesen,  dessen  Bedeutung  zu  erläutern 
der  Engel-Hierophant  unternimmt. 

Dem  aus  dem  Meer  geborenen  Grofsen  Vater  wurde  ein 
dreifacher  Zustand  zugeschrieben:  er  lebte,  er  starb  und  er  er- 
stand wieder.  Diese  Wandlungen  gelangten  in  den  Mysterien 
zur  Darstellung.  Dem  dem  Meer  entsteigenden  wilden  Tier  mifst 
die  Apokalypse  dieselben  drei  Stadien  bei ; im  toten  Zustand  liegt 
es  - wie  Horus,  Osiris,  Siwa,  Wischnu  — schwimmend  auf 
dem  gewaltigen  Ozean;  bei  seiner  Auferstehung  erhebt  es  sich 
von  den  Gewässern ; ob  lebend  oder  tot,  stets  hat  es  sieben  Köpfe 
und  zehn  Hörner  — Ziffern,  deren  Urbilder  wir  aus  den 
Mysterien  kennen.  (Vergl.  »Einleitung“).  Und  wie  die  Anbeter 
des  Grofsen  Vaters  sein  besonderes  Zeichen  trugen  und  an  seinem 
Namen  erkannt  wurden , trugen  auch  die  Anbeter  des  wilden 
Seetieres  dessen  Zeichen  und  Namen. 

Endlich  geht  der  erste,  düstere  Teil  dieser  heiligen  Mysterien 
zur  Neige  und  der  zweite,  freudige  naht  heran.  Nachdem  der 
Prophet  die  Feinde  Gottes  in  einen  schrecklichen  Feuersee  ver- 
sinken gesehen,  der  dem  Höllensee  der  ägyptischen  Mysterien 
entspricht,  wird  er  in  eine  glänzend  erleuchtete  Region  gebracht, 
die  in  genau  derselben  Weise  ausgeschmückt  ist  wie  das  »Para- 
dies“, welches  das  Endziel  der  Bewerber  um  die  Aufnahme  in 
die  Mysterien  des  Altertums  war,  während  die  profane  Menge  -* 
die  Zauberer,  Mörder,  Wollüstlinge,  Götzendiener,  Lügner  u'.  s.  w. 
— draufsen  bleiben  mttfs.  Manche  modernen  Forscher  können 
in  der  Apokalypse  weder  Sinn  noch  Zweck  erblicken. 

Die  Ausbreitung  des  Christentums  zeitigte  diesem  auch 
viele  Gegner  — offene  und  geheime.  Die  letzteren  wollten  statt 
des  Christentums  ein  reformiertes,  mit  christlichen  Elementen 
verquicktes  Heidentum.  Damals  blühte  der  Weizen  gewandter 
Betrüger,  indem  infolge  der  Leichtgläubigkeit  der  Menschen  zahl- 
lose Sekten  entstanden.  Zu  den  erfolgreichsten  Sektengründern 
gehörten  Apollonius  von  Tyana  und  Alexander  aus  Abonoteichos, 
deren  Lehren,  Zeremonien  und  geheimnisthuerische  Kniffe  zum 
grofsen  Teil  auf  der  religiösen  und  philosophischen  Quack- 
salberei des  Pythagoras  beruhten. 


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VIERTES  BUCH. 

ischmaeliteN. 


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Die  Weisheitsloge. 


Die  Mahdilegende.  - Abdallah.  Ursprung  der  Quarmatiten.  — Ent- 
stehung der  Fatimiten-Dynastie.  - Die  Loge  von  Kairo.  Ausbreitung 

der  Lehren. 

Die  Araber  hatten  Persien  unterjocht,  doch  trug  dieses 
Land  das  fremde  Joch  nur  sehr  unwillig.  In  der  Spaltung,  die 
Mohammeds  Anhänger  nach  dessen  Tod  entzweite,  stellten  die 
Perser  sich  auf  die  Seite  Alis,  des  Schwiegersohnes  und  Nach- 
folgers des  Propheten.  Am  Ende  des  achten  Jahrhunderts  waren 
die  beiden  Hauptsekten  des  Islams  bereits  in  zahllose  Unter- 
sekten zersplittert;  aber  ihnen  allen  war  der  Glaube  an  einen 
künftigen  Messias  (Mahdi,  Führer)  gemeinsam.  Die  überspannte 
Sekte  der  Ghulat  hatte  die  nachträglich  auch  von  anderen  Sekten 
angenommene  Lehre  ausgebrütet,  dafs  Ismael  der  letzte  sichtbare 
Imam  (geistliches  Oberhaupt)  gewesen  sei.  Die  Anhänger  dieses 
Unsinns  hiefsen  »Ischmaeliten“.  Andere  behaupteten,  der  zwölfte 
Imam,  Askerih,  sei  - Ali  als  den  ersten  angenommen  — der 
letzte  sichtbare  gewesen  und  er  sei  verschwunden,  um  in  einer 
Höhle  zu  Hilla  am  Euphrat  unsichtbar  das  Ende  der  Welt  ab- 
zuwarten und  dann  als  Mahdi  wiederzuerscheinen.  Auf  diesen 
noch  gröfseren  Unsinn  baute  ein  kühner  Abenteurer,  Abdallah, 
den  Plan  auf,  Persien  zu  befreien  und  selber  zur  Macht  zu  ge- 
langen; und  auf  dem  gleichen  Glauben  beruht  die  Macht  der 
verschiedenen  jetzigen  Mahdis. 

Abdallah,  ein  Enkel  Harun-al-Raschids,  wendete  sich  an  die 
sehr  zahlreichen  persischen  Ischmaeliten  und  redete  ihnen  ein, 
Ismaels  Sohn  Mohammed  sei  ein  Prophet  gewesen  und  habe  eine 
neue  Religion  gestiftet,  welche  die  Lehren  Ismaels  bekräftige  und 
ihren  Anhängern  die  Weltherrschaft  sichern  werde.  Er  fügte 
hinzu,  dafs  es  seit  Erschaffung  der  Welt  sechs  Religions-Epochen 
gegeben  habe,  deren  jede  sich  durch  die  Menschwerdung  eines 
Propheten  kennzeichne;  die  sechs  Propheten  seien  Adam,  Noah, 
Abraham,  Moses,  Jesus  und  Mohammed  gewesen,  die  die  Auf- 


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96 


Ischmaeliten. 


gäbe  gehabt  hätten,  die  Menschen  zu  immer  gröfserer  religiöser 
Vollkommenheit  emporzuführen.  Die  sieben  Imams,  die  auf  Ali  ge- 
folgt seien,  waren  die  Ausleger  des  verborgenen  Sinnes  von  Mo- 
hammeds Religion  und  die  Vorläufer  der  vollkommensten  Lehre, 
deren  Sieg  bevorstehe  - derjenigen  Mohammeds,  des  Sohnes 
Ismaels.  Und  so  wie  Mohammed  und  jedem  der  fünf  früheren 
Propheten  sieben  Imams  gefolgt  seien,  werde  es  auch  nach 
Mohammed  sieben  Imams  geben.  Der  Imam  habe  die  Aufgabe, 
den  Eingeweihten  auseinander  zu  setzen,  dafs  jede  Religion 
zweierlei  Auslegungen  zulasse : eine  offenkundige  für  die 

Menge  und  eine  geheime  — die  einzig  wahre  — für  die  Ein- 
geweihten. Sich  selbst  gab  Abdallah  für  den  ersten  der  Imams 
Mohammeds  ben  lsmael  aus. 

Der  reiche  persische  Patriot  Mohammed  ben  Hosain,  der 
den  Beinamen  Zaidan  führte,  war  von  Abdallahs  Plänen  so  be- 
geistert, dafs  er  ihm  zwei  Millionen  Goldstücke  schenkte.  Aber 
der  Gouverneur  von  Susiana  verfolgte  Abdallah,  der  deshalb 
nach  Syrien  entfloh,  wo  einer  seiner  Missionäre  um  887  herum 
den  damals  unter  dem  Beinamen  Quarmat  berühmt  gewesenen 
Hamdan  bekehrte,  der  alsbald  die  Ischmaelitensekte  der  Quarma- 
titen  bildete,  deren  sich  rasch  entwickelnde  Macht  die  Kalifen 
zweihundert  Jahre  lang  mit  Angst  erfüllte. 

Nach  Abdallahs  Tod  folgte  ihm  sein  Sohn  Seid  im  Amte 
des  geistlichen  Oberhauptes.  Dieser  Imam  behauptete,  der  er- 
wartete fatimitische  Messias,  der  Mahdi,  zu  sein.  Als  man  ihm 
mitteilte,  dafs  zahlreiche  Gläubige  in  Afrika  ihn  sehnsüchtig  er- 
warteten, begab  er  sich  unter  dem  Namen  Obaid  Allah  dahin, 
stürzte  die  über  Tripolis  und  Tunis  herrschende  Aghlabiten- 
Dynastie  und  gründete  (909)  die-  berühmte  Dynastie  der  Fati- 
miten.  Sein  Grofsenkel  Moizz-li-dinillah  vertrieb  die  Bagdader 
Kalifen  aus  Ägypten  und  gründete  Kairo,  das  er  zu  seiner 
Hauptstadt  machte.  Dort  rief  er  die  »Loge  von  Kairo“  ins 
Leben,  die  eigentlich  eine  Universität  mit  vielen  Büchern  und 
wissenschaftlichen  Instrumenten  war;  allein  obgleich  als  ihr  offen- 
kundiger Zweck  der  wissenschaftliche  Unterricht  galt,  hatte  sie 
in  Wirklichheit  eine  ganz  andere  Aufgabe. 

Der  Lehrplan  umfafste  neun  Grade.  Im  ersten  wurden 
dem  Schüler  Zweifel  eingeflöfst,  zugleich  aber  auch  das  Vertrauen, 
dafs  der  Lehrer  sie  lösen  werde.  Zu  diesem  Zweck  stellte  der 
Lehrer  spitzfindige  und  verfängliche  Fragen,  welche  die  Wider- 
sinnigkeit der  buchstäblichen  Auslegung  des  Korans  beweisen 
sollten;  auch  deutete  er  dunkel  an,  dafs  in  dieser  Schale  ein 
süfser,  nahrhafter  Kern  verborgen  sei.  Wer  zu  dem  letzteren 
gelangen  wollte,  mufste  sich  unter  furchtbaren  Eidschwüren  dem 
Lehrer  gegenüber  zu  blindem  Glauben  und  Gehorsam  verpflichten. 


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Die  Weisheitsloge. 


97 


Der  zweite  Grad  lehrte  die  Anerkennung  der  Imams  als  gott- 
gesandte Quellen  aller  Weisheit  und  Kenntnis.  Im  dritten  erfuhr 
der  Schüler,  dafs  die  Zahl  der  heiligen  Imams  der  geheimnis- 
vollen Ziffer  sieben  entspricht;  im  vierten,  dafs  Gott  die  Welt 
mit  sieben  Gesetzgebern  (»Sprecher“  genannt)  beglückt  habe, 
deren  jedem  sieben  Gehilfen  (»Stumme“  genannt)  zur  Seite 
standen;  im  fünften,  dafs  jeder  dieser  Gehilfen  zwölf  Apostel 
hatte.  Der  sechste  Grad  führte  dem  Schüler  die  Vorschriften 
des  Korans  vor  Augen  nebst  der  Lehre,  dafs  alle  Religions- 
dogmen den  Regeln  der  Philosophie  untergeordnet  sein . sollten ; 
auch  empfing  er  Unterweisung  in  den  Lehren  des  Plato  und  des 
Aristoteles.  Der  siebente  Grad  beschäftigte  sich. mit  dem  mysti- 
schen Pantheismus.  Im  achten  lernte  der  Eingeweihte  die  Gebote 
des  Koran  nach  ihrem  wahren  Wert  beurteilen  und  im  neunten 
wurde  ihm  beigebracht,  dafs  an  nichts  geglaubt  werden  solle  und 
dafs  alles  erlaubt  sei. 

Die  Ziele  der  Weisheitsloge  von  Kairo  waren:  die  Besei- 
tigung der  menschlichen  Verantwortlichkeit  und  Würde;  die 
Umgebung  des  Fatimitenthrones  mit  einer  furchtbaren  Leibwache, 
einer  Mördertruppe;  die  Errichtung  einer  geheimnisvollen  Miliz, 
die  den  Ruhm  und  die  Macht  des  Kalifats  von  Kairo  weit  ver- 
breiten und  den  verhafsten  Thron  von  Bagdad  stürzen  helfen 
sollte.  'Viele  Missionäre  wurden  ausgesandt,  deren  einige  in 
Arabien  und  Syrien  Anhänger  gewannen,  denen  zwar  die  Pläne 
des  Bundes  unbekannt  waren,  die  aber  unter  schrecklichen  Eiden 
blinden  Gehorsam  schworen.  Die  Minierarbeit  der  Loge  dauerte 
ein  Jahrhundert  und  ihre  Lehren,  die  auf  .das  Leugnen  aller 
Wahrheit,  Sittlichkeit  und  Gerechtigkeit  hinausliefen,  mufsten  etwas 
Außerordentliches  zum  Ergebnis  haben.  Wir  werden  im  nächsten 
Kapitel  sehen,  dafs  der  entsetzliche  Schlag,  den  die  Loge  von 
Kairo  dem  menschlichen  Gewissen  versetzte,  zu  einer  ungemein 
blutigen  Erscheinung  führte.  Hier  sei  nur  noch  bemerkt,  dafs 
Hakem  Biamrillah,  der  Stifter  der  Drusensekte,  die  wir  ebenfalls 
in  diesem  Buch  behandeln  werden,  ursprünglich  ein  Mitglied 
der  Weisheitsloge  war. 


Heckethorn«Katscher.  Geheimbunde  u.  Geheimlehren. 


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9S 


Ischmaeliten. 


Die  Assassinen. 

Ursprung  des  Bundes.  Hassan  Sabbahs  Ansehen.  — Die  sieben  Grade. 

Blinde  Ergebenheit  der  Mitglieder.  — Konrad  von  Montferrat  und 
Raschid-ad-din.  — Das  vorgeschwindelte  Paradies.  Hassans  Blutdurst. 
- Sein  Nachfolger.  Ermordung  des  Gesandten  Raschid-ad-dins.  - Die 
Unterdrückung  der  Assassinen.  Moderne  Assassinen.  — Aga  Chan  und 
die  Chodschas.  — Die  Benutzung  der  Assassinen  seitens  christlicher 

Herrscher. 

Nur  Arabien  und  Syrien  konnten  der  Schauplatz  der 
düsteren  Thaten  des  »Alten  Mannes“  oder  »Herrn  des  Berges“ 
sein.  Einer  der  days  (Missionäre)  der  Weisheitsloge,  Hassan 
Sabbah,  ein  von  Abenteurergeist  erfüllter  Mann,  zeichnete  sich  so 
sehr  aus,  dafs  er  grofses  Ansehen  errang.  Das  erregte  den  Neid 
von  Nebenbuhlern,  die  es  denn  auch  durchsetzten,  dafs  er  ver- 
bannt wurde.  Das  Schiff,  an  dessen  Bord  er  aufser  Landes  ge- 
bracht wurde,  machte  während  der  Fahrt  einen  so  furchtbaren 
Sturm  durch,  dafs  die  ganze  Mannschaft  sich  verloren  gab.  Da 
rief  Hassan  mit  feierlicher  Miene:  »Der  Herr  hat  mir  versprochen, 
dafs  mir  nichts  Schlimmes  widerfahren  werde.“  Der  Sturm  liefs 
nach,  die  Matrosen  schrieen:  »Ein  Wunder!“  und  wurden  die 
ersten  Anhänger  des  gottbegnadeten  Mannes.  Hassan  bereiste 
Persien  als  Prediger,  gewann  zahlreiche  Anhänger,  eroberte 
i.  J.  1090  Alamut  und  begründete  dort  seine  Schreckensherrschaft. 

Die  Geschichte  jener  Zeit  ist  erfüllt  von  Hassans  Namen. 
Seine  Macht  reichte  so  weit,  dafs  sogar  westeuropäische  Könige 
vor  ihr  zitterten.  Philipp  August  von  Frankreich  hatte  vor  dem 
»Alten  Mann"  so  grofse  Angst,  dafs  er  keinen  Schritt  ohne  seine 
Leibwache  zu  machen  wagte;  und  vielleicht  vergab  ihm  der 
sonst  Unerbittliche  wegen  dieser  aufsergewöhnlichen  Furcht. 
Anfänglich  legte  Hassan  keine  andere  Absicht  an  den  Tag  als 
die  der  Vergröfserung  der  Macht  des  Kalifats  von  Kairo.  Bald 
jedoch  warf  er  die  Maske  ab,  denn  bei  seinem  wilden  Charakter 
konnte  er  nicht  lange  heucheln  und  sich  verstellen.  Er  setzte 
die  neun  Grade  der  Weisheitsloge  auf  sieben  herab  und  stellte 
sich  selber  als  »Sidna«  (so  viel  wie  »Cid“)  an  die  Spitze.  Zu- 
meist leitet  man  das  Wort  »Assassinen “ (Mörder)  von  Haschisch 
(Hanf)  ab,  mit  dessen  bekanntem  Absud  die  Bundesgenossen  be- 
rauscht wurden,  wenn  sie  etwas  Kühnes  unternehmen  sollten. 
Doch  dürfte  diese  Ableitung  kaum  zutreffen,  denn  den  Haschisch- 
genufs  hatten  alle  orientalischen  Völker  mit  einander  gemein. 
Vielleicht  rührt  der  Ausdruck  vom  arabischen  »hass“  (umbringen, 
vernichten)  her.  Nach  dem  jüdischen  Autor  Benjamin  ,(1173) 
stammt  die  Bezeichnung  »Assassinen “ von  „asasa“  (=  Fallen 
legen)  ab,  und  dies  halten  wir  für  am  wahrscheinlichsten. 


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Die  Assassinen. 


99 


Hassan  regelte  den  Inhalt  der  sieben  Grade  durch  einen 
Katechismus,  den  er  selbst  verfafste.  Im  ersten  Grad  wurde 
dem  Missionär  empfohlen,  die  Eigenschaften  des  Kandidaten  vor 
dessen  Aufnahme  in  den  Bund  aufmerksam  zu  beobachten;  im 
zweiten  wurde  ihm  eingeschärft,  das  Vertrauen  des  Kandidaten 
dadurch  zu  erringen,  dafs  er  dessen  Neigungen  und  Leiden- 
schaften schmeichle;  im  dritten,  ihm  durch  Darlegung  der  Wider- 
sinnigkeit des  Korans  Zweifel  einzuflöfsen;  im  vierten,  ihm  sowohl 
das  Versprechen,  die  Zweifel  dem  Lehrer  vorzulegen,  als  auch 
einen  feierlichen  Eid  der  Treue  und  des  Gehorsams  abzunehmen. 
Im  fünften  Grad  sollte  der  days  dem  Neuling  mitteilen,  dafs  die 
hervorragendsten  Männer  in  Staat  und  Kirche  dem  Geheimbund 
angehören;  im  sechsten  sollte  er  ihn  bezüglich  des  gesamten 
Inhalts  des  bisherigen  Unterrichts  prüfen  und  die  ihm  bei- 
gebrachten Kenntnisse  befestigen.  Im  siebenten  Grad  erfolgte 
die  „Darlegung  der  Allegorie",  d.  h.  die  Enthüllung  der  eigent- 
lichen Geheimnisse  des  Bundes. 

Die  Assassinen  zerfielen  in  zwei  Hauptgruppen:  die  „Selbst- 
aufopfernden“ und  die  „Kandidaten".  Die  ersteren  mifsaehteten 
Strapazen,  Foltern  und  Gefahren  und  gaben  freudig  das  Leben 
hin,  falls  es  dem  „Herrn  vom  Berge"  beliebte,  dies  von  ihnen 
zu  verlangen  sei  es  zu  seinem  eigenen  Schutz,  sei  es  behufs 
Ausführung  seiner  Mordbefehle.  In  weifse  Tuniken  mit  roten 
Schärpen  gekleidet  — die  Farben  der  Unschuld  und  des  Blutes 
- gingen  die  Getreuen  ohne  Rücksicht  auf  Beschwerden  oder 
Entfernung  auf  die  Tötung  der  ihnen  bezeichneten  Opfer  aus. 
Nur  selten  verfehlten  ihre  Dolche  das  Ziel,  denn  sie  nahmen 
stets  die  günstigsten  Gelegenheiten  wahr.  Konrad  von  Montferrat 
hatte  mit  einem  der  Nachfolger  Hassans,  Raschid-ad-din,  Streit  gehabt, 
und  als  er  überdies  eine  Anzahl  gefangener  Muselmanen  nieder- 
metzeln liefs,  ersuchte  Sultan  Saladdin  den  aufgebrachten  Raschid- 
ad-din,  Konrad  umbringen  zu  lassen.  Zu  diesem  Zweck  Hefsen 
sich  zwei  Assassinen  taufen  und  beteten  dann  fortwährend  in 
seiner  Umgebung,  bis  sich  eine  gute  Gelegenheit  bot,  ihn  zu 
erdolchen.  Einer  der  Mörder  flüchtete  sich  in  eine  Kirche;  als 
er  jedoch  erfuhr,  dafs  Konrad  noch  nicht  ganz  tot  sei, 
wufste  er  es  so  einzurichten,  dafs  er  Gelegenheit  fand,  ihm  den 
Todesstofs  zu  geben,  worauf  er  sich  ruhig  verhaften  liefs,  um 
unter  gräfslichen  Qualen  zu  Tode  gemartert  zu  werden. 

In  welcher  Weise  ein  so  hoher  Grad  von  blinder  Ergeben- 
heit erzielt  wurde,  darüber  erzählt  Marco  Polo  das  nachstehende. 
Bedurfte  der  Alte  Mann  eines  Anhängers  zur  Ausführung  einer 
besonders  kühnen  That,  wandte  er  eine  interessante  Kriegslist 
an.  In  dem  wegen  seiner  aufserordentlichen  Schönheit  berühmten 
persischen  Mulebat-Thal  (in  der  jetzigen  Provinz  Sigistan)  besafs 


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Ischmaeliten. 


er  seinen  Palast.  Von  den  das  Thal  umgebenden  hohen  und 
steilen  Felsklippen  aus  war  dasselbe  völlig  unzugänglich  und  die 
vorhandenen  Zugänge  waren  durch  starke  Festungen  geschützt. 
Das  Thal  enthielt  die  prachtvollsten  Gärten,  in  denen  sich  herrlich 
eingerichtete  Pavillons  befanden,  die  von  den  reizendsten  Mädchen 
bewohnt  waren.  Der  zur  Vollbringung  des  geplanten  Unter- 
nehmens ausersehene  Assassine  wurde  berauscht  gemacht,  in 
diesem  Zustande  ins  Mulebat-Thal  gebracht  und  dort  völlig  sich 
selbst  überlassen.  Zu  sich  kommend,  bewunderte  er  die  grofs- 
artige  Landschaft  und  die  ihn  reichlich  bewirtenden  und  ihm 
schön  thuenden  Weiber,  die  ihm  einredeten,  er  befinde  sich  im 
Paradies.  Ehe  Übersättigung  eintreten  konnte,  wurde  er  neuer- 
dings in  einen  Rausch  versetzt  und  in  seine  Wohnung  zurück- 
gebracht. Bald  darauf  liefs  der  »Herr  vom  Berge“  ihn  vor  sich 
kommen,  um  ihm  zu  sagen,  er  habe  ihn  das  Elysium  kosten 
lassen  und  wolle  ihm  den  ewigen  Aufenthalt  daselbst  gestatten, 
falls  er  die  betreffende  That  vollführe,  ln  dem  Glauben  an  die 
unbegrenzte  Macht  seines  Gebieters  erklärte  der  Assassine  sich 
dann  zu  allen  Schandthaten  bereit. 

In  jenem  unnahbaren  Horst  war  die  Geierseele  Hassans 
mit  ihrem  Ehrgeiz  allein.  Diese  Einsamkeit  bildete  seine  Haupt- 
stärke, aber  sie  scheint  ihm  manchmal  denn  doch  zu  grofs  ge- 
wesen zu  sein,  denn  es  heifst,  er  habe  theologische  Werke 
geschrieben  und  sich  viel  mit  religiösen  Übungen  abgegeben. 
Er  liefs  mit  Berechnung  morden,  teils  um  Ruhm  und  Macht  zu 
gewinnen,  teils  um  Furcht  einzuflöfsen  und  Erfolge  zu  erringen. 
Er  unterhielt  eine  geheime  Taubenpost,  die  ihn  oft  mit  über- 
raschender Schnelligkeit  von  Ereignissen  in  grofser  Entfernung 
in  Kenntnis  setzte;  seinen  Anhängern  aber  schwindelte  er  vor, 
er  habe  die  Gabe,  entfernte  Vorgänge  zu  sehen.  Ein  persischer 
Kalif  beabsichtigte,  den  Assassinenbund  zu  bekriegen  und  aus- 
zurotten; da  fand  er  in  seinem  Bett  auf  dem  Kissen  einen  Dolch 
und  dazu  eine  Zeile  von  Hassan:  „Was  du  neben  deinem  Kopf 
findest,  kann  auch  in  dein  Herz  versenkt  werden."  Er  blieb  bis 
zu  seinem  Tode  blutdürstig;  eigenhändig  tötete  er  seine  beiden 
Söhne  - den  einen  wegen  der  Ermordung  eines  Missionärs 
(days),  den  andern  wegen  Weingenusses.  Offenbar  wollte  er 
nicht  eine  Dynastie  gründen,  sondern  einen  Geheimbund. 

Mit  Hassans  Tode  hörte  der  blinde  Gehorsam  der  Assas- 
sinen nicht  auf;  auch  seine  Nachfolger  konnten  auf  denselben 
zählen.  Als  Heinrich,  der  Graf  der  Champagne,  in  der  Nähe 
des  Gebietes  des  „Alten  Mannes"  zu  thun  hatte,  wurde  er  von 
dem  bereits  erwähnten  Raschid-ad-din  eingeladen,  die  Befestigungen 
zu  besuchen  und  er  nahm  die  Einladung  an.  Inmitten  der  Be- 
sichtigung gab  Raschid  zwei  Getreuen  ein  Zeichen,  worauf  sie 


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Die  Assassinen. 


101 


sich  ins  Herz  stachen  und  tot  zu  den  Füfsen  des  erschreckten 
Gastes  niederfielen.  »Du  brauchst  es  nur  zu  wünschen»,  sagte 
der  »Meister“  kühl,  »und  sie  alle  werden  sich  auf  einen  Wink 
von  mir  in  deiner  Gegenwart  erdolchen."  Eines  Tages  liefs  der 
Sultan  den  Alten  Mann  durch  einen  Abgesandten  auffordern, 
sich  mitsamt  seinen  rebellischen  Assassinen  zu  unterwerfen.  Da 
sagte  der  »Meister»  in  Anwesenheit  des  Abgesandten  zu  einem 
Getreuen:  »Erstich  dich!“  und  dieser  that  es;  zu  einem  andern 
sagte  er:  »Stürze  dich  vom  Turm  hinab!»  und  es  geschah. 
Nun  wandte  der  Alte  Mann  sich  an  seinen  Gast:  »Siebzigtausend 
Anhänger  gehorchen  mir  ebenso  blind  - das  ist  meine  Antwort 
für  deinen  Herrn.»  Übrigens  war  diese  Ziffer  wahrscheinlich 
übertrieben;  die  Zahl  der  Assassinen  wurde  nie  höher  geschätzt 
als  vierzigtausend  und  viele  von  diesen  waren  keine  »Selbst- 
aufopferer»,  sondern  blofs  Kandidaten. 

Den  in  der  Nähe  des  Assassinengebietes  begüterten  Tempel- 
rittern war  es  — wann,  ist  ungewifs  - gelungen,  sich  den 
Geheimbund  mit  zweitausend  Dukaten  jährlich  tributpflichtig  zu 
machen.  Raschid-ad-din,  dem  alle  Religionen  gleichgültig  waren, 
gedachte  sich  von  dieser  lästigen  Abgabe  dadurch  zu  befreien, 
dafs  er  samt  allen  seinen  Anhängern  zum  Christentum  übertrete. 
Er  sandte  daher  i.  J.  1172  einen  Vertreter  zu  Amalrich,  dem 
König  von  Jerusalem,  mit  dem  Anerbieten  des  Übertritts  für  den 
Fall,  dafs  er  — der  König.  — die  Templer  zum  Verzicht  auf  den 
Tribut  bewege.  Amalrich  erklärte  sich  einverstanden  und  erteilte  den 
Tempelherren  die  Versicherung,  er  selbst  werde  ihnen  die  zweitausend 
Dukaten  alljährlich  bezahlen.  Sie  erhoben  keine  Einwendung, 
aber  der  ischmaelitische  Abgeordnete  wurde  auf  dem  Heimwege 
von  einigen  Templern  ermordet,  und  zwar  im  Auftrag  ihrer 
Vorgesetzten,  denen  das  Versprechen  des  Königs  kein  genügender 
Ersatz  für  den  Tribut  dünken  mochte.  Als  der  über  diese 
Niedertracht  empörte  König  die  strenge  Bestrafung  der  Verbrecher 
forderte,  begnügte  sich  der  Meister  des  Tempels  mit  der  Er- 
klärung, er  habe  ihnen  Bufsen  auferlegt.  Der  aufgebrachte 
Amalrich  bemächtigte  sich  jedoch  des  Rädelsführers  Du  Mesnil 
und  warf  ihn  ins  Gefängnis;  da  er  jedoch  bald  darauf  starb, 
erlangte  Du  Mesnil  seine  Freiheit  wieder.  Mit  dem  Übertritt 
der  Ischmaeliten  zum  Christentum  waFs  aber  selbstverständlich 
vorbei. 

Raschid-ad-din  starb  1192.  Da  seine  Nachfolger  weder 
seine  Begabung  hatten,  noch  sein  Ansehen  genossen,  geriet  die 
Sekte  in  Verfall.  1256  fiel  Hulagu,  der  Bruder  Mongus,  des 
Grofs-Chans  der  Mongolei,  in  Persien  ein  und  vertilgte  alle 
Assassinen,  deren  er  habhaft  werden  konnte.  Er  liefs  den  letzten 
Herrn  von  Alamut,  Rokn-ad-din,  hinrichten  und  bemächtigte  sich 


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Ischmaeliten. 


des  gröfsten  Teiles  seiner  Festungen.  Zwar  erhielten,  als  vier 
Jahre  später  der  Mameluekensultan  von  Ägypten  die  Mongolen 
besiegte,  die  Ischmaeliten  ihre  Festungen  zurück,  allein  nur  auf 
eine  Galgenfrist.  Nach  fünf  Jahren  mufsten  sie  dem  ägyptischen 
Sultan  Tribut  zu  zahlen  beginnen,  1270  erlitt  das  damalige 
Assassinen-Oberhaupt  Sarim  bei  dem  Versuch,  das  ägyptische 
Joch  abzuschütteln,  eine  Niederlage  und  1273  lieferten  die  Assas- 
sinen all  ihre  Befestigungen  dem  Sultan  Baibars  I.  aus.  Diesem 
fiel  es  nicht  ein,  sie  ausrotten  zu  wollen;  er  zog  es  vielmehr 
vor,  sie  auszunutzen.  Ein  halbes  Jahrhundert  später  fand  der 
Reisende  Ibn-Batuta  sie  in  ihren  alten  Städten  und  Festungen 
wohnen  als  »des  Sultans  Pfeile,  mittels  welcher  er  seine  Feinde 
trifft".  Aus  einer  anderen  Quelle,  die  aus  derselben  Zeit  stammt 
(Abu  Tiras’  Sammlung  von  Anekdoten  über  Raschid-ad-din,  1324), 
erfahren  wir,  dafs  es  den  Assassinen  gestattet  war,  ihre  Lehren 
auch  fürder  offen  zu  bekennen. 

Genau  genommen,  besteht  die  Sekte  noch  heute,  und  zwar 
in  Persien  und  Syrien.  Die  persischen  Ischmaeliten  wohnen 
zumeist  in  Rudbar,  doch  findet  man  sie  über  den  ganzen  Orient 
verstreut;  als  Handelsleute  dringen  sie  sogar  bis  zum  Ganges 
vor.  ln  A.  Drummonds  »Reisen  durch  verschiedene  Teile  Asiens“ 
(London  1754)  heifst  es:  »Manche  Schriftsteller  behaupten,  die 
Ässassinen  seien  im  13.  Jahrhundert  von  den  Tataren  gänzlich 
ausgerottet  worden.  Aber  ich  habe  so  lange  an  diesem  höllischen 
Ort  (Aleppo)  gelebt,  dafs  ich  wohl  behaupten  darf,  ihre  Brut 
sei  noch  jetzt  in  den  Gebirgen  der  Umgebung  vorhanden. 
Nichts  ist  diesen  verfluchten  Gourdins  zu  grausam,  barbarisch 
und  verabscheuungswert."  Als  Rousseau,  französischer  Konsul  zu 
Aleppo,  i.  J.  1810  Persien  bereiste,  erfuhr  er,  dafs  die  Assassinen 
damals  Schah  Chalilullah  als  ihr  Oberhaupt  anerkannten.  Er 
wohnte  in  Chek,  einem  kleinen  Dorf  zwischen  Ispahan  und  Tehe- 
ran, war  angeblich  ein  Nachkomme  Alis  und  erfreute  sich 
einer  gottähnlichen  Anbetung,  sowie  des  Ansehens  eines  Wunder- 
täters. Der  Reisende  Fraser  erzählte  von  diesem  Imam,  dafs, 
wenn  er  sich  die  Nägel  schnitt,  seine  Anhänger  sich  um  die 
Abschnitzel  balgten  und  dafs  das  Wasser,  in  welchem  er  sich 
wusch,  für  heilig  galt.  Chalilullah  fiel  bei  einem  Aufstand  gegen 
den  Gouverneur  von  Jesd  und  sein  Sohn  wurde  sein  Nachfolger. 

1866  kam  in  Bombay  ein  seltsamer  Rechtsstreit  zur  Ent- 
scheidung. In  dieser  Stadt  giebt  es  eine  handeltreibende  Gemeinde 
— die  Chodschas.  Der  Perser  Aga  Chan  aus  Mehelat  (bei  Chek) 
hatte  von  den  Chodschas  10000  Pfund  Sterling  gefordert  als 
Tribut,  der  ihm  von  ihnen  alljährlich  gebühre.  Da  sie  die 
Zahlung  verweigerten,  brachte  Aga  Chan  die  Sache  vor  Gericht, 
bewies  diesem,  dafs  er  in  gerader  Linie  von  dem  vierten  Grofs- 


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Die  Roschenia. 


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meister  von  Alarnut  abstamme  und  führte  auch  den  Nachweis, 
dafs  die  Chodschas  der  Assassinensekte  angehören,  zu  welcher 
sie  etwa  vierhundert  Jahre  vorher  durch  einen  Ischmaeliten- 
Missionär  bekehrt  wurden,  der  ein  Buch  schrieb,  das  die  heilige 
Schrift  der  Chodschas  geblieben  ist.  Jetzt  empfängt  Aga  Chan, 
der  den  Prozefs  gewann,  von  den  Chodschas  jährlich  angeblich 
sogar  20000  Pfund  Sterling  und  lebt  abwechselnd  in  den 
indischen  Städten  Bombay,  Puna  und  Bangalore;  als  der  Prinz 
von  Wales  vor  etwa  einem  Vierteljahrhundert  Indien  bereiste, 
machte  er  Aga  Chan  einen  Besuch,  weil  dessen  Vorfahr  Raschid- 
ad-din  dereinst  seinem  Vorfahr  Richard  Löwenherz  das  Leben 
geschenkt  hatte. 

Mehrere  christliche  Herrscher  sollen  sich  der  Konnivenz 
mit  den  Unthaten  der  Assassinen  schuldig  gemacht  haben, 
darunter  Richard  Löwenherz,  der  angeblich  Hassan  bewegen 
wollte,  den  König  von  Frankreich  umbringen  zu  lassen;  dafs  er 
an  der  Ermordung  Konrads  von  Montferrat,  die  man  ihm  früher 
ebenfalls  in  die  Schuhe  zu  schieben  pflegte,  unschuldig  war,  ist 
erwiesen.  Der  Neffe  Barbarossas  wurde  von  Papst  Innozenz  II. 
exkommuniziert,  weil  er  den  Herzog  von  Bayern  durch  Assassinen 
hatte  töten  lassen.  In  einem  Brief  an  den  König  von 
Böhmen  klagte  Friedrich  II.  über  den  Herzog  von  Österreich, 
der  ihm  ebenfalls  durch  Assassinen  habe  ans  Leben  wollen. 
Einige  Geschichtschreiber  erwähnen  ferner,  dafs  1 1 58  während 
der  Belagerung  von  Mailand  im  kaiserlichen  Lager  ein  Araber 
ertappt  worden  sei,  als  er  im  Begriffe  stand,  den  Kaiser  zu 
erdolchen.  Man  weifs  nicht,  wer  der  Anstifter  dieses  Attentats 
war;  aber  man  weifs,  dafs  damals  unter  den  europäischen  Fürsten 
grofses  Mifstrauen  herrschte  und  dafs  infolgedessen  die  Macht 
der  Assassinen  einen  hohen  Aufschwung  nahm. 


Die  Roschenia. 

Auch  diese  Sekte  war  ischmaelitischen  Ursprungs.  Ge- 
gründet wurde  sie  von  Bajesid  Ansari,  dem  Sohn  des  Ulemas 
Abdullah  vom  afghanischen  Stamme  der  Wurmuder.  Von  seinem 
Vater  ebenfalls  zum  Geistlichen  bestimmt,  zog  er  es  vor,  Pferde- 
händler zu  werden.  Als  er  einmal  geschäftlich  im  Bezirk  Kalind- 
schir  verweilte,  lernte  er  einen  Ischmaeliten  kennen,  der  ihn  mit 
neuen  religiösen  Ideen  erfüllte.  Nach  seiner  Rückkehr  begann 
Bajesid,  die  neue  Lehre  zu  predigen;  da  er  damit  jedoch  weder 


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Ischmaeliten. 


bei  seinem  Vater  noch  bei  seinen  Mitbürgern  Anklang  fand,  be- 
gab er  sich  zum  Sultan  von  Ningaschar  (Afghanistan),  der  ihn 
freundlich  aufnahm.  Allein  dessen  Unterthanen  wollten  von  seiner 
Propaganda  nichts  wissen.  Weit  leichter  fiel  es  ihm,  bei  den  in 
der  Gegend  von#Peschawr  lebenden  Gharihel-Afghanen  Proselyten 
zu  machen. 

Bajesid  teilte  seine  Anhänger  in  acht  Chilwats  (Klassen)  und 
brachte  ihnen  acht  Sekers  (Kenntnis-Grade)  bei.  Die  Afghanen 
unterrichtete  er  in  afghanischer,  die  Hindus  in  indischer,  die 
Perser  in  persischer  Sprache  — so  vielseitig  war  er!  - und  für 
alle  verfafste  er  Schriften,  die  selbst  von  seinen  Gegnern  als 
sehr  anziehend  geschrieben  bezeichnet  wurden.  Hatte  ein  Jünger 
den  achten  Grad  erlangt,  so  teilte  Bajesid  ihm  mit,  er  habe  die 
Vollkommenheit  erreicht  und  brauche  sich  um  die  Vorschriften 
und  Verbote  des  Gesetzes  nicht  mehr  zu  kümmern.  Als  sein 
Anhang  bereits  ein  beträchtlicher  war,  nahm  er  die  bewährtesten 
Jünger  mit  sich  und  liefs  sich  mit  ihnen  in  den  unwirtlichsten 
Gebirgen  Afghanistans  nieder,  um  Kaufleute  zu  plündern,  Brand- 
schatzungen zu  verüben  und  seine  Religion  mit  Waffengewalt  zu 
verbreiten. 

Seine  eifrigsten  Schüler  sollen  dem  weiblichen  Geschlecht 
angehört  haben.  Die  jungen  Frauenspersonen  benutzte  er  zur 
Anlockung  junger  Männer.  In  den  ersten  Einweihungsgraden 
blieben  die  Geschlechter  gesondert,  während  sieden  höheren  Unter- 
richt gemeinschaftlich  erhielten.  Je  mehr  Bajesids  Ansehen  stieg, 
desto  kühner  verkündete  er  seine  Lehren.  Er  leugnete  jedes  Fort- 
leben nach  dem  Tode,  liefs  die  vollkommen  Eingeweihten  ihren 
Lüsten  und  Neigungen  rückhaltlos  fröhnen  und  gewährte  ihnen  das 
unumschränkte  Recht  der  Verfügung  über  Leben  und  Eigentum 
aller  Nichtmitglieder  des  Bundes,  lin  Laufe  der  Zeit  verlegte  er 
sein  Hauptquartier  in  den  Bezirk  Haschtnagar,  den  die  Afghanen 
für  den  Schauplatz  ihrer  ersten  Ansiedlung  in  Afghanistan  halten. 
Dort  gründete  er  eine  Stadt  und  nahm  den  Titel  »Pir  roschan“ 
an  (==  »Vater  des  Lichts");  hiervon  rührt  der  Name  der  Sekte 
her:  Roschenia,  d.  h.  die  Erleuchteten. 

Als  die  Ausbreitung  der  neuen  Religion  die  Regierung  des 
Moguls  beunruhigte,  machte  Mahsan  Chan  Ghasi,  ein  hervor- 
ragender Offizier,  damals  Gouverneur  von  Kabul,  einen  Einfall 
in  das  Gebiet  der  Roschenia,  nahm  Bajesid  gefangen  und  liefs 
ihn  nach  Kabul  bringen,  wo  er  ihn  mit  halbrasiertem  Kopf  der 
Neugier  und  dem  Spotte  der  Volksmenge  aussetzte.  Durch  Be- 
stechung gelang  es  dem  Häftling,  zu  entkommen,  worauf  er  sich 
mit  seinem  Anhang  in  das  fast  unzugängliche  Hügelland  von 
Hrah  zurückzog  und,  um  die  erlittene  Schmach  wettzumachen, 
die  Bekehrungsarbeit  mit  solchem  Eifer  und  Geschick  betrieb, 


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Die  Drusen. 


105 


dafs  die  Roschenia  einen  nationalen  Charakter  anzunehmen  be- 
gann und  die  neue  Lehre  fast  als  die  Religion  der  Afghanen 
betrachtet  wurde.  Der  übermütig  werdende  »Vater  des  Lichts“ 
kündigte  die  Absicht  an,  Chorassan  und  Hindustan  zu  erobern. 
Als  er  jedoch  zu  diesem  Zweck  in  der  Ebene  von  Ningaschar 
erschien,  stiefs  er  abermals  mit  Mahsan  Chan  Ghasi  zusammen, 
der  die  ungeschulten  Roscheniatruppen  aufs  Haupt  schlug.  Baje- 
sid  selbst  entfloh  zwar,  starb  aber  schon  nach  wenigen  Tagen 
an  den  Folgen  der  nach  der  Flucht  erlittenen  Strapazen. 

Nach  seinem  Tode  wandte  sich  sein  ältester  Sohn  an  die 
ebenso  zahlreichen  wie  begeisterten  Bundesangehörigen  mit  der 
folgenden  Ansprache:  »Folget  mir,  meine  Freunde!  Euer  Pir  ist 
nicht  tot,  er  hat  nur  seinen  Platz  seinem  Sohn  Scheich  Omar 
eingeräumt  und  ihm  wie  dessen  Anhängern  die  Herrschaft  über 
die  Welt  übertragen.“  Kurz  darauf  fiel  Omar  in  einer  Schlacht 
mit  den  Jusefzei,  dem  mächtigsten  und  tapfersten  aller  Afghanen- 
stämme. Nur  der  jüngste  der  fünf  Brüder,  Dschellal-ed-din,  blieb 
am  Leben,  aber  er  fiel  nach  einiger  Zeit  dem  Schwerte  eines 
Hasara-Soldaten  zum  Opfer.  Ihm  folgte  sein  Sohn  Ahdad,  der 
bei  der  Belagerung  seiner  Veste  Meaghae  durch  die  Moguls  um- 
kam (um  1650  n.  Chr.  G.).  Die  Afghanen  zogen  sich  mit  seinem 
Sohn  Abd-el-kader  in  die  Berge  zurück,  während  die  Tochter, 
die  nicht  hatte  entkommen  können,  sich  beim  Einzug  der  kaiser- 
lichen Truppen  das  Leben  nahm,  um  diesen  nicht  in  die  Hände 
zu  fallen.  Ahdads  Nachkommen  standen  an  der  Spitze  der  Sekte 
bis  etwa  zum  Jahre  1 700,  um  welche  Zeit  Cerimdad  sich  dem 
Chan  von  Jrachan  ergab,  der  ihn  hinrichten  liefs.  Damit  hatte 
der  Bund  der  Roschenia  zu  bestehen  aufgehört. 


Die  Drusen. 


Entstehung  der  Sekte.  — Hakem  und  Darasi.  — Die  Religionsbücher.  — 
Hakems  Ermordung  und  angebliches  Verschwinden.  — Sein  Nachfolger 
Ali.  — Die  Lehren  der  Drusen.  — Einrichtungen,  Bräuche,  Eigenschaften. 
— Losungsworte  und  Zeichen.  — Ausbreitung.  — Die  Maroniten.  — Die 

Ansairih. 

In  manchen  islamitischen  Sekten  begegnen  wir  noch  heute 
den  ägyptischen  und  syrischen  lschmaeliten.  Es  sind  nur  noch 
geringe  Spuren  ihrer  einstigen  Beschaffenheit  vorhanden,  aber  ihr 
Profil  zeigt  sich  in  den  Charakterzügen  einiger  der  Ketzergruppen, 
die  in  der  Wüste  oder  im  Libanongebirge  leben  — die  türkische 


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106 


Ischmaeliten. 


Regierung  beunruhigend,  die  Reisenden  in  Erstaunen  setzend  und 
der  Wissenschaft  als  Gegenstand  des  Studiums  dienend.  Die 

bemerkenswerteste  dieser  Gruppen  ist  die  Sekte  der  Drusen,  die 
in  Nord-Syrien  lebt  und  seit  dem  Jahre  1020  unserer  Zeitrechnung 
besteht.  Damals  liefs  Hakem  Biamr-lllah,  der  sechste  Kalif 
von  Ägypten,  in  Kairo  öffentlich  verkünden,  er  sei  ein  mensch- 
gewordener Gott.  Sein  Beichtvater  Darasi  begünstigte  diesen 
Betrug  sehr,  stiefs  aber  auf  so  lebhaften  Widerstand,  dafs  er 
sich  gezwungen  sah,  in  die  Libanonwüsten  zu  fliehen,  w'O  er, 
von  Hakem  freigebig  unterstützt,  viele  Araber  bekehrte.  An- 
geblich soll  er  wegen  des  Predigens  seiner  Lehre  getötet  und  so 
der  erste  Märtyrer  der  neuen  Religion  geworden  sein.  Nach  ihm 
nannte  man  deren  Anhänger  „Drusen";  sie  selbst  aber  nannten 
und  nennen  sich  „Unitarier“.  Hakems  Vezier,  der  persische 
Mystiker  Hamse,  der  vom  Anfang  an  eifrig  für  die  Göttlichkeit 
seines  Herrn  eingetreten  war,  trat  mit  an  die  Spitze  der  von 
Darasi  eingeleiteten  Bewegung  und  vor  Ablauf  von  zehn  Jahren 
waren  fast  alle  Araberstämme  des  Libanon  zum  Drusentum  bekehrt. 

Das  letztere  wurde  also  von  dem  Fatimiten-Kalifen  Hakem, 
dem  Perser  Hamse  und  dem  Türken  Darasi  gegründet;  Hakem 
war  der  politische  Urheber,  Hamse  der  geistige  Ausgestalter,  Darasi 
der  Erläuterer  und  Apostel.  Hamse  umgab  sich  mit  vier  Ge- 
hilfen, denen  er  hochtrabende  Namen  beilegte.  Sich  selbst  nannte 
er  bescheiden  „Allgemeine  Vernunft“,  „Mittelpunkt“,  „Messias 
der  Völker“,  „Jesus",  „der  (mit  dem  Gott  Hakem  auf  immer) 
Vereinigte“.  159  Jünger  sandte  er  als  Missionäre  aus. 

Die  Drasen  bezeichnen  ihre  Religionsbücher  als  „die 
Sitzungen  der  Herrschenden  und  ihrer  gelehrten  Männer“;  die- 
selben zerfallen  in  sechs  Bände:  1.  „Das  Diplom“,  2.  „Die 
Widerlegung“,  3.  „Das  Erwachen",  4.  „Der  erste  der  sieben 
Teile",  5.  „Die  Treppe“,  6.  „Die  Vorwürfe“.  Im  Jahre  1817 
erhielten  sie  eine  siebente  Schrift,  „Das  Buch  der  Griechen", 
von  einem  Christen,  der  vorgab,  sie  in  einer  ägyptischen  Schule 
gefunden  zu  haben. 

Hakem  gehörte  zu  den  schlimmsten  Ungeheuern  der  Welt- 
geschichte. Er  schw’dgte  im  Blutvergiefsen  und  in  den  grau- 
samsten Verfolgungen.  In  Ägypten  erbitterte  seine  Ketzerei  die 
Rechtgläubigen  und  seine  Roheit  das  ganze  Volk.  Seine  eigene 
Schwester,  Sitt-el-Mulk,  stand  an  der  Spitze  der  Unzufriedenen 
und  liefs  ihn  durch  verläfsliche  Meuchelmörder  erdolchen,  als  er 
seinen  gewohnten  Spazierritt  auf  einem  w'eifsen  Esel  machte.  Da 
Sitt-el-Mulk  aber  nicht  den  Glauben  an  Hakems  Göttlichkeit  zer- 
stören wollte,  mufsten  die  Mörder  den  Leichnam  entkleiden  und 
spurlos  beseitigen,  die  Kleider  aber  so  anordnen,  als  wenn  Hakem 
noch  in  ihnen  steckte.  Als  der  Kalif  nicht  zurückkehrte  und 


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Die  Drusen. 


107 


man  Boten  nach  ihm  aussandte,  kamen  diese  mit  der  Meldung 
zurück,  dafs  sie  nur  die  Gewänder  gefunden.  Da  wurde  das 
Märchen  in  Umlauf  gesetzt,  die  Gottheit  habe  sich,  um  die 
Traue  ihrer  Anhänger  zu  prüfen,  unsichtbar  gemacht  und  werde 
die  Abtrünnigen  nach  ihrer  Rückkehr  bestrafen.  Die  Drusen 
erklären  das  Wunder  damit,  dafs  der  Leib  aus  einem  Stoff  be- 
standen habe,  zart  genug,  um  ohne  Öffnung  oder  Zerreifsung 
der  Kleider  aus  diesen  fahren  zu  können.  Die  in  den  Gewändern 
bemerkbaren  Dolchstiche  werden  für  geheimnisvolle  Andeutungen 
der  Gottheit  gehalten. 

Hakem  hinterliefs  zwei  Söhne,  die  jedoch  von  der  Sekte 
nicht  als  solche  anerkannt  wurden.  Ali  Efs  Sahir,  der  seinem 
Vater  im  Kalifat  folgte,  soll  zu  Hamse  gesagt  haben:  »Verehre 
mich,  wie  du  meinen  Vater  verehrt  hast.“  Die  Antwort  soll  ge- 
lautet haben:  »Unser  Herr  ist  weder  gezeugt  worden,  noch  hat 
er  gezeugt.“  - »Dann  sind  ich  und  mein  Bruder  illegitim?“ 
- »Du  sagst  es  selbst“  In  seinem  Zorn  liefs  Ali  die  ägyp- 
tischen Drusen  massenhaft  niedermetzeln,  falls  sie  sich  weigerten, 
zum  Islam  zurückzutreten.  Viele  entflohen  nach  Syrien  zu  ihren 
Religionsgenossen.  Um  das  über  Hakems  Willkürherrschaft  em- 
pörte Volk  zu  versöhnen,  gab  Ali  jeden  Anspruch  auf  Göttlich- 
keit und  die  damit  zusammenhängenden  »Rechte"  auf. 

Die  Drusen  anerkennen  Hakem  als  ihren  »Propheten“  und 
glauben  an  die  Seelenwanderung;  doch  dürfte  das  bei  ihnen,  wie 
einst  bei  den  Pythagoräern,  nur  eine  Redewendung  sein.  Sie 
haben  sieben  religiöse  und  sittliche  Gebote,  deren  erstes  die 
Wahrheitsliebe  betrifft.  Hierunter  versteht  man  die  Liebe  zum 
Unitarismus  und  die  Verabscheuung  der  Vielgötterei.  Den 
Religionsgenossen  schuldet  man  Wahrhaftigkeit  und  Vertrauen, 
Andersgläubigen  gegenüber  darf  und  soll  man  falsch  sein.  Es 
bestehen  drei  Grade:  die  Profanen,  die  Kandidaten,  die  Weisen. 
Wer  dem  zweiten  angehört,  kann  auf  Wunsch  zum  ersten  zurück- 
kehren, darf  indes  bei  Todesstrafe  keine  Enthüllungen  machen. 
Es  wird  vielfach  geglaubt,  dafs  die  Drusen  in  ihren  geheimen 
Versammlungen  einen  Kalbskopf  anbeten;  in  Wirklichkeit  ist  der 
Kalbskopf  bei  ihnen  wahrscheinlich  kein  Anbetungsgegenstand, 
sondern  das  Sinnbild  des  bösen  und  falschen  Prinzips  Iblis,  des 
Nebenbuhlers  und  Feindes  Hakems,  denn  ihre  heiligen  Schriften 
sprechen  sich  an  vielen  Stellen  scharf  gegen  jeden  Götzendienst 
aus,  und  da  in  ihnen  überdies  das  Judentum,  das  Christentum 
und  der  Mohammedanismus  mit  einem  Kalb  verglichen  wird, 
kann  von  Verehrung  des  Kalbskopfes  wohl  keine  Rede  sein. 
Die  Drusen  sind  auch  beschuldigt  worden,  zügellose  Orgien  zu 
feiern  und  sogar  ihre  eigenen  Töchter  zu  heiraten.  Allein  unter 
ihnen  lebende  Christen  haben  bezeugt,  dafs  der  »Unitarier“  nach 


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Ischmaeliten. 


seiner  Einweihung  alle  ausschweifenden  Gewohnheiten  aufgiebt. 
Die  »Weisen“  (Eingeweihten)  werden  »Ockals“  genannt  und 
bilden  eine  Art  Priesterschaft;  sie  führen  oft  ein  Einsiedlerleben, 
wodurch  sie  grofse  Verehrung  und  hohes  Ansehen  erlangen. 

Die  Drusen  haben  die  Überlieferung,  dafs  zur  Zeit  des 
Erscheinens  Gottes  in  der  Gestalt  Hakems  die  Welt  3430  Millionen 
Jahre  alt  war.  Sie  glauben,  gleich  den  englischen  und  amerikanischen 
Chiliasten,  an  das  nahe  Bevorstehen  des  goldenen  Zeitalters. 
Sprechen  sie  mit  Mohammedanern,  so  geben  sie  sich  für  Moham- 
medaner aus;  im  Gespräch  mit  Christen  geben  sie  sich  als 
Christen.  Sie  erklären  diese  Täuschung  damit,  dafs  es  ihnen 
verboten  sei,  irgend  etwas  von  ihrer  Religion  einem  „Schwarzen“ 

— so  nennen  sie  die  Ungläubigen  — zu  verraten.  Aus  diesem 
Grunde  haben  sie  Erkennungszeichen  und  Losungsworte  ange- 
nommen. Im  Zweifelsfall  frägt  der  Druse:  »Säet  das  Volk  in 
deiner  Landesgegend  Balsamsamen?"  Lautet  die  Antwort:  »Ja, 
er  wird  in  die  Herzen  der  Getreuen  gesäet",  so  ist  der  betreffende 
ein  Glaubensgenosse;  aus  den  Antworten  auf  weitere  Fragen  er- 
giebt  sich  dann,  ob  es  sich  blofs  um  einen  Kandidaten  oder  um 
einen  Eingeweihten  handelt  Die  Zeichen  und  Erkennungsphrasen 
mufsten  wiederholt  abgeändert  werden,  weil  ihre  Bedeutung  den 
»Schwarzen“  bekannt  geworden  war  — insbesondre  als  1838  das 
grofse  Einsiedlerdorf  Badschada  (bei  Chasbaja)  von  den  Truppen 
Ibrahim  Paschas  zerstört  wurde,  wobei  die  heiligen  Schriften  dem 
Feind  in  die  Hände  fielen,  was  ihr  vielfaches  Bekanntwerden  zur 
Folge  hatte. 

Jedes  Dorf  hat  Versammlungsräume,  in  denen  die  »Weisen“ 

— Männer  und  Frauen  — jeden  Donnerstagabend  behufs  Be- 
sprechung religiöser  und  politischer  Angelegenheiten  Zusammen- 
kommen. Die  gefafsten  Beschlüsse  werden  den  im  Hauptort 
jedes  Bezirks  abgehaltenen  Bezirksversammlungen  mitgeteilt,  welche 
ihrerseits  an  die  allgemeine  Versammlung  berichten,  die  in  der 
Libanonstadt  Baklin  stattfindet.  Die  auf  dieser  Versammlung  an- 
wesenden Vertreter  der  Dörfer  verkünden  bei  ihrer  Rückkehr  die 
erzielten  Entschließungen  und  Entscheidungen.  Wir  haben  es  da 
mit  einer  Art  Familienrat  zu  thun,  nur  dafs  an  demselben  blofs 
die  Eingeweihten  teilnehmen  können,  während  die  übrige  Be- 
völkerung nichts  dreinzureden  hat.  Die  bürgerliche  Verwaltung 
ruht  in  den  Händen  der  Scheiks,  die  allesamt  dem  Emir  des 
Libanon  unterstehen.  Die  Drusen  sind  kriegerisch  und  dennoch 
arbeitsam.  Sie  liefern  niemand  aus,  der  bei  ihnen  Zuflucht 
sucht.  Interessant  und  löblich  ist  ihre  Verachtung  des  Cylinder- 
hutes,  den  sie  wegen  seiner  Ähnlichkeit  mit  einem  Kochtopf  ver- 
lachen. Nach  Burckhardt  (»Reisen  in  Syrien  und  Palästina") 
lautet  einer  ihrer  Flüche:  »Möge  Gott  dir  einen  Hut  aufsetzen!“ 


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Die  Drusen. 


109 


Ihre  Zahl  überschreitet  nicht  fünfzig-  oder  sechzigtausend.  Im 
Libanon  besitzen  sie  rund  vierzig  Städte  und  Dörfer,  im  Anti- 
Libanon  etwa  achtzig  Dörfer  mit  ausschliefslich  drusischer  Be- 
völkerung; aufserdem  giebt  es  im  Libanon  fast  230  Dörfer,  in 
denen  Christen  und  Drusen  vermischt  wohnen. 

Die  Drusen  haben  oft  mit  der  christlichen  Nachbarsekte 
der  Maroniten  Krieg  geführt.  Nach  ihrem  Stifter  Maro  (etwa 
400  n.  Chr.  O.)  so  benannt,  waren  die  Mitglieder  dieser  Sekte 
ursprünglich  monothelitische  Flüchtlinge,  die  sich  nach  der  Thron- 
besteigung Anastasius  II.  im  Libanongebiet  niedergelassen  hatten; 
Anastasius  verfolgte  sie  so  lange,  als  die  türkische  Regierung  die 
Drusen  begünstigte.  Obgleich  die  Drusen  weniger  kriegerisch 
sind,  besiegten  sie  doch  gewöhnlich  die  Maroniten;  als  jedoch 
der  herrschende  Emir  Bence-Schihab  nebst  seinen  Angehörigen 
vom  Mohammedanismus  zum  Maronismus  übertrat,  gewannen  die 
Maroniten  die  Oberhand.  Als  diese  1 860  im  Interesse  der  Ver- 
breitung des  Christentums  den  Drusen  den  Krieg  erklärten,  leistete 
die  Türkei  den  letzteren  Beistand.  Nachträglich  freilich  stellte 
die  Pforte  sich  auf  die  Seite  der  Maroniten,  teils,  weil  Europa 
auf  den  Schutz  der  Christen  drang,  teils,  weil  die  Maroniten  be- 
reits so  geschwächt  waren,  dafs  die  Pforte  gern  die  günstige 
Gelegenheit  ergriff,  um  die  Macht  der  Drusen  ebenfalls  nach 
Möglichkeit  zu  brechen.  Seither  unterstehen  die  Drusen  einem 
türkischen  Gouverneur,  doch  lehnen  sie  sich  zuweilen  gegen 
ihn  auf. 

Es  giebt  noch  eine  syrische  Sekte:  die  Ansairih  oder  Nu- 
seirijeh.  Ihr  mystischer  Name  lautet  »Ams“  und  besteht  aus  den 
Anfangsbuchstaben  der  von  ihr  angebefeten  geheimnisvollen  Drei- 
faltigkeit Ali,  Mohammed  und  Selman-el-Farsi.  (Der  letztere  war 
ein  Jugendgenosse  des  Propheten.)  Diese  Dreiheit  löst  sich  schliefs- 
lich  in  Licht  (Himmel),  Sonne  und  Mond  auf;  das  Licht  ist  un- 
begrenzt, die  Sonne  geht  aus  dem  Himmel  (Licht)  hervor,  während 
der  Mond  aus  beiden  hervorgeht.  Die  Religion  der  Ams  besteht 
zum  grofsen  Teil  aus  christlichen,  jüdischen  und  mohammedanischen 
Elementen,  vermischt  mit  altsabäischen  Überbleibseln.  Manche 
ihrer  Lehren  befürworten  die  ausschweifendsten  Bräuche,  ins- 
besondre im  Verkehr  zwischen  den  Priestern  und  den  weiblichen  Gläu- 
bigen. Ihrer  Gottheit  verleihen  sie  in  den  Gebeten  seltsame  Namen, 
wie  »Löwe",  »Bienenfürst"  oder  »Ende  der  Enden".  Näheres  und 
Verläfsliches  über  ihre  Religion  zu  erfahren,  ist  sehr  schwer,  da 
dieselbe  ebenso  geheim  wie  nebelhaft  ist  und  von  den  wenigsten 
ihrer  Bekenner  verstanden  wird.  Doch  teilt  Burckhardt  einige 
interessante,  freilich  hier  nicht  gut  wiederzugebende  Einzelheiten 
mit.  Die  Zahl  der  Nuseirijeh  beträgt  etwa  Zweimalhunderttausend; 
ihr  Name  rührt  von  dem  Sektierer  Nusairi  her. 


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no 


lschmaeliten. 


Die  Derwische. 

Die  Derwische  oder  Fakire  bilden  einen  islamitischen  Mönchs- 
orden. Zwar  untersagte  Mohammed  das  Mönchswesen,  aber  den- 
noch traten  schon  dreifsig  Jahre  nach  seinem  Tode  Mönche  auf 
und  jetzt  soll  es  nicht  weniger  als  72  Orden  geben;  freilich 
sind  zwölf  von  diesen  älter  als  der  Mohammedanismus.  Die 
vier  Hauptorden  sind: 

1.  Die  Rifadscheh,  die  schwarze  Fahnen  und  schwarze  oder 
dunkelbraune  Turbans  tragen  und  sich  mit  Gaukelei  (Schlangen- 
bändigen,  Feuerfressen,  Dolchverschlucken  u.  dgl.)  beschäftigen. 
2.  Die  Haderidscheh  meist  Fischer  — mit  weifsen  Fahnen 
und  Turbans.  3.  Die  Seid  Bidani,  gestiftet  von  Seid  Achmed  el 
Bidani,  dem  bedeutendsten  Heiligen  der  ägyptischen  Moslims;  sie 
sind  in  mehrere  Sekten  zersplittert  und  ihr  Beruf  ist  der  von 
Komikern  oder  Spafsmachern.  Sie  tragen  eine  absonderliche 
Tracht  und  ihre  Farben  sind  rot-weifs.  4.  Die  Seid  Ibrahim,  die 
grüne  Fahnen  und  Turbans  tragen;  alles,  was  man  sonst  noch 
von  ihnen  weifs,  ist,  dafs  sie  in  Alexandrien  ein  Kloster  haben. 

Die  ägyptischen  Derwische  sind  Schiiten,  die  türkischen  da- 
gegen Sunniten.  Bemerkenswert  ist,  dafs  rechtgläubige  Männer 
von  hoher  Stellung  und  grofser  Intelligenz  Derwische  werden, 
trotzdem  die  Ulemas  Gegner  der  von  ihnen  für  Ketzer  gehaltenen 
Derwische  sind.  Die  einzige  Erklärung  hierfür  läge  darin,  dafs 
diese  angesehenen  Personen  die  persischen  Sufih-Dichter  lesen, 
deren  Lehre  mit  der  der  Derwische  übereinstimmt:  jene  Form 
des  Spiritualismus,  die  auf  den  Pantheismus  hinausläuft  und  lehrt, 
dafs  Gott  in  allen  spirituellen  Dingen  ist  eine  Annäherung 
an  den  buddhistischen  Materialismus. 

Die  Derwische  haben  ihre  »Pfade",  die  zumeist  von  zwölf 
Offizieren  geleitet  werden,  wobei  der  älteste  »Hof“  die  übrigen 
überwacht.  Der  Herr  des  Hofes  heifst  »Scheik"  und  er  hat 
seine  Vertreter  und  Kalifen.  Der  ganze  Orden  besteht  aus  vier 
Graden,  »Säulen"  genannt.  Der  erste  heifst  »Menschheit"  und 
setzt  »Auflösung  in  den  Scheik"  voraus.  Im  zweiten  dem 
„Pfad"  erlangt  der  Anhänger  die  »Selbstvernichtung  im  Grün- 
der des  Pfades",  im  dritten  („Kenntnis")  das  „Aufgehen  in  den 
Propheten",  d.  h.  die  Inspiration.  Der  vierte  Grad  führt  den  Ein- 
geweihten zu  Gott,  d.  h.  er  wird  ein  Teil  der  Gottheit  und  er- 
blickt diese  in  allen  Dingen.  Schliefslich  kann  der  Scheik  ihm 
noch  den  Ehrentitel  „Kalif"  verleihen.  Die  im  Orient  weit- 
verbreitete Meinung,  dafs  die  Derwische  mit  den  Freimaurern  in 
geheimer  Verbindung  stehen,  ist  selbstverständlich  unsinnig. 


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FÜNFTES  BUCH. 


KETZER  UNP  RITTER. 


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Ketzer. 

Übergang  von  den  alten  zu  den  neueren  Einweihungen.  — Geist  der 
alten  und  der  neueren  Geheimgesellschaften.  — Die  Adamiten.  — Die 
Circumcellier.  — Die  Albigenser,  ihre  Ziele  und  Glaubensartikel.  Die 
Katharer.  — Ihre  Lehren  und  Anschauungen.  — Ihre  Verfolgung.  - Die 
Waldenser.  - Die  Luziferianer.  Ursprung  der  Teufelsapbetung.  — Ver- 
schiedene Sekten.  — Die  Religion  der  Troubadours.  Schwierigkeit  des 

Verständnisses  der  Troubadours.  — Grade  und  Liebeshöfe. 

Bisher  haben  wir  gesehen,  dafs  die  Geheimnisse  der  Ge- 
heimgesellsehaften  und  Geheimlehren  nur  den  höheren  Klassen 
zugänglich  waren,  während  den  Massen  die  Wahrheiten  vorent- 
halten wurden,  deren  Enthüllung  die  Herrschaft  der  Herrschenden 
geschädigt  oder  gefährdet  haben  würde.  Unten  bemerkten  wir 
Vielgötterei  und  Aberglauben,  oben  Theismus,  Rationalismus,  ab- 
strakte Philosophie.  Nunmehr  gelangen  wir  zur  Betrachtung 
eines  Zustandes  des  Übergangs  von  den  alten  zu  den  neueren 
Einweihungen.  Wir  haben  es  da  mit  einer  auffallenden  sozialen 
Erscheinung  zu  thun,  die  sich  von  allem,  was  uns  im  Altertum 
begegnet  ist,  so  sehr  unterscheidet,  dafs  sie  geradezu  einen  neuen 
Ausgangspunkt  bildet. 

Die  Geheimgesellschaften  des  Altertums  waren  theologischer 
Natur  und  die  Theologie  lehrte  oft  Aberglauben;  aber  im 
Innersten  des  Allerheiligsten  belächelte  sie  das  hintergangene  Volk 
und  zog  die  besseren  Geister,  .die  sich  gegen  das  Joch  der 
Angst  auflehnten,  an  sich,  um  sie  in  einen,  freier  Männer 
würdigen  Glauben  einzuweihen.  Da  jene  Theologie  einerseits 
nicht  grausam  war  und  andererseits  Kunst  und  Wissenschaft 
förderte,  mag  man  ihr  manches  vergeben  und  hinter  dem  Fern- 
halten der  wahren  Erkenntnis  vom  Volke  nicht  niedrige  Berech- 
nung suchen,  sondern  ehrliche  Überzeugung  oder  höchstens  kluge 
Vorsicht.  Die  höheren  Schichten  der  neueren  Zeit  haben  keine 
religiösen  und  politischen  Geheimnisse,  denn  sie  besitzen  kein 
Wissensvorrecht  mehr,  auch  keine  Einweihungsmysterien,  die  den 
Kenntnisreicheren  das  Recht  verleihen  würden,  sich  zu  den  Mächt- 

Heclccthorn-Katicher,  Geheimbiinde  u.  Geheimlf hren.  8 


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114 


Ketzer  und  Ritter. 


habern  zu  zählen.  Daher  sind  die  Geheimbünde  der  Übergangs- 
zeit volkstümlich  und  religiös  - natürlich  nicht  im  Sinne  der 
offiziellen,  sondern  einer  aufrührerischen  und  sektiererischen  Kirche. 
Da  nun  zu  einer  Zeit,  in  welcher  das  Ansehen  der  Kirche  alles 
überstrahlt  und  alle  Adern  des  Staates  mit  Religion  durchsetzt 
sind,  kein  Wechsel  ohne  Ketzerei  herbeigeführt  werden  kann, 
mufs  die  Ketzerei  notwendig  den  Grundzug  jeder  politischen  oder 
geistigen  Auflehnung  bilden.  Die  Ketzer  bedienen  sich  des 
Leugnens  oder  Verwerfens  offizieller  Glaubensartikel,  um  die 
verhafste  Pfaffenherrschaft  zu  stürzen  und  der  bürgerlichen  Frei- 
heit die  Wege  zu  ebnen. 

Die  erste  Wiege  der  neuen  Verschwörer  war  naturgemäfs 
das  Papsttum,  aus  dem  sie  schon  sehr  frühzeitig  hervorgingen. 
Im  zweiten  Jahrhundert  erregten  die  Adamiten  Aufsehen.  Sie 
behaupteten,  durch  den  Tod  Christi  den  Unschuldszustand  er- 
langt zu  haben,  in  welchem  Adam  sich  vor  dem  Sündenfall  be- 
fand, und  sie  wurden  beschuldigt,  bei  ihren  Versammlungen 
ganz  nackt  zu  beten.  (Diese  Sekte  wurde  im  1 5.  Jahrhundert 
von  dem  Vlämen  Picard  wieder  ins  Leben  gerufen.)  Mehr  Be- 
deutung hatten  die  Circumcellier,  Ableger  der  Donatisten,  d.  h. 
der  Anhänger  Donati,  des  schismatischen  Bischofs  von  Karthago, 
der  bereits  um  311  gegen  die  Verderbtheit  der  römischen  Kirche 
predigte.  Die  unerbittlichen  Verfolgungen,  welche  die  Anhänger 
Donati  zu  erdulden  hatten,  machten  viele  derselben  zu  Fanatikern, 
die  bandenweise  im  Lande  umherzogen  (circum  cellas),  um 
Reformen  zu  predigen,  allerlei  Unbill  gutzumachen,  Sklaven  zu 
befreien,  Schuldforderungen  zu  erlassen  u.  s.  w.  - alles  ohne 
Vorwissen  der  Meistbeteiligten.  Manche  dieser  Fanatiker  wollten 
durchaus  Märtyrer  sein  und  nahmen  sich  daher  das  Leben,  indem 
sie  ins  Feuer  sprangen,  sich  die  Kehle  durchschnitten  oder  sich 
in  tiefe  Abgründe  stürzten.  Nach  dreizehn-  bis  vierzehnjährigem 
Bestand  wurde  die  Sekte  von  den  weltlichen  Behörden  unter- 
drückt Im  12.  und  1 3.  Jahrhundert  gab  es  in  Deutschland  eine 
Ketzersekte  gleichen  Namens,  welche  die  Autorität  der  Päpste, 
Bischöfe  und  Priester,  sowie  die  Gültigkeit  und  Berechtigung  des 
Kirchenbannes  leugnete. 

Eine  der  ausgebreitetsten  und  thatkräftigsten  Ketzersekten 
war  die  der  Albigenser,  so  genannt  nach  ihrem  Hauptsitz,  der 
Stadt  Albi,  von  wo  aus  sie  sich  über  ganz  Südfrankreich  ver- 
breitete. Ein  Sprofs  des  Manichäismus,  befruchtete  sie  ihrerseits 
die  Keime  der  Templer,  der  Rosenkreuzer  und  aller  Vereinigungen, 
die  den  Kampf  gegen  kirchliche  oder  staatliche  Bedrückung  fort- 
setzten. Doch  wich  ihr  Ziel  von  dem  aller  nachmaligen  Sekten 
insofern  ab,  als  sie  ihre  Streiche  ausschliefslich  gegen  das  päpst- 
liche Rom  richtete,  wie  denn  auch  die  an  ihr  mit  Hilfe  des 


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Ketzer. 


IIS 


Staates  genommene  Rache  echt  päpstlich  war  in  ihrer  pfäffischen 
Wut  Die  Albigenser,  die  man  die  Ohibellinen  Frankreichs  nennen 
kann,  verbanden  sich  mit  allen  romfeindlichen  Elementen  — 
namentlich  mit  Friedrich  II.  und  den  Arragoniern  — zur  Ver- 
fechtung der  Rechte  der  weltlichen  Herrscher  gegen  die  Über- 
hebungen des  heiligen  Stuhles.  Dante,  der  von  ihren  kaiser- 
freundlichen Lehren  angekränkelt  war,  bildete  demgemäfs  einen 
Gegenstand  des  welfischen  Hasses. 

Toulouse  war  das  Rom  der  Albigenserkirche,  die  genau  so 
wie  die  offizielle  ihre  Seelenhirten,  Bischöfe,  Provinzial-  und 
Generalversammlungen  hatte  und  um  ihr  Banner  die  Dissidenten 
eines  grofsen  Teiles  Europas  scharte,  die  alle  den  Untergang 
Roms  und  die  Wiederherstellung  des  jerusalemitischen  Reiches 
anstrebten.  Die  Erhebung  in  der  Provence  wurde  durch  die 
Umstände  und  Verhältnisse,  unter  denen  sie  stattfand,  beträchtlich 
begünstigt.  Die  Kreuzzügler  hatten  den  morgenländischen  Mani- 
•chäismus  neubelebt  und  Europa  in  unmittelbare  Berührung  ge- 
bracht mit  dem  verkünstelten  Griechenland  wie  mit  dem  moham- 
medanischen und  pantheistischen  Asien.  Der  Osten  steuerte 
überdies  Aristoteles  und  dessen  arabische  Erläuterer,  sowie  die 
Spitzfindigkeiten  der  Kabbala  bei.  Die  Philosophie,  der  Repu- 
blikanismus  und  die  Gewerbe  griffen  den  päpstlichen  Stuhl  an. 
Mehrere  vereinzelte  Aufstände  hatten  den  allgemein  herrschenden 
Geist  geoffenbart  und  Massenschlächtereien  hatten  ihn  nicht  kirre 
gemacht.  Der  Rationalismus  der  Waldenser  — auf  die  wir  als- 
bald zu  sprechen  kommen  — verband  sich  mit  dem  deutschen 
Mystizismus  des  Rheins  und  Hollands,  wo  die  Arbeiter  sich  gegen 
die  Grafen  und  die  Bischöfe  erhoben.  Thatsächlich  fand  jeder 
Apostel,  der  Sittenreinheit,  Geistesreligion  und  Urchristentum 
predigte,  Anhänger  und  das  Jahrhundert  des  heiligen  Ludwig 
{Ludwig  IX.,  1226—70)  war  die  Hauptzeit  des  Unglaubens  im 
Schofs  der  römischen  Kirche. 

Das  albigensische  Ketzertum  machte  an  den  Küsten  des 
Mittelländischen  Meeres  so  grofse  Fortschritte,  dafs  es  von  den 
Kaisern  und  Fürsten  offen  begünstigt  wurde  und  dafs  mehrere 
Länder  sich  von  Rom  lossagen  zu  wollen  schienen.  Nicht  zu- 
frieden damit,  Rom  bereits  als  gestürzt  zu  betrachten,  wandten 
sich  die  Albigenser  plötzlich  den  Kreuzfahrern  zu  — in  der 
Hoffnung,  Jerusalem  in  einen  glanzvollen,  mächtigen  Nebenbuhler 
Roms  zu  verwandeln,  es  zum  Hauptsitz  der  Sekte  zu  machen, 
das  Urchristentum  an  seiner  Urstätte  wiederherzustellen  und  auf 
Erden  das  himmlische  Jerusalem  zu  errichten,  mit  Gottfried  von 
Bouillon  als  König.  Denn  es  war  Gottfried,  der  Rom  mit  Feuer 
und  Schwert  überzogen,  den  »von  Priestern  gewählten"  Gegen- 
kaiser Rudolf  erschlagen  und  den  Papst  aus  der  heiligen  Stadt 

s* 


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Ketzer  und  Ritter. 


vertrieben  hatte,  wofür  ihn  die  Troubadours  mit  allen  Attributen 
der  Reinheit,  Frömmigkeit  und  Keuschheit  überhäuften. 

Obgleich  — oder  eigentlich  weil  — von  Rom  überwacht, 
unterstützte  Italien  die  neuen  Lehren.  Ein  Hauptherd  der 

Katharer  (=■  »die  Reinen“)  war  Mailand,  das  1166  in  seiner 
Bevölkerung  mehr  Ketzer  als  Katholiken  zählte.  Um  1 1 50  gab 
es  auch  in  Florenz  schon  Katharer  und  insbesondere  das  weib- 
liche Geschlecht  verschaffte  der  Sekte  durch  überaus  eifrige 
Propaganda  in  dieser  Stadt  eine  so  grofse  Macht,  dafs  sie  eine 
Umwälzung  zu  Gunsten  der  Ghibellinen  bewirken  konnte.  In 
Orvieto  (1 163),  Verona,  Ferrara,  Modena  etc.  erlitten  die  Katharer 
arge  Verfolgungen.  1224  sammelten  sich  sehr  zahlreiche  Katharer 
in  Kalabrien,  Neapel  und  selbst  Rom  an,  aber  am  verbreitetsten 
war  die  Sekte  jedenfalls  in  Toskana  und  der  Lombardei.  1307 
verfolgte  die  Inquisition  Dolcino,  das  Oberhaupt  der  katharistischen 
Sekte  der  »Apostoliker"  (so  genannt,  weil  sie  das.  Christentum 
der  Apostel  wiederherstellen  wollten  und  den  Sturz  des  damals 
' höchst  angefaulten  Papsttums  vorhersagten).  Er  flüchtete  sich 
mit  1400  Anhängern  auf  einen  Hügel  im  Bezirk  Vercelli;  aber 
sie  wurden  gefangen  und  getötet.  Die  Inquisition  liefs  Dolcino 
Glied  für  Glied  in  Stücke  reifsen  und  die  Stücke  nachher  vom 
Henker  öffentlich  verbrennen.  Gegen  diejenigen  Apostoliker, 
welche  entwischt  waren,  ordnete  der  Papst  eine  Art  Kreuzzug  an, 
dessen  Teilnehmern  er  einen  vollständigen  Ablafs  gewährte. 
Fünfzehn  Jahre  später  wurden  dreifsig  Apostoliker  zu  Padua  auf 
dem  Marktplatz  lebendig  verbrannt. 

Da  die  Katharer  ihre  Lehren  streng  geheim  hielten  — die 
eigentlichen  Ziele  sogar  den  in  die  geringeren  Grade  Eingeweihten 
gegenüber  — wissen  wir  darüber  nicht  viel.  Sie  ähnelten , so 
weit  man  sie  kennt,  teils  denen  der  Manichäer,  teils  denen  der 
Albigenser.  Sie  glaubten  an  die  Seelenwanderung,  und  zwar 
sollten  behufs  Erlangung  des  »Lichtes«  sieben  Wandlungen  er- 
forderlich sein;  doch  dürfte  das  nur  eine  allegorische  Redewendung 
für  ihre  sieben  Grade  und  das  Ziel  der  Einweihung  gewesen 
sein.  Die  Entstehung  der  sichtbaren  und  der  unsichtbaren  Welt 
schrieben  sie  zwei  verschiedenen  Schöpfern  zu;  die  sichtbare  sei 
das  Werk  des  bösen  Geistes  — weshalb  sie  die  biblische 
Schöpfungsgeschichte,  den  Glauben  an  die  Menschwerdung  Christi, 
das  Fegefeuer,  die  Hölle  u.  s.  w.  verwerfen  mufsten.  Sie  neigten 
dem  Kommunismus  zu,  waren  Gegner  der  Ehe,  führten  ein 
arbeit-  und  sparsames  Leben,  übten  Wohlthätigkeit,  gründeten 
Schulen  und  Krankenhäuser,  machten  zu  Bekehrungszwecken  weite 
Land-  und  Seereisen,  sprachen  den  Behörden  das  Recht  zur  Ver- 
hängung der  Todesstrafe  ab  und  mifsbilligten  den  Selbstmord 
durchaus  nicht,  ln  der  Mifsachtung  des  Kreuzes  gingen  sie  den 


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Ketzer. 


117 


Tempelrittern  voran;  sie  konnten  nicht  begreifen,  wie  Christen 
es  über  sich  bringen  können,  den  Todesbehclf  ihres  Erlösers 
zu  verehren,  und  sie  hielten  das  Kreuz  für  das  Sinnbild  des  bösen 
Tieres  der  Apokalypse.  Ihren  Gottesdienst  hielten  sie  in  Wäldern, 
Höhlen  oder  versteckten  Thälern  ab.  Gegen  sie  erhob  man,  wie 
im  Lauf  der  Zeiten  gegen  die  Mithraiten,  die  Urehristen,  die 
Gnostiker,  die  Juden,  die  irischen  Katholiken,  die  christlichen 
Missionäre  in  China  etc.,  die  Beschuldigung  des  Ritualmordes; 
es  hiefs,  dafs  sie  Kinder  verbrennen,  die  Sterbenden  erdrosseln 
oder  aushungern  und  dergleichen  Unsinn  mehr.  Sie  besafsen 
vier  Sakramente  und  die  »Tröstung“  bestand  im  Auflegen  der 
Hände  oder  in  der  Taufe  durch  den  heiligen  Geist,  welche  von 
den  Sünden  lossprach  und  ewige  Seligkeit  sicherte.  In  Zeiten 
der  Verfolgung  wurden  die  Feierlichkeiten  abgekürzt  und  nachts 
an  verborgenen  Plätzen  abgehalten,  wobei  die  brennenden  Fackeln 
die  Feuertaufe  versinnbildlichten.  Zu  den  Einweihungsriten  ge- 
hörte das  Vorlesen  der  ersten  achtzehn  Verse  des  Evangeliums 
Johannis.  Zur  Erinnerung  an  seine  Einweihung  erhielt  der 
männliche  Neuling  ein  unter  dem  Hemd  zu  tragendes  Kleidungs- 
stück aus  Leinen  oder  Schafwolle,  der  weibliche  einen  Gürtel, 
der  ebenfalls  auf  dem  blofsen  Leibe  getragen  wurde. 

Die  bereits  erwähnte  Sekte  der  Waldenser  (Vaudois)  ent- 
stand im  zwölften  Jahrhundert  und  verdankte  ihre  Gründung  dem 
reichen  Lyoner  Bürger  Peter  Waldo  (oder  Waldus),  einem  Ab- 
kömmling jenes  Lyoner  Thomas  Waldus,  der  zu  den  ersten  ge- 
hörte, die  die  Lehren  der  römischen  Kirche  öffentlich  verwarfen. 
Ihre  Bestrebungen  glichen  vielfach  denen  der  Albigenser.  Von 
der  offiziellen  Kirche  verfolgt,  breitete  sie  sich  über  einen  grofsen 
Teil  von  Europa  aus.  Im  dreizehnten  Jahrhundert  hetzte  der  Papst 
ihr  einen  Kreuzzug  an  den  Hals  - vergeblich.  Zur  Zeit  der 
Reformation  rechnete  man  die  Waldenser  zu  den  Protestanten; 
doch  unterschieden  und  unterscheiden  sie  sich  von  diesen  in  vielen 
Glaubenspunkten  und  bilden  noch  heute  eine  besondere  Sekte. 
Es  giebt  ihrer  in  vielen  Teilen  Europas;  im  Königreich  Sardinien 
wurde  ihnen  erst  1848  die  Gleichberechtigung  mit  den  Katholiken 
gewährt.  Nach  Rulman  Merswin  (1370-80)  gab  es  zu  seiner 
Zeit  eine  in  den  Schweizer  Bergen  verborgen  lebende  Waldenser- 
gerneinde,  die  sich  »Gottes  Freunde“  nannte.  Auch  die  Ana- 
baptisten, die  Lollarden,  die  Begharden  und  die  Beguinen  waren 
Ableger  oder  Ausläufer  der  Waldenser. 

Aus  den  Katharen  gingen  die  Luziferianer  hervor,  die 
»Teufelsanbeter"  (nicht  zu  verwechseln  mit  der  gleichnamigen 
Sekte,  die  unter  Theodosius  dem  Grofsen  vom  Bischof  von  Cagliari, 
Luzifer,  gegründet  wurde  und  kurze  Zeit  bestand).  Diese  ost- 
frieständische  Sekte,  welche  im  zwölften  oder  dreizehnten  Jahr- 


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Ketzer  und  Ritter. 


hundert  ins  Leben  trat,  entstand  dadurch,  dafs  die  Ostfriesländer, 
als  sie  sich  weigerten,  dem  Bischof  von  Bremen  Zehnten  zu 
zahlen,  einfach  für  Ketzer  erklärt  wurden.  Der  ob  seiner 
Heuchelei  und  Grausamkeit  berüchtigte  Konrad  von  Marburg 
ergriff  die  Partei  der  Kirche  und  schickte  dem  Papst  einen  blöd- 
sinnigen Bericht,  den  Gregor  IX.  für  bare  Münze  nahm  und 
zum  Gegenstand  seiner  Bulle  von  1233  machte.  Wir  lassen 
hier  den  wesentlichsten  Inhalt  des  in  der  Bulle  wiedergegebenen 
Berichts  folgen: 

Bei  der  Einweihung  eines  Kandidaten  liefsen  ihm  die  Luzi- 
ferianer  zunächst  einen  Frosch  oder  eine  Kröte  — manchmal  so 
grofs  wie  eine  Gans,  noch  öfter  wie  ein  Backofen ! ! — erscheinen, 
dessen  Zunge  und  Speichel  er  mit  dem  Munde  aufsaugen  mufste. 
Sodann  erschien  ihm  ein  bleicher  Mann  aus  Haut  und  Knochen; 
er  mufste  ihn  küssen,  wodurch  er  jede  Erinnerung  an  den 
katholischen  Glauben  verlor.  Ferner  kam  aus  einer  Bildsäule 
heraus  ein  schwarzer  Kater,  dessen  Hintern  alle  Anwesenden 
küfsten.  Nunmehr  wurden  die  Lichter  ausgelöscht  und  die 
schlimmsten  Ausschweifungen  begangen.  Nach  dem  Wiederan- 
zünden  der  Kerzen  erschien  ein  Mann,  dessen  Oberleib  die 
Sonne  an  Glanz  übertraf,  während  der  Unterleib  dem  einer 
Katze  glich.  Dieser  Mann  empfing  ein  abgerissenes  Stück  der 
Kleidung  des  Neueingeweihten  als  Unterpfand  dafür,  dafs  derselbe 
fürder  ihm  angehöre.  Diese  Sekte  huldigte  der  Ansicht,  dafs 
Gott  Luzifer  ungerechterweise  in  die  Hölle  verbannt  habe  und 
dafs  der  Satan  schliefslich  wieder  in  seinen  einstigen  Zustand  der 
Glorie  und  des  Ruhmes  werde  eingesetzt  werden. 

Es  ist  Thatsache,  dafs  im  dunklen  Mittelalter  die  von  welt- 
lichen und  kirchlichen  Unterdrückern  grausam  gequälten,  plan- 
mäfsig  an  Aberglauben  gewöhnten  Massen,  wenn  sie  sich  von 
den  Göttern  und  den  Heiligen  verlassen  sahen , sich  in  ihrer 
Verzweiflung  manchmal  um  Schutz  an  den  Teufel  wandten  und 
dafs  so  allmählich  eine  Art  Teufelsanbetung  entstand.  Wie  die 
frommen  »Ewigen  Evangelisten",  glaubten  denn  auch  die  Luzi- 
ferianer  an  die  dereinstige  Wiedereinsetzung  des  Teufels;  alles 
andere  aber  ist  Unsinn  — ersonnen,  um  die  Sekte  zu  schädigen. 

Soviel  man  weifs,  hatten  die  Luziferianer  Erkennungszeichen 
und  Losungsphrasen.  Sie  pflegten  einander  mit  den  Worten  zu 
begrüfsen:  »Luzifer,  dem  Unrecht  geschah,  griffst  dich.“  Um 
von  ihren  Versammlungen  Uneingeweihte  fernzuhalten,  fragten 
sic  jeden  Eintretenden:  »Stechen  die  Dornen  heute?"  Natürlich 
konnten  nur  die  Eingeweihten  die  richtige  Antwort  geben.  Die 
Zusammenkunftsorte  hiefsen  »Keller  der  Reue».  Schon  am  Ende 
t es  dreizehnten  Jahrhunderts  war  es  der  römischen  Kirche  ge- 
lungen, die  Sekte  gänzlich  auszurotten. 


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Ketzer. 


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Es  gab  noch  viele  andere  Ketzersekten,  deren  Namen  ent- 
weder von  dem  ihrer  Stifter  oder  von  dem  ihrer  Entstehungsorte 
herrührten:  die  Messalianer,  die  Bogumilen,  die  Kainianer,  die 
Enkrafiten  u.  s.  w.;  doch  spielten  sie  keine  besondere  Rolle.  Sie 
alle  lieferten  jahrhundertelang  der  offiziellen  Kirche,  namentlich 
der  Inquisition,  zahlreiche  Opfer  für  Scheiterhaufen  und  Folter- 
kammer. Mit  der  Beschuldigung  der  Ketzerei  wurde  sehr  oft 
die  der  Hexerei  verbunden.  Thomas  Stapleton,  der  unter  Königin 
Elisabeth  nach  Holland  auswanderte,  um  der  Verfolgung  durch 
die  Katholiken  zu  entgehen,  schrieb  ein  Buch  über  die  auffallend 
grofse  gleichzeitige  Zunahme  der  Geistlichkeit  und  des  Hexen- 
wesens und  nannte  diese  beiden  »Obel“  die  »Zwillingskinder 
des  Teufels".  Lange  galt  es  für  verdammenswerte  Ketzerei, 
nicht  an  Hexerei  und  Zauberei  zu  glauben. 

Die  ohnehin  vorhandene  Freundschaft  zwischen  den  Albi- 
gensern und  den  Troubadours  wurde  durch  die  Verfolgungen 
nur  noch  gekräftigt.  Sie  sangen  und  kämpften  für  einander  und 
ihr  Gesang  erstickte  auf  den  flammenden  Holzstöfsen.  Wir  gehen 
wahrscheinlich  nicht  fehl,  wenn  wir  die  Troubadours  als  die 
Organisatoren  jener  ausgedehnten  Verschwörung  gegen  die  römische 
Kirche  betrachten  — als  die  Bahnbrecher  einer  Erhebung,  die 
nicht  auf  schnöden  Ehrgeiz  und  materielle  Interessen,  sondern 
auf  eine  Religion  der  Liebe  gerichtet  war.  Die  provenqalischen 
Troubadours  sind  uns  heute  allerdings  fast  unverständlich  und  wir 
wissen  die  ihnen  gewidmeten  Lobpreisungen  Dantes,  Petrarcas 
und  Chaucers  nicht  mehr  zu  würdigen;  aber  es  sei  fern  von 
uns,  ihre  Begeisterung  für  Wahnsinn  zu  halten  oder  ihnen  die 
Erfolge  abzusprechen,  die  sie  zweifellos  errangen.  Wir  thun  wohl 
am  besten,  anzunehmen,  dafs  diese  Ketzerpioniere,  an  dem  klaren 
Ausdruck  ihrer  Gedanken  verhindert,  dieselben  in  dunkler,  ver- 
steckter Weise  zur  Darstellung  brachten,  wie  denn  wohl  auch 
die  prunkvollen  und  feierlichen  Liebeshöfe  darauf  berechnet  waren, 
das  wachsame  Auge  der  päpstlichen  Inquisition  über  die  »Logen“ 
der  Albigenser  hinwegzutäuschen.  Derlei  ist  auch  zu  politischen 
Zwecken  wiederholt  geschehen.  Immerhin  gab  es  auch  Trouba- 
dours und  Minnesänger,  die  offen  gegen  die  Mifsbräuche  der 
Kirche  und  den  sittenlosen  Lebenswandel  der  Geistlichkeit  auf- 
traten; so  z.  B.  Walther  von  der  Vogelweide,  Peter  Cardinal  u.  a. 
Die  Ergüsse  der  Troubadours  waren  stets  an  eine  Dame  gerichtet, 
die  aber  nie  genannt  wurde;  doch  war  das  Geheimnis  nur  ein 
scheinbares,  denn  die  angerufene  Geliebte  war,  wie  Dantes 
Beatrice,  nur  das  Sinnbild  der  gereinigten  Religion  der  Liebe, 
als  Jungfrau  Sophia  personifiziert. 

Die  Troubadours  hatten  vier  Grade,  aber  der  »Roman  der 
Rose"  spricht  von  drei  und  vier  Graden,  was  abermals  die  ge- 


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120 


Ketzer  und  Ritter. 


heimnisvolle  Siebenzahl  ergiebt.  Die  soeben  genannte  Dichtung 
schildert  ein  Schlofs  mit  siebenfachen  Mauern  und  zahlreichen 
sinnbildlichen  Gestalten,  deren  Bedeutung  man  erklären  können 
mufste,  um  ins  Schlofs  eingelassen  zu  werden.  Die  Troubadours 
hatten  ihre  geheimen  Erkennungszeichen.  Was  die  vorhin  bereits 
erwähnten  Liebeshöfe  betrifft,  so  waren  die  darin  unter  umständ- 
lichen Zeremonien  zuerkannten  Grade  leichtfertiger  und  unsitt- 
licher Natur,  folglich  mit  den  reinen  Sitten  der  Albigenser  un- 
vereinbar. Wir  dürfen  deshalb  wohl  annehmen,  dafs  sich  hinter 
diesen  galanten  Spielereien  weit  ernstere  Dinge  verbargen.  Ist 
es  nicht  bemerkenswert,  dafs  diese  Liebeshöfe  und  die  Trouba- 
dours überhaupt  gleichzeitig  mit  den  Albigensern  verschwanden  ? 


Militär  und  Religion. 

Die  Gralsritter  gaben  vor,  das  Gefäfs  der  Wahrheit  zu 
suchen , welches  einst  das  Blut  des  Erlösers  enthielt  Das  war 
nur  ein  bildlicher  Ausdruck  für  das  Bestreben,  der  christlichen 
Kirche  wieder  ihre  apostolische  Gestalt  zu  verleihen  und  die 
treue  Befolgung  der  Vorschriften  des  Evangeliums  herbeizuführen. 
Die  Ritter  safsen  an  einem  runden  Tisch  (Tafelrunde),  an  dem 
es  keinen  ersten  und  keinen  letzten  gab.  Ihre  Zulassung  erfolgte 
erst  nach  vielen  schweren  Erprobungen.  Die  Zahl  ihrer  Grade 
betrug  zuerst  drei,  später  sieben  und  nach  der  vermutlichen  Ver- 
schmelzung mit  den  Albigensern,  Templern  und  Ghibellinen  drei- 
unddreifsig.  Die  Hauptgrade  waren : Page,  Schildknappe,  Ritter, 
und  als  die  drei  wichtigsten  militärisch-religiösen  Orden  jener 
Zeit  müssen  die  Tempelherren,  die  Johanniter  (Malteser)  und  die 
Deutschen  Ritter  bezeichnet  werden. 

Die  Ordensritter  waren  die  militärischen  Apostel  und 
Missionäre  der  Religion  der  Liebe,  stolze  soldatische  Troubadours, 
die,  um  das  Banner  des  Rechts  und  der  Gerechtigkeit  geschart, 
gegen  die  ungeheuerlichen  Mifsbräuche  der  Pfaffenwirtsehaft 
kämpften,  die  »Witwe11  (die  gnostische  Kirche?)  trösteten,  die 
»Söhne  der  Witwe“  — d.  h.  die  Anhänger  Manes'  — beschützten, 
sowie  Riesen,  Drachen,  Inquisitoren  und  Kirchenmänner  besiegten. 
Die  gewaltige  Stimme  des  rasenden  Roland,  welche  den  Granitfelsen 
der  Berge  Sprünge  beibrachte,  ist  die  Stimme  jener  sogenannten 
Ketzerei,  die  ihren  Weg  nach  Spanien  fand  und  dem  Ausspruch 
Ludwigs  XIV.,  dafs  es  keine  Pyrenäen  mehr  gebe,  zuvorkam. 


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Militär  und  Religion. 


121 


Selbstverständlich  sprechen  wir  hier  nicht  von  dem  Rittertum  der 
Feudalzeiten,  sondern  von  dem  romfeindlichen  Rittertum,  das  aus 
dem  Schofse  des  Manichäismus  und  Katharismus  hervorging. 
Aber  schon  zu  jener  Zeit  handelte  die  römische  Kirche  nach 
dem  Grundsatz,  zu  lenken,  was  sie  nicht  unterdrücken  konnte; 
und  da  sie  vor  dem  Spiritualismus  dem  ritterlichen  ebenso 
wie  dem  mystischen  oder  dem  platonischen  — mit  Recht  grofse 
Furcht  hatte,  leitete  sie  seinen  Strom,  statt  gegen  ihn  schwimmen 
zu  W'ollen,  mit  viel  Schlauheit  in  Betten,  in  denen  er  dem  Papst- 
tum nicht  nur  nicht  schadete,  sondern  geradezu  aufserordentlich 
nützte. 

Die  Dichter  der  Tafelrunde-  und  Grals-Romantik  wraren 
wohlvertraut  mit  den  gallischen  Dreiheiten,  den  keltischen  Sagen 
und  den  Geheimnissen  der  theologischen  Lehren  der  Barden. 
Diese  Romantik  hatte  ihren  Ursprung  in  den  Erscheinungen  der 
natürlichen  Welt  und  der  heilige  Gral  war  nur  eine  verkleinerte 
Arche  Noäh.  Die  Geliebte  der  Ritter  war  in  der  Anfangszeit 
des  Rittertums  die  Jungfrau  Sophia,  d.  h.  die  personifizierte 
Philosophie.  Die  bei  den  Einweihungsriten  gebrauchten  Rede- 
wendungen und  geleisteten  religiösen  Gelübde,  das  Haarschneiden 
der  Ritter  und  viele  andere  Umstände  beweisen  die  Irrigkeit  der 
Annahme,  die  „Liebe"  des  Rittertums  sei  eine  irdische  --  wenn- 
gleich noch  so  edle  und  vergeistigte  - gewesen. 

Ganz  besonders  gilt  dies  von  dem  Orden  der  Freiwilligen 
Ritter,  dessen  Satzungen  gar  sehr  denen  der  Templer  und 
Johanniter  ähnelten.  Das  war  der  religiöseste  aller  Ritterorden; 
seine  Mitglieder  afsen  nur  zweimal  täglich,  tranken  blofs  Wasser 
und  führten  überhaupt  einen  streng  soliden  Lebenswandel.  Ihre 
Kleidung  war  dreifarbig  und  die  Farben  waren  dieselben,  die 
Dante  an  Beatricens  Kleidung  bemerkte.  Abgesehen  von  ihren 
besonderen  Pflichten,  waren  sie  allen  Regeln  des  Rittertums  unter- 
worfen; sie  mufsten  die  Schwachen  gegen  die  Starken  schützen, 
Ruhestörungen  wettmachen  und  die  apostolische  Religion  ver- 
teidigen. Es  heifst,  dafs  sie  sich  ein  Abzeichen  ihrer  Verbrüderung 
auf  den  rechten  Arm  einbrannten ; doch  ist  das  vielleicht  blofs  eine 
Versinnbildlichung  der  Taufe  durch  das  Feuer  und  den  heiligen 
Geist,  die  zu  den  wesentlichsten  Riten  der  Religion  der  Liebe 
gehörte. 


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122 


Ketzer  und  Ritter. 


Die  Tempelherren. 


Stiftung  des  Ordens.  Seine  Eide  und  Gelübde.  Seine  Anfänge.  — 
Sein  Banner.  — Sein  Reichtum.  — Die  Komtureien.  — Der  Pariser  Temple. 

Beschuldigungen  und  Angriffe.  — Hinterlistiges  Verfahren  dem  Grofs- 
meister  gegenüber.  Einkerkerungen  und  Anklagen.  - Verbrennung  zahl- 
reicher Ritter.  Jacob  von  Molay.  — Geheimnisse  der  Templer.  - Ein- 
weihung. Erklärung  des  Verfluchens  und  Bespeiens  des  Kreuzes.  — 
Angebliche  Ausschweifungen.  —Die  Templer  Gegner  der  römischen  Kirche. 
— Baphomet.  — Unterdrückung  des  Ordens  und  Verwendung  seines 

Vermögens. 

Die  Gründung  des  Templerordens  erfolgte  1118  und  zwar 
baute  man  ihn  teilweise  auf  einen  älteren  Orden  auf,  wie  aus 
einer  in  der  Louvre-Bibliothek  befindlichen  Handschrift  hervor- 
geht, die  den  Titel  führt:  „Nostes  sur  les  freres  mages,  ecristes 
par  un  contemporain  des  Chevaliers  Templiers  qui  en  estes." 
in  dem  genannten  Jahr  traten  neun  tapfere  und  fromme  Ritter 
zur  Bildung  eines  Bundes  zusammen,  der  die  Merkmale  des 
Mönchs-  mit  denen  des  Ritterwesens  vereinigen  sollte.  Sie 
wählten  zur  Schutzherrin  »die  süfse  Mutter  Gottes",  verpflichteten 
sich,  nach  den  Regeln  des  heiligen  Augustin  zu  leben  und 
schworen,  ihre  Arme,  ihre  Schwerter,  ihr  ganzes  Leben  der  Ver- 
teidigung der  Geheimnisse  des  christlichen  Glaubens  zu  weihen, 
dem  Grofsmeister  unbedingten  Gehorsam  zu  leisten,  um  Christi 
willen  nötigenfalls  jederzeit  sich  jeder  Gefahr  auszusetzen  und 
selbst  einer  dreifachen  feindlichen  (ungläubigen)  Übermacht  nicht 
zu  weichen.  Sie  gelobten  ferner  Keuschheit  und  Armut  und  ver- 
sprachen, weder  zu  einem  andern  Orden  überzugehen,  noch 
einen  fufsbreit  Landes  abzutreten.  König  Balduin  II.  wies  ihnen 
einen  Teil  seines  Palastes  in  der  Nähe  der  Tempelkirche  an, 
deren  Abt  ihnen  einen  die  beiden  Gebäude  verbindenden  Weg 
iiberliefs.  Demgemäfs  nannten  sie  sich  »Tempelmilitär“. 

Während  der  ersten  neun  Jahre  lebten  sie  in  so  grofser 
Armut,  dafs  die  zwei  eigentlichen  Stifter,  Hugo  von  Payens  und 
Gottfried  von  Saint-Omer,  zusammen  blofs  ein  Schlachtrofs  be- 
sagen — ein  Umstand,  der  auf  dem  Ordenssiegel  durch  die 
Darstellung  zweier  auf  einem  Streitrols  sitzenden  Ritter  verewigt 
erschien.  Bald  bestätigte  Papst  Honorius  den  Orden,  als  dessen 
Hauptkleidungsstück  er  einen  weifsen  Mantel  vorschrieb,  dessen 
Brustteil  später  auf  Anordnung  Eugens  III.  mit  einem  roten 
Kreuz  versehen  wurde.  Das  Ordensbanner  — aus  schwarz  und 
weifs  gestreiftem  Tuch  — hiefs  „beauseant"  (=  die  altfranzösische 
Bezeichnung  für  „Schecken")  und  dieses  Wort  wurde  zum  Kriegs- 
ruf der  Templer.  Auf  dem  Banner  erschien  nebst  einem  Kreuz 


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Die  Tempelherren. 


123 


die  lateinische  Inschrift:  »Nicht  uns,  o Herr,  gieb  Ruhm,  sondern 
Deinem  eigenen  Namen.“ 

Der  Orden  breitete  sich  immer  mehr  aus  und  zahlreiche 
mächtige  Fürsten  schenkten  ihm  grofse  Besitzungen  und  sonstiges 
beträchtliches  Eigentum.  König  Alfons  von  Arragon  und  Navarra 
machte  die  Templer  sogar  zu  seinen  Erben,  doch  verweigerte 
das  Land  die  Bestätigung  dieser  Schenkung.  Es  dauerte  nicht 
lange  und  der  Orden  war  die  reichste  Körperschaft  Europas; 
er  brachte  es  in  Asien,  Afrika  und  Europa  auf  rund  neun- 
tausend Komtureien  mit  dem  für  jene  Zeit  geradezu  ungeheuer- 
lichen Jahreseinkommen  von  112  Millionen  Francs.  Morgen- 
ländische Komtureien  gab  es  in  Jerusalem,  Tripolis,  Antiochien 
und  auf  Cypem,  abendländische  in  Portugal,  Kastilien,  Leon, 
Arragonien , Frankreich  , Flandern , den  Niederlanden,  England, 
Schottland,  Irland,  Deutschland,  Italien  und  Sicilien. 

Solange  Jerusalem  in  den  Händen  der  Christen  war,  blieb 
diese  Stadt  der  Hauptsitz  des  Ordens;  später  wurde  derselbe 
nach  Paris  verlegt  und  zwar  in  den  eigens  erbauten  historischen 
»Temple.«  Dort  fand  Philipp  der  Schöne  i.  J.  1306  Zuflucht 
und  Schutz,  als  ein  Volksaufstand  gegen  ihn  ausgebrochen  war; 
der  habsüchtige  König  erwies  sich,  wie  wir  alsbald  sehen  werden, 
den  Rittern  gegenüber  undankbar,  die  unvorsichtig  genug  ge- 
wesen sein  sollen,  ihm  ihre  unermefslichen  Schätze  zu  zeigen. 
Bekanntlich  diente  derselbe  Riesenbau  während  der  grofsen  Revo- 
lution als  Gefängnis  für  Ludwig  XVI.  Erst  vor  kurzer  Zeit 
wurde  der  »Temple“  niedergerissen. 

Am  Ende  des  12.  Jahrhunderts  zählte  der  Orden  etwa 
dreifsigtausend  Mitglieder,  zumeist  Franzosen,  weshalb  denn  auch 
der  Großmeister  gewöhnlich  ein  Franzose  war.  Die  Templerflotte 
monopolisierte  den  Levantehandel  und  dem  Orden  standen  im 
Orient  überall  grofse  Streitkräfte  zur  Verfügung.  Von  der  ur- 
sprünglichen Armut  und  Demut  war  keine  Rede  mehr.  Palästina 
war  für  die  Christen  verloren,  ohne  dafs  die  Templer  sich  um 
die  Wiedereroberung  bemühten ; dagegen  zogen  sie  ihre  nur  für 
den  Dienst  Gottes  bestimmten  Schwerter  häufig  in  den  Fehden 
und  Feldzügen  der  Länder,  die  sie  bewohnten.  An  die  Stelle 
der  Frömmigkeit  traten  bei  ihnen  Stolz  und  Anmafsung.  Der 
sterbende  Richard  Löwenherz  sagte:  »Ich  überlasse  die  Habgier 
den  Cisterciensern,  den  Luxus  den  Bettelmönchen,  den  Stolz  den 
Tempelrittern.“  Vielleicht  war  es  übrigens  weniger  Stolz  als 
Machtbewufstsein , zuweilen  wohl  auch  nur  berechtigtes  Selbst- 
gefühl. Die  englischen  Templer  hatten  zu  Heinrich  III.  gesagt: 
»Du  wirst  König  bleiben,  solange  Du  gerecht  sein  wirst.“  In 
Kastilien  verbanden  sie  sich  mit  den  Johanniter-Rittern  gegen  den 
König.  Ob  sie  aber  wirklich,  wie  es  heifst,  die  Errichtung  eines 


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124 


Ketzer  und  Ritter. 


grofsen  abendländischen  Reichs  oder  gar  eine  Weltherrschaft  an- 
strebten - wie  der  deutsche  Ritterorden,  die  Malteser-Ritter  oder 
die  Jesuiten  von  Paraguay  — ist  sehr  zweifelhaft,  da  sie  (die 
Templer)  zu  sehr  verstreut  waren,  uni  sich  mehr  als  eines 
einzelnen  Staates  bemächtigen  zu  können;  wie  hätte  der  Orden 
eine  Aufgabe  bewältigen  sollen,  für  welche  nicht  einmal  die 
Truppenmacht  Karls  des  Grofsen  genügte?  Begründeter  waren 
die  Beschuldigungen,  dafs  der  Orden  durch  seinen  Wettkampf 
mit  den  Johannitern  das  Königreich  Palästina  gefährdete,  mit 
Ungläubigen  Bündnisse  schlofs,  Cypern  und  Antiochia  bekriegte, 
König  Heinrich  II.  von  Jerusalem  entthronte,  Griechenland  und 
Thrakien  verwüstete,  jeden  Beitrag  zum  Lösegeld  für  den  heiligen 
Ludwig  verweigerte,  sich  für  Arragon  und  gegen  Anjou  erklärte 
(in  den  Augen  des  Königs  von  Frankreich  ein  unverzeihliches 
Verbrechen!)  u.  s.  w.  In  den  Augen  dieses  Königs  war  jedoch 
das  gröfste  Verbrechen  des  Ordens  sein  grofser  Reichtum  und 
deshalb  sann  er  auf  dessen  Untergang. 

Philipp  der  Schöne  brauchte  nämlich  dringend  Geld,  und 
zwar  viel,  sehr  viel  Geld.  Der  Sieg  von  Mons  war  ärger  gewesen 
als  eine  Niederlage,  ein  wahrer  Pyrrhussieg,  denn  er  hatte 
ihn  zu  Grunde  gerichtet.  Der  König  mufste  Guyana  wieder 
abtreten  und  stand  im  Begriff,  Flandern  zu  verlieren.  Wegen 
einer  neuen  Steuer  war  in  der  Normandie  ein  Aufstand  aus- 
gebrochen, sodafs  er  sie  aufheben  gemufst.  Die  Bevölkerung 
der  Hauptstadt  hegte  gegen  die  Regierung  eine  so  feindselige 
Gesinnung,  dafs  Versammlungen  von  mehr  als  fünf  Personen 
verboten  wurden.  Philipp  zerbrach  sich  den  Kopf  darüber,  wie 
unter  solch  schwierigen  Verhältnissen  Geld  zu  beschaffen  wäre. 
Bei  den  Juden  war  nichts  mehr  zu  holen,  denn  mittels  Kerkers, 
Geldstrafen  und  Folterungen  hatte  man  ihnen  bereits  alles  erprefst. 
Da  konnte  nur  irgend  eine  umfassende  Güter-Einziehung  helfen ; aber 
es  mufste  eine  sein,  welche  die  Klassen,  von  denen  die  Macht 
des  Königs  abhing,  nicht  nur  nicht  vor  den  Kopf  stofsen,  sondern 
sie  auch  noch  in  den  Glauben  versetzen  sollte,  es  handle  sich 
lediglich  um  die  Bestrafung  von  Übelthätern  gegen  die  Gesetze 
des  Staates  und  die  Gebote  der  Religion  — beileibe  nicht  um 
schnöde  Geldsucht.  So  veranlagte  denn  Philipp  der  Schöne  die 
Verleumdung  der  Tempelherren  durch  Schriften,  in  denen  ihnen 
Ketzerei,  Ungläubigkeit  und  allerlei  schwere  Verbrechen  vor- 
geworfen wurden.  Grofse  Wichtigkeit  mafs  man  den  Beschuldi- 
gungen bei,  welche  zwei  Renegaten  erhoben,  deren  einer  als 
Templer  vom  Grofsmeister  wegen  vieler  Missethaten  zu  lebens- 
länglichem Kerker  verurteilt  worden  war,  aber  die  Flucht  er- 
griffen hatte. 

Jetzt  forderte  Philipp  den  Papst  (Klemens  V.),  dem  er  zum 


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Die  Tempelherren.  IIS 

heiligen  Stuhl  verholfen  hatte,  auf,  die  fünfte  der  Bedingungen 
zu  erfüllen,  unter  denen  er  dies  gethan.  Die  ersten  vier  Be- 
dingungen hatte  der  König  sofort  genannt,  die  Nennung  der 
fünften  aber  hatte  er  sich  für  eine  geeignete  Zeit  Vorbehalten, 
und  zweifellos  dachte  er  hierbei  an  die  Ausrottung  des  Templer- 
ordens.  Der  erste  Schritt  des  heiligen  Vaters  war,  den  Grofs- 
meister,  Jakob  von  Molay,  nach  Paris  zu  locken,  und  zwar  durch 
die  Vorspiegelung,  dafs  es  sich  um  eine  Beratung  über  Mafs- 
regeln  zur  Wiedererlangung  Palästinas  handle.  Der  Grofsmeister 
kam  thatsächlich  1307  aus  Cypem  in  Begleitung  von  sechzig 
Rittern  nach  Paris  und  brachte  1 50000  Goldgulden  und  zwölf 
Pferdeladungen  Silber  mit  sich.  Diesen  Schatz  verwahrte  er  im 
„Temple“.  Der  tückische  König  wiegte  ihn  in  Sicherheit,  indem 
er  ihn  mit  der  ausgesuchtesten  Aufmerksamkeit  behandelte,  ihn 
zum  Taufpaten  eines  seiner  Söhne  machte  und  ihn  bei  der 
Leichenfeier  seiner  Schwägerin  einen  Zipfel  des  Bahrtuches  tragen 
liefs.  Aber  sehr  bald  liefs  er  ihn  und  sein  ganzes  Gefolge  ver- 
haften und  sandte  an  die  mafsgebenden  Provinziaibehörden  den 
geheimen  Befehl,  am  13.  Oktober  1307  alle  Tempelherren  im 
ganzen  Lande  zu  ergreifen  und  ihr  Eigentum  einzuziehen.  Dem- 
gemäfs  wurden  Tausende  von  Rittern  eingekerkert. 

ln  dem  Verfahren,  welches  man  gegen  den  Orden  einleitete, 
erhob  man  die  folgenden  Anklagen:  Verleugnung  Christi,  der 
Mutter  Gottes  und  der  Heiligen;  Anspeien  und  mit  Füfsen  treten 
des  Kreuzes;  Anbetung  - in  einer  finstern  Höhle  — , eines 
Götzen  in  Gestalt  eines,  mit  einer  alten  Menschenhaut  bedeckten 
Mannes  mit  zwei  glänzend  leuchtenden  Karfunkeln  statt  der 
Augen;  Salbung  dieses  Götzen  mit  dem  Fett  gerösteter  Kinder; 
Verehrung  desselben  als  des  höchsten  Gottes;  Anbetung  des 
Teufels  in  Gestalt  einer  Katze;  Verbrennung  der  Leichen  der 
Ordensritter  und  Verabreichung  der  Asche  — mit  Speisen  und  Ge- 
tränken vermengt  - an  die  jüngeren  Templer.  Ferner  wurden 
die  Ritter  mancherlei  widernatürlicher  Verbrechen,  furchtbarer 
Ausschweifungen  und  abergläubischer  Scheufslichkeiten  beschul- 
digt, die  nur  von  Tollhäuslern  begangen  werden  könnten  und 
die  nur  in  unwissenden,  blöden  Hirnen  Raum  finden.  Behufs 
Erzielung  von  Geständnissen  wurden  die  Unglücklichen  gefoltert, 
und  zwar  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern  auch  in  England, 
denn  Eduard  II.  vereinigte  sich  mit  Philipp  zur  Vernichtung  des 
Ordens.  Viele  Ritter  machten , um  nicht  länger  gemartert  zu 
werden,  Scheingeständnisse,  zahllose  andere  starben  unter  der 
Folter,  ohne  etwas  zu  gestehen,  während  noch  andere  sich  im 
Gefängnis  das  Leben  nahmen  oder  selbst  aushungerten. 

Der  schändliche  Prozefs  dauerte  jahrelang  und  die  Ver- 
folgung erstreckte  sich  bald  auch  auf  andere  Länder.  Auf 


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126 


Ketzer  und  Ritter. 


Cypem,  in  Deutschland  und  Spanien  wurde  der  Orden  gänzlich 
freigesprochen.  In  Italien,  England  und  Frankreich  schien  er 
eine  Zeit  lang  günstige  Aussichten  zu  haben,  denn  der  Papst 
begann,  sich  auf  seine  Seite  zu  stellen,  weil  es  den  Anschein 
hatte,  als  wollten  Philipp  der  Schöne  und  Eduard  II.,  die  den 
gesamten  französischen  und  englischen  Besitz  der  Templer  an 
sich  gerissen  hatten,  den  heiligen  Vater  um  seinen  Anteil  an  dem 
Raub  betrügen.  Da  die  Könige  ihm  jedoch  nachträglich 
wieder  Zugeständnisse  machten,  liefs  er  die  Templer  im  Stich. 
Freilich  beklagte  er  sich  schliefslich  darüber,  dafs  sein  Anteil  zu 
gering  ausgefallen  sei. 

Eine  grofse  Anzahl  von  Rittern  wurde  hingerichtet.  Eines 
Tages  führte  man  ihrer  59  auf  die  Felder  hinter  dem  Pariser 
Antoniuskloster,  wo  Scheiterhaufen  errichtet  worden  waren.  Man 
bot  den  Bedauernswerten  die  Begnadigung  an  für  den  Fall,  dafs 
sie  gestehen  sollten;  aber  kein  einziger  gestand  und  so  wurden 
sie  alle  langsam  geröstet,  ln  Senlis  wurden  neun  Templer  ver- 
brannt, anderwärts  ebenfalls  viele.  Der  Orofsmeister  blieb  5 */» 
Jahre  lang  eingekerkert  — zweifellos  unterwarf  man  ihn  wieder- 
holt der  Tortur  — bis  er  schliefslich  am  18.  März  1313  nebst 
dem  Grofs-Präzeptor  des  Ordens,  Guy,  den  Feuertod  erlitt; 
beide  beteuerten  bis  zum  letzten  Augenblick  die  Falschheit  der 
gegen  die  Templer  erhobenen  Beschuldigungen. 

Selbtverständlich  legen  wir  wenig  Gewicht  auf  gewaltsam 
erprefste  Geständnisse  und  auf  Anklagen  aus  Rache,  Habgier 
oder  Unterwürfigkeit;  aber  dafs  die  Satzungen,  Glaubenslehren 
und  Riten  des  Templerordens  gewisse  Geheimnisse  und  Be- 
sonderheiten aufwiesen,  die  sie  von  den  Anschauungen,  Dogmen 
und  Zeremonien  der  anderen  religiös-militärischen  Vereinigungen 
beträchtlich  unterschieden,  liegt  auf  der  Hand.  Der  lange  Aufent- 
halt in  Palästina,  das  von  aus  Konstantinopel  vertriebenen  schis- 
matischen Griechen  und  Ketzern  wimmelte;  der  Wettkampf  mit 
den  Johannitern;  die  Berührung  mit  den  Sarazenen;  der  Verlust 
des  heiligen  Landes,  der  die  Templer  zum  Müfsiggang  ver- 
urteilte und  ihnen  in  den  Augen  der  Welt  schadete;  all  dies  und 
noch  manches  andere  trug  zur  Umgestaltung  des  Ordens  in 
einer  Weise  bei,  die  mit  seiner  ursprünglichen  Verfassung  im 
Widerspruch  stand.  So  vermengten  sich  im  Lauf  der  Zeit  mit 
den  anfänglichen  Ideen  und  Bräuchen  neue,  die  im  Widerspruch 
standen  mit  der  strenggläubigen  Denkungsart,  welcher  diese 
militärische  Religionsbrüderschaft  ihre  Entstehung  und  Stärke  zu 
verdanken  hatte. 

Während  die  »Kirche“  das  Haus  Christi  genannt  werden 
kann,  war  der  »Tempel“  das  Haus  des  heiligen  Geistes.  Die 
Templer  erbten  ihre  Religion  von  den  Manichäern,  den  Albigen- 


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Die  Tempelherren. 


127 


sem  und  anderen  Sekten  mit  ritterlichem  Charakter.  Ihre  Ein- 
weihungsbräuche, ihre  Denkmäler  u.  s.  w.  bewiesen  das  Vorherrschen 
der  Religion  des  Geistes  in  den  Geheimlehren  des  Tempels. 
Was  die  Art  der  Einweihung  betrifft,  so  ist  oft  behauptet 
worden,  sie  habe  nächtlicherweile  in  Gegenwart  des  Ordens- 
kapitels unter  strengem  Ausschlufs  aller  Laien  stattgefunden,  sei 
von  zügellosen  Riten  begleitet  gewesen  und  der  Aufnahme- 
bewerber habe  das  Kreuz  — für  das  so  viele  Templer  ihr  Leben 
gelassen  hatten  - verleugnen,  verfluchen  und  anspeien  müssen. 
Höchst  wahrscheinlich  war  die  letztere  Beschuldigung  einigermafsen 
begründet,  doch  giebt  es  für  diesen  Brauch  eine  Erklärung,  und 
zwar  die  folgende. 

Eine  solche  Mifshandlung  des  Kreuzes  darf  nicht  Wunder 
nehmen  in  einem  Zeitalter,  in  welchem  man  Kirchen  in  Theater 
verwandelte,  heilige  Dinge  durch  groteske  Darstellungen  ent- 
weihte und  die  Mysterien  des  Altertums  Christus  und  den 
Heiligen  zu  Ehren  nachahmte.  Man  denke  auch  an  die  erstaun- 
lichen Scenen,  die  nachmals  in  den  Heiligenschauspielen  dar- 
gestellt wurden.  Nun  denn,  der  Bewerber  um  den  Templergrad 
wurde  zuerst  als  ein  Sünder,  ein  schlechter  Christ,  ein  Abtrünniger 
eingeführt,  der  seine  scheinbare  Schlechtigkeit,  seine  Verleugnung 
Christi  u.  s.  w.  häufig  dadurch  bekundete,  dafs  er  das  Kreuz 
anspie.  Der  Orden  nahm  es  auf  sich,  den  Sünder  zu  bessern 
und  ihn  desto  höher  zu  erheben,  je  tiefer  sein  Fall  gewesen. 
So  simulierte  beim  Fest  der  Idioten  der  Kandidat  einen  Zustand 
der  Blödheit  und  der  Erniedrigung,  aus  dem  ihn  die  Kirche 
befreien  sollte.  Anfangs  richtig  aufgefafst,  wurden  diese  Komödien 
später  falsch  ausgelegt  und  erregten  Anstofs  bei  den  Gläubigen, 
denen  der  Schlüssel  des  Rätsels  fehlte.  Die  Templer  hatten  bei 
sich  ähnliche  Zeremonien  eingeführt.  Sie  waren  Sprossen  der 
Katharer  und  der  Manichäer.  Die  Katharer  aber  mifsachteten  das 
Kreuz  und  hielten  es  für  ein  Verdienst,  dasselbe  mit  Füfsen  zu 
treten.  Bei  den  Templern  war  dieser  Brauch,  wie  aus  ihrem 
grofen  Prozefs  hervorging,  nur  eine  Versinnbildlichung  des  drei- 
mal wiederholten  Verrates  des  heiligen  Petrus. 

Was  die  Beschuldigung  lasterhafter  Übungen  im  Ritus 
betrifft,  so  ist  sie  entweder  gänzlich  unwahr  oder  nur  von  ein- 
zelnen Örtlichkeiten  und  Graden  wahr.  Aus  den  Gerichts- 
verhandlungen ergab  sich,  dafs  viele  Ritter  von  den  Bräuchen, 
deren  man  sie  beschuldigte,  nicht  einmal  gehört,  die  Baphomet- 
büste  (vgl.  weiter  unten)  niemals  gesehen  hatten  und  nie  auf- 
gefordert worden  waren,  sich  an  Zügellosigkeiten  zu  beteiligen. 
Wenn  vereinzelte  Ritter  Ausschreitungen  verübten,  so  durfte  man 
diese  nicht  dem  ganzen  Orden  zur  Last  legen.  Übrigens  waren 
in  jenen  Zeiten  widernatürliche  Verbrechen  so  verbreitet,  dafs 


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128 


Ketzer  und  Ritter. 


selbst  die  wirkliche  Verübung  solcher  durch  die  Templer  hätte 
milde  beurteilt  werden  müssen.  Mufste  doch  z.  B.  damals  jeder 
Bewerber  um  einen  Bischofssitz  beschwören,  sich  weder  der 
Nonnenverführung,  noch  der  Sodomie,  noch  der  »Bestialität“ 
schuldig  gemacht  zu  haben.  Alle  gegen  die  Templer  erhobenen 
Anklagen  waren  vorher  gegen  die  Katharer,  die  Albigenser  und 
die  Johanniter  erhoben  worden,  und  Papst  Klemens  V.  erliefs 
vier  Tage  nach  der  Bulle,  mittels  welcher  er  den  Templerorden 
unterdrückte,  eine  andere,  in  der  er  zugab,  daß  das  ganze  Beweis- 
material gegen  den  letzteren  lediglich  auf  Verdächtigungen  hinaus- 
gelaufen sei. 

Übrigens  mag  die  eventuelle  Mifshandlung  des  Kreuzes 
und  die  dadurch  bewirkte  Verewigung  des  Verrates  Petri  noch 
einen  ganz  besonderen  Grund  gehabt  haben.  Die  gnostischen  und 
kabbalistischen  Sinnbilder,  die  auf  und  in  Templergrabstätten 
entdeckt  worden  sind,  bekräftigen  die  Thatsache,  dafs  der  Orden 
sich  während  und  infolge  seines  langen  Aufenthalts  im  Orient 
den  Lehren  der  Gnostiker  und  Manichäer  näherte,  welche  ihm 
minder  arg  erschienen  als  die  der  päpstlichen  Kirche.  Auch 
kannte  er  den  Mifserfolg,  den  die  Verkündigung  der  Kreuzigung 
Christi  in  Athen  hatte  (und  zwar  wegen  des  Aeschylosschen 
Trauerspiels  »Der  besiegte  Prometheus";  vergl.  den  Abschnitt 
»Christliche  Mysterien").  So  mochte  er  denn  auf  den  Gedanken 
gekommen  sein,  dafs  Christus,  gleich  den  übrigen  ähnlichen 
Gottheiten , nur  ein  von  der  Kirche  vielfach  mifsbrauchtes 
religiöses  und  dichterisches  Sinnbild  der  Sonne  sei,  und  daher 
mochte  er  Peter  verleugnet  und  sich  an  Johannes  gehalten  haben 
— ein  geheimes  Schisma,  das  nach  einigen  Schriftstellern  ebenso 
sehr  wie  der  grofse  Reichtum  des  Ordens  zu  dessen  Verbot 
durch  den  heiligen  Stuhl  geführt  haben  soll. 

Diese  Erklärung  liefert  auch  einen  Schlüssel  zu  der  Be- 
deutung und  dem  Namen  des  Götzen,  den  die  Tempelherren 
angeblich  anbeteten.  Es  war  das  ein  Mann  mit  langem,  weifsem 
Bart.  Man  nannte  , ihn  „Baphomet“  und  dieser  Name  hat  den 
Scharfsinn  vieler  Kritiker  auf  die  Probe  gestellt,  aber  die  einzige 
erwähnenswerte  Erklärung  seiner  Bedeutung  ist  die  Nicolaische, 
wonach  das  Wort  aus  dem  griechischen  ßaipi) /ir/nc  (=  »Taufe  der 
Weisheit")  entstand  und  das  Bildnis  Gott  darstellte,  den  »all- 
gemeinen Vater“.  Was  die  Bedeutung  des  Kopfes  betrifft,  so 
war  er  sicherlich  eines  der  gnostisch-kabbalistischen  Symbole, 
die  die  Templer  angenommen  hatten.  Die  Kabbalisten  pflegten 
Gott  an  und  für  sich  durch  ein  bartloses,  den  schöpferischen  Gott 
durch  ein  bärtiges  Haupt  darzustellen;  jenes  versinnbildlichte  die 
Unveränderlichkeit,  dieses  das  stetige  Wachstum.  Den  Templern 
symbolisierte  die  Büste  den  einzigen  Gott;  wenn  der  Hierophant 


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Die  Tempelherren. 


129 


sie  den  Neueingeweihten  zeigte,  sprach  er  das  arabische  Wort 
»jalla*  aus  (=  »das  Licht  Gottes»)  und  der  Neuling  wurde 
als  »Freund  Gottes"  angesprochen.  Da  nun  aber  damals  das 
Leugnen  der  Dreifaltigkeit  mit  Folterung  und  Verbrennung  bestraft 
wurde,  behandelten  die  Templer  die  Sache  begreiflicherweise 
aufserst  geheim. 

Durch  eine  vom  6.  Mai  1312  datierte  päpstliche  Bulle 
wurde  der  Templerorden  unterdrückt.  König  Philipp  und 
Klemens  V.  rissen  das  bewegliche  Vermögen  der  Tempelritter  in 
ihren  Staaten  an  sich.  Den  übrigen  französischen  und  italienischen 
Besitz  erhielten  die  Johanniter  - sehr  wider  den  Willen  Philipps, 
der  sich  aber  schadlos  hielt,  indem  er  ihnen  so  hohe  Abgaben 
und  Strafgelder  auferlegte,  dafs  sie  fast  ganz  verarmten.  Ein 
Teil  der  deutschen  Besitzungen  wurde  dem  deutschen  Ritterorden 
zugewiesen,  die  spanischen  (17  Städte  und  Schlösser)  benutzte 
der  König  zur  Gründung  des  Ordens  unsrer  lieben  Frau  von 
Montesa,  der  den  Zweck  hatte,  die  Mauren  zu  bekämpfen.  Der 
König  von  Portugal  unterdrückte  den  Orden  nicht,  sondern 
änderte  seinen  Namen  in  »Christusorden“  ab.  Dieser  besteht 
noch  heute  und  hat  seit  1789  drei  Klassen:  Grofskreuz,  Komtur 
und  Ritter. 


Heckethorn~Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren. 


9 


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SECHSTES  BUCH. 

GEHEIMGERICHTE.  . 


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Die  heilige  Feme. 


Entstehung  und  Zweck.  — Gerichtsstellen.  — Einrichtungen  und  Benen- 
nungen. --  Sprache  und  Vorschriften.  — Gerichtsverfahren.  — Vollstreckung 
der  Urteile.  — Verfall  des  Bundes.  — Das  Küssen  der  Marienstatue. 

Die  unter  dem  Oesamtnamen  -.Heilige  Feme"  bekannten 
westfälischen  Geheimgerichte  entstanden  in  der  %'on  Gewaltthätig- 
keit  und  Zügellosigkeit  erfüllten  Zeit,  welche  Deutschland  nach 
der  Ächtung  Heinrichs  des  Löwen  durchmachte,  also  etwa  um 
die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts.  Die  Macht  des  Kaisers 
war  tief  gesunken,  die  kaiserlichen  Gerichte  funktionierten  nicht 
mehr,  das  Recht  war  der  Gewalt  gewichen,  die  Feudalherren  be- 
drückten das  Volk  aufs  ärgste.  Die  Ergreifung  der  Schuldigen 
ohne  Ansehen  der  Person  und  ihre  Bestrafung  ohne  vorherige 
Verständigung  von  dem  ihnen  drohenden  Schicksal  - das  war 
Zweck  und  Daseinsgrund  der  Heiligen  Feme.  Dieser  Geheim- 
bund betrachtete  sich  als  ein  Werkzeug  der  öffentlichen  Rache 
behufs  Züchtigung  von  Verbrechern  und  erfreute  sich  der  gröfsten 
Achtung  seitens  des  leidenden  Volkes.  Auf  dieser  Achtung  beruhte 
das  Ansehen  der  gerichtlichen  Gesellschaft. 

Romanschreiber  haben  die  Feme  mit  Dunkel,  Geheimnis  und 
Entsetzen  umgeben;  gewifs  ist  denn  auch,  dafs  sie  später  ent-  und 
ausartete.  Anfänglich  jedoch  bildete  sie,  wie  eine  unbefangene  ' 
Forschung  lehrt,  lange  den  besten,  vielleicht  den  einzigen  guten 
Gerichtshof  des  Landes,  und  ihre  einzige  Heimlichkeit  bestand 
in  der  Schnelligkeit,  mit  der  sie  Verbrechen  entdeckte  und  ihre 
Urteile  vollzog.  Ihre  Verhandlungen  wurden  viel  häufiger  unter 
freiem  Himmel  abgehalten  als  in  unterirdischen  Gewölben  oder 
trüb  erleuchteten  Höhlen,  ln  Dortmund  gingen  sie  sogar  auf 
dem  Marktplatz,  in  Nordkirchen  auf  dem  Kirchhof  vor  sich. 

Mit  Vorliebe  hielt  man  sie  unter  Bäumen  oder  in  nächster  Nähe 
von  Bäumen  ab.  Sie  fanden  nicht  nachts,  sondern  morgens 
bald  nach  Tagesanbruch  statt. 


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134 


Geheimgerichte. 


Das  Thätigkeitsgebiet  der  Feme  beschränkte  sich  auf  West- 
falen, welches  damals  das  ganze  Land  zwischen  dem  Rhein  und 
der  Weser,  zwischen  Hessen  und  Friesland  umfafste.  Das  Wort 
»Vehm»  oder  „Feme“  stammt  nach  Leibniz  von  „fama"  (das 
auf  der  Volksstimme  beruhende  Recht).  Aber  das  eigentliche 
Wurzelwort  dürfte  das  altdeutsche  »fern“  (=  Verurteilung)  sein. 
Dazu  kommt,  dafs  das  altdeutsche  »Fern»  eine  geschlossene 
Gesellschaft  oder  etwas  Abgesondertes  bedeutete;  so  z.  B.  hiefsen 
die  behufs  Mästung  beiseite  gethanen  Schweine  „Femschweine“ 
und  das  ihnen  aufgedrückte  Unterscheidungszeichen  nannte  man 
»Femmal“.  Um  sich  nun  von  anderen  Gesellschaften  zu  unter- 
scheiden, legte  sich  der  Bund  der  Freien  Richter  den  Namen 
»Heilige  Feme“  bei.  Seine  Gerichtshöfe  hiefsen  auch  »Fem- 
dinge“,  »Freistühle",  »heimliche  Gerichte“,  »heimliche  Achten", 
»heimlich  beschlossene  Achten»,  »verbotene  Gerichte“. 

Jedermann  hatte  das  Recht,  eingeweiht  zu  werden.  Ein  in 
Dortmund  entdeckter  Femkodex,  dessen  Lektüre  den  Uneinge- 
weihten bei  Todesstrafe  verboten  war,  spricht  von  drei  Graden: 
»Stuhlherren“,  »Schöppen»  und  »Fronboten“.  Es  gab  zweierlei 
Verhandlungen:  das  »offenbare  Ding"  und  die  »heimliche  Acht.“ 
Um  etwaige  Warnungen  von  in  contumaciam  Verurteilten  durch 
Unbefugte  zu  verhüten,  hängte  man  jeden  bei  einer  geheimen 
Verhandlung  betroffenen  Uneingeweihten  sofort.  Die  Bundes- 
mitglieder nannten  sich  » Wissende ».  Die  Feme  bestrafte 
Vergehen  gegen  den  christlichen  Glauben,  das  Evangelium 
und  die  Zehn  Gebote.  Von  ihrer  Gerichtsbarkeit  ausgeschlos- 
sen waren  Weiber,  Kinder,  Geistliche,  der  Hochadel,  Juden 
und  Heiden. 

Die  Bundesgenossen  hatten  vermutlich  eine  Geheimsprache; 
wir  dürfen  das  aus  den  Anfangsbuchstaben  S.S.S.G.G.  schliefsen, 
welche  sich  in  den  im  Herforder  Archiv  aufbewahrten  Fern- 
schriften finden  und  denen  von  einigen  Gelehrten  die  Bedeutung 
»Stock,  Stein,  Strick,  Gras,  Grein»  zugeschrieben  wird.  Bei 
Mahlzeiten  sollen  die  Mitglieder  sich  dadurch  zu  erkennen  ge- 
geben haben,  dafs  sie  die  Spitze  ihres  Messers  dem  Rand  und 
die  Zinken  der  Gabel  der  Mitte  des  Tisches  zukehrten.  Die 
Eidschwüre  glichen  an  Furchtbarkeit  denen  der  höheren  Grade 
der  Freimaurerei,  und  Genossen,  die  sich  als  falsch  erwiesen, 
erlitten  einen  schrecklichen  Tod.  Jeder  Eingeweihte  mufste  u.  a.  be- 
schwören, die  Feme  vor  allem  zu  beschützen,  was  von  der  Sonne 
beschienen  oder  vom  Regen  durchnäfst  oder  zwischen  Himmel 
und  Erde  gefunden  wird;  keinen  Verurteilten  von  der  über  ihn 
verhängten  Strafe  zu  verständigen;  nötigenfalls  selbst  die  eigenen 
Eltern  und  andere  Verwandte  zur  Anzeige  zu  bringen;  sich  bei 
Eidbruch  dem  Fluch  aller  aussetzen  und  sich  sieben  Fufs  höher 


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Die  heilige  Feme. 


135 


als  üblich  hängen  lassen  zu  wollen.  Eine  Eidesformel,  die  man 
aus  dem  Dortmunder  Stadtarchiv  kennt  und  die  der  Kandidat 
barhaupt,  knieend  und  mit  zwei  Fingern  der  rechten  Hand  auf 
dem  Schwerte  des  Vorsitzenden  aussprechen  mufste,  lautete  wie 
folgt:  „Dafs  ich  nunmehr  will  die  Fern  bewahren,  hüten  und 
halten  für  mich,  für  Wasser  und  Feuer,  vor  Sonn,  vor  Mond, 
vor  Stern,  vor  Laub,  vor  allen  Kreaturen,  und  vor  alle  dem, 
das  Gott  zwischen  Himmel  und  Erden  je  hat  werden  lassen . . . 
Und  das  er  soll  fürbringen  für  diesen  freien  Stuhl,  will  er  nicht 
lassen,  weder  durch  Lieb  noch  um  Leid,  noch  um  Gold  und 
Silber  und  Edelgestein,  um  Vater,  Mutter,  noch  um  Schwester, 
Bruder,  noch  um  keinerlei  Ding,  das  Gott  hat  lassen  werden, 
und  will  füro  stärken  die  Fern  und  das  Gericht  und  diese  vor- 
benannte Punkten  alle  nach  meiner  Macht  und  möge  halten, 
dafs  mir  Gott  helfe  und  alle  Heiligen.“ 

Was  das  Gerichtsverfahren  betrifft,  so  wurde  es  mit  der 
von  einem  Freischöppen  vorgebrachten  Anklage  eingeleitet.  So- 
dann erfolgte  die  Vorladung  des  Angeschuldigten;  wehe  dtm  Un- 
gehorsamen! Bundesgenossen  wurden  sofort  in  geheimer  Ver- 
handlung abgeurteilt,  während  Uneingeweihte  zunächst  vors  offene 
Gericht  kamen,  welches  sie  dann  dem  geheimen  überwies.  Die  Vor- 
ladungen mufsten  auf  Pergament  geschrieben  und  mit  mindestens 
sieben  Siegeln  versehen  sein.  Der  ersten  und  dritten  Vorladung 
mufste  man  binnen  sechs  Wochen  und  drei  Tagen,  der  zweiten  bin- 
nen sechs  Wochen  nachkommen.  War  der  Aufenthaltsort  eines  An- 
geklagten unbekannt,  so  wurde  die  Vorladung  an  einem  Kreuz- 
weg angebracht  oder  am  Fufs  eines  Heiligensta'ndbildes  oder  an 
einer  Armenbüchse  in  der  Nähe  eines  Kruzifixes  oder  einer 
Kapelle  an  der  Landstrafse  befestigt.  Handelte  es  sich  um  einen, 
sein  eignes  befestigtes  Schlofs  bewohnenden  Ritter,  so  sollten 
die  betr.  Schöppen  unter  irgend  einem  Vorwand  in  das  ge- 
heimste Gemach  der  Burg  dringen  und  die  Vorladung  an  den 
Mann  bringen;  nötigenfalls  genügte  es  jedoch,  wenn  sie  sie  ans 
Thor  befestigten,  die  Schildwache  hiervon  verständigten  und  vom 
Thor  drei  Spähne  abhauten,  die  ihnen  dem  Freigrafen  gegenüber  % 
als  Beweis  für  die  Erfüllung  ihrer  Aufgabe  dienten. 

Wer  keiner  der  drei  Vorladungen  nachkommen  konnte  oder 
wollte,  wurde  auf  Grund  der  Vorschriften  des  »Sachsenspiegels“ 
in  contumaciam  verurteilt.  Jeder  Ankläger  hatte  sieben  Zeugen 
mitzubringen,  die  aber  nicht  über  den  Thatbestand,  sondern 
über  die  Glaubwürdigkeit  des  Anklägers  aussagen  mufsten.  Eine 
solche  gleichmäfsige  Aussage  von  sieben  Personen  genügte  zur 
sofortigen  Verurteilung  des  Angeschuldigten  zur  Reichsacht  und 
zum  Tode. 

Der  Hals  des  Verurteilten  wurde  zum  Halfter,  sein  Leib 


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136 


Geheimgerichte. 


zum  Verzehrtwerden  durch  Vögel  oder  Raubtiere  verdammt,  sein 
Hab  und  Gut  für  verfallen,  sein  Weib  als  Witwe,  seine  Kinder 
als  Waisen  erklärt.  Er  selbst  war  nunmehr  „fern bar",  d.  h. 
durch  die  Feme  strafbar,  und  wenn  drei  Eingeweihte  ihm  wo 
immer  begegneten,  hatten  sie  das  Recht  und  die  Pflicht,  ihn  an 
den  nächsten  Baum  zu  knüpfen.  Dem  Gerichtshof  safs  der  Frei- 
graf vor,  auf  dessen  Tisch  ein  entblöfstes  Schwert  und  ein  Halfter 
aus  Weidenzweigen  lag.  - Erschien  jedoch  ein  Angeklagter,  so 
durfte  er,  ebenso  wie  sein  Ankläger,  dreifsig  Zeugen  stellen; 
beide  konnten  sich  durch  Sachwalter  vertreten  lassen  und  nötigen- 
falls an  das  allgemeine  Kapitel  des  Geheimgerichts  der  Reichs- 
kammer zu  Dortmund  Berufung  einlegen.  Jedem  endgültigen 
Todesurteil  folgte  die  Hinrichtung  durch  Aufknüpfung  auf  dem 
Fufse.  Nach  der  Verurteilung  übergab  der  Freigraf  dem  An- 
kläger ein  mit  seinem  Siegel  versehenes  Schriftstück,  dessen  er 
sich  bedienen  konnte,  wenn  er  zur  Vollstreckung  des  Urteils  der 
Hilfe  anderer  bedurfte;  jeder  „Genosse“  mufste  ihm  dann  bei- 
stehen, und  wäre  es  selbst  gegen  die  eigenen  Eltern.  Der  Um- 
stand, dafs  die  Verurteilung  durch  die  Feme  erfolgt  war,  wurde 
dadurch  bekundet,  dafs  man  in  den  Baum,  an  den  der  Ange- 
klagte gehängt  worden,  ein  Messer  steckte.  Leistete  das  Opfer 
Widerstand,  so  erstach  man  es  mit  Dolchen  und  liefs  einen 
Dolch  im  Körper  stecken. 

Den  in  contumaciam  Verurteilten  spürten  ohne  deren  Kennt- 
nis mindestens  hunderttausend  Eingeweihte  nach.  Niemand  durfte 
das  Urteil  verraten;  wer  es  that,  beging  Hochverrat  und  ver- 
wirkte das  Leben.  Nur  der  Kaiser  war  des  Geheimnisses  entbunden. 
Schon  durch  die  Andeutung,  „auch  anderswo  sei  gutes  Brot  zu 
haben“,  setzte  man  sich  der  Todesstrafe  aus.  Kein  Wunder, 
dafs  die  Feme  grofsen  Schrecken  verbreitete.  Ihre  Vorladungen 
waren  gefürchteter  als  selbst  die  des  Kaisers.  1470  wurde  so- 
gar auch  der  letztere  von  drei  Freigrafen  vorgeladen ; er  erschien 
zwar  nicht,  trat  aber  auch  nicht  gegen  die  Kühnen  auf.  All- 
mählich hörte  die  Feme  auf,  ein  guter  Ersatz  für  öffentliche 
Unbill  zu  sein.  Durch  die  Zulassung  ungeeigneter  Elemente  zur 
Mitgliedschaft  und  durch  den  Mifsbrauch  des  Vorladungsrechtes 
verfiel  der  Bund  der  Entartung.  Später  durch  Ruprecht  und  die 
Arensberger  Reformen  umgestaltet  und  durch  die  Osnabrücker 
Vorschriften  in  ihrer  Macht  beschränkt,  bestand  die  Feme  noch 
längere  Zeit  mit  geringer  gewordenen  Mifsbräuchen  weiter;  allein 
die  vortrefflichen  bürgerlichen  Einrichtungen  Maximilians  und 
Karls  V.,  das  Schwinden  des  Geistes  der  Zügellosigkeit,  die 
Einführung  des  römischen  Rechts  und  die  Ausbreitung  des  Pro- 
testantismus trugen  dazu  bei , die  Bevölkerung  mit  Abneigung 
gegen  die  ihr  jetzt  im  Lichte  der  Barbarei  erscheinende  Geriehts- 


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Die  Beati  Paoli. 


137 


barkeit  der  Heiligen  Feme  zu  erfüllen.1)  So  starb  diese  lang- 
sam ab  und  ihre  letzte  Verhandlung  fand  1 568  zu  Celle  statt. 
Doch  blieben  noch  Spuren  zurück,  bis  endlich  1811  die  fran- 
zösisch-westfälische Gesetzgebung  den  letzten  Freistuhl  (den  von 
Gemen)  aufhob. 

Einer  Überlieferung  zufolge  wurden  viele  der  von  der 
Feme  zum  Tod  verurteilten  Personen  durch  das  »Küssen  der 
Marienstatue"  hingerichtet.  Das  Gericht  beauftragte  das  Opfer, 
das  in  einem  Kellergewölbe  untergebrachte  bronzene  Standbild 
der  Heiligen  Jungfrau  zu  küssen.  Bei  der  ersten  Berührung 
öffnete  sich  die  riesige  Statue  mittels  einer  Flügelthür  und  der 
Unglückliche  wurde  durch  einen  Mechanismus  hineingeschoben, 
worauf  sich  die  Thür  wieder  schlofs.  Das  enge  Innere  war  mit 
scharfen,  spitzen  Pflöcken,  Nägeln  und  Klingen  besät,  die  den 
Verurteilten  zerstachen  und  zerschnitten,  während  eine  Vorrich- 
tung an  der  Thür  ihm  die  Augen  zerstörte.  Nach  kurzer  Zeit 
öffnete  sich  eine  Fallthür,  durch  welche  er  in  eine  cylindrische 
Vorrichtung  fiel,  in  der  er  von  scharfen  Messern  noch  ärger  zu- 
gerichtet wurde.  Dann  fiel  er  in  noch  zwei,  immer  engere 
Cylinderpaare,  die  ihn  in  kleine  Stückchen  zerhackten,  welche 
schliefslich  in  einen  Bach  fielen,  der  sie  wegschwemmte. 


Die  Beati  Paoli. 

Diese  siciliaijische  Gesellschaft  hüllte  sich  in  so  dichtes 
Geheimnis,  dafs  wir  nur  äufserst  wenig  von  ihr  wissen.  Nicht 
nur  auf  Sicilien  erregte  sie  Schrecken,  sondern  auch  in  Kalabrien, 
wo  sie  zuerst  entdeckt  und  von  den  Lehnsmännern,  die  ihre 
Macht  durch  sie  bedroht  sahen,  in  grausamer  Weise  unterdrückt 
wurde.  Der  beim  Volk  sehr  beliebte  Bund,  welcher  den  Über- 
griffen des  Königtums  und  des  Adels  entgegenarbeitete,  vergafs 
sich  zuweilen,  verlor  die  Selbstbeherrschung  und  machte  sich 
verwerflicher  Handlungen  schuldig  — ganz  wie  die  Heilige  Feme, 


')  Was  die  Mifsbräuche  betrifft,  so  findet  man  das  Beste  darüber 
in  Theodor  Lindners  erschöpfendem  Buch,  das  nicht  weniger  als  670  eng- 
bedruckte Seiten  umfafst.  Er  hebt  namentlich  hervor,  dafs  hochstehende 
oder  einflufsreiche  Verurteilte  es  in  ihrer  Macht  hatten,  das  Femurteil 
durch  einen  andern  Freistuhl  aufheben  zu  lassen,  und  dafs  der  Bestand 
der  Feme  vielen  Schurken  Gelegenheit  gab,  ehrliche  Menschen  ins  Un- 
glück zu  stürzen.  An  der  Ftand  amtlicher  Urkunden  weist  Lindner  nach, 
dafs  es  zur  Blütezeit  der  Feme  mit  der  öffentlichen  Ordnung  am  aller- 
ärgsten bestellt  war.  Er  meint,  dafs  die  Feme  später  die  Rechtsprechung 
nur  noch  mehr  verwirrte,  statt  sie  zu  verbessern  und  zu  klären. 


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138  Geheimgerichte. 

mit  der  er  auch  in  Verbindung  stand.  Aber  obgleich  seine 
Satzungen  denen  der  westfälischen  Vereinigung  ähnelten,  ist  sein 
eigentlicher  Ursprung  in  jener  geistig- religiösen  Bewegung  zu 
suchen,  die  wir  im  V.  Buch  geschildert  haben  und  aus  welcher 
die  romfeindliche  Thätigkeit  der  Albigenser  und  vieler  anderen 
Ketzersekten  hervorging.  Einer  jener  Ketzer  war  der  Abt  Gio- 
achimo  oder  Giovacchino,  dessen  Weissagungen  und  seltsame 
Aussprüche  sich  in  Johannes  von  Parmas  Buch  »Das  ewige 
Evangelium“  wiederfinden,  an  welches  sich  die  sicilianischen 
Geheimrichter  zu  halten  pflegten.  Dieses  Sammelsurium  von 
gnostischen  und  kabbalistischen  Absonderlichkeiten  *)  wurde  von 
den  Beati  Paoli  dem  Alten  und  dem  Neuen  Testament  vorge- 
zogen. Statt  an  den  Dualismus  Gott-Teufel  zu  glauben,  machten 
sie  Gott  zum  Schöpfer  des  Obels  und  des  Todes  — des  Übels, 
weil  er  den  geheimnisvollen  Apfel  in  den  mystischen  Garten 
(Paradies)  gelangen  liefs;  des  Todes,  weil  er  die  Sintflut  an- 
ordnete und  Sodom  und  Gomorrha  zerstörte. 

Fast  alles,  was  wir  über  die  Beati  Paoli  wissen,  verdanken 
wir  dem  im  Jahre  1 840  veröffentlichten  und  noch  wenig  bekannt 
gewordenen  Bericht  eines  sicilianischen  Schriftstellers.  Derselbe 
ist  sehr  interessant  und  sei  hier  auszugsweise  mitgeteilt: 

»Anno  1185,  bei  der  Hochzeitsfeier  der  Prinzessin  Kon- 
stanze  von  Sicilien,  die  den  nachmaligen  Kaiser  Heinrich  VI. 
heiratete,  wurde  das  Dasein  einer  neuen,  lästerlichen  Sekte  ent- 
deckt, die  sich  »Rächer«  nannte  und  in  ihren  nächtlichen  Ver- 
sammlungen jedes  unter  dem  Vorwände  des  Gemeinwohls  be- 
gangene Verbrechen  guthiefs.  Der  König  ordnete  eine  strenge 
Untersuchung  an;  das  Oberhaupt,  ein  gewisser  Arnulf  aus  Ponte 
Corvo,  wurde  verhaftet  und  nebst  seinen  Hauptmitschuldigen 
zum  Henkertod  verurteilt,  während  die  minder  Schuldigen  mit 
Brandmarkung  davonkamen.  Das  gemeine  Volk  glaubt,  dieser 
geheime  Rächerbund  bestehe  noch  heute  auf  Sicilien  und  ander- 
wärts, und  zwar  unter  dem  Namen  »Beati  Paoli".  Einige  Elende 
gehen  selbst  soweit,  diese  frevelhafte  Gesellschaft  zu  lobpreisen. 
Besonders  viele  Mitglieder  hatte  sie  in  Palermo,  darunter  den 
am  17.  Dezember  1704  gehenkten  Josef  Amatore  und  den  am 


')  Johannes  von  Parma  lebte  im  12.  Jahrhundert  und  sein  genanntes 
Buch  wurde  12S8  auf  Anordnung  Papst  Alexanders  IV.  öffentlich  ver- 
brannt. — Der  Cistercienserabt  Gioachimo  genofs  den  Ruf  eines  grofsen 
Propheten;  Richard  I.  jedoch,  der  seine  Bekanntschaft  gesucht  hatte,  er- 
klärte ihn  nach  längerem  Gespräch  für  einen  »müfsigen  Schwätzer“  und 
keine  seiner  Weissagungen  in  betreff  der  Ereignisse  im  Heiligen  Land 
ging  in  Erfüllung.  Doch  scheint  er  nicht  unbegabt  gewesen  zu  sein. 
Er  schrieb  viele  theologische  Werke  und  Dante  erwähnt  ihn  im  12.  Ge- 
sang des  »Paradieses“. 


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Die  Beati  Paoli. 


t39 


27.  April  1725  Hingerichteten  Rechnungsrevisor  Oirolanio  Am- 
mirata.  Die  meisten  Mitglieder  endeten  böse:  entweder  durch 
die  Hand  der  Gerechtigkeit  oder  durch  die  Dolche  ihrer  eigenen 
Bundesgenossen.  Das  letzte  Mitglied  war  der  berüchtigte  paler- 
mitanische  Fuhrmann  Vito  Vituzzo,  der  dem  Galgen  entging, 
weil  er  rechtzeitig  vom  Übclthun  abliefs  und  nachmals  den 
ganzen  Tag  in  einer  Kirche  verbrachte,  was  ihm  den  Spitznamen 
»Kirchenmaus“  eintrug.  Die  Lehrmeister  der  schändlichen  Beati 
Paoli  waren  abtrünnige  Ketzer,  die  da  behaupteten,  dafs  die 
Macht  des  Hohepriestertums  ihnen  durch  die  Offenbarung  eines 
Engels  übertragen  worden  sei.  Das  Haus,  in  welchem  sie  ihre 
Versammlungen  abhielten,  steht  noch  jetzt  in  der  Canceddistrafse, 
und  ich  habe  es  besucht.  Durch  einen  Thorweg  gelangt  man 
in  einen  Hof,  unterhalb  dessen  sich  das  einstige  Zusammen- 
kunftsgewölbe befindet,  welches  durch  ein  im  Pflaster  angebrach- 
tes Gitter  das  Tageslicht  empfängt.  Am  Fufse  der  Treppe  sieht 
man  einen  Steinaltar,  neben  diesem  eine  kleine,  finstere  Kammer 
mit  einem  steinernen  Tisch,  auf  dem  die  mörderischen  Richter 
ihre  Urteile  ausfertigten.  Die  ziemlich  grofse  Haupthöhle  ist 
mit  steinernen  Wandbänken  und  mit  Verschlagen  für  die  Waffen 
versehen.  Die  Versammlungen  wurden  nachts  bei  Kerzenlicht 
abgehalten.  Die  Ableitung  des  Namens  »Beati  Paoli“  [wörtlich 
»gesegnete  Paulusse“)  ist  unbekannt.  Wahrscheinlich  hiefs  der 
Gründer  der  Sekte  Paul  oder  er  nahm  diesen  Namen  als  den 
eines  Heiligen  an,  der  vor  seiner  Bekehrung  ein  Mann  des 
Schwertes  war". 

Trotz  der  schlimmen  Meinung,  die  der  Verfasser  dieses 
Berichtes  von  dem  Geheimbund  hat,  scheint  dieser  dereinst  eine 
nützliche  Thätigkeit  entfaltet  zu  haben,  denn  noch  jetzt  hört  man 
nicht  selten  einen  Sicilianer,  der  eine  Unbill  erlitten  hat,  wegen 
welcher  er  sich  nicht  an  die  ordentlichen  Gerichte  wenden  kann, 
ausrufen:  »Ja,  w-enn  die  Beati  Paoli  noch  bestünden!" 


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140 


Geheimgerichte. 


Die  Inquisition. 


Hohes  Alter  der  geistigen  Inquisition.  — Gründung  der  formalen  Inqui- 
sition. — Das  Konzil  von  Tours.  — Dominique  de  Guzman.  — Die  .Miliz 
Christi."  — Ausbreitung  der  Inquisition.  — Torquemada.  - Umfang  der 
Thätigkeit.  — Gerichtsverfahren.  — Beschaffenheit  der  Kerker.  — Nicht- 
Öffentlichkeit  der  Verhandlungen.  — Folterung  ohne  Blutvergiefsen.  — 
Der  Inquisitionspalast.  — Die  Folterkammer.  — Allerlei  Folterungsarten.  - 
Verurteilung  und  Hinrichtung.  — Autodafe-Umzug.  — Peter  Ärbues.  — 
Die  Judenaustreibung.  — Die  Nachfolger  Torquemadas.  — Philipp  II.  und 
die  Inquisition.  — Die  Inquisition  unter  Philipp  III.,  Philipp  IV.  und 
Karl  II.  — Aufhebung  der  Inquisition  durch  Napoleon  I.  — ihre  Wieder- 
einführung. — Ihre  endgültige  Beseitigung.  — Der  falsche  Nuntius  in 
Portugal.  — Reinwaschungsversuche. 

Zwar  nicht  der  Form,  wohl  aber  dem  Geiste  nach  bestand 
die  Inquisition  seit  den  ältesten  Zeiten  des  Christentums.  Die 
sogen.  Kirchenväter  hörten  nicht  auf,  das  Gift  ihres  Fanatismus 
gegen  Andersgläubige  zu  verspritzen.  Nicht  selten  lagen  sie  sich 
auch  gegenseitig  in  den  Flaaren  und  manchmal  würden  sie, 
wenn  es  in  ihrer  Macht  gestanden  hätte,  gewifs  mit  Vergnügen 
Ketzerverbrennungen  vorgenommen  haben.  Als  Konstantin  »der 
Grofse"  (!)  die  christliche  Kirche  allmächtig  gemacht  hatte,  be- 
gann die  Ketzerriecherei  Triumphe  zu  feiern,  indem  es  zu  wirk- 
lichen Hinrichtungen  kam;  der  Gnostiker  Priscillian  wurde  z.  B. 
auf  Anstiften  des  Heiligen  Augustinus  im  Jahre  385  in  Trier  vom 
Leben  zum  Tode  befördert.  Die  nächsten  sechs  Jahrhunderte 
waren  zu  sehr  mit  Kriegen  und  politischen  Ränken  erfüllt,  als 
dafs  man  Zeit  gehabt  hätte,  sich  um  die  »Ketzer«  zu  kümmern. 
Vom  8.  bis  zum  1 1 . Jahrhundert  gab  es  übrigens  wohl  über- 
haupt keine.  Als  jedoch  Hildebrands  päpstliches  System  zur 
vollen  Ausgestaltung  gelangte  und  sich  unterfing,  alles  religiöse 
Denken  beherrschen  zu  wollen,  erhob  sich  viel  Widerspruch, 
d.  h.  »Ketzerei"  und  damit  begannen  die  Ketzerverfolgungen 
von  neuem.  Die  Entscheidung  Papst  Urbans  II.,  dafs  die  Er- 
mordung einer  mit  dem  Kirchenbann  behafteten  Person  kein 
Verbrechen  bilde,  wurde  zum  bürgerlichen  Gesetz  erhoben ; des- 
gleichen die  Lehre  des  Heiligen  Augustin,  dafs  die  Ausrottung 
der  Ketzer  der  Kirche  gegenüber  Pflicht  und  an  den  Ketzern 
selber  ein  gutes  Werk  sei.  Der  „engelgleiche  Doktor,“  Thomas 
von  Aquino  (1 224  — 74),  legte  die  Worte  des  Apostels,  dafs  man 
den  Umgang  mit  zweimal  ermahnten  Ketzern  meiden  solle,  dahin 
aus,  die  beste  Art  der  Vermeidung  bestehe  in  der  Verbrennung! 
Diese  Lehren  fanden  bei  den  Königen  und  der  Geistlichkeit  so 


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Die  Inquisition. 


14t 


viel  Anklang,  dafs  die  Zahl  der  lebendig  Verbrannten  eine  immer 
gröfsere  wurde. 

1 163  tagte  zu  Tours  ein  Konzil,  das  der  Inquisition  greifbare 
Gestalt  verlieh,  um  »die  verfluchte  Ketzerei,  die  sich  in  der  Um- 
gebung von  Tours  zeigte,  mit  aller  Strenge  der  Kirchengesetze 
zu  unterdrücken  - eine  Pflicht  der  Bischöfe.“  35  Jahre  später 
schickte  Innocenz  111.  die  ersten  Wander-Inquisitoren  nach  Frank- 
reich mit  der  Vollmacht,  über  Ketzer  zu  Gericht  zu  sitzen. 
Weltliche  und  kirchliche  Fürsten  sollten  diesen  Richtern  dazu 
verhelfen,  »die  Füchse  (Waldenser,  Katharer,  Patarini)  einzu- 
fangen, die  der  Satan  zur  Verwüstung  des  Weinberges  des  Herrn 
ausgesandt  hat."  Die  »Hilfe“  war  eine  ungemein  kräftige  und 
die  beiden  Inquisitoren  konnten  daher  eine  umfassende  Thätig- 
keit  als  Ketzerverbrenner  entfalten.  Aber  nicht  nur  in  Frank- 
reich, sondern  überall,  wo  die  Hand  der  Päpste  sie  erreichen 
konnte,  wurden  Ketzer  verfolgt,  namentlich  in  Italien,  wo  z.  B. 
der  berühmte  Arnold  von  Brescia  im  Gefängnis  erdrosselt  und 
dann  öffentlich  verbrannt  wurde,  weil  er  gegen  die  Verbrechen 
des  Heiligen  Stuhls  gepredigt  hatte. 

Den  Anstofs  zur  Einrichtung  der  eigentlichen  (»Heiligen“) 
Inquisition  gab  die  Ermordung  Peters  von  Castelnau  durch  die 
Albigenser,  gegen  die  er  predigte.  Sobald  sein  Tod  ruchbar 
wurde,  sprach  man  ihn  heilig  und  das  vierte  lateranische  Konzil 
(1228)  genehmigte  und  organisierte  auf  Vorschlag  Honorius'  II. 
die  Inquisition,  deren  Grundgedanke  von  Dominique  de  Guz- 
man,  dem  Stifter  des  Dominikanerordens,  herrührte.  Das  Konzil 
befahl,  dafs  jeder  Ketzer  dem  Arm  der  Gerechtigkeit  ausgeliefert 
und  sein  Vermögen  zu  Gunsten  der  Kirche  eingezogen  werde. 
Der  Papst  forderte  die  Monarchen  auf,  alle  Ketzer  aus  ihren 
Staaten  zu  vertreiben,  widrigenfalls  er  die  letzteren  jedem  be- 
liebigen Eroberer  überantworten  werde.  Wer  Ketzer  irgendwie 
begünstigte  oder  in  sein  Haus  aufnahm,  sollte  in  Bann  gethan 
und  ehrlos  erklärt  werden,  nicht  erben  können  und  kein  christ- 
liches Begräbnis  erhalten.  Guzman,  der  sich  auf  seine  Domini- 
kaner wegen  ihres  allzu  gewalttätigen  und  daher  leicht  schäd- 
lichen Fanatismus  nicht  genügend  verlassen  zu  können  glaubte, 
richtete  eine  besondere  »Miliz  Christi“  ein,  eine  Art  Religions- 
polizei, die  sich  aus  allen  Gesellschaftsklassen  vom  Hochadel  bis 
zum  Strafsenräuber  zusammensetzte.  Diese  unsichtbar  wirkende 
Denunziantenbande,  in  der  Narren  und  Verbrecher  die  Haupt- 
rollen spielten,  bildete  das  geheime  Element  der  Inquisition  und 
sie  leistete  Entsetzliches. 

Zunächst  hauptsächlich  in  Spanien  thätig  (seit  1233),  machte 
die  Inquisition  bald  auch  in  Italien  und  Deutschland  Fortschritte. 
Anno  1308  verfolgte  sie  den  Templerorden  aufs  grausamste. 


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142 


Geheirngerichte. 


1415  verbrannte  sie  in  Konstanz  Johannes  Hufs.  Überhaupt 
gab  es  immer  mehr  öffentliche  Verbrennungen,  namentlich  in 
Spanien.  Hier  blieb  sie  lange  auf  Arragonien  beschränkt.  Aber 
Ferdinand  führte  sie  1481  auch  in  Kastilien  und  allmählich  in 
allen  seinen  Staaten  ein.  Er  hatte  guten  Grund,  sie  zu  begün- 
stigen. War  er  doch  immer  geldbedürftig  und  die  Inquisition 
bot  ihm  ein  Drittel  des  Erlöses  alles  eingezogenen  Eigentums 
an;  auch  versprach  sie  ihm  einen  grofsen  Teil  der  Reichtümer 
der  spanischen  Juden.  Dazu  kam,  dafs  sie  ihn  insgeheim  von 
vielen  der  jederzeit  gegen  ihn  verschwornen  arragonischen  und 
kastilischen  Adeligen  befreite  und  dafs  er  — Ferdinand  — durch 
die  Unterdrückung  der  Ketzerei  dem  Himmel  zu  dienen  glaubte. 
Auch  Isabella  war  der  Inquisition  wohlgeneigt  - so  sehr,  dafs 
sie  den  Papst  bewog,  die  in  Spanien  gefällten  Urteile  inappellabel 
zu  erklären. 

Sixtus  IV.  ernannte  1483  den  bösartigen  Fanatiker  Thomas 
de  Torquemada  zum  ersten  Grofs-Inquisitor  von  Spanien.  Dieser 
berüchtigte  Mann,  der  achtzehn  Jahre  im  Amt  blieb,  verurteilte 
alljährlich  durchschnittlich  zehntausend  Personen  zum  Hunger-, 
Feuer-  oder  Foltertod.  In  den  ersten  sechs  Monaten  seiner 
mörderischen  Thätigkeit  liefs  er  in  Sevilla  allein  fast  dreihundert 
»Marranos“  (getaufte  Juden  oder  Mauren)  verbrennen  und  siebzig 
auf  Lebenszeit  einkerkern.  In  derselben  kurzen  Zeit  wurden  im 
übrigen  Spanien  zweitausend  Marranos  lebendig  verbrannt  Die 
Zahl  seiner  sonstigen  Opfer  im  ersten  Halbjahr  betrug  17  000!! 
Er  war  so  verabscheut,  dafs  er  sich  beim  Ausgehen  stets  von 
250  Vertrauten  begleiten  liefs  und  aus  Furcht  vor  Vergiftung 
immer  das  Horn  eines  Einhorns  auf  seinem  Tisch  liegen  hatte, 
weil  dasselbe  nach  einem  maurischen  Aberglauben  die  Eigen- 
schaft besitzen  sollte,  Gifte  zu  entdecken  und  unwirksam  zu 
machen.  Seine  Grausamkeiten  hatten  so  viele  Klagen  im  Gefolge, 
dafs  selbst  der  Papst  überrascht  war  und  ihn  dreimal  zur  Recht- 
fertigung verhielt.  Unter  seinem  Walten  fanden  besonders  in 
Sevilla  so  zahlreiche  Hinrichtungen  statt,  dafs  der  dortige  Präfekt 
behufs  leichterer  Bewältigung  des  »Dienstes"  auf  den  Gedanken 
kam,  aufserhalb  der  Stadt  ein  ständiges  Steingerüst  errichten  zu 
lassen,  auf  dem  sich  vier  Riesenstandbilder  aus  Gips  befanden, 
die  innen  hohl  waren  und  die  Bestimmung  hatten,  die  Verurteilten 
aufzunehnien;  diese  wurden  hier  wie  in  einer  Darre  langsam  zu 
Tode  geröstet!  Die  Trümmer  dieses  Gerüstes,  welches  »que- 
madero*  (=  Krematorium)  hieTs,  wurden  noch  1823  gezeigt. 

Was  das  sogenannte  Gerichtsverfahren  betrifft,  so  begann  es 
mit  einer  mündlichen  oder  schriftlichen  Angeberei,  wobei  gleich- 
giltig  war,  aus  welch  immer  unreinen  Quelle  dieselbe  stammte. 
Alljährlich  am  dritten  Fastensonntag  wurde  in  den  Kirchen  das 


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Die  Inquisition. 


143 


„Denunziations-Edikt“  verlesen,  das  den  Gläubigen  an  die  Seele 
band,  der  Inquisition  binnen  sechs  Tagen  bei  Strafe  des  grofsen 
Bannes  alle  zu  ihrer  Kenntnis  gelangten,  dem  reinen  Glauben 
zuwiderlaufenden  Thatsachen  mitzuteilen.  Die  Angeber  blieben 
nicht  unbelohnt  Wer  ein  so  guter  Christ  war,  dafs  er  seinen 
Vater,  Sohn  oder  Bruder  oder  einen  anderen  nahen  Verwandten 
anzeigte,  erhielt  von  den  Päpsten  einen  vollständigen  Ablafs. 
Karl  V.  gewährte  jedem,  der  entweder  zehn  Ketzer  denunziert 
hatte  oder  ein  Familiaris  der  Inquisition  - die  sich  „Heiliges 
Amt*  nannte  — geworden  war,  Befreiung  von  allen  Steuern  und 
Fronarbeiten.  Wegen  der  unglaublichsten  Nichtigkeiten  wurde 
man  der  Ketzerei  verdächtigt.  Wer  am  Samstag  ein  frisches 
Tischtuch  auflegen  liefs,  galt  für  einen  Judenfreund;  legte  man 
eins  am  Freitag  auf,  setzte  man  sich  dem  Verdacht  aus,  zum  Mo- 
hammedanismus hinzuneigen.  Wer  bei  Juden  speiste  oder  - 
nach  jüdischem  Brauch  - am  Vorabend  einer  Reise  in  Gesellschaft 
von  Freunden  zu  Abend  afs  oder  wer  ein  Horoskop  stellte, 
konnte  leicht  verurteilt  werden.  Der  Sevillaner  Bürger  Wilhelm 
Franco  wagte  nicht,  dagegen  aufzutreten,  dafs  ein  Priester  seine 
Gattin  verführt  hatte;  er  äufserte  nur,  sein  Weib  sei  im  Fege- 
feuer, aber  das  genügte,  um  ihm  die  lebenslängliche  Einkerkerung 
im  Inquisitionsgefängnis  einzutragen. 

Die  Verhaftungen  erfolgten  gewöhnlich  nachts  und  die 
Opfer  wurden  in  Wagen  davongeführt,  deren  Räder  mit  Leder- 
reifen versehen  waren , während  die  vorgespannten  Maultiere 
Schnürschuhe  anhatten,  deren  aus  Tauwerk  und  dickem  Leder 
bestehende  Sohlen  das  Herannahen  des  Gespanns  unhörbar 
machten.  Diese  Schuhe  waren  eine  Erfindung  Dezas,  des  zweiten 
Grofsinquisitors,  und  eine  Anzahl  derselben  fand  sich  im  In- 
quisitions-Arsenal zu  Malaga-  vor,  als  es  1820  gewaltsam  ge- 
öffnet wurde.  Der  Gefangene  gelangte  zumeist  sofort  in  die 
unterirdischen  Kerker  der  Inquisition  und  sein  Besitz  unter 
Sequester.  Sehr  selten  erhielt  er  etwas  zurück  oder  wurde  er 
selbst  wieder  in  Freiheit  gesetzt.  Allerdings  schrieben  die 
Satzungen  des  „Heiligen  Amtes"  die  Entlassung  eines  Angeklagten 
für  den  Fall  vor,  dafs  zwölf  Zeugen  von  rein  katholischem  Blut 
zu  seinen  Gunsten  aussagten;  aber  es  gelang  nur  ganz  aus- 
nahmsweise, zwölf  solche  Zeugen  zusammen  zu  bringen,  denn 
wer  sich  für  einen  Verdächtigen  einsetzte,  lief  Gefahr,  selber  für 
einen  Ketzer  gehalten  oder  doch  als  ein  solcher  angeschuldigt 
zu  werden. 

Die  Zellen  befanden  sich  zuweilen  dreifsig  Fufs  unter  der 
Erde,  mafsen  weniger  als  hundert  Quadratfufs  und  beherbergten 
zuweilen  je  acht  bis  zehn  Häftlinge!  Die  ganze  Einrichtung 
bestand  aus  einer  Lattenpritsche  und  einem  Unratgefäfs,  das 


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m Qeheimgerichte. 

nur  ein-  bis  zweimal  wöchentlich  geleert  wurde.  Niemand  durfte 
sich  beschweren,  wenn  er  nicht  geknebelt  und  gepeitscht  werden 
wollte.  Unter  solchen  Umständen  kamen  begreiflicherweise  viele 
Selbstmorde  vor.  Noch  1819  nahmen  sich  zu  Valencia  die 
sechs  Insassen  einer  Zelle  das  Leben,  indem  sie  einander  er- 
drosselten, während  der  letzte  sich  durch  das  Einatmen  der 
giftigen  Ausdünstungen  des  Unratgefässes  umbrachte.  Manche 
Häftlinge  liefs  man  verhungern ; andere  blieben  jahrelang  in  einer 
Zelle,  ohne  dafs  es  zu  einer  Verhandlung  gegen  sie  kam.  Wenn 
jemand  verschwand,  mutmafsten  seine  Verwandten  und  Freunde, 
er  sei  der  Inquisition  in  die  Hände  gefallen. 

Kam  aber  ein  Häftling  vor  die  Inquisitoren,  so  mufste  er 
in  ihrer  Gegenwart  auf  der  scharfen  Kante  eines  von  zwei  X ge- 
tragenen dreieckigen  Holzstückes  sitzen.  Die  Verhandlungen  waren 
angeblich  öffentlich ; in  Wirklichkeit  war  das  Publikum  ein  ein- 
geladenes und  bestand  aus  verläßlichen,  »guten“  Katholiken. 
Wie  schwindelhaft  die  satzungsmäfsige  Öffentlichkeit  war,  geht 
aus  dem  Umstand  hervor,  dafs  die  Marranos  dem  König  Ferdinand 
vergeblich  600000  Dukaten  dafür  anboten,  dafs  er  die  Verhand- 
lungen wirklich  öffentlich  seia  lasse;  der  Grofsinquisitor  Ximenes 
bewirkte  die  Ablehnung  des  Anerbietens  und  später  — unter 
Karl  V.  — auch  die  Zurückweisung  des  erhöhten  Angebots  von 
800000  Dukaten,  für  jene  Zeit  eine  ungeheure  Summe. 

Das  Empörendste  ist,  dafs  der  Gefangene  ermahnt  wurde, 
zu  gestehen,  ohne  dafs  man  ihm  mitteilte,  wessen  er  beschuldigt 
war!  Wulste  er  nicht,  was  er  bekennen  sollte  oder  stimmte  sein 
Geständnis  nicht  mit  der  gegen  ihn  erstatteten  Anzeige  überein, 
so  brachte  man  ihn,  um  ihm  das  gewünschte  Geständnis  zu  er- 
pressen, in  die  Folterkammer.  Da  die  Inquisitoren  zu  „fromm“ 
waren,  um  Christi  Verbot  des  Blutvergiefsens  zu  mißachten,  er- 
sannen sie  die  höllischsten  Martern,  bei  denen  kein  Blut  floß, 
die  Gefolterten  aber  dennoch  beinahe  - und  oft  wirklich  - 
umkamen.  Die  Inquisitoren  leugneten  nicht,  daß  auch  Un- 
schuldige unter  der  Folter  sterben  können;  aber  sie  meinten, 
das  schade  nicht,  denn  ein  wirklich  guter  Katholik  komme  ja 
doch  sofort  ins  Himmelreich ! 

Der  „Inquisitionspalast"  umfaßte  den  Gerichtesaal,  die 
Beamtenbureaux,  die  Kerkerzellen,  die  sogen.  Barmherzigkeits- 
oder Bufszellen,  die  Folterkammern,  endlich  die  Wohnung  des 
Großinquisitors.  War  ein  Gefangener  reich,  so  wurde  er  zuerst 
in  eine  der  Barmherzigkeitszellen  gebracht,  die  im  ersten  Stock- 
werk lagen.  Verstand  er  sich  dazu,  sein  ganzes  Vermögen  der 
Inquisition  zu  überlassen,  se  entließ  man  ihn  nach  mehrmonat- 
licher Haft,  arm  an  Mammon,  aber  reich  an  geistlicher  Gnade. 
Ließ  er  sich  nicht  so  leicht  „bekehren",  so  kam  er  in  eine 


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Die  Inquisition. 


145 


Bufszelle  (unter  dem  Dach  des  Palastes),  die  nur  sehr  wenig 
Licht  hatte  und  deren  ganze  Einrichtung  in  einem  Rollbett  und 
einem  Schemel  bestand.  Blieb  eine  längere  Einzelhaft  ohne  den 
gewünschten  Erfolg,  so  wurde  der  Unglückliche  in  eine  unter- 
irdische, fast  ganz  finstere  Kerkerzelle  mit  Doppelthüren  und 
fünf  Fufs  dicken  Mauern  gebracht.  Das  Unratgefäfs  leerte  man 
nur  jeden  vierten  Tag.  Wie  die  Nahrung  beschaffen  war,  läfst 
sich  an  der  Thatsache  ermessen,  dafs  für  jeden  Häftling  kaum 
8 Pfennig  pro  Tag  ausgesetzt  waren,  worin  überdies  der  Gewinn 
des  Kerkermeisters  mit  inbegriffen  sein  mufste! 

Was  die  Folterkammern  betrifft,  so  war  besonders  die  des 
päpstlichen  Palastes  zu  Avignon  mit  teuflischem  Scharfsinn  ein- 
gerichtet. Das  Jammern  und  Stöhnen  der  Gemarterten  wurde 
durch  allerlei  sinnreiche  Einrichtungen  nach  aufsen  hin  unhörbar 
gemacht,  und  die  Verbrennung  der  Verurteilten  erfolgte  in  einem 
grofsen  Rundsaai,  der  einem  Glasofen  ähnelte  und  oben  in 
einen  engen,  trichterförmigen  Schornstein  auslief.  Dieser  Bau 
wurde  bis  zum  Jahre  1850  den  durchreisenden  Fremden  gezeigt, 
seither  aber  auf  Befehl  der  Kirchenbehörden  gesperrt  Mit  Recht, 
denn  er  zeigte  die  Kirche  in  einem  allzu  häfslichen  Licht. 

Die  Inquisition  wendete  in  der  Regel  eine  Gruppe  von 
dreierlei  Foltern  an : die  Strick-,  die  Wasser-  und  die  Feuerfolter. 
Bei  der  ersteren  wurden  dem  Opfer  die  Arme  nach  hinten  ge- 
bunden, und  zwar  mittels  des  einen  Endes  eines  langen  Seils, 
das  über  eine  an  der  Decke  angebrachte  Riemenscheibe  lief. 
Nun  hob  ihn  das  Seil  hoch  in  die  Höhe,  wodurch  die  Arme 
über  dem  Kopf  zusammengekrümmt  und  die  Schultergelenke  aus- 
gerenkt wurden.  Plötzlich  gab  der  Strick  nach  und  der  Ge- 
marterte fiel  bis  etwa  einen  Schuh  vom  Boden,  was  die  Gelenk- 
pfannen fast  ausrifs  und  den  ganzen  Körper  furchtbar  erschütterte. 
Zuweilen  erfolgte  eine  Verschärfung  dieser  Qualen  dadurch,  dafs 
während  des  Aufzugs  der  Rücken  des  Opfers  mit  einer,  mit 
scharfen  Spitzen  besetzten  Walze  in  Berührung  kam  und  dadurch 
schrecklich  zerfleischt  wurde.  In  Spanien  dauerte  die  Strick- 
folter eine  ganze,  in  Rom  eine  halbe  Stunde.  Eine  andere  Art 
derselben  bestand  darin,  dafs  man  den  Gefangenen  auf  einem 
hölzernen  Lager  befestigte,  ihm  Arme  und  Beine  mit  dünnen 
Seilen  umwand  und  dann  diese  mit  Hilfe  von  Winden  so  stramm 
anzog,  dafs  sie  tief  ins  Fleisch  schnitten. 

Wer  trotz  der  Strickfolter  standhaft  blieb,  wurde  der  Wasser- 
folter unterworfen,  und  zwar  gewöhnlich  noch  in  der  Strickfolter- 
stellung! Man  bedeckte  ihm  Nase  und  Mund  mit  einem  dicken 
Tuch,  auf  welches  ein  Dominikaner  durch  einen  Trichter  langsam 
Wasser  schüttete.  Das  Opfer  erstickte  langsam,  das  Blut  trat 
ihm  aus  den  Augen  und  der  Nase  und  dabei  ermahnte  ihn  sein 

Heckethorn-Kattcher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  10 


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146 


Geheimgerichte. 


satanischer  Peiniger  fleifsig,  »dem  Gekreuzigten  zuliebe  zu  ge- 
stehen.“ Gänzlich  ersticken  liefs  er  es  freilich  nicht;  vielmehr 
wurde  bald  zur  Feuerfolter  geschritten.  Nachdem  man  den  Häft- 
ling auf  den  Boden  gelegt  und  wehrlos  gemacht  hatte,  ent- 
blöfste  man  seine  Sohlen,  rieb  sie  mit  Öl  oder  Fett  ein  und 
hielt  eine  tragbare  Flamme  dagegen.  Erklärte  er  sich  infolge 
seiner  entsetzlichen  Schmerzen  zu  einem  Geständnis  bereit,  so 
wurde  das  Feuer  entfernt;  fiel  das  Geständnis  nicht  befriedigend 
aus,  so  wurde  es  wieder  angelegt  und  marterte  den  Unglück- 
lichen noch  mehr.  Der  Inquisitor  Juan  de  Roma  wendete  eine 
andere  Feuerfolter  an : er  liefs  die  Beine  der  Angeklagten  in  mit 
kochendem  Talg  gefüllte  Stiefel  stecken. 

Zu  den  schuftigsten  Erfindungen  der  Inquisition  gehörte 
die  Art,  wie  sie  die  Vorschrift  umging,  dafs  niemand  mehr  als 
einmal  gefoltert  werden  dürfe.  Wenn  man  sah,  dafs  bei  an- 
dauernder Fortsetzung  der  Tortur  das  Opfer  voraussichtlich  sterben 
würde,  hielt  man  einfach  inne  und  erklärte,  die  Folterung  in  der 
Schwebe  zu  lassen.  Sie  wurde  begonnen,  aber  nicht  beendet, 
sondern  nur  »unterbrochen"  und  von  Zeit  zu  Zeit  nach  Belieben 
»fortgesetzt“.  Auch  weibliche  Personen  wurden  gefoltert  — 
ohne  Rücksicht  auf  ihre  Schwäche  oder  ihr  Schamgefühl.  Do- 
minikaner pflegten  nackte  Frauen  wegen  des  geringsten  Disciplinar- 
vergehens  zu  schänden  und  nachher  zu  peitschen!  Der  ver- 
hältnismäfsig  milde  Grofsinquisitor  Ximenes  Cisneros  (1 507  — 1 7) 
-der  übrigens  trotz  seiner  »Milde"  jährlich  über  250  Personen 
lebendig  verbrennen  liefs  — verbot  diese  Niederträchtigkeiten  bei 
Todesstrafe. 

Von  je  zweitausend  Angeklagten  entging  nur  einer  (also 
'/jo  °l oO  der  Verurteilung  zum  Tode  oder  zu  lebenslänglichem 
Kerker.  Diese  »Glücklichsten“  — man  nannte  sie  die  »Ver- 

söhnten" — mufsten  barhaupt,  einen  Strick  um  den  Hals,  einen 
grünen  Wachsstock  in  der  Hand  und  in  ein  Sanbenito  (ein  sack- 
artiges, häfsliches  Gewand  mit  schwarzen,  gelben  und  weifsen 
Streifen)  gekleidet,  im  Gerichtssaal  oder  in  der  Kirche  erscheinen, 
um  die  ihnen  zugeschriebenen  Ketzereien  abzuschwören.  Sie 
mufsten  das  Sanbenito  sehr  lange  tragen  und  sich  mehreren 
anderen  erniedrigenden,  drückenden  Bedingungen  unterwerfen; 
auch  wurde  ihr  Vermögen  unfehlbar  ganz  oder  gröfstenteils  ein- 
gezogen. Den  zum  Tode  Verurteilten  legte  man  ein  noch  ab- 
scheulicheres Sanbenito  an,  das  mit  dem  von  Flammen  um- 
züngelten und  von  Teufeln  umtanzten  Bildnis  des  Opfers  bemalt 
war;  sie  wurden  dann  von  Mönchen  auf  den  Richtplatz  geführt 
und  in  Gegenwart  des  Grofsinquisitors  — oft  auch  des  Hofes  — 
der  Inquisitionsbeamten  und  einer  Volksmenge  lebendig  verbrannt, 
wenigstens  diejenigen,  welche  ihre  Unschuld  bis  zuletzt  behaup- 


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Die  Inquisition.  H7 

teten,  während  die  Reuigen  unmittelbar  vor  dem  Verbrennen 
»gnadenhalber“  erdrosselt  wurden.  Die  öffentlichen  Ketzerver- 
brennungen kamen  schliefsiich  so  sehr  in  Mode,  dafs  man  in 
Spanien  und  Portugal  die  festlichsten  Anlässe  - Thronbesteigungen, 
Heiraten  von  Königen  oder  Königskindern,  Prinzengeburten  etc. 

— am  liebsten  durch  möglichst  grofse  Autodafes  feierte. 

ln  der  Nacht  vor  einem  Autodafe  begab  sich  eine  Prozession 
von  Holzhauern,  Dominikanern  und  »Vertrauten"  vom  Inquisitions- 
gebäude zum  Richtplatz.  Dort  wurden  Scheiterhaufen  errichtet 
und  neben  dem  bereits  vorhandenen  Altar  ein  grünes  Kreuz 
aufgepflanzt  und  mit  schwarzem  Krepp  verhüllt.  Das  Kreuz 
versinnbildlichte  die  Trauer  der  Kirche  um  die  zu  verbrennenden 
Ketzer.  Nach  seiner  Aufstellung  kehrte  die  Prozession  zurück; 
nur  die  Dominikaner  blieben,  um  zu  beten  und  Psalmen  zu 
singen.  Früh  morgens  erschien  der  Autodafe-Umzug,  in  welchem 
sich  der  Reihe  nach  befanden:  Lanzenträger,  Priester,  Träger  der 
zu  verbrennenden  Bildnisse  von  flüchtig  gewordenen  Ketzern, 
Träger  von  Särgen  mit  den  zu  verbrennenden  Gebeinen  oder 
Leichen  der  im  Gefängnis  verstorbenen  Angeklagten,  die  reuigen 
Ketzer,  die  »verstockten“  Opfer,  alle  in  Sanbenitos,  die  »Ver- 
trauten“, die  Inquisitoren,  endlich  der  Träger  des  Inquisitions- 
banners. Verurteilte,  von  denen  zu  befürchten  stand,  dafs  sie 
die  Menge  ansprechen  könnten,  wurden  geknebelt.  Jeder  »Ketzer“ 
trug  eine  Wachskerze  und  war  von  zwei  Mönchen  begleitet,  die 

— je  nachdem  — ihm  entweder  Trost  zusprachen  oder  ihn  zur 
Reue  ermahnten.  Nach  Ankunft  des  Zuges  wurden  die  Un- 
glücklichen auf  die  Scheiterhaufen  gehoben  und  an  die  in  der 
Mitte  der  letzteren  errichteten  Pfähle  gekettet.  Das  Volk  schrie 
nun:  »Machet  den  Hunden  Bärte!“  Das  geschah,  indem  die 
Henker  den  Opfern  so  lange  mit  brennendem  Heidekraut  um- 
wundene Holzstäbchen  ins  Gesicht  warfen,  bis  dieses  schwarz 
und  versengt  war.  Unter  Karl  V.  wurden  auf  seinen  Befehl 
auch  weibliche  Ketzer  lebend  verbrannt. 

Die  Inquisitoren  begnügten  sich  nicht  immer  mit  der 
blofsen  Verbrennung,  sondern  verschärften  dieselbe  zuweilen 
durch  teuflische  Qualen.  Manchem  Verurteilten  wurde  vor  dem 
Verbrennen  die  Zunge  ausgerissen  oder  in  einen  angemessen 
gespaltenen  Knebel  eingezwickt.  Andere  wurden  zuerst  lebendig 
geschunden,  dann  mit  Salz  und  Bimssteinpulver  bestreut  und 
schliefsiich,  in  Ketten  schwebend,  über  glühenden  Kohlen  lang- 
sam geröstet.  Im  Jahre  1535  gewährten  die  Inquisitoren  Franz 
dem  Ersten,  König  von  Frankreich,  an  einem  einzigen  Tag 
sechsmal  den  Hochgenufs,  Ketzer  über  Flammen  in  Ketten  hin 
und  her  schaukeln  zu  sehen,  bis  der  verkohlte  Leichnam  in  die 
Flammen  fiel. 

io* 


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148 


Geheimgerichte. 


Doch  kehren  wir  zur  Geschichte  der  Inquisition  zurück. 
Die  Bevölkerung  von  Arragonien  hatte  sich  der  Einführung  des 
»Heiligen  Amtes“  von  allem  Anfang  an  heftig  widersetzt  und 
war  aufs  höchste  erbittert  ob  der  Massenverbrennungen.  Um 
die  Inquisitoren  abzuschrecken,  ermordete  man  den  ärgsten  von 
ihnen,  Peter  Arbues,  am  Altar.  Sofort  versetzte  ihn  die  Kirche 
unter  ihre  Märtyrer,  Königin  Isabella  errichtete  ihm  ein  Stand- 
bild, sein  Leichnam  wurde  als  wunderthätig  erklärt  und  im 
19.  Jahrhundert  sprach  Pius  IX.  ihn  heilig.  Statt  abschreckend 
zu  'wirken,  zog  die  Mordthat  eine  Verschärfung  der  Verfolgungen 
der  Inquisition  nach  sich.  Den  verhafteten  Mördern  des  grausamen 
Bedrückers  haute  man,  ehe  sie  gehenkt  wurden,  die  Hände  ab; 
die  Leichen  schnitt  man  in  Stücke,  welche  an  den  Landstrafsen 
zur  Ausstellung  gelangten.  Der  nächste  Schritt  Torquemadas 
war,  das  Königspaar  zur  Vertreibung  der  Juden  aufzufordem. 
Diese  boten,  um  die  Gefahr  abzuwenden,  dem  König  30000 
Dukaten  als  Beitrag  zu  den  Kosten  des  Krieges  mit  Granada 
an.  Ferdinand  und  Isabella  waren  bereit,  hierauf  einzugehen; 
da  erschien  der  fanatische  Grofsinquisitor  mit  einem  Kruzifix  in 
der  Hand  und  sagte  zu  den  Majestäten:  »Judas  verriet  seinen 
Herrn  für  dreifsig  Silberlinge,  Eure  Hoheiten  wollen  ihn  jetzt 
für  dreifsig  Goldstücke  zum  zweitenmal  verkaufen.  Hier  haben 
Sie  ihn,  nehmen  Sie  ihn  hin  und  schliefsen  Sie  das  Geschäft 
rasch  ab!"  Die  Folge  war  das  Dekret  vom  31.  März  1-492, 
welches  verfügte,  dafs  alle  Juden  bei  Todesstrafe  und  Vermögens- 
verlust die  Staaten  des  edlen  Paares  bis  zum  31.  Juli  desselben 
Jahres  verlassen  müssen.  Etwa  800000  Juden  mufsten  fast 
mittellos  auswandern,  da  die  Frist  zu  kurz  war,  um  'den  Besitz 
angemessen  verwerten  zu  können.  Tausende  von  Männern, 
Frauen  und  Kindern  gingen  unterwegs  an  Entbehrungen  und 
Strapazen  zu  Grunde.  Die  bald  nachher  erfolgte  Eroberung 
Granadas  wurde  als  ein  Zeichen  betrachtet,  dafs  der  Himmel 
die  Vertreibung  der  Juden  billige  und  belohne.  Daher  beging 
Ferdinand  zur  Feier  des  Sieges  allerlei  Grausamkeiten. 

Torquemadas  Nachfolger  Deza  führte  die  Inquisition  in 
Granada,  Neapel  und  Sicilien  ein.  ln  den  neun  Jahren  seiner 
Amtsführung  liefs  er  2592  Personen  lebendig  und  829  in  effigie 
verbrennen;  32  000  verurteilte  er  zur  Einkerkerung  oder  zu  den 
Galeeren  und  zur  Gütereinziehung.  Unter  dem  Grofsinquisitor 
Adrian  Boeijeus  und  dessen  Nachfolgern  gab  die  Reformation 
Anlafs  zu  zahllosen  Ketzerverbrennungen  in  Spanien,  Neapel, 
Venedig,  Flandern,  auf  Malta  und  Sardinien,  ln  den  amerika- 
nischen Kolonien  Spaniens  wurden  tausende  von  Indianern  hin- 
gerichtet, weil  sie  sich  weigerten,  die  »milde»  Religion  ihrer 
Unterdrücker  und  Aussauger  anzunehmen  oder  weil  sie  nach 


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Die  Inquisition. 


149 


ihrer  Taufe  verdächtig  waren , wieder  rückfällig  geworden  zu 
sein.  Unter  Valdes,  dem  achten  Grofsinquisitor,  wurde  eine 
sehr  reiche  Greisin  von  neunzig  Jahren  verhaftet,  weil  ein  Diener 
sie  beschuldigt  hatte,  gesagt  zu  haben:  »Es  giebt  Christen,  die 
weder  den  Glauben  noch  das  Gesetz  achten."  Wegen  Mangel 
an  Beweisen  verblieb  sie  fünf  Jahre  lang  in  den  unterirdischen 
Kerkern  der  Inquisition;  dann  unterwarf  man  sie  der  Folter 
durch  Stricke,  Wasser  und  Feuer.  Sie  starb  während  der  Fol- 
terung, worauf  ihre  Leiche  verbrannt,  ihr  ganzes  Vermögen  ein- 
gezogen, ihre  Kinder  enterbt  und  ehrlos  erklärt  wurden.  Sogar 
Karl  V.,  der  die  Inquisition  so  sehr  gefördert  hatte,  wurde  von 
ihr  nach  seinem  Tode  als  Ketzer  verurteilt  und  sein  Beichtvater 
erlitt  den  Feuertod. 

Philipp  II.  dehnte  die  Gerichtsbarkeit  des  »Heiligen  Amtes“ 
auf  die  ganzen  Niederlande  aus.  Trotz  des  Widerstandes  der 
Bevölkerung  konnte  der  Herzog  von  Alba  innerhalb  fünf  Jahren 
18 (XX)  »Ketzer“  verbrennen  oder  henken  lassen.  Als  der  Druck 
unerträglich  wurde,  erhob  sich  das  Land  und  schüttelte  das 
spanische  Joch  auf  immer  ab.  Als  Philipp  erfuhr  (1559),  dafs 
in  einer  entlegenen  Stadt  bei  einem  Autodafe  dreifsig  Personen 
verbrannt  worden  waren,  bat  er  die  Inquisitoren,  ihm  doch  auch 
den  Genufs  eines  solchen  Schauspiels  zu  verschaffen;  man  suchte 
nun  nach  Ketzern  mit  solchem  Eifer,  dafs  der  König  schon  nach 
wenigen  Wochen  in  Valladolid  sogar  vierzig  Unterthanen  zu 
seiner  Freude  auf  einmal  verbrennen  sehen  konnte.  Eines  der 
Opfer,  eine  hervorragende  Persönlichkeit,  flehte  ihn  auf  dem 
Weg  zum  Marterpfahl  um  Gnade  an.  »Nein!“  lautete  die  Ant- 
wort. »Selbst  meinen  eigenen  Sohn  würde  ich  den  Flammen 
überliefern,  wenn  er  bei  der  Ketzerei  beharrte."  Während  der 
langen  Regierungszeit  dieser  gekrönten  Hyäne  amtierten  sechs 
Grofsinquisitoren , einer  ärger  als  der  andere.  Eines  Tages 
wurden  in  Sevilla  800  Anhänger  Luthers  — wirkliche  oder  an- 
gebliche auf  einmal  verhaftet.  Auch  in  Peru,  Mexiko,  Car- 
tagena, in  der  spanischen  Flotte,  im  Heer  und  sogar  unter  den 
Zollbeamten  gelangte  die  Inquisition  zur  Einfühning.  1680  wurde 
zu  Ehren  der  Hochzeit  Karls  II.  mit  einer  Nichte  Ludwigs  XIV. 
in  Madrid  ein  Autodafe  abgehalten,  dem  das  neuvermählte  Paar 
beiwohnte  und  bei  welchem  118  Opfer  hingerichtet  wurden; 
davon  fanden  21  den  Feuertod  bei  lebendigem  Leib.  Die  »Feier« 
dauerte  bis  halb  zehn  Uhr  abends  und  hatte  290  Holzhauern 
Arbeit  gegeben ! ! ! 

Für  die  Macht  der  Inquisition  in  Spanien  sei  ein  interessantes 
Beispiel  angeführt.  Als  sie  Philipp  111.  im  Beginn  seiner  Re- 
gierungszeit nötigte,  einem  Autodafe  beizuwohnen,  konnte  er  sich 
der  Thränen  nicht  erwehren  beim  Anblick  einer  jungen  Jüdin  und 


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iso 


Oeheimgerichte. 


einer  jungen  Maurin,  die  blofs  des  Glaubens  ihrer  Väter  wegen 
verbrannt  wurden.  Dieses  Mitleid  erklärten  die  Inquisitoren  für 
ein  Verbrechen,  das  nur  durch  Blut  gesühnt  werden  könne.  Der 
König  mufste  sich  einem  Aderlafs  unterziehen  und  der  Henker 
verbrannte  das  Blut!  Dafs  die  Inquisition  über  dem  König 
stand,  geht  auch  daraus  hervor,  dafs  bei  den  Autodafes  der  Thron 
des  Grofsinquisitors  höher  war  als  der  des  Herrschers.  Der 
Inquisitor  Tabera  liefs  den  Erzpriester  von  Malaga  auf  zwei 
Jahre  einkerkern,  weil  dieser,  als  er  mit  der  Wegzehrung  zu 
einem  Sterbenden  eilte,  nicht  stehen  blieb,  um  den  zufällig  daher- 
kommenden Inquisitor  Vorbeigehen  zu  lassen! 

Allmählich  jedoch  machte  selbst  in  Spanien  die  Aufklärung 
solche  Fortschritte,  dafs  der  Umfang  und  die  Grausamkeit  der 
Thätigkeit  der  Inquisition  immer  mehr  abnahmen;  unter  Fer- 
dinand VI.,  Karl  III.  und  Karl  IV.  erfolgten  insgesamt  blofs  245 
Verurteilungen  — hauptsächlich  von  Freimaurern  und  Jansenisten 
— und  darunter  nur  14  zum  Tode.  Endlich  schlug  sogar  die 
Stunde  der  Beseitigung  der  schändlichen  Einrichtung  in  Spanien; 
in . den  meisten  anderen  Ländern'  war  sie  schon  früher  abge- 
schafft worden.  Am  4.  Dezember  1808  forderte  Napoleon  I. 
die  Behörden  von  Madrid  zur  Unterwerfung  auf.  Als  der  Grofs- 
inquisitor  ablehnte,  gab  der  Kaiser  den  schriftlichen  Befehl:  „Die 
Inquisitoren  sind  einzukerkern,  das  Heilige  Amt  hat  zu  bestehen 
aufgehört  und  sein  Einkommen  ist  einzuziehen.“  Oberst  Luma- 
nuski  erhielt  den  Auftrag,  vom  Madrider  Inquisitionspalast  Besitz 
zu  ergreifen.  Da  die  Patres  die  Aufforderung  zur  Übergabe 
mifsachteten  und  überdies  den  Herold  der  Franzosen  erschossen, 
schritten  diese  zum  Angriff  und  betraten  nach  langem  Kampf 
das  Gebäude.  Es  kostete  grofse  Mühe,  den  unterirdischen  Teil 
desselben  zu  entdecken:  den  Gerichtssaal,  die  Zellen,  die  Folter- 
kammern u.  s.  w.  In  manchen  Zellen  fand  man  die  verwesten 
Leichen  von  in  der  Einzelhaft  verhungerten  Gefangenen,  in 
anderen  rund  hundert  völlig  nackte  Häftlinge:  Männer,  Frauen, 
Kinder,  die  selbstverständlich  sofort  bekleidet  und  in  Freiheit 
gesetzt  wurden.  Beim  Anblick  der  Folterwerkzeuge  gerieten  die 
napoleonischen  Soldaten  in  solche  Wut,  dafs  sie  eine  Anzahl  der 
Mönche  den  ärgsten  Torturen  unterwarfen.  1814  stellte  der  mit 
Hilfe  Englands  wieder  auf  den  Thron  gesetzte  Ferdinand  VII.  die 
Inquisition  wieder  her  und  ernannte  einen  Grofsinquisitor  (den 
45.),  der  die  Gefängnisse,  Galeeren  und  Strafansiedelungen  mit 
„Ketzern“  — insbesondere  Freimaurern  — füllte.  Aber  die 
Herrlichkeit  dauerte  nicht  lange,  denn  schon  nach  sechs  Jahren 
vereinigten  sich  alle  spanischen  Provinzen  zu  einem  allgemeinen 
Aufstand,  brachen  die  Macht  der  Gewaltherrschaft,  besiegten  die 
Inquisition,  befreiten  ihre  Gefangenen,  rissen  ihre  Gebäude  nieder 


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Die  Inquisition. 


1S1 


und  verbrannten  ihre  Folterwerkzeuge.  Zwar  trat  1 823  — nach 
der  Wiedereinsetzung  Ferdinands  mit  Hilfe  französischer  Truppen 
abermals  ein  Rückschlag  ein,  allein  derselbe  war  angesichts 
des  Volkswillens  und  der  englischen  Drohungen  nicht  von  langer 
Dauer;  die  Inquisition  konnte  sich  nur  bis  1826  behaupten  und 
ihren  Wirkungskreis  blofs  auf  ganz  vereinzelte  Opfer  erstrecken. 

Interessant  ist  die  Art  der  Einführung  der  Inquisition  in 
Portugal.  Im  Jahre  1 539  tauchte  in  Lissabon  ein  päpstlicher 
Abgesandter  auf,  der  gekommen  zu  sein  erklärte,  um  Portugal 
mit  der  Inquisition  zu  beglücken.  Er  brachte  dem  König  einen 
Brief  des  Papstes  und  überreichte  umfassende  Vollmachten  hin- 
sichtlich der  Ernennung  eines  Grofsinquisitors  und  der  anderen 
Beamten  des  Geheimgerichts.  Der  Mann  war  ein  geriebener 
Schwindler  namens  Juan  Peres  aus  Saavedra,  ein  Fachmann  im 
Fälschen  von  Unterschriften  und  Siegeln.  Zur  Bestreitung  seines 
Hofstaates  — sein  Gefolge  zählte  über  hundert  Personen  - 
hatte  er  zu  Sevilla  im  Namen  der  päpstlichen  Kammer  riesige 
Beträge  geborgt.  Es  wunderte  und  reizte  den  König,  dafs  der 
Papst  ihm  von  der  Entsendung  eines  Nuntius  nicht  vorher  Mit- 
teilung gemacht  hatte,  allein  er  liefs  sich  von  dem  Hochstapler 
beruhigen,  der  denn  auch  sofort  die  Inquisition  einrichtete,  einen 
Grofsinquisitor  ernannte  und  an  die  Sammlung  eines  Stamm- 
vermögens schritt.  Ehe  aus  Rom  Nachrichten  eintreffen  konnten, 
hatte  Peres  mehr  als  200000  Dukaten  beisammen.  Bevor  er 
jedoch  zu  fliehen  vermochte,  platzte  die  Bombe;  er  wurde  gepeitscht 
und  zu  zehn  Jahren  Galeerenstrafe  verurteilt.  Das  Schönste  aber 
ist,  dafs  der  wackere  Papst  nachträglich  die  Gründung  des  Spitz- 
buben guthiefs  und  anordnete,  dafs  das  Heilige  Amt  in  Portugal 
bestehen  bleibe;  über  die  Art  der  Einführung  tröstete  er  den 
König  mit  der  Erklärung  hinweg,  dafs  dieselbe  die  Wirksamkeit 
und  das  Wesen  der  segensreichen  Einrichtung  nicht  beeinträch- 
tigen könne. 

Einige  allzu  parteiische  Autoren  haben  die  Inquisition  rein- 
zuwaschen versucht.  Sie  behaupten,  dieselbe  sei  einst  zur  Rein- 
haltung der  Religion  erforderlich  gewesen.  Unsinn!  Als  ob 
irgend  ein  Mensch  oder  eine  Körperschaft  sich  das  Recht  an- 
mafsen  dürfte,  irgend  jemand  wegen  seines  Glaubens  zur  Rechen- 
schaft zu  ziehen!  Als  ob  irgend  ein  Gericht  das  Recht  hätte, 
sich  in  Gewissensfragen  zu  mengen!  Auch  die  beschönigende  Be- 
hauptung, dafs  die  Inquisitoren  mehr  grausam  als  fanatisch  waren, 
ist  falsch.  Sie  waren  überhaupt  nicht  fanatisch,  sondern  lediglich 
grausame,  habgierige  Heuchler.  Fanatiker  sind  gewöhnlich  von 
tadelloser  Sittlichkeit,  während  diese  Leute,  wie  überhaupt  das 
ganze  spanische  Pfaffentum,  der  ärgsten  Sittenverderbnis  hul- 
digten — so  sehr,  dafs  Papst  Paul  IV.  infolge  der  vielen  Be- 


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152 


Gehei  tngerichte. 


schwerden  eine  Untersuchung  anstellen  liefs,  die  freilich  von 
der  Inquisition  wegen  des  allzu  grofsen  drohenden  Skandals 
niedergeschlagen  wurde.  Fast  möchten  wir  Hoffmann,  dem 
neuesten  Geschichtschreiber  der  Inquisition,  Recht  geben,  wenn 
er  meint,  dafs  die  modernen  Entschuldiger  des  Heiligen  Amtes 
noch  grausamer  sein  müssen  als  die  Inquisitoren  waren,  denn 
während  die  Unmenschlichkeit  der  letzteren  durch  den  wilden 
Religionsfanatismus  jener  Zeiten  einigermafsen  begreiflich  er- 
scheine, zeuge  deren  Verteidigung  heutzutage  von  einer  wahren 
Tigernatur ! 


Der  Ku-Klux-Klan. 

Der  wohlbekannte  moderne  Geheimbund  dieses  Namens 
entstand  kurz  'nach  dem  nordamerikanischen  Bürgerkrieg  und 
verbreitete  sich  mit  erstaunlicher  Geschwindigkeit  in  den  Süd- 
staaten der  Union.  Nach  der  Niederlage  der  Südstaaten  bildeten 
die  befreiten  Neger  ein  Element  der  Unordnung  und  Unruhe, 
so  dafs  die  Weifsen  von  einer  ihrem  Leben  und  Eigentum,  ihrer 
Ehre  und  Tugend  gefährlichen  Anarchie  bedroht  waren.  Zahl- 
reiche Schwarze  wollten  unter  keinen  Umständen  arbeiten,  streiften 
vielmehr  hungrig  und  bewaffnet  umher,  während  man  in  den 
Nordstaaten  mit  grofsem  Eifer  daran  dachte,  die  Neger  in  jeder 
Hinsicht  zur  herrschenden  Klasse  des  Südens  zu  machen.  Agi- 
tatoren unterstützten  die  Zügellosigkeit  der  Schwarzen,  der  Umfang 
des  Verbrechertums  nahm  immer  mehr  zu,  die  Gesetze  erwiesen 
sich  als  unwirksam  und  die  Regierungen  der  Südstaaten  waren 
diesen  heillosen  Zuständen  nicht  gewachsen.  Der  unter  den 
Weifsen  herrschenden  Angst  machte  der  Bund  (Klan)  der  Ku-Klux 
ein  Ende,  indem  er  eine  umfassende  Lynchjustiz  organisierte. 

Die  Mitglieder  trugen  Anzüge  („Leichentücher“  genannt) 
aus  schwarzem  Baumwollstoff.  Dieser  wurde  insgeheim  in  die 
Wohnungen  der  Weifsen  geschickt,  deren  Frauen  und  Töchter 
die  nötige  Schneiderarbeit  besorgten  und  die  fertigen  Kleider 
dem  geheimen  Boten  übergaben,  der  sich  durch  ein  eigenartiges 
Klopfen  ans  Thor  zu  erkennen  gab.  Die  weibliche  Bevölkerung 
hegte  Vertrauen  in  den  Willen  und  die  Fähigkeit  der  Ku-Klux, 
sie  zu  beschützen.  Im  „Dienst“  trugen  die  Mitglieder  auch 
einen  hohen,  spitz  zulaufenden  Hut  mit  übers  Gesicht  gezogenem 
schwarzen  Schleier.  Für  ihre  langen  nächtlichen  Ritte  borgten 
sie  sich  von  den  Landwirten  Pferde,  welche  sie  am  nächsten 
Tag  zurückstellten.  Das  Geheimnis  der  Mitgliedschaft  wurde  so 


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Der  Ku-Klux-Klan. 


153 


unverbrüchlich  gehütet,  dafs  es  niemals  gelungen  sein  soll,  ein 
Mitglied  mit  Erfolg  vor  Gericht  anzuklagen,  obgleich  die  Bundes- 
regierung gegen  die  Gesellschaft  ein  besonderes  Gesetz  schuf, 
auf  Grund  dessen  Präsident  Grant  im  Oktober  1871  zwei  Pro- 
klamationen erliefs,  und  obgleich  in  neun  Grafschaften  von  Süd- 
Karolina  wegen  des  »Klan"  die  Habeas-Corpus-Akte  aufgehoben 
wurde.  Wenn  in  kleinen  Städten  zur  Bundesgamison  gehörige 
Soldaten  sich  laut  über  ^fafsregeln  gegen  die  Ku-Klux  unter- 
hielten, erschienen  am  Abend  vor  dem  Wachhause  Leichentuch- 
träger in  so  grofser  Anzahl,  dafs  die  kleine  Garnison  künftig 
schwieg.  Die  Thätigkeit  der  Ku-Klux  bestand  gröfstenteils  im 
Entwaffnen  gemeingefährlicher  Neger,  im  Lynchen  berüchtigter 
Übelthäter  — kurz,  darin,  dafs  sie  die  eine  Schreckenswirtschaft 
durch  eine  andere  lahmzulegen  suchten.  Ganz  besonders  ver- 
legten sie  sich  auf  die  Bestrafung  der  Dieberei,  die  bei  den 
Negern  aufserordentlich  gäng  und  gäbe  war;  auch  mit  'den 
Hehlern  hatten  sie  kein  Erbarmen. 

Allmählich  hörte  der  Daseinsgrund  des  „Klan"  auf,  aber 
die  Gesellschaft  bestand  weiter  und  zwar,  wie  das  in  solchen 
Fällen  oft  vorkommt,  in  einer  entarteten  Form  als  Deckmantel 
für  raub-  und  rachsüchtige  Lumpen  und  Schurken  oder  für  ge- 
heimnis-  und  schreckenliebende  Abenteurer.  Damit  hörte  auch 
die  strenge  Geheimhaltung  auf  und  so  kam  es,  dafs  z.  B.  im 
November  1883  sieben  Ku-Klux,  deren  Rädelsführer  ziemlich 
reich  waren,  von  einem  Bundesgericht  des  Staates  Georgia  zu 
längeren  Gefängnisstrafen  verurteilt  wurden,  weil  sie  eine  Anzahl 
von  Negern,  die  bei  den  Kongrefswahlen  für  einen  Gegenkan- 
didaten gestimmt  hatten,  grausam  mifshandelten  und  anschossen. 


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SIEBENTES  BUCH. 

MYSTIKER. 


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Die  Alchimisten. 


Die  Astrologie  eine  geheime  Ketzerei.  — Entartung  der  Astrologie.  — Interesse 
und  wissenschaftliche  Bedeutung  der  Alchimie.  Die  Tinktur.  — Ziele 
der  Alchimie.  — Geschichte  der  Alchimie.  — Alchimistische  Geheimgesell- 
schaften. - Niedergang  der  Alchimie.  — Dunkelheit  der  Ausdrucksweise.  — 
Persönliches  Schicksal  der  Adepten. 

Die  mystische  Astronomie  der  alten  Völker  rief  die  Schicksals- 
Astrologie  hervor,  die  uns  heute  lächerlich  abergläubisch  erscheint, 
im  Mittelalter  jedoch  einen  Hauptgegenstand  des  Studiums  bildete 
und  ursprünglich  einen  weitverbreiteten  Rückschlag  gegen  die 
römische  Kirche  bedeutete,  weshalb  ihre  Anhänger  von  Rom  aufs 
heftigste  befehdet  wurden.  Sie  fand  die  eifrigste  Pflege  bei  den 
Juden  und  erfreute  sich  des  Schutzes  der  der  päpstlichen  Ober- 
hoheit abgeneigten  Fürsten.  Die  Kirche  verbrannte  nicht  nur 
die  betreffenden  Bücher,  sondern  auch  deren  Verfasser  mit  be- 
sonderer Vorliebe.  Im  Laufe  der  Zeit  trat  bei  der  Astrologie, 
wie  bei  so  vielen  anderen  Dingen,  eine  kindische  Entartung  und 
Fälschung  ein,  indem  spätere  Geschlechter  die  einstigen  Sinn- 
bilder für  bare  Münze  nahmen  und  die  früheren  Anspielungen 
buchstäblich  auffafsten.  Hermes  Trismegistos,  der  Gesetzgeber 
Ägyptens  — von  dem  in  den  samothrakischen  Mysterien  die 
Rede  war  und  der  oft  mit  einem  Widder  an  der  Seite  dargestellt 
wurde,  welcher  den  neuen  Lauf  der  Äquinoktialsonne,  des  Er- 
oberers der  Finsternis,  einleitete  lebte  in  der  Astrologie  wieder 
auf.  Viele  von  christlichen  Gnostikern  und  Neoplaton isten  ver- 
fafste  astrologische  Werke  wurden  ihm  zugeschrieben  und 
man  hielt  ihn  für  den  Vater  der  nach  ihm  benannten  »Hermetik“, 
welche  die  Grundzüge  der  Astrologie  und  der  Alchimie  um- 
fafste  — zweier  »Künste“,  die  grofsenteils  auf  Schwindel  be- 
ruhten, aber  dennoch  die  Vorläufer  zweier  glänzender,  moderner 
Wissenschaften  geworden  sind:  der  Astronomie  und  der  Chemie. 

Zwar  ist  die  Prophezeiung  des  Göttinger  Doktors  Girtanner, 
dafs  im  19.  Jahrhundert  die  Umwandlung  der  unedlen  Metalle 
in  edle  allgemein  bekannt  und  im  Schwang  sein  werde,  nicht 


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158 


Mystiker. 


in  Erfüllung  gegangen;  allein  die  Alchimie  ist  noch  immer  ge- 
eignet, die  Neugier  anzuregen  und  die  Einbildungskraft  zu  reizen. 
Der  Schein  des  Wunderbaren,  der  ihre  Lehren  umgiebt,  ihre 
Mischung  aus  Wahrheit  und  Täuschung,  aus  Wirklichkeit  und 
Phantasterei,  der  eigenartige  Ruf  ihrer  Adepten  — all  dies  wird 
die  Geister  stets  mächtig  anziehen.  Übrigens  beruhte  sie,  gleich 
so  vielen  anderen  Schwärmereien  von  grofser  und  anhaltender 
Verbreitung,  nicht  auf  Falschheiten,  sondern  auf  mifsverstandenen 
Wahrheiten.  Die  Forschungen  der  Alchimisten  nach  den  Mitteln, 
unedle  Metalle  in  edle  zu  verwandeln,  beruhten  naturgemäfs  auf 
den  einfachsten  metallurgischen  Experimenten;  sehr  wahrscheinlich 
glaubte  der  erste  Messing-Erzeuger  anfänglich,  es  sei  ihm  ge- 
lungen, unvollkommenes  Gold  zu  erzeugen. 

Die  ersehnte  Umwandlung  hätte  durch  die  Umwandlungs- 
tinktur erfolgen  sollen.  Den  Menschen  gelang  es  niemals,  diese 
zu  entdecken,  obgleich  sie  in  der  Natur  von  jeher  vorhanden 
war,  und  zwar  als  die  Kraft,  welche  einen  grünen  Halm  in  eine 
goldene  Kornähre  verwandelt,  einen  sauren,  unreifen  Apfel  mit 
Süfsigkeit  und  aromatischem  Saft  erfüllt  oder  aus  Holzkohle 
Diamanten  macht.  Könnte  man  der  in  der  Natur  allenthalben 
verbreiteten  »Tinktur"  habhaft  werden  und  mit  ihrer  Hilfe  die 
in  den  Metallen  gefangen  gehaltene  Tinktur  in  Bewegung  setzen 
bezw.  loslösen,  so  liefse  sich  die  Umwandlung  in  Gold  — d.  h. 
die  Offenbarung  des  verborgenen  Lebens,  der  Urkräfte  der  Natur 
(vgl.  »Einleitung")  — wohl  bewirken.  Da  sich  jedoch  diese 
Tinktur  oder  Geheimkraft  der  Natur  wegen  ihrer  Immaterialität 
nicht  fassen  läfst,  suchten  die  Alchimisten  nach  etwas  Un- 
erreichbarem. 

Die  Bestrebungen  der  Alchimie  hatten  drei  Ziele:  die 
Suche  nach  dem  Stein  der  Weisen  behufs  Goldmacherei;  die 
Entdeckung  einer  Panacee  (=  Lebenselixir);  die  Erfindung  eines 
allgemeinen  Lösemittels  zur  Vermehrung  der  Fruchtbarkeit  jedes 
Samens.  Diese  Zwecke  glaubten  die  Alchimisten  durch  die 
»Tinktur"  erreichen  zu  können,  in  der  sie  eine  elektrische  Lebens- 
kraft erblickten.  Folglich  kann  die  Alchimie  in  ihren  Anfängen 
als  ein  Behelf  zur  Erforschung  von  Mitteln  gelten,  die  Materie 
wieder  zu  ihrem  Urzustand  zurückzuführen,  von  dem  sie  sich 
vermeintlich  entfernt  hatte.  Was  der  Äther  des  achten  Himmels 
für  das  Seelische,  das  galt  den  Alchimisten  das  Gold  hin- 
sichtlich des  Stofflichen,  und  die  damals  bekannten  sieben  Metalle, 
welche  die  Namen  der  »sieben  Planeten"  führten  (Sonne  = Gold, 
Mond  = Silber,  Saturn  = Blei,  Venus  oder  Jupiter  = Zinn,  Merkur 
oder  Mars  •=  Eisen,  Mars  oder  Merkur  = Legirung,  Jupiter  oder 
Venus  = Kupfer),  bildeten  die  aufsteigende  Reinigungsleiter,  welche 
den  sieben  Höhlen  oder  Stufen  der  alten  Mysterien  entsprach. 


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Die  Alchimisten. 


159 


Die  Alchimie  war  somit  entweder  eine  physische  Einweihung 
oder  eine  geistliche;  die  erstere  diente  oft  nur  zur  Verschleierung 
der  letzteren,  d.  h.,  wo  man  anscheinend  lediglich  metallurgische 
Kunststücke  zu  machen  suchte,  beschäftigte  man  sich  in  Wirklich- 
keit sinnbildlich  nicht  selten  mit  philosophischen  Problemen, 
reinigte  man  blofs  Leidenschaften,  liefs  man  den  menschlichen 
Geist  durch  die  Retorte  gehen,  um  ihn  zu  läutern. 

Die  Alchimie  blühte  in  Ägypten  schon  sehr  frühzeitig. 
Angeblich  soll  auch  der  weise  Saiomo  sich  mit  ihr  beschäftigt 
haben.  Ihre  Hauptblüte  begann  jedoch  erst  zur  Zeit  der  Ver- 
nichtung der  alexandrinischen  Bibliothek.  Die  leichtgläubigen 
Sarazenen,  die  sehr  viel  von  Talismanen  und  Himmelseinflüssen 
hielten,  griffen  «die  Wunder  der  Alchimie  gierig  auf,  deren  Aus- 
über  daher  an  den  glänzenden  Höfen  Almansors  und  Harun-al- 
Rasehids  Schutz,  Schüler  und  Entlohnung  fanden.  Dennoch  gab 
es  bis  zum  II.  Jahrhundert  nur  einen  berühmten  Alchimisten: 
den  Araber  Abu  Mussah  Dschafar  al  Sofi,  genannt  Geber.  ’ Seine 
Umwandlungsversuche  brachten  ihn  auf  mehrere  chemische  und 
medizinische  Entdeckungen;  auch  als  Astronom  war  er  bedeutend. 
Nach  Europa  kam  die  Goldmacherkunst  durch  die  Kreuzfahrer 
und  im  1 3.  Jahrhundert  wurde  sie  durch  Albertus  Magnus,  Roger 
Bacon  und  Raimundus  Lullus  erneut.  In  England  liefs  Eduard  111. 
sich  von  den  Alchimisten  Le  Rouse  und  De  Dalby  Experimente 
vormachen.  Heinrich  VI.  ermunterte  Adelige,  Ärzte,  Gelehrte 
und  Priester,  den  Stein  der  Weisen  zu  suchen.  Diesen  zu  be- 
sitzen, behauptete  später  namentlich  der  hochberühmte  Paracelsus 
— eigentlich  »Philippus  Aureolus  Theophrastus  von  Hohenheim 
genannt  Bombastus"  — den  seine  Anhänger  »Fürst  der  Ärzte, 
Philosoph  des  Feuers,  Trismegistos  der  Schweiz,  Reformator  der 
alchimistischen  Philosophie,  getreuer  Geheimschreiber  der  Natur, 
Meister  des  Lebenselixirs  und  des  Steins  der  Weisen,  grofser 
Monarch  der  chemischen  Geheimnisse"  nannten.  Er  führte  für 
das  gesuchte  All-Lösemittel  die  Bezeichnung  „alcahest“  ein  (viel- 
leicht aus  »Allgeist“  verdorben?). 

Auch  die  Rosenkreuzer,  von  denen  wir  bald  sprechen 
werden,  befafsten  sich  mit  alchimistischen  Geheimnissen  und  sie 
waren  thatsächlich  Nachfahren  der;  Alchimisten.  Aus  diesem 
Grund  haben  wir  die  letzteren  hier  eingereiht,  obgleich  sie  keine 
eigentliche  Geheimgesellschaft  waren.  Doch  gab  es  immerhin 
auch  alchimistische  geheime  Vereinigungen.  So  lesen  wir  in  der 
dem  grofsen  Werk  »Thesaurinella  chymica-aurea  tripartita"  von 
Benedictus  Figulus  vorangehenden  Widmung  an  Kaiser  Rudolf  II.: 
»Gegeben  in  der  Reichsstadt  Hagenau  im  Jahre  des  Heils  1607 
und  im  197.  Jahre  der  Regierung  des  wahren  Beherr- 
schers des  Olymps,  Angelus  Hagith. “ Auch  ist  in  der 


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160 


Mystiker. 


Widmung  ein  Graf  Bernhard  erwähnt  — offenbar  eines  der 
Häupter  des  Ordens  — der  in  Italien  in  einen  aus  14-15  Mit- 
gliedern bestehenden  Alchimistenverein  eingeführt  worden  sei. 
Ferner  wird  Paracelsus  als  der  „Monarch“  dieses  Ordens  be- 
zeichnet, der,  wie  sich  aus  dem  Datum  197  (anno  1607)  ergiebt, 
im  Jahre  1410  gestiftet  worden  sein  mufs  und  nach  Figulus 
gerade  um  1607  mit  dem  Rosenkreuzer-Orden  verschmolzen 
wurde.  Ob  es  derselbe  war,  den  Raimundus  Lullus  in  seinem 
„Theatrum  Chymicum«  erwähnt,  weirs  man  nicht;  dieser  soll 
schon  vor  1400  bestanden  und  sein  Oberhaupt  „König  der 
Physiker"  genannt  haben. 

In  England  verlor  man  alles  Vertrauen  zur  Hermetik,  als 
der  Gelehrte  James  Price  sein  Versprechen,  in  Gegenwart  der 
Mitglieder  der  Wissenschaftlichen  Gesellschaft  Gold  zu  machen, 
nicht  halten  konnte  und  daher  Selbstmord  beging  (1783).  Drei- 
zehn Jahre  später  waren  in  Deutschland  Gerüchte  verbreitet  vom 
Vorhandensein  einer  grofsen  „Hermetischen  Gesellschaft*;  in 
Wirklichkeit  bestand  diese  aber  nur  — abgesehen  von  einer 
gröfseren  Anzahl  von  „Ehrenmitgliedern"  — aus  zwei  Personen: 
einem  gewissen  Bährens  und  dem  Verfasser  der  „Jobsiade", 
K.  A.  Kortüm.  Die  napoleonischen  Kriege,  die  Europa  ver- 
wüsteten, liefsen  das  Interesse  an  der  Alchimie  erlahmen  und 
blofs  die  höheren  Kreise  von  Karlsruhe  unterhielten  sich  bis  1812 
insgeheim  mit  der  Goldmacherspielerei. 

Paracelsus  teilte  die  Alchimisten  in  zwei  Klassen:  Leute, 
die  nützlichen  Studien  obliegen  und  solche,  die  sich  mit  Phan- 
tastereien abgeben  und  mystischen  Schund  schreiben , den  sie 
dann  Hermes  Trismegistos,  Aristoteles,  Albertus  Magnus  und 
anderen  Koryphäen  in  die  Schuhe  schieben.  Die  Ausdrucksweise 
dieser  Bücher  ist  heute  völlig  unverständlich,  wie  das  folgende 
Beispiel  zeigen  wird.  Die  Umwandlungskraft,  genannt  „der 
grüne  Löwe",  sei  in  nachstehender  Weise  zu  erlangen:  „Im 
Bette  des  grünen  Löwen  werden  die  Sonne  und  der  Mond  ge- 
boren, die  einander  ehelichen  und  einen  König  zeugen.  Dieser 
nährt  sich  von  des  Löwen  Blute,  welches  der  Vater  und  die 
Mutter  des  Königs  ist,  die  gleichzeitig  sein  Bruder  und  seine 
Schwester  sind.  Ich  fürchte  das  Geheimnis  zu  verraten,  das 
vor  jedem,  der  das  Philosophenfeuer  nicht  zu  beherrschen  weifs, 
zu  bewahren  ich  meinem  Meister  versprochen  habe."  So  dunkel 
der  Rede  Sinn  auch  sei,  die  Adepten,  für  die  allein  eine  solche 
Sprache  berechnet  war,  verstanden  sie.  Dasselbe  gilt  auch  von 
anderen  Wissenszweigen.  Wenn  z.  B.  in  einer  Abhandlung, 
welche  dem  Hermes  Trismegistos  zugeschrieben  wird,  dem  For- 
scher die  Weisung  gegeben  wurde,  den  fliegenden  Vogel  zu 
fangen  und  zu  ertränken,  damit  er  nicht  mehr  fliege,  so  war 


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Jakob  Böhme. 


161 


damit  die  Fixierung  des  Quecksilbers  durch  Vermischung  mit 
Oold  gemeint. 

Obwohl  die  Alchimisten  der  Chemie  durch  ihre  Forschungen 
grofse  Dienste  leisteten,  führten  sie  ein  trauriges,  buntbewegtes 
Dasein  und  starben  gewöhnlich  in  gröfster  Armut,  wenn  es  ihnen 
nicht  noch  schlimmer  erging,  selbst  falls  sie  rechtschaffen  waren. 
Gerecht  war  aber  das  Geschick,  welches  einen  der  berühmtesten 
Hermetiker  ereilte,  Bragadino,  der  vor  dreihundert  Jahren  lebte 
und  sich  als  arger  Schwindler  erwies.  Er  gab  den  Teufel  für 
seinen  Sklaven  und  seine  beiden  wilden  schwarzen  Hunde  für 
Dämonen  aus,  lockte  mehreren  Machthabern  für  sein  angebliches 
Umwandlungsgeheimnis  grofse  Summen  heraus  und  wurde,  als 
man  hinter  seine  Schliche  gekommen  war,  in  München  gehenkt. 


Jakob  Böhme. 

Wesen  und  Aufgabe  des  Mystizismus.  — Böhmes  Verdienste.  - Sein 
Einflufs  auf  die  Wissenschaft.  - Sein  Leben.  - Die  Philadelphier. 

Die  Mystiker  sind  gewissermafsen  die  Fortführer  der  antiken 
Mysterien , welche  für  viele  Völker  die  einzige  Weltweisheit, 
Wissenschaft  und  Freiheit  bildeten.  Sie  sind  die  Priester  der 
Unendlichkeit,  die  Rationalisten  des  Gebets.  In  ihrer  Sanftmut 
huldigen  sie  der  weitestgehenden  Duldsamkeit;  sie  bemitleiden 
und  begreifen  alle  Welt,  sie  verz.eihen  sogar  dem  Teufel.  Mittels 
Synthesen  und  Verzückungen  gelangen  sie  zu  einem  reinen  und 
einfachen  Verständnis  des  sogenannten  »Übernatürlichen“,  das 
sie  mehr  mit  dem  Herzen  und  der  Einbildungskraft  verehren 
als  mit  den  gelehrten  Trugschlüssen  der  Theologie.  Darum 
ähneln  die  Mystiker  aller  Glaubensbekenntnisse  einander  so  sehr. 

Der  Fürst  der  Mystiker  war  fraglos  Jakob  Böhme  — so 
sehr,  dafs  ihm  gegenüber  alle  anderen  recht  unbedeutend  er- 
scheinen: als  blofse  Schwärmer,  deren  Überschwenglichkeiten 
manchmal  dichterisch,  aber  stets  phantastisch  waren  und  der  Welt 
niemals  nützten,  weil  sie  nicht  auf  den  Wahrheiten  der  Ewigen 
Natur  beruhten.  Freilich  war  auch  Böhme  ein  Schwärmer,  aber 
einer  von  der  Art  des  Kolumbus,  denn  er  vermochte  mit  dein 
geistigen  Auge  eine  verborgene  Welt  zu  erblicken,  die  Welt  der 
Eigenschaften  der  Ewigen  Natur,  und  das  grofse  Geheimnis  der 
Erde  und  des  Weltalls  zu  lösen.  Er  war  entschieden  ein  Mittel- 
punktsphilosoph, der  von  seinem  Standpunkt  die  ganze  Sphäre 
von  innen  und  aufsen  übersehen  konnte,  nicht  blofs  ein  Segment 

Heckeihorn. Kattchcr,  Geheimbünde  u.  Gehcimlehren, 


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162 


Mystiker. 


ihres  Äufsern.  Er  erkannte  daher  nicht  nur  die  Wirkungen, 
sondern  auch  die  Ursachen  der  Dinge.  Zweifellos  enthalten  seine 
Schriften  viel  Falsches  und  Unhaltbares,  Vieles,  was  als  alchi- 
mistische und  kabbalistische  Träumerei  bezeichnet  werden  mufs; 
namentlich  die  Schriften  des  Paracelsus  scheint  er  gut  gekannt 
zu  haben.  Sind  aber  seine  Schlufsfolgerungen  oft  schief,  so  trifft 
er  doch  in  grundlegenden  Dingen  immer  das  Richtige.  Nach 
Ausscheidung  alles  Zweifelhaften  und  Irrigen  bleibt  noch  so 
vieles  übrig,  das  von  der  Wissenschaft  und  der  Praxis  als  un- 
umstöfslich  wahr  dargethan  ist,  dafs  man  kaum  glauben  sollte, 
all  dies  sei  von  einem  Mann  erdacht  und  verkündet  worden,  der 
völlig  ungelehrt  war  und  niemals  ein  Experiment  machte  - und 
noch  dazu  in  einer  Zeit,  da  keine  seiner  wissenschaftlichen 
Wahrheiten  irgend  einem  Mann  der  Wissenschaft  auch  nur  auf- 
gedämmert war. 

Hätte  Böhme  die  Welt  auch  mit  nichts  anderem  vertraut 
gemacht  als  mit  den  sieben  Eigenschaften  der  Natur  (vgl.  «Ein- 
leitung"), diesem  Schlüssel  zu  allen  Naturgeheimnissen,  so  würde 
er  schon  deshalb  für  immer  zu  den  gröfsten  Leuchten  der 
Wissenschaft  zählen.  Wie  ein  ungebildeter  Schuhmacher  zu 
solcher  Erkenntnis  kam,  ist  schier  unfafsbar.  Er  war  der  erste, 
der  diese  Dinge  vorbrachte,  und  vor  ihm  gab  es  kein  Werk,  aus 
dem  er  hätte  schöpfen  können.  Nirgends  eine  Spur  früherer 
Kenntnis  der  sieben  Eigenschaften;  nur  die  von  jeher  allgemeine 
Verehrung  der  Siebenzahl  war  bekannt.  Böhme  mufs  entweder 
eine  aufserordentliche  Intuition  besessen  haben  oder  ein  grofses 
Genie  gewesen  sein.  Die  heutige  Wissenschaft  verlacht  ihn  als 
einen  verrückten  Träumer,  wie  die  Königliche  Gesellschaft  (die 
englische  Akademie  der  Wissenschaften)  über  die  elektrischen 
Entdeckungen  Benjamin  Franklins  lachte;  weil  dieser  ein  aus- 
übender Buchdrucker  war,  könne  er  nichts  von  Elektrizität  wissen 
und  noch  weniger  ein  Problem  lösen,  dem  nicht  einmal  die  ge- 
lehrtesten Akademiker  gewachsen  gewesen  waren.  Auch  das  grofse 
Intuitivgenie  Priefsnitz,  ein  Bauer,  der  kaum  schreiben  konnte, 
wurde  ob  seiner  Wasserheilkünste  verhöhnt.  Was  könnte  ein 
ungebildeter  Schuster  unsere  heutigen  Gelehrten  lehren  ? ! In 
Wirklichkeit  aber  bergen  die  Schriften  Böhmes  die  Keime  aller 
bisherigen  und  wohl  auch  künftigen  Entdeckungen  auf  dem  Ge- 
biete der  Naturwissenschaften. 

Denjenigen,  die  etwa  geneigt  sein  sollten,  uns  wegen  unsrer 
hohen  Verehrung  für  Böhme  zu  verspotten,  möchten  wir  nahe- 
legen, seine  Schriften  doch  einmal  so  genau  zu  studieren  wie 
wir  es  gethan;  dann  werden  sie  das  Spotten  unterlassen.  Dazu 
kommt,  dafs  wir  uns  der  Gunst  erfreut  haben,  beim  Studium 
Böhmes  von  dem  bedeutendsten  Böhmeforscher  unsrer  Zeit  ange- 


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Jakob  Böhme. 


163 


leitet  zu  werden.  Wir  haben  daher  ein  gewisses  Recht  auf  Be- 
achtung unsrer  hohen  Meinung  von  Böhme,  dessen  Einflufs  auf 
die  moderne  Wissenschaft  übrigens  ein  tiefgehender  und  anhal- 
tender, wenngleich  nur  mittelbarer  war.  Selbst  Newton  hatte 
dem  einfachen  Schuster  viel  zu  verdanken,  aus  dessen  Schriften 
er  eigenhändig  umfangreiche  Auszüge  machte.  Der  grofse  Eng- 
länder lernte  von  dem  deutschen  Mystiker,  dafs  die  Anziehungs- 
kraft das  oberste  Naturgesetz  sei  — das  Gesetz,  dessen  wissen- 
schaftliche Ausgestaltung  er  bekanntlich  bewerkstelligte.  Er  stellte 
sogar  Öfen  auf,  mit  deren  Hilfe  er  monatelang  eifrig  an  der 
Erfindung  der  „Tinktur«  arbeitetete,  von  der  in  Böhmes  Schriften 
so  viel  die  Rede  ist.  Ein  besonders  grofser  Einflufs  Böhmes 
macht  sich  bemerkbar  in  den  Werken  des  modernen  deutschen 
Physikers  Franz  Xaver  v.  Baader,  dessen  Forschungen  auf  den 
Offenbarungen  unseres  Mystikers  beruhten,  die  der  genannte 
Gelehrte  freilich  keineswegs  vollkommen  verstand.  Die  gröfsten 
Denker  des  18.  und  des  19.  Jahrhunderts  haben  aus  Böhmes 
Büchern  geschöpft;  die  philosophischen  Systeme  von  Leibniz, 
Schelling,  Laplace,  Hegel,  Fichte  u.  a.  tragen  deutlich  seinen 
Geistesstempel.  Da  aber  keiner  dieser  Weltweisen  ihn  genügend 
erfafste,  sind  ihre  Systeme  durchweg  unbefriedigend  geblieben. 
Goethe  war  in  den  Böhmeschen  Schriften  wohlbewandert  und 
aus  diesen  lassen  sich  viele  Anspielungen  in  des  Altmeisters 
Werken  leicht  erklären,  während  die  landläufige  Goethekritik  ent- 
weder mit  ihnen  gar  nichts  anzufangen  weifs  oder  sich  zu  den 
lächerlichsten  Erläuterungen  versteigt.  Nur  ein  Beispiel.  Was 
haben  die  „Kommentatoren"  nicht  alles  versucht,  um  die  Be- 
deutung der  „Mütter«  plausibel  zu  machen,  zu  denen  Faust  auf 
der  Suche  nach  Helena  hinabsteigen  soll!  Diese  „Mütter«  sind 
aber  nichts  anderes  als  die  drei  ersten  Eigenschaften  der  Natur 
(vgl.  „Einleitung“),  und  die  Weisungen,  welche  Faust  vor  seinem 
Abstieg  in  die  Unterwelt  von  Mephisto  empfängt,  bilden  eine 
poetisch-philosophische  Schilderung  jener  Eigenschaften.  Jammer- 
schade, dafs  die  heutigen  Gelehrten  Böhme  nicht  studieren! 
Thäten  sie  es,  so  würden  die  Darwins,  Tyndalls,  Huxleys  u.  s.  w. 
manche  ihrer  Theorien  und  Hypothesen  unausgesprochen  gelassen 
haben.  In  Bezug  auf  Biologie  sollten  sie  namentlich  das  herr- 
liche Kapitel  lesen,  das  mit  den  Worten  anfängt:  „Wir  sehen 
und  befinden,  dafs  ein  jedes  Leben  essentialisch  ist,  und  dann 
befinden  wir,  dafs  es  im  Willen  steht,  denn  der  Wille  ist  das 
Treiben  der  Essentien.«  („Sechs  Punkte«,  L 1.)  Ganz  beson- 
ders könnte  die  Theologie  über  alle  ihre  Hauptfragen  bei  Böhme 
gründlichste  Belehrung  finden.  Da  er  aber  keinen  akademischen 
Grad  hatte  und  nicht  einmal  Professor  war,  stöfst  er  bei  den 
Gelehrten  auf  mehr  Geringschätzung  als  selbst  der  Spiritismus! 

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164 


Mystiker. 


1575  in  Görlitz  geboren,  mufste  er  in  seiner  Kindheit 
Vieh  hüten.  In  seiner  Einsamkeit  befafste  er  sich  mit  stetiger 
Naturbetrachtung.  Bald  fühlte  er  sich  als  Dichter  und  glaubte 
zu  grofsem  bestimmt  zu  sein.  Er  legte  allen  Naturstimmen  eine 
geheime  Bedeutung  bei,  hörte  in  ihnen  die  Stimme  Gottes  und 
meinte,  Gott  selbst  offenbare  sich  ihm  mittels  der  Natur.  Mit 
15  oder  16  Jahren  kam  er  zu  einem  Görlitzer  Schuhmacher  in 
die  Lehre.  Die  sitzende  Lebensweise  förderte  seinen  Hang  zum 
Mystizismus.  Infolge  seiner  grofsen  Sittenstrenge  und  Ver- 
schlossenheit wurde  er  teils  für  stolz,  teils  für  verrückt  gehalten. 
Da  er  keinerlei  Unterricht  genossen  hatte,  waren  seine  Ideen 
begreiflicherweise  verworren,  unklar,  unzusammenhängend.  1 594 
verheiratete  er  sich.  Er  war  ein  guter  Gatte  und  Vater,  blieb 
jedoch  ein  Träumer.  Schliefslich  liefs  er  sich  durch  häufige 
Traumerscheinungen,  welche  er  der  Einwirkung  des  Heiligen 
Geistes  zuschrieb,  zum  Niederschreiben  seiner  Gedanken  bewegen. 
Sein  erstes  und  bekanntestes,  aber  inhaltlich  wie  stilistisch 
schwächstes  Werk  hiefs  „Aurora".  Es  zog  ihm  die  Gegnerschaft 
der  Geistlichkeit  zu,  welche  die  Obrigkeit  veranlafste,  ihm  das  Weiter- 
schreiben zu  verbieten.  Viele  Jahre  hindurch  fügte  er  sich  dem 
Verbot,  dann  aber  packte  ihn  sein  Denken  so  gewaltig,  dafs  er 
nicht  länger  widerstehen  konnte  und  die  letzten  sechs  Lebens- 
jahre ausschliefslich  der  Niederschrift  von  Büchern  widmete,  unter 
denen  besondere  Hervorhebung  verdienen:  „Das  dreifache  Leben", 
»Von  sechs  Punkten",  „Göttliche  Beschaulichkeit“,  „Das  über- 
sinnliche Leben“,  „Das  grofse  Geheimnis“  und  „Signatura  Rerum“. 
In  allen  stofsen  wir  neben  vielem  Wunderlichen,  Unstichhaltigen 
und  Unverständlichen  auf  grofsartige  Stellen  von  erstaunlich 
tiefer  Erkenntnis,  allumfassender  Tragweite  und  grundlegender 
wissenschaftlicher  Bedeutung.  Manche  poetischen  Schönheiten 
Böhmes  sind  so  grofs,  manche  seiner  Anschauungen  von  Gott 
und  Natur  so  erhaben,  dafs  sie  von  keinem  noch  so  berühmten 
Dichter  irgend  einer  Zeit  übertroffen  worden  sind,  und  das  will 
viel  heifsen. 

Zu  seinen  Lebzeiten  waren  seine  — durchweg  deutsch  ge- 
schriebenen — Werke  nur  handschriftlich  im  Umlauf.  Lange 
vor  der  ersten  gedruckten  deutschen  Ausgabe,  die  übrigens  höchst 
fehlerhaft  war  (1682),  erschienen  Übersetzungen  ins  Holländische 
und  Englische.  Einige  der  Bücher  wurden  von  Saint-Martin, 
dem  „unbekannten  Philosophen“,  ins  Französische  übertragen. 
Der  beste  Erläuter^r  Böhmes  war  der  Deutsche  Dionys  Andreas 
Freher,  der  aber  zumeist  englisch  schrieb;  seine  blofs  handschrift- 
lich vorhandenen  Werke  befinden  sich  teils  im  Britischen  Mu- 
seum, teils  in  der  Bibliothek  des  Dr.  Williams  in  London. 

Böhme  starb  1624.  Seine  letzten  Worte  waren:  „Jetzt  gehe 


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Emanuel  Swedenborg. 


165 


ich  ins  Paradies  ein.“  Er  gründete  weder  eine  Sekte  noch  einen 
Geheimbund;  dazu  war  er  zu  sehr  in  sich  gekehrt  und  zu  welt- 
abgeschieden. Statt  Schüler  um  sich  zu  scharen  und  an  die 
Erwerbung  von  Ruhm  zu  denken,  liefs  er,  gleich  der  Sonne, 
sein  Licht  unbewufst  leuchten,  unbekümmert  darum,  ob  es  frucht- 
baren oder  unfruchtbaren  Boden  beschien.  Aber  eine  Engländerin 
namens  Jane  Lead  stiftete  am  Ende  des  1 7.  Jahrhunderts  die 
»Philadelphier«  (»Engelsbrüder"),  eine  Gesellschaft,  die  auf  Böhmes 
Lehren  fufste,  sich  jedoch  mehr  mit  leeren  Visionen  abgab  und 
weder  wissenschaftliche  noch  religiöse  Ergebnisse  zeitigte.  Diese 
Vereinigung  bestand  blofs  etwa  sieben  Jahre  und  ihre  Mitglieder 
hatten  nur  sehr  nebelhafte  Vorstellungen  von  der  Tragweite  und 
dem  wahren  Sinn  der  Schriften  ihres  grofsen  Leitsterns. 


Emanuel  Swedenborg. 


Sein  Lebenslauf.  — Finanzmann  und  Mystiker.  — Schriften  und  Lehren.  — 
Die  Übereinstimmungen.  — Swedenborgianische  Sekten.  — Neu-Jerusalem, 
Avignoner  llluminaten,  Erleuchtete  Theosophen,  Philosophischer  Schotten- 
ritus, Wahrheitsforscher,  Philadelphier,  Swedenborg-Ritus,  Allgemeine  Aurora. 

Der  schwedische  Mystiker,  von  dem  wir  im  Nachstehenden 
sprechen,  hat  die  Aufmerksamkeit  der  Welt  in  viel  höherem  Grad 
erregt  als  Böhme,  obgleich  er  an  Bedeutung  hinter  diesem  weit 
zurücksteht.  Während  der  grofse  Deutsche  uns  greifbare  und 
wertvolle,  auf  aufserordentlicher  Naturerkenntnis  beruhende  wissen- 
schaftliche Kenntnisse  hinterliefs,  haben  wir  dem  Schweden  nichts 
zu  verdanken  als  einige  dichterische  Ideen  und  eine  Fülle  von 
verrücktem  Unsinn.  Immerhin  war  Swedenborg  ein  hochbegabter 
Mensch,  denn  er  vereinigte  in  sich  die  einander  eigentlich  ent- 
gegengesetzten Merkmale  des  Dichters,  des  Träumers  und  des 
Mannes  der  Wissenschaft. 

Sein  Wissensdurst  war  so  grofs,  dafs  er  sich  die  gesamten 
Kenntniszweige  seiner  Zeit  aneignete  und  im  Alter  von  28  Jahren 
zu  den  allergelehrtesten  Männern  seines  Landes  gehörte.  1 716  — 1 7 
besuchte  er  englische,  holländische,  französische  und  deutsche 
Universitäten,  1718  besorgte  er  für  Karl  XII.  die  Landbeförderung 
einer  Anzahl  von  Schiffen  von  einer  Küste  zur  andern.  Drei 
Jahre  später  besuchte  er  viele  europäische  Bergwerke  und  beschrieb 
sie  dann  in  seinem  umfangreichen  Werk  »Daedalus  Hyperboreus“. 
Nachher  befafste  er  sich  eingehend  mit  Theologie,  um  plötzlich 


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166 


Mystiker. 


Mystiker  zu  werden,  als  welcher  er  die  Theologie  oft  bekämpfte. 
Als  er  Einkehr  in  sich  hielt  und  die  Wunder  der  Gedankenwelt 
zu  entdecken  begann,  war  er  bereits  55  Jahre  alt.  Statt  irdischer 
Bergwerke,  erforschte  er  fortan  die  Tiefen  der  Seele.  Seine 
»Offenbarungen"  zogen  ihm  die  Feindschaft  der  Geistlichkeit 
zu,  doch  konnte  diese  ihm,  weil  er  sehr  angesehen  und  geachtet 
war,  nichts  anhaben.  1751  erklärte  Graf  Hopken  im  Reichstag, 
die  wertvollsten  Schriften  über  Finanzwesen  seien  die  Sweden- 
borgschen.  Ein  mystischer  Finanzmann  oder  finanzieller  Mystiker 
- das  war  gewifs  noch  nicht  dagewesen!  Doch  haben  wir  im 
19.  Jahrhundert  eine  ähnliche  Erscheinung  erlebt:  den  hervor- 
ragenden schottischen  Mystiker  Lawrence  Oliphant,  der  zugleich 
ein  gewiegter  Geschäfts-  und  kluger  Weltmann  war.  Sweden- 
borg lebte  viel  in  London,  wo  er  auch  starb  (1772  im  85.  Lebens- 
jahr) und  wo  es  eine  reiche  »Swedenborg-Gesellschaft“  giebt, 
die  seine,  etwa  fünfzig  Bände  umfassenden  Werke  herausgiebt 
und  verbreitet  und  dem  Mystiker  in  England  noch  heute  zahl- 
reiche Anhänger  gewinnt.  Ihm  waren  übrigens  auch  viele  astro- 
nomische, chemische  und  medizinische  Entdeckungen  zu  ver- 
danken und  hinsichtlich  der  Schädellehre  mufs  er  als  Vorläufer 
Galls  gelten. 

So  widersinnig  der  gröfste  Teil  seiner  Schriften  auch  sei, 
so  läfst  sich  in  ihnen  doch  ein  gewisses  System  entdecken;  »ist 
es  auch  Unsinn,  hat  es  doch  Methode.“  Wer  z.  B.  »Neu-Jeru- 
salem“  oder  »Reise  zur  Sternenwelt“  aufmerksam  liest,  mufs 
erkennen,  dafs  der  abstrusen  Sprache  eine  verborgene  Bedeutung 
innewohnt.  Ein  Mann  von  seiner  hohen  Bildung  kann  eine  so 
illusorische  Ausdrucksweise  nicht  anwenden,  ohne  ihr  einen  Sinn 
unterzulegen,  umsoweniger  als  er  so  viel  von  »Übereinstimmungen“ 
sprach,  in  denen  er  selbst  der  geringsten  Kleinigkeit  eine  geheime 
Bedeutung  zuschrieb.  Er  bekannte  sich  zur  Religion  der  Menschen- 
freundlichkeit und  nannte  daher  die  abstrakte  Vorstellung  vom 
vollkommenen  Menschen  »Menschgott“  oder  »Jesus  Christus"; 
jene  die  Vollkommenheit  anstrebenden  Wesen  bezeichnete  er  als 
Engel  und  Geister,  ihre  Vereinigung  als  Himmel,  das  Gegenteil 
als  Hölle. 

Einen  seiner  Hauptgedanken  hat  Swedenborg  in  seinem 
»Neu-Jerusalem"  niedergelegt:  das  Göttliche  im  Herzen  jedes 
Menschen,  verdolmetscht  durch  die  Menschlichkeit.  »Das  Rechte 
ohne  Eigennutz  wollen  oder  thun,  heilst  den  Himmel  im  eignen 
Innern  aufrichten  und  in  der  Gesellschaft  von  Engeln  leben. 
Das  Gewissen  jedes  Einzelnen  ist  sein  Himmelskompendium;  da 
ist  alles  vorhanden:  die  Erfassung  und  Heiligung  aller  Pflichten 
und  Rechte."  Über  das  mystische  oder  sektiererische  Leben  sagt 
er:  »Zwischen  Gut  und  Böse  besteht  derselbe  Unterschied  wie 


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Emanuel  Swedenborg. 


167 


zwischen  Himmel  und  Hölle.  Wer  in  Übel  und  Irrtum  verharrt, 
gleicht  der  Hölle  und  die  Liebe  zur  Hölle  ist  der  Gegensatz 
der  Liebe  zum  Himmel.  Die  eine  Liebe  hafst  und  bekämpft  die 
andere  bis  zum  Tode.  Die  Bestimmung  des  Menschen  ist,  mit 
der  Seele  in  der  geistigen,  mit  dem  Leib  in  der  natürlichen  Welt 
zu  leben.  Jedem  Menschen  wohnen  daher  zwei  Individualitäten 
inne:  eine  geistige  oder  innerliche  und  eine  natürliche  oder 
äufserliche.  Der  innerliche  Mensch  befindet  sich  recht  eigentlich 
im  Himmel  und  im  Verkehr  mit  himmlischen  Geistern  schon 
während  seines  irdischen  Daseins,  das  kein  wahres,  sondern  nur 
ein  fingiertes  Leben  bildet.  Da  der  Mensch  ein  zwiefältiges 
Wesen  ist,  hat  er  eine  zwiefältige  Gedankenwelt  - eine  höhere 
und  eine  niedrigere  — sowie  zweierlei  Sprache  und  zweierlei 
Liebe.  Darum  ist  der  natürliche  Mensch  heuchlerisch  und  falsch, 
denn  er  ist  doppelt,  während  der  spirituelle  Mensch  notwendig 
aufrichtig  und  wahr  ist,  weil  er  einfach  und  eins  ist;  in  ihm  hat 
der  Geist  das  natürliche  Element  erhöht  und  angezogen,  das 
Äufserliche  sich  mit  dem  Innerlichen  identifiziert.  Diese  Er- 
höhung wurde  von  den  Alten  erreicht,  die  in  irdischen  Dingen 
auf  deren  himmlische  Übereinstimmungen  achteten.“ 

Zur  Wissenschaft  von  den  »Übereinstimmungen“  kehrt 
Swedenborg  immer  wieder  zurück.  Er  spielt  damit  auf  die  Ein- 
weihungsmysterien der  Alten  an,  auf  das  »wahre"  Leben,  welches 
dem  fingierten  Einweihungstod  folgt,  auf  den  mystischen  Himmel, 
der  in  den  Augen  der  Ägypter  und  Griechen  nichts  anderes  war 
als  der  Tempel.  »Die  Wissenschaft  der  Übereinstimmungen  war 
die  höchste  Wissenschaft  der  Alten.  Die  Asiaten  und  die  Ägypter 
drückten  dieselbe  in  Hieroglyphen  aus,  welche,  als  sie  unver- 
ständlich wurden,  Götzendienst  hervorriefen.  Nur  die  Über- 
einstimmungen können  die  geistigen  Augen  öffnen,  die  spirituelle 
Welt  entschleiern  und  zum  Erfassen  des  Übersinnlichen  führen.“ 
An  einer  anderen  Stelle  heifst  es:  »Wollt  ihr  wissen,  was  der 
Glaube  und  das  Erbarmen  eigentlich  sind,  so  denket  euch  statt 
dieser  Begriffe  die  Begriffe  Wärme  und  Licht  und  ihr  werdet 
alles  verstehen.  Der  Kern  des  Glaubens  ist  die  Wahrheit,  d.  h. 
die  Weisheit;  der  Grundzug  des  Erbarmens  ist  die  Zuneigung, 
d.  h.  die  Liebe.  Liebe  und  Weisheit  oder  Erbarmen  und  Glaube 
oder  das  Gute  und  das  Wahre  bilden  das  göttliche  Leben  im 
Menschen.“  ln  der  Schilderung  der  Himmelsgefilde  kommt  eine 
Stelle  vor,  in  welcher  der  Swedenborg  geleitende  Engel  (vielleicht 
der  Logenaufseher?)  sagt,  dafs  alle  Dinge  ringsumher  Ȇber- 
einstimmungen der  Engelswissenschaft“  seien,  dafs  die  Pflanzen, 
die  Früchte,  die  Steine  etc.  einander  entsprechen,  d.  h.  mit  ein- 
ander übereinstimmen.  Wie  es  im  Leben  drei  Grade  gebe,  gebe 
es  auch  drei  Himmel  und  die  Daseinsbedingungen  ihrer  respek- 


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168 


Mystiker. 


tiven  Insassen  stimmen  mit  denen  der  in  die  drei  maurerischen 
Grade  Eingeweihten  überein. 

»Neu-Jerusalem«  kann  übrigens  auch  noch  als  ein  Protest 
gegen  die  Herrschaft  des  Papstes  gelten,  die  von  Swedenborg, 
wie  von  allen  Sektierern,  verabscheut  wurde.  Gleich  den  Albi- 
gensern, suchte  er  ihr  Schicksal  in  der  Apokalypse.  Er  erklärte, 
die  verderbte  römische  Geistlichkeit  müsse  einer  besseren  Priester- 
schaft weichen,  die  verfallene  und  götzendienerische  Kirche  einem 
neuen  Tempel  Platz  machen.  Um  das  Gewicht  seiner  Worte  zu 
erhöhen,  fügte  er  hinzu:  »Was  ich  euch  sage,  habe  ich  im 
Himmel  erfahren,“  womit  er  wahrscheinlich  den  Einweihungs- 
himmel meinte.  Unsere  wenigen  Auszüge  werden  zur  Kenn- 
zeichnung des  Geistes  der  Swedenborgschen  Schriften  genügen. 
Aus  ihnen  geht  hervor,  dafs  man  den  geheimen  Sinn  der  meisten 
Riten,  Abzeichen  und  Geheimgesellschaften  nur  dann  ergründen 
kann,  wenn  man  die  doppelte  und  oft  sogar  dreifache  Bedeutung 
der  betreffenden  Figuren  etc.  kennt  und  beachtet.  Jedes  Sinnbild 
ist  ein  Mysterium ; alle  in  geheimen  Versammlungen  vorkommenden 
Namen,  Formeln,  Gegenstände  u.  s.  w.  deuten  auf  verborgene 
Wahrheiten  hin,  deren  Enthüllung  wahrscheinlich  gefährlich  wäre, 
weshalb  sie  eben  doppelt  und  dreifach  verschleiert  werden. 

Die  hauptsächlichste  der  Sekten,  die  auf  Grund  der  mys- 
tischen Werke  unseres  Schweden  entstanden  sind,  ist  die  »Neue 
Kirche  des  himmlischen  Jerusalem".  Ihre  Mitglieder  glauben  an 
des  Meisters  wunderbare  Weissagungen,  an  dessen  Gespräche 
mit  Engeln,  an  die  seraphischen  Heiraten  der  Auserwählten,  und 
sie  halten  sich  für  die  »wahren«  Jünger  Christi,  weil  Swedenborg 
die  »Sonne  der  Barmherzigkeit“,  welche  das  ganze  Weltall  er- 
leuchtet und  erwärmt,  die  »Welterlöserin"  nennt.  Die  gröfste 
Verbreitung  hat  diese  »Kirche“  in  England.  Einige  andere 
Sekten  rühmen  sich,  in  die  tiefsten  Geheimnisse  ihres  Leitsterns 
eingedrungen  zu  sein.  Am  bemerkenswertesten  ist  die  der 
»Illuminaten  von  Avignon«.  Der  Benediktinermönch  Pernetti 
und  der  polnische  Edelmann  Gabrianca,  ein  Freimaurer,  waren 
die  Ersten,  welche  die  Schwärmereien  Swedenborgs  mit  seltsamen 
Riten  und  Zeremonien  verquickten.  Die  von  ihnen  gegründete 
Illuminatengesellschaft  (nicht  zu  verwechseln  mit  der  baierischen, 
von  der  wir  im  9.  Buch  sprechen  werden)  hatte  ihren  Hauptsitz 
in  der  provengalischen  Päpstestadt  und  Zweiglogen  in  den  gröfsten 
Städten  Frankreichs.  Die  Mitglieder  befafsten  sich  mit  Philosophie, 
Astronomie  und  Sozialwissenschaft. 

Damit  Paris  sich  nicht  mit  einem  Zweig  des  Avignoner 
Bundes  begnügen  müsse,  sondern  einen  eigenen  Sweden- 
borgianischen  Ritus  habe,  rief  der  Freimaurer  Chartanier,  damals 
Meister  vom  Stuhle  der  Pariser  Loge  »Sokrates«,  1766  unter  Ab- 


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Emanuel  Swedenborg. 


169 


änderung  des  Avignoner  Ritus  den  Orden  der  »Erleuchteten 
Theosophen«  ins  Leben.  Nach  Entfaltung  einer  eifrigen  Pro- 
paganda in  Frankreich  errichtete  er  auch  in  London  eine  Loge, 
welche  jedoch  nicht  lange  bestand,  obgleich  sie  anfänglich  viel 
Anklang  fand.  Ein  anderer  Ausläufer  des  Avignoner  Ritus  war 
der  ebenfalls  von  Pemetti,  der  ein  Alchimist  war,  geschaffene 
»hermetische“  Ritus,  der,  weit  mehr  alchimistischer  als  frei- 
maurerischer Natur,  später  von  dem  Pariser  Arzt  Boileau,  einem 
Anhänger  Pernettis,  in  ausschliefslich  maurerischer  Richtung  um- 
gestaltet wurde  und  dann  die  Bezeichnung  »Philosophischer 
Schottenritus"  führte.  Diese  beiden  Ritenvarianten  wurden  nach- 
mals zu  zwölf  Graden  vereinigt,  deren  letzter,  »Erhabener  Meister 
des  leuchtenden  Ringes"  genannt,  sich  rühmte,  von  Pythagoras 
abzustammen.  1780  entstand  in  Frankreich  eine  »Akademie  der 
erhabenen  Meister  des  leuchtenden  Ringes“,  deren  Einweihungs- 
lehren den  angeblichen  Philosophemen  des  Weisen  von  Samos 
entsprachen. 

Eine  andere  Swedenborgianische  Vereinigung  maurerischer 
Natur  war  die  Pariser  Loge  »Die  vereinigten  Freunde“,  deren 
Mitglieder,  zu  denen  u.  a.  auch  Condorcet  gehörte,  sich  „Phila- 
letiker“  (Wahrheitssucher)  nannten.  Der  Gründer  war  der  könig- 
liche Schatzmeister  Lavalette  de  Langes.  Dieser  Orden  hatte 
zwölf  Grade  (»Klassen"  oder  »Kammern");  die  ersten  sechs 
hiefsen  Niedrige,  die  übrigen  Hohe  Maurerei.  Wie  alle  maurerischen 
Gesellschaften,  wollten  auch  die  Wahrheitsforscher  die  Menschen 
zu  ihrer  ursprüngliche^  Tugend  und  Freiheit  zurückführen.  In 
ihrer  Logenbücherei  besafsen  sie  eine  reiche  Fülle  von  Werken 
und  Handschriften  über  Geheimbünde;  auch  hatten  sie  ein 
grofses  chemisches  Laboratorium  und  ein  naturgeschichtliches 
Museum.  Nach  dem  Tode  de  Langes'  (1788)  löste  sich  der 
Bund  auf.  Eine  ähnliche  Loge  entstand  1780  in  Narbonne.  Die 
Mitglieder  nannten  sich  »Philadelphia“  (nicht  zu  verwechseln 
mit  den  Londoner  Philadelphiern  der  Jane  Lead;  vgl.  »Jakob 
Böhme“)  und  zerfielen  in  drei  »Tempel“  und  zehn  »Klassen« 
oder  »Zirkel".  Nach  den  drei  ersten  maurerischen  Graden 
kamen:  der  vierte,  welcher  die  »vollkommenen  Meister“,  die 
»Auserwählten“  und  die  »Architekten"  umfafste;  der  fünfte  (die 
»erhabenen  Schotten«);  der  sechste  »(Ritter  des  Ostens"  und 
»Fürsten  von  Jerusalem“);  die  übrigen  vier  Grade  führten  die 
Bezeichnung  »I.  bis  4.  Kapitel  des  Rosenkreuzes“  und  waren 
von  phlosophisch-physikalischer  Maurerwissenschaft , sowie  von 
allerlei  mystischen  Kenntnissen  erfüllt,  die  für  geeignet  gehalten 
wurden,  den  menschlichen  Geist  zu  stärken  und  zu  erbauen. 

Der  eigentliche  »Swedenborg-Ritus«  war  eine  Abart  des 
Avignonischen.  Gestiftet  wurde  er  1783  vom  Marquis  de  Thome, 


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170 


Mystiker. 


welche  die  „wahre"  Bedeutung  der  Lehren  des  nordischen  Mystikers 
erfafst  zu  haben  glaubte.  Dieser  Ritus  hat  jetzt  noch  mehrere 
Logen  im  Norden  Europas.  Seine  sechs  Grade  sind:  Lehrling. 
Genosse,  Meister-Theosoph,  Erleuchteter  Theosoph,  Blauer  Bruder, 
Roter  Bruder.  In  demselben  Jahre  (1783)  trat  zu  Paris  der 
Orden  „Allgemeine  Aurora"  ins  Leben,  der  sich  in  erster  Reihe 
mit  Mesmerismus  befafste  und  in  welchem  Cagliostro  eine  grofse 
Rolle  spielte. 


Der  Martinismus. 

Bei  keiner  mystischen  Vereinigung  seit  Böhmes  Zeit  war 
der  Einflufs  seiner  Schriften  ein  so  auffallender  wie  beim  Mar- 
tinismus. Dieser  Orden  wurde  von  dem  portugiesischen  Juden 
Martinez  • Paschalis  gestiftet  und  von  dem  sogenannten  „unbe- 
kannten Philosophen",  dem  Marquis  de  Saint-Martin,  reformiert. 
Paschalis,  der  zum  gnostischen  Christentum  übergetreten  war, 
begann  1 7 54  seine  Propaganda  damit,  dafs  er  in  mehreren  fran- 
zösischen Städten  — insbesondere  Marseille,  Bordeaux,  Toulouse 
und  Lyon  — Jünger  um  sich  scharte.  Zwar  legten  alle  für  ihn 
die  gröfste  Verehrung  und  Ergebenheit  an  den  Tag,  aber  kein 
einziger  wurde  ein  Epopt,  d.  h.  niemand  drang  in  seine  eigent- 
lichen Geheimnisse  ein.  Seine  Geheimlehre  scheint  ein  ver- 
worrenes Gemisch  von  Gnostizismus  mit  christlichem  Judentum 
und  Kabbala  gewesen  zu  sein.  Übrigens  schoben  ihm  seine 
Jünger,  weil  sie  ihn  nicht  verstanden,  viele  Ansichten  in  die 
Schuhe,  die  er  nicht  hegte.  Sehr  grofses  Gewicht  legte  er  auf 
die  von  Böhme  gründlich  nachgewiesene  Allmacht  des  Willens. 
Gleich  dem  Görlitzer  Schuster  lehrte  Paschalis,  dafs  Verstand 
und  Wille  die  einzigen  wirklich  thätigen  Naturkräfte  seien,  dafs 
der  Mensch  die  Naturerscheinungen  durch  energisches  Wollen 
meistern  und  sich  mittels  eines  genügend  festen  Willens  sogar 
bis  zur  Erkenntnis  des  höchsten  Wesens  (ens)  aufschwingen  könne. 
Martinez  verwarf  grundsätzlich  alle  auf  Gewalt  gegründeten 
Staaten  und  jede  auf  Übereinkommen  und  Herkommen  beruhende 
Gesellschaft;  sein  Ideal  war  die  Wiederkehr  der  patriarchalischen 
Zeiten. 

Wie  seine  Lehre,  war  auch  sein  Leben  lückenhaft  und  ge- 
heimnisvoll. Heute  tauchte  er  plötzlich  irgendwo  auf,  ohne  dafs 
jemand  ahnte,  woher  er  kam.  Morgen  verschwand  er  wieder 
und  man  wufste  nicht  wohin.  Oft  erschien  er  gerade  dort,  wo 
man  ihn  am  allerwenigsten  erwartete.  Von  1768  bis  1778  lebte 


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Rosen  kreuzer. 


171 


er  abwechselnd  in  Paris  oder  Lyon.  Plötzlich  machte  er  eine 
überseeische  Reise,  um  schon  1779  auf  San  Domingo  zu  sterben. 
Vielleicht  hielt  er  diese  unberechenbaren  Bewegungen  für  not- 
wendig zur  Erhaltung  oder  Steigerung  seines  Ansehens.  De 
Maitre  teilt  mit,  dafs  der  Martin  istenorden  eigentlich  »Ritus  der 
erwählten  Priester  oder  Kahanim“  hiefs  und  dafs  von  dessen 
höheren  Graden  die  in  die  niedrigeren  Grade  Eingeweihten  keine 
Ahnung  hatten.  Man  kennt  die  Namen  - aber  nicht  das 
Rituale  — von  neun  Graden:  Lehrling,  Geselle,  Meister,  Grofs- 
erwählter,  Kahen-Lehrling,  Kahen-Geselle,  Kahen-Meister,  Grofs- 
Architekt,  Komturritter.  Der  Eifer  mehrerer  Mitglieder  — unter 
denen  sich  Saint-Martin,  Holbach  und  Duchamteau  befanden  — 
hielt  den  Bund  noch  einige  Zeit  nach  dem  Tode  Paschalis'  aufrecht. 

Der  mehrerwähnte  Saint-Martin,  der  auch  ein  gründlicher 
Böhmeforscher  war  (vgl.  »Jakob  Böhme"),  gestaltete  den  Mar- 
tinismus um  und  teilte  ihn  in  zwei  »Tempel"  mit  zusammen 
zehn  Graden.  Der  erste  »Tempel"  umfafste  die  Lehrlinge,  die 
Gesellen,  die  Meister,  die  Altmeister,  die  Erwählten,  die  Grofs- 
architekten  und  die  Meister  des  Geheimnisses,  der  zweite  die 
Fürsten  von  Jerusalem,  die  Palästinaritter  und  die  Kadoschritter. 
Unter  Saint-Martin  verbreitete  sich  die  Vereinigung  von  Lyon 
aus  über  die  gröfsten  Städte  Frankreichs,  Deutschlands  und 
Rufslands.  In  letzterem  Land  war  der  berühmte  Fürst  Repnin 
(1734  -1801)  sein  Protektor.  Gegenwärtig  ist  der  Martinismus 
ausgestorben. 


Rosenkreuzer. 


Verdienste  der  Rosenkreuzer.  Zweifelhaftigkeit  ihres  Ursprungs.  — Chris- 
tian Rosenkreuz.  — Fachliteratur.  — Zwecke  und  F.rgebnisse  der  An- 
dreäschen  Schriften.  — -Gaukeleien“.  — Rituale  und  Zeremonien.  — Die 
mystische  Tafel.  — Englische  Rosenkreuzer.  — Fludd.  — Heydon.  — Ab- 
leitung des  Bundesnamens.  — Die  Rolle  der  Rose  in  Mysterien.  — Behaup- 
tungen und  Vorschriften.  — Die  Poesie  im  Rosen  kreuzertu  m und  das 
Rosenkreuzertum  in  der  Poesie.  — Die  Haager  Loge.  — Eine  rosen- 
kreuzerische Handschrift.  - Eine  neue  Rosenkreuzerverfassung.  — Herzog 
Emst  August.  — Schroepfer,  Bischofswerder,  Wöllner,  Pianco.  - Rosen- 
kreuzer auf  Mauritius.  - Moderne  englische  Rosenkreuzer. 

Ein  poetischer  Glorienschein  umgiebt  den  Rosenkreuzer- 
orden. Zauberische  Phantasielichter  umspielen  seine  anmutigen 
Trugbilder,  und  das  Geheimnis,  mit  dem  er  sich  zu  umgeben 
wufste,  erhöht  den  Reiz  seiner  Geschichte.  Aber  sein  Glanz 


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172 


Mystiker. 


war  der  eines  Meteors.  Er  durchblitzte  das  Reich  der  Phantasie 
und  des  Geistes  vorübergehend,  um  alsbald  auf  immer  zu  ver- 
schwinden, allerdings  nicht  ohne  einige  dauernde  und  liebliche 
Spuren  seiner  Laufbahn  zu  hinterlassen.  Die  Dichtkunst  und 
die  Belletristik  verdanken  ihm  viele  fesselnde  Schöpfungen.  Die 
meisten  europäischen  Litteraturcn  enthalten  hunderte  von  ange- 
nehmen oder  prächtigen  Werken , welche  auf  der  Philosophie 
der  Rosenkreuzer  beruhen,  der  man  nicht  bestreiten  kann,  dafs 
viele  ihrer  Ideen  ungemein  geistreich  waren  und  sich  an  speku- 
lativer Geisteshöhe  mit  den  Leistungen  der  indischen  Sophisten 
messen  konnten.  Die  Alchimie  war  im  grofsen  Ganzen  zu  einer 
unwürdigen  Täuschung  herabgesunken;  sie  suchte  lediglich  welt- 
lichen Gewinn  und  befafste  sich  fast  nur  mit  irdischen  Schlacken. 
Die  Rosenkreuzer  vergeistigten  und  verfeinerten  sie,  indem  sie 
der  aussichtslosen  Suche  nach  dem  Stein  der  Weisen  ein  edleres 
Ziel  steckten  als  die  Erlangung  von  Reichtum:  nämlich  das  Öffnen 
der  geistigen  Augen,  damit  der  Mensch  befähigt  werde,  die  über- 
sinnliche Welt  zu  erblicken  und  sich  mit  innerlicher  Erleuchtung 
zu  erfüllen,  die  zu  wahrer  Erkenntnis  führen  würde.  Die  Rosen- 
kreuzer betrachteten  die  Umwandlung  der  Metalle  als  eine  Analogie 
der  Zurückleitung  des  Menschen  zum  reinen  Urzustand.  Die 
echten  Rosenkreuzer  kann  man  daher  als  Geistes-Alchimisten  oder 
Theosophen  bezeichnen. 

Der  Ursprung  des  Bundes  ist  sehr  zweifelhaft.  Nach 
manchen  Quellen  stammt  er  von  einer  seit  dem  14.  Jahrhundert 
bestandenen  Vereinigung  von  Physikern  und  Alchimisten  her,  die 
den  Stein  der  Weisen  suchten.  In  der  That  bereiste  ein  gewisser 
Niccolo  Barnaud  Deutschland  und  Frankreich  behufs  Gründung 
einer  hermetischen  Gesellschaft,  und  aus  der  Vorrede  zu  dem 
Buch  »Echo  des  Vereins  vom  Rosenkreuz"  ist  zu  entnehmen, 
dafs  im  Jahre  1597  Versammlungen  zur  Gründung  eines  alchi- 
mistischen Geheimbundes  stattfanden.  Dafs  eine  solche  Gesell- 
schaft wirklich  bestand,  geht  aus  einem  andern  Werk  hervor, 
welches  1605  unter  dem  Titel  »Wiederaufbau  des  verfallenen 
Pallas-Tempels"  erschien  und  eine  Rosenkreuzer- »Verfassung" 
wiedergab.  Fünf  Jahre  später  behauptete  der  Notarius  Haselmeyer 
in  einer  Handschrift  die,  sämtliche  Satzungen  des  Ordens  ent- 
haltende »Fama  fraternitatis"  gelesen  zu  haben.  Diese  »Fama“ 
erschien  1614  gedruckt  in  dem  Büchlein  »Allgemeine  Umgestal- 
tung der  Welt",  welches  berichtet,  im  14.  Jahrhundert  habe  der 
Deutsche  Christian  Rosenkreuz,  nach  Erlernung  der  »erhabenen 
Wissenschaft"  im  Morgenlande,  eine  solche  Gesellschaft  ins  Leben 
gerufen.  Dort  wird  von  ihm  ferner  erzählt,  dafs,  als  er  1378 
Arabien  bereiste,  einige  Philosophen,  die  er  nie  gesehen  hatte, 
ihn  mit  seinem  Namen  ansprachen  und  ihn  viele  geheime  Künste 


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Rosenkreuzer. 


173 


lehrten,  darunter  die  der  Verlängerung  des  Lebens.  Nach  seiner 
Rückkehr  soll  er  einen  grofsen  Anhang  gehabt  und  später  im 
Alter  von  150  Jahren  aus  Lebensüberdrufs  einen  Selbstmord  be- 
gangen haben.  1604  liefs  ein  Rosenkreuzer  sein  Grab  öffnen, 
in  welchem  sich  seltsame  Inschriften  und  eine  Handschrift  in 
Goldbuchstaben  vorfanden.  Die  Grotte,  in  der  dieses  Grab  ge- 
funden wurde,  scheint  nach  der  davon  entworfenen  Schilderung 
eine  mithraitische  Höhle  gewesen  zu  sein. 

Das  1615  veröffentlichte  Werk  »Confessio  fraternitatis  rosae 
crucis“  enthält  eine  Darlegung  der  Zwecke  und  des  Geistes  des 
Ordens.  Auch  die  „Thesaurinella  chymica-aurea“  des  Figulus 
(vgl.  »Die  Alchimisten")  dürfte  ein  rosenkreuzerisches  Buch  ge- 
wesen sein.  Michael  Meyers  »Themis  aurea,  hoc  est,  de  legibus 
fraternitatis  rosae  crucis“  (Köln  1615)  gab  sich  als  eine  Samm- 
lung aller  Satzungen  und  Bestimmungen  des  Bundes.  Die  ein 
Jahr  später  in  Strafsburg  veröffentlichte  deutsche  Schrift  »Die 
chymische  Hochzeit  Christiani  Rosenkreuz",  ein  komischer  Roman, 
bildet  eine  Satire  auf  die  alchimistischen  Luftschlösser  jener  Zeit. 
Der  Verfasser  war  Johann  Valentin  Andreä,  lutheranischer  Pastor 
zu  Herrenberg  bei  Tübingen.  Das  Publikum  nahm  Andreäs 
satirische  Erdichtungen  für  bare  Münze,  so  dafs  zahlreiche  billigende 
und  verurteilende  Flugschriften  und  offene  Briefe  über  die  er- 
sonnene Brüderschaft  erschienen.  Andreä  selbst  verwarf  in  spä- 
teren Veröffentlichungen  das  Rosen  kreuzertu  m.  Allerhand  Be- 

trüger gaben  vor,  zum  Bund  zu  gehören  und  »enthüllten"  dessen 
angebliche  Geheimnisse  in  Druckschriften,  deren  litterarischer 
Wert  kaum  gröfser  war  als  der  wissenschaftliche. 

ln  Andreäs  rosenkreuzerischen  Schriften  verbargen  sich 
politische  Zwecke,  insbesondere  die  Förderung  der  lutherischen 
Religion,  zu  der  sich  auch  die  Rosenkreuzer  selbst  bekannten. 
Andreä  machte  zwei  Reisen  nach  Österreich:  1612  zur  Zeit  der 
Thronbesteigung  des  Kaisers  Matthias  und  1619  kurz  nach  dessen 
Tod.  In  Linz  hatte  er  Unterredungen  mit  mehreren  lutherischen 
Adeligen,  mit  deren  Hilfe  er  behufs  Förderung  des  Protestantismus 
einige  Rosenkreuzerlogen  stiftete;  doch  erhielten  allmählich  so 
viele  Katholiken  Zutritt,  dafs  die  Tendenz  nachgerade  in  die 
gegenteilige  umschlug,  was  Andreä  veranlafste,  dem  Rosenkreuzer- 
tum  den  Rücken,  zu  kehren  und  sich,  wie  gesagt,  gegen  dasselbe 
auszusprechen.  In  Österreich  hatte  er  übrigens  auch  die  »Brüder- 
schaft Christi“  gegründet,  zu  der  viele  Mitglieder  des  protestan- 
tischen Adels  gehörten,  die  jedoch  nach  dreijährigem  Bestand  von 
der  Regierung  verboten  wurde;  den  Todesstofs  erhielt  sie  dann 
durch  den  mit  Genehmigung  des  Papstes  geschaffenen  katholischen 
Orden  vom  »blauen  Kreuz“. 

Nicht  mehr  von  Andreä  beeinflufst,  zersplitterten  sich  die 


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174 


Mystiker. 


Rosenkreuzer  bald  in  eine  Anzahl  unabhängiger  Logen,  die  aber 
meist  nur  kurze  Zeit  bestanden,  weil  sie  rasch  zu  Fallen  für  den 
Fang  bemittelter  Gimpel  entarteten.  Allein  unter  Kaiser  Joseph  II. 
erlebten  die  Rosenkreuzer,  gleich  anderen  Geheimgesellschaften, 
eine  neue  Blüte.  Die  Freimaurerei  kam  so  sehr  in  Mode,  dafs 
die  Damen  maurerische  Abzeichen  als  Amulette  trugen,  wie  auch 
Müffe,  die  den  Maurerschürzen  nachgebildet  waren.  Schliefslich 
unterdrückte  der  Kaiser  alle  Geheimbünde  mit  Ausnahme  der 
Freimaurerei.  Das  Patent,  welches  er  ihr  1785  gewährte,  begann 
folgendermafsen:  »Wir  halten  es  für  nötig,  zu  erklären,  dafs  die 
sogenannten  Maurerischen  Gesellschaften,  deren  Geheimnisse  uns 
unbekannt  sind,  weil  wir  niemals  genug  neugierig  waren,  um 
ihren  Gaukeleien  nachzuforschen  ..."  Die  Unterdrückung 
aller  anderen  Orden  führte  viele  derselben  - auch  die  Rosen- 
kreuzer — in  die  Arme  der  Freimaurerei. 

Die  »Gaukeleien“  der  Rosenkreuzer  waren  die  der  »Ver- 
fassung" von  1763.  Wir  lassen  eine  kurze  Beschreibung  folgen. 
In  dem  Versammlungssaal,  in  welchem  die  »Einweihung"  statt- 
fand, befand  sich  die  »tabella  mystica"  (=  »geheimnisvolle  Tafel“), 
die  wir  sofort  eingehender  behandeln  werden.  Den  Fufsboden 
bedeckte  ein  grüner  Teppich,  auf  dem  die  folgenden  Gegenstände 
standen  oder  lagen:  eine  auf  einem  siebenstufigen  Gestell 
schwebende  Glaskugel,  in  zwei  Teile  — Licht  und  Finsternis 
bedeutend  — geteilt;  drei  Armleuchter,  zu  einem  Dreieck  zu- 
sammengestellt; neun  Gläser  als  Sinnbilder  der  männlichen  und 
der  weiblichen  Eigenschaften;  eine  Kohlenpfanne,  ein  Zirkel,  eine 
Serviette  u.  a.  m.  Der  Kandidat  wurde  von  einem  Mitgliede  ein- 
geführt, das  ihn  in  ein  Zimmer  brachte,  auf  dessen  Tisch  sich 
Kerzen,  Federn,  Tinte,  Papier,  Siegellack,  zwei  rote  Stricke  und 
ein  nacktes  Schwert  befanden.  Der  Aufnahmebewerber  wurde 
gefragt,  ob  er  fest  entschlossen  sei,  ein  Jünger  der  wahren  Weis- 
heit zu  werden;  er  antwortete  bejahend,  legte  Hut  und  Degen 
ab  und  bezahlte  die  Aufnahmegebühren.  Nun  wurden  ihm  die 
Hände  gefesselt,  die  Augen  verbunden  und  ein  roter  Strick  um 
den  Hals  geworfen,  an  dem  er  zur  Logenthür  geleitet  wurde,  an 
die  sein  Einführer  neunmal  leise  anklopfte.  Dann  öffnete  der 
Thürhüter  und  fragte: 

»Wer  ist  da?" 

»Ein  irdischer  Leib,“  erwiderte  der  Einführer,  »welcher 
seinen  Geistmenschen  in  der  Unwissenheit  gefangen  hält.“ 

Thürhüter:  Was  willst  du,  dafs  man  ihm  thun  soll? 

Einführer:  Seinen  Leib  töten  und  den  Geist  reinigen. 

Thürhüter:  So  bringe  ihn  herein  an  den  Ort  der  Gerechtigkeit. 

Die  Beiden  treten  ein  und  stellen  sich  vor  dem  Kreis  auf. 
Der  Kandidat  läfst  sich  auf  ein  Knie  nieder;  zu  seiner  Rechten 


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Rosen  kreuzer. 


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steht  der  Meister  mit  einem  weifsen  Stab,  zu  seiner  Linken  der 
Einführer  mit  einem  Schwert.  Diese  beiden  haben  ihre  Schürzen 
angelegt.  Es  entwickelt  sich  folgendes  Gespräch. 

Meister:  Menschenkind,  ich  beschwöre  dich  durch  alle 
Grade  der  profanen  Freimaurerei  und  bei  dem  unendlichen  Zirkel, 
welcher  alle  Kreaturen  und  die  höchste  Weisheit  in  sich  fafst,  dafs 
du  mir  sagest,  zu  was  Ziel  und  Ende  du  ^inhero  gekommen  bist. 

Kandidat:  Um  Weisheit,  Kunst  und  Tugend  zu  erlangen. 

Meister:  So  lebe!  Doch  dein  Geist  soll  von  neuem  über 
deinen  Körper  herrschen.  Du  hast  Gnade  gefunden;  steh'  auf 
und  sei  frei! 

Der  Neuling  wird  entfesselt;  betritt  den  Kreis  und  legt  drei 
Finger  auf  den  Stab  und  das  Schwert,  die  von  dem  Meister  und 
dem  Einführer  kreuzweise  gehalten  werden.  So  spricht  er  den 
ihm  vorgesprochenen  Eid  nach,  durch  den  er  sich  verpflichtet, 
ein  tugendhaftes  Leben  zu  führen  und  vor  den  Bundesbrüdern 
keine  Geheimnisse  zu  haben.  Sodann  macht  man  ihn  mit  dem 
Siegel,  dem  Losungswort  und  dem  Erkennungszeichen  des  Ordens 
bekannt,  verleiht  ihm  dessen  Hut  und  Degen  und  erläutert  ihm 
den  Inhalt  der  »geheimnisvollen  Tafel.“  Auf  die  „Arbeit"  folgt, 
wie  bei  den  Freimaurern,  die  „Erfrischung.“ 

Die  „tabella  mystica“  enthielt  neun  senkrechte  und  dreizehn 
wagerechte  Abteilungen.  Die  erste  Abteilung  zeigte  die  Zahlen, 
die  zweite  die  Namen  der  Ordensgrade.  Dem  niedrigsten  Grad 
gehörten  die  „Juniores"  an,  die  fast  nichts  wufsten,  dem  höchsten 
die  „Magi“,  denen  gar  nichts  verborgen  war  und  die  — gleich 
Moses,  Hermes,  Hiram  - alle  Dinge  in  der  Gewalt  hatten.  Ihr 
Kleinod  war  ein  gleichseitiges  Dreieck.  Die  Tafel  besagte  auch, 
dafs  die  „Magi“  sich  in  jedem  zehnten  Jahr  zu  Smyrna  ver- 
sammelten, die  „Magistri“  (die  Inhaber  des  achten  Grades)  alle 
neun  Jahre  in  Camra  (Polen)  oder  Paris,  die  „Juniores"  jedes 
zweite  Jahr  an  einem  jedesmal  festzusetzenden  Orte.  Was  die 
Aufnahmegebühren  betrifft,  so  bezahlte  jeder  „Junior“  drei,  jeder 
„Magus"  neunundneunzig  Mark  Goldes;  die  „Minores“,  welche  „die 
philosophische  Sonne  kannten“  und  „Wunderkuren  vollbrachten“, 
entrichteten  beliebige  Beträge. 

ln  England  erregten  Andreäs  Schriften  grofse  Aufmerksam- 
keit. Dort  war  Robert  Fludd  der  Hauptkämpe  des  Rosenkreuzer- 
tums;  er  schrieb  zwei  einschlägige  lateinische  Werke  (1616  und 
1617).  Sein  Nachfolger  war  der  1629  geborene  Heydon;  in 
einem  seiner  rosenkreuzerischen  Bücher  („An  apologue  for  an 
epilogue“)  kommt  die  folgende  verrückte  Stelle  vor:  „Moses  war 
der  Vater  der  Rosenkreuzer.  Manche  sagen,  dafs  diese  dem 
Orden  des  Elias  oder  des  Ezechiel  angehören,  während  andere 
sie  für  die  Offiziere  des  Generalissimus  der  Welt  halten.  Sie 


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176 


Mystiker. 


sind  die  Augen  und  Ohren  des  grofsen  Königs;  sie  sehen  und 
hören  alles,  denn  sie  sind  — wie  es  Moses  war  — seraphisch 
erleuchtet:  Erde  zu  Wasser  geläutert,  Wasser  zu  Luft,  Luft  zu 
Feuer."  Solchen  Blödsinn  konnte  man  damals  der  Lesewelt 
zumuten!  In  einem  anderen  Werk  behauptete  Heydon,  es  sei 
ein  Verbrechen,  zu  essen  (er  selbst  hütete  sich  freilich,  nicht  zu 
essen),  da  die  Luft  eine  zur  Ernährung  der  Menschen  vollkommen 
hinreichende  »zarte  Fettigkeit“  enthalte,  und  es  selbst  bei  den 
gefräfsigsten  Personen  genügen  würde,  einen  Umschlag  von  ge- 
kochtem Fleisch  auf  die  Magengegend  zu  legen!!!  Man  sieht, 
dafs  es  wirklich  nichts  Neues  unter  der  Sonne  giebt,  denn 
Heydon  war  im  Punkte  des  Essens  der  Vorläufer  des  »Animis- 
mus" des  Breslauer  Professors  und  »wirklichen  Geheimrates“ 
Dr.  Lucian  v.  Pusch,  der  seine  »Freiländer"  nach  längerer  Trai- 
nierung  schliefslich  von  Äther  leben  läfst!  Anno  1646  entstand 
in  London  eine  rosenkreuzerische  Vereinigung  behufs  Ausführung 
des  in  Baco's  »Nova  Atlantis“  dargelegten  Planes,  d.  h.  der  Er- 
richtung des  Hauses  Salomonis.  Der  Teppich  in  der  Loge  dieses 
Bundes  stellte  die  Säulen  des  Hermes  vor;  sieben  Stufen  - 
von  denen  vier  die  vier  Elemente,  drei  das  Salz,  den  Schwefel 
und  das  Quecksilber  versinnbildlichten  - führten  zu  einer  Art 
Bühne,  auf  der  die  Symbole  der  sechstägigen  Weltschöpfung  zu 
sehen  waren.  Einige  der  »Brüder"  waren  Freimaurer,  aber  sie 
hielten  aufser  den  Erkennungszeichen  nichts  geheim. 

Das  Wort  » Rosen kreuzer“  wird  gewöhnlich  von  dem  mut- 
mafslichen  Stifter  des  Ordens,  Rosenkreuz,  abgeleitet.  Manche 
Forscher  leiten  es  jedoch  von  dem  Wappen  der  Familie  Andreä 
ab:  ein  Kreuz  und  vier  Rosen.  Andere  Schriftsteller,  und  zwar 
neuere,  behaupten,  es  sei  aus  »ros"  (=  Tau)  und  »crux* 
(=  Kreuz)  zusammengesetzt,  wobei  »crux“  für  »lux“  (=  Licht) 
stehe,  das  Licht  aber  nach  Ansicht  der  Rosenkreuzer  Gold  er- 
zeuge, während  der  Tau  von  den  Alchimisten  als  ein  kräftiges 
Lösemittel  betrachtet  wurde.  Dagegen  wendet  Waite  in  seiner 
»Wahren  Geschichte  der  Rosenkreuzer“  (London  1887)  in  ein- 
leuchtender Weise  ein,  dafs  die  Rosenkreuzer  die  Rose  und  das 
Kreuz  deshalb  als  Abzeichen  wählten,  weil  sie  eifrige  Protestanten 
waren  und  Luther  fast  vergötterten,  Luthers  Siegel  aber  ein  kreuz- 
gekröntes, aus  der  Mitte  einer  Rose  emporragendes  Herz  war. 
Indessen  dürfen  wir  bei  aller  Plausibilität  dieser  Erklärung  nicht 
vergessen,  dafs  Kreuz  und  Rose  von  jeher  in  den  mystischen 
Systemen  der  Welt  Sinnbilder  von  hoher  Wichtigkeit  waren. 
Wir  begegnen  ihnen  schon  in  der  frühesten  indischen  Götter- 
lehre, indem  Lakschemi,  die  Gattin  Wischnus,  in  einer  Rose  mit 
108  Blättern  gefunden  wurde  (daher  108  als  Zahl  der  Perlen 
<1es  indischen  Rosenkranzes!)  und  die  Hindus  das  Kreuz  als 


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Rosen  kreuzer. 


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das  Sinnbild  der  Schöpfung  betrachteten.  Auch  in  den  eleusi- 
nischen  Mysterien  und  bei  Apulejus  spielte  die  Rose  eine  her- 
vorragende Rolle.  Ganz  klar  ist  der  Ursprung  des  Wortes 
.Rosenkreuzer"  also  nicht. 

Dafs  das  Rosen kreuzertum  einigermafsen  mit  den  ritterlichen 
Orden  der  Troubadours  und  der  Albigenser  zusammenhing,  läfst 
sich  nicht  leugnen.  Wie  diese,  hafsten  auch  die  Rosenkreuzer 
das  Papsttum  und  nannten  den  Katholizismus  die  Religion  des 
Hasses;  den  Papst  selbst  hielten  sie  für  den  Antichrist.  Im 
übrigen  waren  sie  ziemlich  ruhmredig,  denn  sie  behaupteten, 
weder  Hunger  noch  Durst  zu  fühlen,  weder  Krankheiten  noch 
dem  Alter  unterworfen  zu  sein,  wohl  aber  sich  unsichtbar  machen 
zu  können,  Geister  zu  befehligen  und  für  Perlen  uhd  Edelsteine 
Anziehungskraft  zu  besitzen;  auch  erklärten  sie,  dafs  ihr  Bund 
den  Zweck  verfolge,  alle  Wissenschaften  — namentlich  die  Me- 
dizin - aufzufrischen  und  durch  Geheimkünste  genügende  Reich- 
tümer  zu  erlangen,  um  die  Könige  und  sonstigen  Machthaber 
mit  den  zur  notwendigen  Umgestaltung  der  menschlichen  Gesell- 
schaft erforderlichen  Mitteln  versehen  zu  können.  Ihre  fünf 
hauptsächlichsten  Pflichten  waren:  Kranke  unentgeltlich  zu  heilen, 
öffentlich  die  Tracht  ihres  Aufenthaltslandes  zu  tragen,  den 
Jahresversammlungen  des  Ordens  beizuwohnen,  das  Bundesge- 
heimnis hundert  Jahre  lang  zu  bewahren  und  auf  dem  Sterbebett 
einen  Nachfolger  zu  ernennen. 

Der  Mailänder  Giuseppe  Francesco  Borri  — derselbe,  der 
wegen  seines  Auftretens  gegen  die  Mifsbräuche  des  Papsttums 
von  der  römischen  Inquisition  auf  Lebenszeit  eingekerkert  wurde 
und  anno  1695  im  Gefängnis  starb  — schrieb  ein  Buch,  »Schlüssel 
zum  Kabinett  Borris“,  dem  wir  viel  verdanken  von  unserer 
Kenntnis  des  »dichterischen  Glanzes,  der  den  Orden  umgab." 
Aus  diesem  Werk  erfahren  wir,  dafs  die  Rosenkreuzer  allem 
Aberglauben  von  Zauberei,  Hexerei  und  Teufelsverkehr  kräftig 
entgegentraten,  das  Vorhandensein  von  Dämonen,  Kobolden  und 
anderen  Ausgeburten  des  Mönchswahns  leugneten  und  dagegen 
erklärten,  dafs  der  Mensch  von  zahllosen  schönen  und  wohl- 
thätigen  Wesen  umgeben  sei,  die  durchweg  den  Wunsch  hegen, 
sich  ihm  nützlich  zu  erweisen.  Es  seien  dies  die  Elementar- 
oder Naturgeister.  Die  Luft  sei  von  Sylphiden,  das  Wasser  von 
Undinen  oder  Najaden,  die  Erde  von  Gnomen,  das  Feuer  von 
Salamandern  erfüllt.  All  diese  »Geister“  könne  der  Rosenkreuzer 
sich  dienstbar  machen,  einkerkern  (und  zwar  in  Ringe,  Spiegel 
oder  Steine),  nach  Belieben  herbeirufen  und  zur  Beantwortung 
seiner  beliebigen  Fragen  zwingen.  So  grofs  die  Macht  dieser 
Geschöpfe  auch  sei  und  so  wenig  sie  durch  Raum  oder  Stoff 
beschränkt  seien,  habe  der  Mensch  doch  etwas  vor  ihnen  voraus : 

Heckcthora* Kätscher,  Geheimbunde  u.  Geheimlehren.  12 


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Mystiker. 


die  unsterbliche  Seele;  aber  wenn  es  einem  solchen  Wesen  ge- 
linge, die  Liebe  eines  Menschen  zu  erringen,  könne  es  ebenfalls 
unsterblich  werden.  (Auf  diesen  und  ähnlichen  poetischen  Phan- 
tastereien der  Rosenkreuzer  beruhen  u.  a.  Fouquös  »Undine“ 
und  Popes  »Lockenraub".)  Da  die  Naturgeister  aus  nur  einem 
Element  bestehen,  und  noch  dazu  blofs  aus  dessen  reinsten  Be- 
standteilen, können  sie  Tausende  von  Jahren  leben.  Die  Rosen- 
kreuzer glaubten  ferner  an  die  »signatura  rerum“,  d.  h.  an  die 
Lehre,  dafs  alles  Sichtbare  äufserlich  den  Stempel  seiner  inner- 
lichen — spirituellen  — Wesenheit  trage.  Auch  meinten  sie, 
dafs  der  Mensch  durch  grofse  Tugendhaftigkeit  schon  auf  Erden 
einen  Blick  in  die  spirituelle  Welt  thun  und  den  Stein  der  Weisen 
finden  könne,  der  »mit  der  himmlischen  Wesenheit  in  engem 
Zusammenhang  steht“.  Ihr  »heiliges  Wort“  war  INR1;  diese 
vier  Buchstaben  bedeuteten  nach  ihrer  Angabe  nicht  »Jesus  Na- 
zarenus  Rex  Judaeorum",  sondern  »Igne  Natura  Regenerando 
Integrat.“ 

1622  wurde  Ludwig  Conrad  aus  Bingen  als  Rosenkreuzer, 
» Montanus"  genannt,  aus  einer  Haager  Rosen kreuzerloge  ver- 
trieben, die  im  Haag  einen  prächtigen  Palast  besafs,  aber  auch 
in  Amsterdam,  Danzig,  Nürnberg,  Hamburg,  Mantua,  Venedig 
und  anderen  grofsen  Städten  Zusammenkünfte  abhielt.  Der 
Meister  wurde  »Imperator“  genannt.  Die  Mitglieder  tmgen 
öffentlich  eine  schwarze  Schnur,  in  den  Versammlungen  jedoch 
ein  goldnes  Band,  an  dem  ein  goldnes  Kreuz  und  eine  goldne 
Rose  befestigt  waren.  Die  Mitgliedskarte  bestand  in  einem  Per- 
gament mit  vielen  Siegeln,  deren  Anlegung  mit  grofsen  Umständ- 
lichkeiten verbunden  war.  Bei  öffentlichen  Umzügen  wurde  eine 
kleine  grüne  Fahne  getragen.  Der  erwähnte  Montanus  erzählte 
in  seinem  Buch  »Einführung  in  die  Hermetik",  er  habe  sein 
und  seiner  Gattin  Vermögen,  insgesamt  1 1 000  Thaler  (für  jene 
Zeit  eine  gewaltige  Summe),  den  Interessen  jener  Loge  geopfert, 
sei  nach  seiner  gänzlichen  Verarmung  ausgestofsen  worden  und 
habe  versprechen  müssen,  die  Geheimnisse  zu  hüten.  »Dies 
habe  ich  gethan,  denn  es  gab  nichts  zu  enthüllen.“  Die  an- 
geblichen Geheimnisse  sollen  in  einem  Büchlein  enthalten  gewesen 
sein,  das  sich  ebenso  angeblich  »Sinceri  Renati  Theophi losophia 
theoretico-practica“  betitelt  und  kaum  zu  beschaffen  ist.  Die 
Haager  Loge  soll  sich  im  Anfang  des  1 8.  Jahrhunderts  auf- 
gelöst haben. 

Aus  einer  Bemerkung  zu  schliefsen,  welche  Dr.  v.  Harless 
in  seinem  Werke  »Jakob  Böhme  und  die  Alchimisten"  (2.  Auf- 
lage: Leipzig  1882)  macht,  mufs  um  1641  in  Deutschland  eine 
rosen  kreuzerische  Vereinigung  bestanden  haben.  Der  Genannte 
schreibt:  »Seitdem  ist  es  mir  gelungen,  Einsicht  in  ein,  meines 


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Rosen  kreuzer. 


179 


Wissens  bisher  unbekanntes  rosenkreuzerisches  Manuskript  zu 
bekommen.  Dasselbe  wurde  in  den  60er  Jahren  des  18.  Jahr- 
hunderts zu  Leipzig  gefertigt.  Es  enthält  abschriftlich  einen 
Statutenentwurf  der  Rosenkreuzer  unter  der  Aufschrift:  „Testa- 
mentum».  Das  Original  mufs  aus  der  zweiten  Hälfte  des  17. 
Jahrhunderts  stammen.  Dies  ergiebt  sich  daraus,  dafs  in  den 
Statuten  die  Pflicht  der  Verschwiegenheit  namentlich  gegen  katho- 
lische Ordensleute  durch  Hinweisung  auf  einen  Vorfall  einge- 
schärft wird,  welcher  infolge  zu  grofser  Vertraulichkeit  und 
Offenherzigkeit  im  Jahre  1641  zwei  rosenkreuzerischen  Brüdern 
in  Österreich  grofses  Unheil  gebracht  habe.  Das  Manuskript 
enthält  teils  die  Statuten  oder  Regeln  der  Verbrüderung,  teils 
Anweisung  zu  alchimistischen  Operationen.  Aus  dem  ersten 
Teil  hebe  ich  hervor,  dafs  nach  diesem  „Testamentum“  der 
Orden  unter  einem  Obersten  mit  dem  Titel  „Imperator“  stand, 
als  Hauptsitze  oder  Zentralpunkte  des  Ordens  Ancona,  Nürnberg, 
Hamburg  und  Amsterdam  genannt  werden,  übrigens  nur  wenige 
Mitglieder  an  einem  Orte  beisammen  wohnen  durften,  den  Wohn- 
sitz alle  zehn  Jahre  ändern  und  sich  auch  in  Bezug  auf  ihre 
Existenz  der  gröfsten  Geheimhaltung  befleifsigen  sollten.  Die 
Lehrzeit  dauerte  sieben  Jahre.  Grufs  und  Erkennungszeichen 
bestand  in  folgender  Formel:  Anrede:  „Ave  frater!“  Antwort: 
„roseae  et  aureae".  Der  Erste:  „crucis".  Dann  beide  aufeinander: 
„Benedictus  deus  qui  dedit  nobis  signum“.  Hierauf  gegenseitige 
Vorzeigung  des  „signum“,  bestehend  in  einem  in  Metall  gravierten 
Siegel,  von  welchem  efn  Exemplar  mir  ebenfalls  zu  Gesicht  kam.“ 

Da  Dr.  v.  Harless  inzwischen  gestorben  ist  und  in  seinem 
Buch  den  Aufbewahrungsort  des  Manuskripts  nicht  angegeben 
hat,  konnten  wir  der  Sache  nicht  weiter  nachgehen.  Doch  scheint 
die  in  Rede  stehende  Gesellschaft  mit  der  in  der  „Thesaurineila" 
erwähnten  (vgl.  „Die  Alchimisten")  identisch  gewesen  zu  sein. 

Anno  1714,  also  etwa  hundert  Jahre  nach  den  Veröffent- 
lichungen Andreaes,  erschien  eine  neue  Rosenkreuzer-Verfassung 
unter  dem  Titel  „Dje  wahre  und  vollkommene  Bereitung  des 
Steines  der  Weisen  der  Brüderschaft  vom  Gold-  und  Rosenkreuz, 
von  Sincero  Renato,  Breslau."  Dieses  Werk  zerfällt  in  zwei 
Teile:  „practica  ordinis  minoris“  und  „practica  ordinis  majoris". 
Hieraus  geht  hervor,  dafs  der  Orden  in  zwei  Brüderschaften 
gesondert  war.  Die  höhere  hiefs  „Brüderschaft  vom  Goldkreuz" 
und  ihr  Abzeichen  war  ein  rotes  Kreuz,  während  das  der  nied- 
rigeren, die  sich  „ Brüderschaft  vom  Rosenkreuz“  nannte,  ein  grünes 
Kreuz  bildete.  Aus  diesen  Daten  zu  schliefsen,  war  der  Orden 
eigentlich  ein  alchimistischer.  Wie  in  der  Haager  Loge  und  bei 
den  Illuminaten  (vgl.  „Gesellschaftliche  Wiedergeburt“,  Abschnitt 
„Illuminaten“),  nahm  auch  hier  jeder  Eingeweihte  einen  fingierten 

12* 


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180 


Mystiker. 


Bundesnamen  an.  Nur  unverheiratete  Männer  wurden  aufge- 
nommen. Wollte  ein  Mitglied  heiraten,  so  durfte  er  es  nur  unter 
der  Bedingung  thun,  dafs  er  mit  seiner  Frau  blofs  »philosophisch» 
lebe.  Auch  schrieben  die  Satzungen  vor,  dafs  Eingeweihte,  die 
den  Machthabern  in  die  Hände  fallen,  eher  den  Tod  erleiden  als 
die  Bundesgeheimnisse  verraten  sollten. 

Der  erste  moderne  Schriftsteller,  der  sich  offen  als  Rosen- 
kreuzer bekannte,  war  Herzog  Ernst  August  von  Sachsen-Weimar, 
der  1742  sein  Büchlein  »Theosophische  Andachtsübungen«  in 
rotem  Maroquineinband  in  kleiner  Auflage  veröffentlichte.  Die 
Schlufsvignette  deutet  an,  dafs  die  »letzte  grofse  Vereinigung  von 
Brüdern“,  von  der  der  Herzog  spricht,  die  Rosenkreuzer  waren. 
Die  »Allgemeine  Verfassung«  eines  von  Freimaurern  gestifteten 
neueren  deutschen  Rosenkreuzerordens  wurde  im  Jahre  1763  fest- 
gestellt. Sie  beruhte  auf  der  »Themis  aurea«  des  Michael  Maier, 
des  gewesenen  Leibarztes  und  Alchimisten  des  Kaisers  Rudolf. 
Aus  diesem  Wiederaufleben  des  Rosenkreuzertums  suchten  viele 
Abenteurer  Vorteil  zu  ziehen.  Der  Nürnberger  Kaffeesieder 
Johann  Georg  Schroepfer  z.  B.  errichtete  in  seinem  Hause  eine 
Loge  (1777)  und  wufste  sich  einen  so  grofsen  Anschein  aus- 
schließlicher Geheimkenntnisse  zu  geben,  dafs  die  Herzoge  von 
Braunschweig  und  Kurland  — welch  letzterer  ihn  einst  hatte 
peitschen  lassen  — ihn  nach  Dresden  beriefen  und  dort  offen 
begünstigten.  Er  hinterging  seine  Gönner  mit  angeblichem 
Geisterspuk  und  allerlei  Zaubererscheinungen,  die  er  in  Wirk- 
lichkeit mittels  Zauberlaternen  und  Konkavspiegeln  hervorrief. 
Als  man.  ihm  hinter  seine  Schliche  kam  und  ihm  daher  'jede 
weitere  Geldunterstützung  entzog,  erschofs  er  sich  in  der  Nähe 
von  Leipzig. 

Dieser  ganz  gewöhnliche  Betrüger  hinterliefs  Nachfolger. 
Der  Major  und  nachmalige  preufsische  Kriegsminister  Johann 
Rudolf  Bischofswerder  (1741  -1803)  und  der  Geistliche  Johann 
Christoph  Wöllner  (1732—1800),  später  als  preufsischer  Kultus- 
minister sehr  bekannt  geworden,  waren  die  Nachfolger  Schroepfers. 
Unter  dem  Schutz  des  Kronprinzen  Friedrich  Wilhelm  errichteten 
sie  in  Berlin  eine  Rosenkreuzerloge.  Die  Folge  war,  dafs  die 
freisinnigen  Regierungsgrundsätze  Friedrichs  des  Grofsen  unter 
dessen  Nachfolger  bald  einem  »religiösen«  Verfolgungsgeist  wichen. 
Während  die  beiden  sonderbaren  Minister  den  König  mit  dem 
Vorführen  von  Gespenstererscheinungen  und  mit  Trinkgelagen 
unterhielten , bewogen  sie  ihn  zum  Erlassen  des  berüchtigten 
Religionsedikts  von  1788,  welches  sich  gegen  das  Überhand- 
nehmen der  »gottlosen«  Bahrdtschen  Illuminatenbewegung  rich- 
tete und  die  Press-Zensur  wieder  einführte.  Das  von  einem  Ex- 
Mitglied  der  in  Rede  stehenden  Loge,  »Meister  Pianco«,  verfafste 


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Rosenkreuzer. 


18) 


Buch  ,.Der  Rosenkreuzer  in  seiner  Nacktheit“  (1782)  bildete 
einen  mit  Enthüllungen  verbundenen  heftigen  Angriff  auf  die 
Rosenkreuzer,  allein  der  Betrug  erhielt  sich  noch  einige  Zeit 
aufrecht. 

Ober  den  soeben  genannten  Pianco  finden  sich  in  dem 
anonymen  Werk  »Das  Ganze  aller  geheimnisvollen  Ordensver- 
bindungen“ (Leipzig  1805),  dessen  Verfasser  offenbar  ein  gründ- 
lich Eingeweihter  war,  die  folgenden  Mitteilungen:  »Er  war  lange 
ein  Freimaurer,  ehe  er  ein  Rosenkreuzer  wurde.  Sein  Oberhaupt 
war  halb  Mensch,  halb  wildes  Tier.  Kein  rechtschaffener  Christ 
konnte  mit  ihm  zu  thun  haben,  ohne  fürchten  zu  müssen,  bei 
lebendigem  Leib  geschunden  zu  werden.  Wurden  Zweifel  ge- 
äufsert,  so  stiefs  er  Lästerungen  aus,  deren  sich  selbst  der  ärgste 
Bösewicht  geschämt  haben  würde.  Pianco  schüttelte  den  Staub 
der  Kammer  dieser  Person  von  seinen  Füfsen  und  entzog  sich 
der  Gesellschaft  solcher  Heiden.“  Derlei  spricht  nicht  gerade 
für  eine  günstige  Zusammensetzung  der  Rosenkreuzerbrüderschaft, 
»deren  Bär  angeblich  nur  nach  den  sanftesten  Melodien  zu 
tanzen  pflegte“. 

Waite  berichtet  über  eine  Rosenkreuzergesellschaft,  die  um 
1 794  auf  der  Insel  Mauritius  bestand.  Er  sagt,  dafs  seine  Quelle 
eine  wörtliche  Abschrift  der  »Aufnahme  des  Dr.  Bacstrom"  tin 
jene  Vereinigung  durch  den  Grafen  v.  Chazal  giebt  »In  diesem 
Schriftstück  verspricht  Dr.  Bacstrom  u.  a.,  die  ihm  mitzuteilenden 
geheimen  Kenntnisse  nie  zu  verraten,  würdige  Personen  einzu- 
führen (auch  Frauen  hatten  Zutritt  und  sie  hiefsen  »Kreuz- 
schwestern"), das  »grofse  Werk  möglichst  bald  zu  beginnen«, 
ferner,  »der  Kirche  nichts  zu  schenken“  und  das  »gegorene  me- 
tallische Umwandlungsmittel"  niemand  zu  geben,  es  sei  denn 
einem  Rosenkreuzer."  Die  Urkunde  trägt  das  »philosophische“ 
Siegel  der  Gesellschaft.  Dieses  zeigt  einen  Kreis,  in  welchem 
sich  ein  Quadrat  befindet,  das  ein  Dreieck  einschliefst,  in  dem 
ein  Mann  aufrecht  steht,  neben  dessen  Haupt  und  Füfsen  allerlei 
kabbalistische  Zeichen  angebracht  sind. 

Waite  verdanken  wir  auch  die  Mitteilung,  dafs  in  England 
vor  1836  eine  pseudo-rosenkreuzerische  Vereinigung  bestand. 
Die  jetzige  Londoner  Rosenkreuzergesellschaft  wurde  vor  etwa 
dreifsig  Jahren  umgestaltet  und  seither  können  nur  Freimaurer 
Aufnahme  finden.  »Die  Funktionäre  sollen  sein:  drei  Magi,  ein 
Obermeister,  ein  Generalschatzmeister,  ein  Generalsekretär,  sieben 
Älteste,  ein  Organist,  ein  Fackelträger,  ein  Herold,  ein  Tempel- 
hüter und  ein  Medailleur.  Die  Mitglieder  sollen  alljährlich 
viermal  Zusammenkommen  und  einmal  gemeinsam  speisen.  Jeder 
Neuling  hat  einen  lateinischen  Merkspruch  anzunehmen,  den  er 
seiner  Unterschrift  im  schriftlichen  Verkehr  mit  dem  Orden  hin- 


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182 


Mystiker. 


zufügen  rnufs.“  Das  Geschmeide  des  höchsten  Magus  ist  ein 
Ebenholzkreuz  mit  goldenen  Rosen,  überragt  von  einer  goldenen 
Krone;  es  wird  an  einem  karmesinroten  Sammtband  um  den 
Hals  getragen.  Das  Geschmeide  der  anderen  Funktionäre  besteht 
in  einem  rautenförmigen,  weifs  emaillierten  Goldplättchen,  in 
dessen  Mitte  das  Rosenkreuz  sichtbar  ist,  welches  von  einer 
goldenen  Mitra  überragt  wird,  auf  deren  Krempe  das  Wort  LUX 
in  rosenroten  Schmelzbuchstaben  leuchtet,  während  die  Mitte  (der 
Mitra)  ein  kleines  rosenrotes  Kreuz  aufweist.  Dasselbe  Geschmeide, 
jedoch  ohne  Mitra  und  ohne  das  gestickte  Kreuz,  wird  von  den 
gewöhnlichen  »Brüdern“  an  einem  zollbreiten  grünen  Band  ge- 
tragen. 1871  teilte  der  Bund  seinen  Mitgliedern  mit,  sein  Ziel  sei 
lediglich,  litterarische  Untersuchungen  und  Altertumsforschungen 
anzustellen.  'Er  umfafste  damals  134  „fratres“;  die  meisten 
wohnten  in  London,  die  anderen  verteilten  sich  auf  Bristol,  Man- 
chester, Edinburgh  etc.  Die  Seele  des  Ganzen  war  Robert  Went- 
worth  Little  und  als  Grofsschutzherr  fungierte  Lord  Lytton.  Dafs 
die  Mitglieder  keinerlei  „rosenkreuzerische"  Wissenschaft  treiben, 
geben  sie  selbst  zu.  Von  1868  bis  1879  gab  der  Orden  eine 
kleine  , geheime  Vierteljahrsschrift,  den  „Rosenkreuzer“,  heraus; 
dieselbe  war  Waites  Quelle  und  auf  sie  seien  jene  Leser  ver- 
wiesen, die  sich  für  den  Gegenstand  etwa  näher  interessieren. 


Asiatische  Brüder. 


Entstehung.  — Lehren.  — Markus  ben  Bind.  — Einteilung.  — Einweihung. 
— »Ritter  und  eingevreihte  Brüder.“  — »Weise  Meister."  — Die  »königlichen 
Priester."  — Organisation  des  Ordens.  — Rosen  kreuzerische  Abenteurer.  — 
Fraxinus  und  Gordianus.  — Der  betrogene  Schulmeister.  — »Theoretische 

Brüder." 

Der  Orden  der  Asiatischen  Brüder  entstand  wahrscheinlich 
um  1780.  Seine  Oberhäupter  wurden  erst  1788  bekannt,  doch 
vermutete  man  schon  früher,  dafs  Baron  Ecker  und  Eckhofen 
zu  ihnen  gehörte.  Dieser  Mann,  der  zuerst  in  Wien  und  später 
in  Schleswig  lebte,  erwarb  sich  durch  seine  Schriften  einen 
grofsen  Ruf ; allein  die  Abergläubischen  verschrieen  ihn  als  einen 
furchtbar  bösen  Zauberer.  Von  Italien  aus  verbreitete  sich  der 
Geheimbund  nach  Rufsland.  Ohne  das  Rosenkreuzertum  zu 
lehren,  beruhte  er  auf  rosenkreuzerischer  Grundlage  und  nannte 
die  Inhaber  seines  dritten  Hauptgrades  »wahre  Rosenkreuzer." 


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Asiatische  Brüder. 


183 


Seine  Versammlungen  führten  die  Bezeichnung  »Melchisedek- 
Logen“  und  seine  »Meister“  hiefsen  »die  verehrungswürdigen 
Häupter  der  sieben  Kirchen  Asiens“.  Der  Orden,  dessen  Titel 
eigentlich  »Orden  der  Ritter  und  Brüder  des  Heiligen  Johannes 
des  Evangelisten  aus  Asien  in  Europa"  lautete,  nahm  auch  Juden, 
Türken,  Perser  und  Armenier  auf. 

Die  Lehren  des  Bundes  zerfielen  in  moralische  (Anweisung, 
durch  das  Lösen  der  sieben  Siegel  die  Geister  zu  beherrschen) 
und  physikalische;  die  letzteren  betrafen  die  Goldmacherei  und 
die  Bereitung  von  wunderwirkenden  Geheimmitteln.  Kabbalis- 
tischer Unsinn  spielte  in  seinem  Hausrat  eine  beträchtliche  Rolle. 
Die  Namen  der  Grade  waren  dem  Hebräischen  entnommen  und 
versinnbildlichten  deren  Merkmale.  Die  Ergebnisse  der  wissen- 
schaftlichen Forschungen  der  »Meister"  wurden  den  »Aspiranten* 
nicht  mitgeteilt;  diese  mufsten  selber  alles  zu  ergründen  trachten. 
In  Wirklichkeit  scheinen  die  Meister  überhaupt  nichts  dergleichen 
mitzuteilen  gehabt  zu  haben;  ihre  »Geheimnisse«  waren  offenbar 
nur  in  der  Einbildungskraft  leichtgläubiger  Uneingeweihter  vor- 
handen. Allerdings  wäre  es  nicht  gut  angegangen,  dies  offen 
einzugestehen.  . . . 

Blicken  wir  den  Asiatischen  Brüdern  hinter  die  Kulissen, 
so  bleibt  von  ihrem  Scheinglanz  nichts  übrig.  Trotz  des  hoch- 
trabenden Bundestitels  waren  ihre  Lenker  recht  armselige  Kerle. 
Am  thätigsten  in  der  Förderung  der  Ordensinteressen  erwies  sich 
ein  Mitglied,  das  den  Namen  »Markus  ben  Bind"  angenommen 
hatte.  Er  führte  allerlei  Phantastereien  ein,  und  die  meisten 
Papiere  des  Bundes  waren  sein  Privateigentum,  bis  die  Ober- 
häupter ihm  sie  herauslockten.  Die  einzige  Entschädigung,  welche 
sie  ihm  für  die  Papiere  gewährten,  war  die  Ernennung  zum 
Archivar;  als  er  sich  hierüber  beklagte,  wurde  er  bestraft.  Sie 
anerkannten  und  bewunderten  seine  »hohe  Weisheit“  (die  freilich 
in  erster  Reihe  in  der  Bereicherung  des  Ritus  durch  kabbalistische 
und  hebräische  Redensarten  bestand)  und  nutzten  ihn  aus,  ohne 
jedoch  die  goldnen  Berge  zu  halten,  die  sie  ihm  versprachen. 
Verlangte  er  Geld,  so  wiesen  sie  ihn  ab;  brauchten  sie  doch 
selber  sehr  viel!  Schliefslich  lehnte  er  sich  auf,  trat  aus  und 
ergötzte  die  Aufsenwelt  durch  Enthüllungen. 

Die  Zahl  der  Grade  betrug  fünf;  zwei  davon  waren  »Er- 
probungs“-  und  drei  »Haupt“-Grade.  Der  erste  Probegrad, 
»Sucher“  genannt,  zählte  nie  über  10  Mitglieder.  Die  Probezeit 
dauerte  vierzehn  Monate.  Zweimal  monatlich  wurden  den  »Suchern“ 
Vorträge  gehalten.  Die  Tracht,  die  sie  bei  den  Zusammenkünften 
trugen,  bestand  aus  einem  runden  schwarzen  Hut  mit  schwarzen 
Federn,  einem  schwarzen  Mantel,  einer  schwarzen  Schärpe  mit 
drei  rosenförmigen  Knöpfen,  einem  Schwert  mit  schwarzer  Troddel, 


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184 


Mystiker. 


weifsen  Handschuhen  und  einem  schwarzen  Band,  an  welchem 
ein  Doppel-Dreieck  hing.  Auf  der  linken  Seite  des  Mantels 
war  ebenfalls  ein  Doppel-Dreieck  eingestickt  Auch  der  zweite 
Erprobungsgrad  („Die  Leidenden")  hatte  blofs  zehn  Inhaber. 
Die  Probefrist  dauerte  nur  sieben  Monate.  Waren  die  „Sucher" 
lediglich  Theoretiker,  Lernende,  so  erwartete  man  von  den 
„Leidenden“  praktische  naturwissenschaftliche  Untersuchungen. 
Sie  trugen  schwarze  Rundhüte  mit  schwarzen  und  weifsen  Federn, 
schwarze  Mäntel  mit  weifsem  Futter  und  Kragen  sowie  gold- 
gestickten Doppel-Dreiecken,  schwarze  Schärpen  mit  weifsem 
Rand  und  drei  Rosen,  weifse  Handschuhe,  endlich  Degen  mit 
schwarzen  und  weifsen  Quasten. 

Die  Inhaber  des  ersten  Hauptgrades  („Ritter  und  einge- 
weihte  Brüder  aus  Asien  in  Europa“)  hatten  auf  dem  Kopf 
einen  schwarzen  Rundhut  mit  weifsen,  schwarzen,  gelben  und 
grünen  Federn.  Der  schwarze  Mantel,  dessen  Futter  und  Kragen 
weifs  waren,  wies  goldne  Spitzen  und  auf  der  linken  Brust  ein 
gesticktes  rotes  Kreuz  mit  vier  grünen  Rosen  auf;  inmitten  jeder 
Rose  befand  sich  ein  kleines  grünes  Schild  mit  einem  aus  den 
Buchstaben  M und  A bestehenden  Monogramm.  Die  gleichen 
Abzeichen,  aber  in  emailliertem  Gold,  wurden  an  einem  roten 
Band  getragen.  Den  Anzug  vervollständigten:  eine  rosenrote 
Schärpe  mit  grünem  Rand  und  drei  roten  Rosetten;  weifse,  mit 
einem  roten  Kreuz  und  vier  grünen  Rosen  bestickte  Handschuhe; 
ein  Schwert  mit  weifsen,  schwarzen,  gelben  und  roten  Troddeln. 

Die  Einweihung  in  diesen  ersten  Hauptgrad  erfolgte  in 
einem  schwarzverhängten  Saal,  dessen  Fufsboden  und  Einrichtung 
mit  schwarzem  Tuch  bedeckt  waren.  Zur  Beleuchtung  dienten 
sieben  Armleuchter;  sechs  hatten  je  fünf  Arme,  während  der  in 
der  Mitte  stehende  siebente  einen  weifsgekleideten  Mann  mit 
goldenem  Gürtel  darstellte.  Der  Stuhl  des  Meisters  stand  unter 
einem  schwarzen  Baldachin  auf  einer  die  Mitte  des  Saales  ein- 
nehmenden Estrade,  zu  der  drei  Stufen  hinanführten.  Ein  Stück 
der  Hinterwand  war  offen,  aber  durch  sieben  Quasten  zusammen- 
gehalten, sodafs  das  dahinter  befindliche  „Allerheiligste"  dem 
Blick  verborgen  blieb.  Dieses  Allerheiligste  bestand  in  einer 
'zehnsäuligen  Balustrade,  in  der  sich  ein  Abbild  der  Sonne  inner- 
halb eines  vom  göttlichen  Feuer  umflammten  Dreiecks  befand. 
Unter  dem  mannförmigen  Leuchter  lag  der  Teppich  der  drei 
maurerischen  Grade,  umgeben  von  9 Lichtern;  ein  zehntes  Licht 
war  in  einiger  Entfernung  am  Fufse  des  Meisterstuhles  sichtbar. 
Auf  der  rechten  Seite  stand  ein  Tischchen,  auf  dem  das  Buch 
der  Satzungen , ein  grüner  Stab,  an  beiden  Enden  rot,  und  ein 
flammendes  Schwert  mit  der  eingravierten  Ziffer  56  lägen. 

Der  in  einem  Nebenraum  wartende  „Leidende“  wurde  zu- 


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Asiatische  Brüder. 


ISS 


nächst  dreimal  gefragt,  ob  er  eingeweiht  zu  werden  wünsche. 
Auf  die  bejahende  Antwort  hin  befahl  der  Grofsmeister,  ihn 
hereinzubringen.  Der  Kandidat  las  auf  einem  roten  Schild  über 
der  Thür  in  Goldbuchstaben  die  Worte:  »Dies  ist  die  Thür  des 
Ewigen;  die  Gerechten  treten  hier  ein.“  Der  Einführer  klingelte 
zweimal,  der  Grofsmeister  einmal,  die  Thür  öffnete  sich,  der 
»Leidende“  schritt  bis  zum  Tisch  vor  und  machte  dreimal  das 
Meisterzeichen.  Er  empfing  nun  die  Mitteilung,  dafs  er  aufge- 
nommen sei  und  mufste  eine  Erklärung  unterzeichnen,  die  ihn 
verpflichtete,  die  Kapitelgeheimnisse  niemals  zu  enthüllen.  Nach 
einigen  kindischen  Förmlichkeiten  wurde  er  zum  »Reinigungs- 
tisch“ geleitet,  auf  welchem  drei  Säulen  standen,  deren  jede  ein 
Licht  trug.  Das  eine  Licht  hatte  die  Gestalt  eines  Mannes  mit 
dem  Dreieck,  das  andere  die  eines  Weibes  mit  dem  umgekehrten 
Dreieck,  das  mittlere  die  eines  Mannes  mit  dem  Doppeldreieck. 
Auf  dem  Tische  befanden  sich  ferner:  eine  Schale  mit  Salz- 
wasser, eine  andere  mit  trockenem  Salz,  ein  Löffel,  ein  mit  Ysop 
und  roter  und  grüner  Seide  umwundenes  Zedernholzbündel. 

Vor  dem  „Reinigungstisch"  wird  dem  Kandidaten  Rock 
und  Weste  ausgezogen,  der  Hemdkragen  geöffnet  und  der  rechte 
Arm  entblöfst.  Nun  kniet  er  nieder  und  der  Grofsmeister  be- 
sprengt ihm  den  Hals  dreimal  mit  dem  Salzwasser,  dabei  sagend: 
„Möge  der  Allerbarmer  dir  die  Kenntnis  deiner  Waffen,  deiner 
Lanze  und  der  Vierzahl  verleihen!"  Sodann  berührt  er  ihm 
den  rechten  Arm  und  spricht:  „Möge  der  Allmächtige  dir  in  der 
Schlacht  Kraft  verleihen!"  Bei  der  Berührung  der  Brust  sagt 
er:  »Möge  der  Allgerechte  dich  als  Eroberer  im  Mittelpunkt 
ruhen  lassen!“  Nachdem  der  „Leidende"  wieder  angekleidet 
worden  ist  und  der  Grofsmeister  das  Allerheiligste  geöffnet  hat, 
erfolgt  die  Eidesleistung  und  schliefslich  wird  der  Neuling  zum 
Ritter  geschlagen.  Der  Grofsmeister  berührt  ihm  die  rechte 
Schulter  und  sagt:  „Möge  der  Unendliche  dir  für  den  Kampf 
Stärke,  Schönheit  und  Weisheit  verleihen!“  Bei  der  Berührung 
der  linken  Schulter  spricht  er:  „Im  Namen  der  hochwürdigsten 
und  weisesten  sieben  Väter  und  Beherrscher  der  sieben  unbe- 
kannten Kirchen  Asiens  nehmen  wir  dich  als  Ritter  und  einge- 
weihten  Bruder  auf."  Schliefslich  berührt  er  den  Kopf  und  fügt 
hinzu:  „Möge  der  Ewige  dir  das  Licht  der  Vierzahl  gewähren, 
damit  du  vom  ewigen  Tod  befreit  werdest!"  Nach  allseitiger 
Umarmung  und  einigen  abschliefsenden  Worten  des  Grofsmeisters 
servieren  die  Diener  Brot,  Salz,  Wein,  Lammfleisch  und  — als 
Sinnbild  des  alten  und  des  neuen  Bundes  Gottes  mit  den 
Menschen  — — Schweinebraten! 

Den  zweiten  Hauptgrad  - „Weise  Meister"  genannt  — 
konnte  nur  die  höchste  Autorität  des  Ordens,  das  Sanhedrim, 


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1S6 


• Mystiker. 


verleihen,  denn  in  diesem  Grad  begann  die  Offenbarung  der 
Geheimnisse.  Worin  diese  bestanden,  hat  kein  „Laie“  je  er- 
fahren; wohl  aber  wissen  wir,  wie  die  merkwürdig  bunte  Tracht 
der  „weisen  Meister"  aussah:  grüner  Hut  mit  weifsen,  schwarzen, 
gelben  und  roten  Streifen;  roter  Mantel  mit  grünem  Kreuz  und 
grünem,  mit  einem  auf  rotem  Grund  in  Gold  gestickten  Mono- 
gramm der  Buchstaben  J und  C versehenen  Rosen;  grünes,  rot- 
gerändertes Band  mit  drei  grünen  Rosetten  und  einem  Anhängsel 
in  Gestalt  eines  goldenen  Kreuzes  mit  weifsem,  schwarzem,  gelbem 
und  rotem  Schmelz;  weifse  Handschuhe,  innen  und  aufsen  mit 
roten  Kreuzen  und  grünen  Rosen  verziert;  Degen  mit  grünen 
und  roten  Quasten. 

Auch  der  dritte  Hauptgrad  („königliche  Priester“  oder 
„wahre  Rosenkreuzer"  oder  „Melchisedekgrad“)  konnte  nur  vom 
Sanhedrim  verliehen  werden.  Die  Zahl  der  Inhaber  war  auf 
72  beschränkt.  Die  Prunkhaftigkeit  ihrer  Gewandung  übertraf 
alles  Dagewesene.  Die  Farben  des  Hutes  waren:  grün,  rosa, 
gold;  die  vorn  aufgeschlagene  Krempe  wies  das  Wort  „Jehova“ 
in  Goldstickerei  auf;  die  Federn  waren  weifs,  rot,  gelb,  schwarz 
und  grün.  Ein  eng  anliegendes  rosafarbenes  Unterkleid  mit 
vielfarbigen  Manschetten  wurde  durch  eine  um  die  Hüfte  ge- 
wundene Schärpe  ergänzt,  die  mit  Rosetten  in  weifs,  rot  und 
anderen  Farben  bestickt  war.  Schuhe  und  Strümpfe  waren  aus 
rosa  Seide.  Auf  der  linken  Brust  des  grüngefütterten  Mantels 
befand  sich  ein  Punkt,  von  dem  viele  Strahlen  ausgingen.  Den 
Hals  schmückte  eine  goldene  Kette,  deren  gewöhnliche  Glieder 
stellenweise  mit  Schildchen  abwechselten,  auf  denen  aufser  den 
Monogrammen  M und  A sowie  J und  C ein  Baum  eingraviert 
war,  an  dessen  rechter  Seite  ein  Mann,  auf  der  linken  ein  Weib 
stand,  mit  der  einen  Hand  die  Schamteile  bedeckend,  mit  der 
anderen  den  Baum  berührend.  Am  Ende  der  Kette  hingen  die 
Urim  und  Thummini.  Weifse  Handschuhe,  innen  und  aufsen 
mit  grünen  und  roten  Rosen  ausgestickt,  vervollständigten  die 
bunte  Tracht. 

Das  Sanhedrim  durfte  seine  Geschäfte  von,  aus  seinem 
Schofs  heraus  gewählten  Ausschüssen  führen  lassen.  Die  nächst- 
hohe leitende  Stelle  war  das  Hauptkapitel , dann  kamen  die 
Provinzialkapitel.  Jede  dieser  „Behörden"  hatte  eigene  Beamte 
mit  hochtrabenden  Titeln  freimaurerischen  Gepräges.  Die  Mit- 
gliedschaft kostete  viel  Geld,  denn  der  Orden  war  eine  Gebühren- 
falle ersten  Ranges.  Bei  der  Einweihung  mufste  man  zwei  Du- 
katen zahlen,  bei  der  Gründung  einer  Meisterloge  sieben  Dukaten 
für  das  Recht,  zwei  Dukaten  für  den  Teppich,  zehn  Kreuzer  für 
jeden  Bogen  der  Satzungen,  bei  der  Errichtung  einer  höheren 
Meisterloge  zwölf  Dukaten.  Ein  Provinzialkapitel  kostete  25,  ein 


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Asiatische  Brüder. 


1S7 


Hauptkapitel  50  Dukaten.  Jeder  Bruder  zahlte  dem  höheren  Meister 
einen  Monatsbeitrag  von  30  Kreuzern,  aufserdem  eine  seinen 
Mitteln  entsprechende  Gebühr  für  aufserordentliche  Ausgaben.  Über 
die  Verwendung  all  der  vielen  Gelder  ist  nichts  Näheres  bekannt. 

1781  erschien  in  Wien  eine  »Ansprache  an  die  Rosen- 
kreuzer alten  Systems“.  Der  Orden  scheint  von  einem,  sich 
Fraxinus  nennenden  Provinzial-Grofsmeister  der  vier  vereinigten 
Hamburger  Freimaurerlogen  erneut  worden  zu  sein.  Wie  sehr 
dieser  Mann  sich  auf  die  Schafschur  verstand,  ergiebt  sich  aus 
den  Mitteilungen  des  Maurers  „Cedrinus",  der  für  seine  Ein- 
weihung in  die  Rosenkreuzergrade  allmählich  nicht  weniger  als 
1 50  Thaler  zu  entrichten  hatte.  Als  Cedrinus  seine  Unzufrieden- 
heit mit  den  häufigen  Erpressungen  zu  äufsern  begann,  be- 
schwichtigte ihn  Fraxinus  mit  der  Ernennung  zum  Grofssiegel- 
bewahrer  der  Logen.  Dadurch  erlangte  er  Einblick  in  die  selt- 
samen Geheimnisse  der  Grade-Fabrikation  und  in  die  Logen- 
korruption. Er  zerschlug  sich  mit  Fraxinus,  stellte  dessen  Treiben 
öffentlich  blofs  und  wurde  dafür  als  meineidig  ausgestofsen. 

Ein  anderer  rosenkreuzerischer  Abenteurer,  der  um  dieselbe 
Zeit  von  sich  reden  machte,  war  der  Tübinger  »Bruder“  Gor- 
dianus,  der  ohne  ersichtliche  Erwerbsmittel  ein  Wohlleben  führte 
und  daher  für  einen  Alchimisten  gehalten  wurde.  Ein  Schul- 
meister, dessen  unbekannt  gebliebener  Name  mit  L.  anfing, 
wünschte  Rosenkreuzer  zu  werden  und  wendete  sich  dieserhalb 
an  Gordianus,  der  ihm  sagte,  dafs  der  Orden  den  Zweck  habe, 
die  Ideen  J.  V.  Andreäs  auszuführen  und  dafs  die  Aufnahme- 
bedingungen folgende  seien:  ewige  Verschwiegenheit  bezüglich 
der  Bundesgeheimnisse,  Einführung  eines  neuen  Mitgliedes 
binnen  sechs  Wochen  (als  Beweis  der  Fähigkeit,  das  Vertrauen 
der  Mitmenschen  zu  erringen)  und  Entrichtung  einer  Einweihungs- 
gebühr von  50  Thalern.  Der  arme  Teufel  brachte  das  Geld 
mit  Mühe  auf  und  empfing  eine  sonderbare  lateinische  Quittung 
(gedruckt).  Alsbald  schlug  Gordianus  ihm  vor,  hermetische  und 
magische  Schriften  aus  dem  Lateinischen  ins  Deutsche  zu  über- 
setzen. L.  that  dies,  erhielt  aber  keine  Entschädigung  für  seine 
Arbeiten,  die  Gordianus  in  einer  von  ihm  herausgegebenen 
Zeitschrift  veröffentlichte;  dagegen  gab  G.  ihm  das  Versprechen, 
ihn  bald  mit  den  Oberhäuptern  des  Ordens  bekannt  zu  machen, 
die  ihm  grofse  und  wertvolle  Geheimnisse  anvertrauen  würden. 
Der  Schulmeister  wurde  ungeduldig,  zog  Erkundigungen  ein  und 
erfuhr,  dafs  G.  sich  einmal  gerühmt  habe,  eine  Gesellschaft  von 
Betrügern  und  Betrogenen  gründen  zu  wollen.  Die  Vorwürfe 
L.s  beantwortete  er  mit  einem  schriftlichen  Rechtfertigungsversuch, 
doch  verschwand  er  bald  aus  Tübingen,  worauf  L.  die  ganze 
Geschichte  zur  Warnung  anderer  veröffentlichte. 


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188 


Mystiker. 


Ableger  der  Asiatischen  Brüder  waren  die  Theoretischen 
Brüder,  deren  Rituale  einem  1785  erschienenen  Buch  zufolge 
das  Nachstehende  war.  Der  Kandidat  muCste  bereits  in  den 
schottischen  Ritus  eingeweiht  sein.  Er  wurde  in  einen  durch 
Armleuchter  beleuchteten  Saal  geführt,  an  dessen  oberem  Ende 
sich  eine  viereckige  Erhöhung  befand,  mit  einem  schwarzen  Tuch 
bedeckt,  auf  dem  eine  Bibel,  eine  schwarze  gestickte  Schürze  und 
die  Bundessatzungen  lagen.  Auf  dem  Teppich  lag  eine  von  zwei 
Ringen  umgebene  Kugel.  Aus  dem  einen  Ring  brachen  Strahlen 
hervor,  welche  ein  Oewölke  erhellten,  in  dem  die  sieben  Pla- 
neten sichtbar  waren.  Die  Kugel  bedeutete  die  Loge,  die  beiden 
Ringe  vertraten  das  männliche  (agens)  und  das  weibliche  Prinzip 
(patiens).  Der  Eid  beschränkte  sich  auf  Treue  und  Verschwiegen- 
heit hinsichtlich  des  Ordens  sowie  Beschäftigung  mit  dem  Studium 
der  Natur.  Die  Schürze  war  weifs  und  gestickt,  ihr  Futter 
schwarz.  Das  Geschmeide  - aus  vergoldetem  Messing  — be- 
stand in  zwei  strahlenden  Dreiecken  mit  dem  Namen  »Jehovah* 
in  hebräischen  Buchstaben  auf  der  Vorder-  und  den  Zeichen 
G ? ? auf  der  Rückseite:  es  war  an  einem  schwarzen  Band 
befestigt  Als  Erkennungszeichen  diente  das  Erheben  der  rechten 
Hand  mit  ausgestrecktem  Daumen  und  Zeigefinger;  das  Gegen- 
zeichen war,  dafs  man  die  ersten  drei  Finger  aufs  Herz  legte. 
An  die  Stelle  des  Händedrucks  trat  das  Umfassen  der  Taille  des 
»Bruders“  mit  dem  rechten  Arm.  Das  Losungswort  war  Chaos", 
ln  Hamburg  betrug  die  Eintrittsgebühr  40  Mark  Goldes,  der 
Monatsbeitrag  18  Schillinge.  Es  gab  neun  Grade.  Die  Ein- 
weihung in  den  letzten  kostete  zwar  volle  99  Mark  Goldes;  dafür 
wurde  man  aber  auch  ein  echter  »Magus“,  d.  h.  man  kannte 
alle  Geheimnisse  der  Natur,  hatte  alle  Engel,  Teufel  und  Menschen 
in  der  Gewalt  und  der  Stein  der  Weisen  war  die  geringste  der 
Errungenschaften,  deren  man  sich  rühmen  durfte.  Dieser  Orden 
soll  nach  seiner  Angabe  Logen  unterhalten  haben  in  Hamburg, 
Wien,  Berlin,  Königsberg,  Stettin,  Danzig,  Breslau,  Leipzig, 
Nürnberg,  Augsburg,  Innsbruck,  Prag,  Paris,  Venedig,  Neapel, 
Malta,  Lissabon,  Bergen -op- Zoom,  Krakau,  Warschau,  Basel, 
Zürich,  Smyrna  und  Ispahan. 


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ACHTES  BUCH. 

gesellschafts  feiNplicHe 
Vereinigungen.-) 


*)  Hierher  gehören  auch  einige  der  im  4.  Buch  behandelten  Ver- 
einigungen, namentlich  der  Assassinenbund  und  die  Derwische.  Wegen 
des  Zusammenhangs  ihres  Ursprungs  mit  den  im  4.  Buch  geschilderten 
Religionssystemen  haben  wir  sie,  um  diesen  Zusammenhang  nicht  zu  zer- 
reifsen,  lieber  dort  untergebracht  als  im  S.  Buch. 


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Die  Thugs. 


Name  und  Ursprung.  — Vorfahren  und  Kultus.  — Überlieferungen.  — 
Einweihung.  — Von  der  Ermordung  befreite  Personen.  — Märtyrer.  — 
Unterdrückung.  — Ein  moderner  Fall  von  Thagismus. 

Kurz  nach  der  Eroberung  von  Seringapatam  (1799)  wurden 
in  dieser  indischen  Provinz  etwa  hundert  »Phansigars“  (Räuber) 
ergriffen.  Damals  wufste  man  noch  nicht,  dafs  dieselben  einem  in 
verschiedenen  Teilen  Indiens  verbreiteten  Geheimbund  erblicher 
Mörder  und  Plünderer  angehörten.  Erst  als  im  Jahre  1807 
zwischen  Tschittur  und  Arkot  mehrere  Phansigars  gefangen  ge- 
nommen wurden,  erlangten  die  Behörden  Kenntnis  von  dem 
Vorhandensein  und  bald  auch  von  dem  Wesen  und  Treiben  der 
seither  so  berüchtigt  gewordenen  »Thugs"  oder  ..Thags",  die  aber, 
wie  gesagt,  auch  als  »Phansigars“  (wörtlich:  Schlingenmenschen) 
bekannt  waren.  Thug  oder  Thag  soll  von  thaga  (hintergehen) 
abgeleitet  sein,  weil  die  Thugs  sich  ihrer  Opfer  dadurch  bemäch- 
tigen, dafs  sie  sie  hinterlistig  in  falsche  Sicherheit  wiegen.  Be- 
sonders zahlreich  waren  sie  früher  in  Mysore  und  den  Balaghat- 
Bezirken,  im  Karnatik  und  in  der  Gegend  von  Tschittur.  Slee- 
man  glaubt,  dafs  sie  von  den  Überbleibseln  der  Armee  des 
Xerxes,  welche  in  Griechenland  einfiel,  abstammen;  wahrscheinlich 
aber  ist  ihr  Ursprung  in  Wirklichkeit  ein  viel  späterer.  Sie  selbst 
behaupten,  zuerst  nach  der  Ausrottung  der  Assassinen  von  Alamut 
nach  Indien  gekommen  zu  sein.  Es  ist  denn  auch  nicht  un- 
wahrscheinlich, dafs  einzelne  der  den  Schwertern  der  Moguls 
entronnenen  Flüchtlinge  nach  Indien  kapien.  Das  Vorhandensein 
von  Ischmaeliten  in  Indien  - sie  nannten  sich  Bohras  — war 
bekannt,  ehe  der  Bestand  der  Thug-Organisation  entdeckt  wurde, 
ln  ihrem  Jargon  dem  Ramasch  - nennen  sich  die  Thugs 
noch  jetzt  stets.  »Bohras";  sie  thun  dies  vermutlich,  um  ihre 
eigentliche  Thätigkeit  zu  verhüllen,  denn  in  Hindostan  giebt  es 
eine  sehr  ausgebreitete,  hauptsächlich  aus  friedliebenden  Handel- 
treibenden bestehende  Sekte  gleichen  Namens.  Eine  der  Thtig- 
Sekten  nennt  sich  »Aulen". 


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192 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


Eine  bei  den  Thugs  besonders  beliebte  Art,  junge  Männer, 
die  Wertsachen  mit  sich  führen,  anzulocken,  geht  dahin,  dafs 
eine  hübsche  junge  Frauensperson  scheinbar  sehr  bekümmert  am 
Rande  der  Landstrafse  sitzt  und  durch  eine  erdichtete  Leidens- 
geschichte das  Mitleid  ihres  Opfers  erregt,  das  ihr  dann  in  den 
Dschungel  folgt,  wo  es  von  der  im  Hinterhalt  lauernden  Bande 
sofort  erdrosselt  wird.  Eine  Bande  besteht  aus  10  bis  50  Mann 
und  beobachtet  ihr  Opfer  nötigenfalls  tagelang  scharf,  um  eine 
für  den  Mord  geeignete,  sicheres  Gelingen  versprechende  Gelegen- 
heit abzuwarten.  Nach  jedem  Mord  wird  eine  »Tupaunih"  ge- 
nannte religiöse  Feier  abgehalten.  Die  Verteilung  der  Beute  ist 
durch  alte,  feste  Vorschriften  geregelt:  der  Rumal  (Schlingen- 
werfer)  erhält  den  gröfsten,  der  Schumsia  (der  die  Hände  des 
Opfers  haltende  Mann)  den  zweitgröfsten  Anteil  u.  s.  w.  Doch 
giebt  es  auch  Banden,  welche  Gütergemeinschaft  üben. 

Der  Thagismus  begeht  seine  schweren  Verbrechen  infolge 
seiner  hohen  Verehrung  der  menschenfeindlichen  Göttin  Bhowani 
oder  Kali  (von  „kala"  = Zeit),  die  ihr  einziges  Vergnügen  in 
möglichst  vielen  Menschenopfern  findet.  Es  ist  dies  dieselbe 
furchtbare  Gottheit,  an  deren  Jahresfest  in  Indien  Tausende  von 
Fanatikern  sich  von  ihrem  schweren  Wagen  freiwillig  unter  ver- 
zücktem Geschrei  zu  Tode  rädern  lassen.  Nach  der  indischen 
Legende  entsprang  sie,  wie  Minerva  dem  Haupte  Jupiters,  dem 
brennenden  Auge  auf  der  Stirn  Schiwas,  eines  Teiles  der  brah- 
minischen  Dreifaltigkeit.  Sie  vertritt  das  böse  Prinzip,  schwelgt 
in  Menschenblut,  ist  die  Herrin  der  Pest,  lenkt  die  Stürme  und 
Orkane  und  denkt  stets  nur  ans  Zerstören  und  Vernichten.  Die 
lebhafte  indische  Phantasie  stellt  sich  diese  Schreckensgestalt 
folgendermafsen  vor:  azurblaues,  gelbgestreiftes  Gesicht;  wilder, 
grausamer  Blick;  borstiges,  aufgelöstes,  pfauenschweifartig  auf- 
gerädertes Haupthaar  mit  hineinverflochtenen  grünen  Schlangen; 
um  den  Hals  ein  bis  nahe  zu  den  Knieen  reichender  Kragen  aus 
goldenen  Schädeln;  Blut  ausströmende  Lippen;  rüsselartige 
Zähne,  die  über  die  Unterlippen  hinunterreichen;  acht  bis  zehn 
Arme;  in  jeder  der  acht  bis  zehn  Hände  eine  Mordwaffe  oder 
ein  bluttriefender  Menschenkopf;  ein  Fufs  steht  auf  einer  mensch- 
lichen Leiche.  Das  Voll^  opfert  ihr  in  ihren  Tempeln  Hähne 
und  Stiere;  aber  ihre  eigentlichen  Priester,  die  Thugs,  die  »Söhne 
des  Todes",  stillen  den  Hunger  dieses  Vampyrs  mit  Menschen- 
opfern. 

Nach  der  thagistischen  Überlieferung  wollte  Kali  ursprüng- 
lich das  ganze  Menschengeschlecht  mit  Ausnahme  ihrer  eigenen 
Anbeter  vertilgen;  daher  befahl  sie  den  letzteren,  alle  in  ihre 
Gewalt  fallenden  Menschen  umzubringen.  Anfänglich  wurden 
die  Opfer  mit  dem  Schwert  getötet,  und  zwar  so  massenhaft, 


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Die  Thugs. 


193 


dafs  die  Erde  bald  gänzlich  entvölkert  worden  sein  würde,  wenn 
es  der  „Erhalter"  Wischnu  nicht  rechtzeitig  verhindert  hätte, 
indem  er  aus  dem  Blute  der  Gemordeten  immer  wieder  neue 
Menschen  schuf  und  dadurch  die  böse  Absicht  Bhowanis  ver- 
eitelte. Der  Gegenschachzug  der  Göttin  bestand  darin,  dafs  sie 
ihren  Anhängern  verbot,  fürder  mit  dem  Schwert  zu  töten  und 
sie  anleitete,  dies  durch  Erdrosselung  zu  thun,  also  ohne  Blut- 
vergiefsen.  Auch  verlieh  sie  ihnen  grofse  Schlauheit  und  hohen 
Mut,  damit  ihnen  ihr  Vorhaben  stets  bestimmt  glücke.  Und  um 
sie  vor  der  Entdeckung  durch  die  Obrigkeit  zu  schützen,  ver- 
sprach sie,  die  Opfer  selber  zu  begraben  und  jede  Spur  zu  ver- 
wischen. Sie  hielt  denn  auch  Wort,  bis  ihr  einmal  ein  Thug 
in  frevelhafter  Neugier  nachspürte,  um  zu  erfahren,  was  sie  mit 
den  Leichen  anfange.  Sie  erwischte  ihn  beim  Spionieren  und 
sagte  zu  ihm:  „Niemand  kann  am  Leben  bleiben,  nachdem  er 
eine  Göttin  von  Angesicht  zu  Angesicht  gesehen;  aber  ich  will 
dir  das  Leben  schenken  und  dich,  sowie  alle  deine  Bundes- 
genossen damit  bestrafen,  dafs  ich  euch  nicht  mehr  beschützen 
werde.  Künftig  will  ich  die  Leichen  der  von  euch  Umgebrachten 
nicht  mehr  begraben  und  verbergen,  sondern  es  euch  überlassen, 
die  zu  eurer  Sicherheit  nötigen  Schritte  zu  thun.  Und  obgleich 
ich  euch  den  heiligen  Spaten  zum  Aufwerfen  der  Gräber  über- 
lasse, werdet  ihr  nicht  immer  davonkommen;  vielmehr  werdet 
ihr  zuweilen  der  weltlichen  Gerechtigkeit  in  die  Hände  fallen  — 
und  das  soll  eure  ewige  Strafe  sein.  Nur  die  euch  von  mir  verliehene 
höhere  Klugheit  und  Geschicklichkeit  soll  euch  verbleiben.  Von 
nun  an  werde  ich  euch  nur  durch  Anzeichen  leiten,  die  ihr 
eifrig  zu  Rate  ziehen  müsset." 

Hiervon  rührt  der  ausgeprägte  Vorbedeutungs-Aberglaube 
der  Thugs  her.  Diese  weissagen  aus  dem  Vogelflug,  aus  dem 
Geheul  des  Schakals  und  besonders  aus  der  Art,  wie  das  Beil, 
das  sie  werfen,  fällt;  ihr  Weg  richtet  sich  nach  der  Fallrichtung 
des  Beils.  Steht  eine  Bande  im  Begriff  aufzubrechen,  und  sieht 
sie  dabei  welches  Tier  immer  von  links  nach  rechts  über  den 
Weg  iaufen,  so  gilt  dies  für  ein  so  ungünstiges  Anzeichen,  dafs 
der  Streifzug  an  dem  betreffenden  Tag  unterlassen  wird. 

Der  erste  Mord,  den  eine  Bande  auf  einem  Streifzug  be- 
geht, heifst  sonoka,  das  vom  Anführer  gegebene  Zeichen  zur 
Erdrosselung  jhirnih,  der  Begräbnisplatz  bell.  Geht  die  Er- 
drosselung leicht  von  statten,  so  wird  sie  ku-sul  genannt;  bietet 
sie  Schwierigkeiten,  heifst  sie  bi-sul;  wird  gleichzeitig  ein  Paar 
getötet,  so  nennt  man  dieses  bhitrih.  Mit  dem  Namen  bunguhs 
bezeichnet  man  die  Flufs-Thugs,  die  in  ihren  Booten  den  Ganges 
auf  und  nieder  segeln  und,  sich  für  Besucher  heiliger  Wallfahrts- 
orte ausgebend,  ihr  Opfer  aufs  Boot  locken,  um  es  nach  der 

Heckcthorn-Kattcher,  Geheimbiinde  u.  Gehcimlcbren.  13 


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194 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


Erdrosselung  durch  die  eigens  zu  diesem  Zweck  an  den  Seiten 
des  Fahrzeuges  angebrachten  Öffnungen  ins  Wasser  gleiten  zu 
lassen;  um  für  den  Fall  eines  Scheintödes  das  Wiedererwachen . un- 
möglich zu  machen,  wird  dem  Umgebrachten  zur  Vorsicht  noch 
das  Rückgrat  gebrochen. 

Wer  in  diese  fürchterliche  Sekte  aufgenommen  werden 
wollte,  mufste  ein  langwieriges,  strenges  Noviziat  durchmachen, 
in  dessen  Verlauf  er  überzeugende  Beweise  seiner  »Würdigkeit“ 
zu  liefern  hatte.  War  die  Zustimmung  zu  seiner  Zulassung 
einmal  erfolgt,  so  wurde  er  von  dem  Mitglied,  das  ihn  eingeführt 
und  empfohlen  hatte,  zu  einer  mystischen  Taufe  geleitet,  bei 
welcher  Gelegenheit  man  ihn  in  ein  weifses  Gewand  hüllte  und 
ihm  die  Stirn  mit  Blumen  bekränzte.  Sein  Pate  stellte  ihn  nun 
dem  geistlichen  Oberhaupt  (gurhu)  vor,  das  ihn  in  einen  Fest- 
raum führte,  wo  ihn  zahlreiche  Bandenhäuptlinge  erwarteten, 
welche  die  Frage,  ob  sie  den  Bewerber  in  den  Geheimbund 
aufnehmen  wollen,  bejahend  beantworteten.  Jetzt  begaben  sich 
alle  ins  Freie,  wo  die  Häuptlinge  rings  um  den  Gurhu  und  den 
Neuling  niederknieten,  um  zu  beten.  Aufstehend,  erhob  der 
Gurhu  seine  Hände  gen  Himmel  und  sagte:  »Ö  Bhowany, 
Mutter  der  Welt!  Nimm  du,  deren  Anbeter  wir  sind,  deinen 
neuen  Diener  auf,  gewähre  ihm  deinen  Schutz  und  sende  uns 
ein  Zeichen  deiner  Zustimmung!“  Sobald  sie  in  den  Bewegungen 
eines  Vogels,  eines  Säugetiers  oder  einer  Wolke  ein  solches 
Zeichen  zu  erkennen  glaubten,  erhoben  sich  die  Versammelten 
und  begaben  sich  in  den  Festraum  zurück,  wo  sie  in  Gemein- 
schaft mit  dem  Neuaufgenommenen  eine  Mahlzeit  einnahmen. 
Damit  waren  die  Einweihungsfeierlichkeiten  zu  Ende. 

Der  Novize,  der  von  nun  an  ein  »sahib-zada“  ist,  beginnt 
seine  thagistische  Laufbahn  entweder  als  Totengräber  (lugha)  oder 
als  Ausforscher  (bhil)  von  geeigneten  Plätzen  zu  geplanten  Er- 
drosselungen. Hat  er  sich  einige  Jahre  hindurch  als  tüchtig  und 
treu  bewährt,  so  kann  er  zum  Erdrossler  (bhuttota)  aufrücken. 
Dieses  Aufrücken  ist  ebenfalls  mit  allerlei  Zeremonien  verbunden. 
An  dem  für  diese  bestimmten  Tag  begiebt  der  Kandidat  sich 
unter  Führung  seines  Gurhu  in  einen  in  den  Sand  vertieften, 
von  geheimnisvollen  Hieroglyphen  umgebenen  Kreis,  um  Kali 
anzubeten.  Dort  verweilen  sie  vier  Tage,  während  welcher  Zeit 
der  Kandidat  nur  Milch  geniefsen  darf.  Am  fünften  Tag  über- 
giebt  ihm  der  Priester  die  in  heiligem  Wasser  gewaschene  und 
mit  Öl  gesalbte  Erdrosselungsschlinge  und  erklärt  ihn  nach 
einigen  religiösen  Zeremonien  für  einen  bhuttota.  Dieser  leistet 
einen  furchtbaren  Verschwiegenheitseid  und  schwört  ferner,  un- 
ablässig an  der  Zerstörung  des  Menschengeschlechts  mitwirken 
zu  wollen. 


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Die  Thugs. 


195 


Übrigens  sind  viele  Personen  vor  den  Überfällen  der 
Thugs  sicher.  Bei  der  Einweihung  sagt  der  Gurhu  zum  Neuling: 
„Mein  Sohn,  du  hast  den  ältesten  und  der  Gottheit  wohl- 
gefälligsten Beruf  erwählt  Du  hast  geschworen,  jedes  mensch- 
liche Wesen,  welches  dir  das  Schicksal  in  die  Hände  liefert,  um- 
zubringen. Aber  es  giebt  auch  Menschen,  die  von  unseren  Ge- 
setzen ausgenommen  sind  und  deren  Tötung  unsrer  Gottheit 
mifsfallen  würde.“  Es  sind  dies  die  Angehörigen  bestimmter 
Kasten  und  Stämme,  ferner  alle  Lahmen,  Schielenden  und  Ver- 
unstalteten, sodann  die  Wäscherinnen  und  alle  ohne  männliche 
Begleitung  reisenden  weiblichen  Personen.  Die  letzteren,  weil 
Kali  eine  weibliche  Gottheit  ist;  dennoch  wurden  in  späteren 
Zeiten  viele  Frauen  erdrosselt.  Die  strenggläubigeren  Thugs 
pflegten  den  Verfall  des  Thagismus  von  der  ersten  Ermordung  eines 
Weibes  zu  datieren  und  die  eingerissene  Praxis  zu  mifsbilligen. 

Die  Thugs  hatten  Heilige  und  Märtyrer;  die  hervorragendsten 
und  am  meisten  verehrten  waren  Thora  und  Kudull.  Die  von 
den  Engländern  zum  Tode  verurteilten  Thugs  starben  für  ihre 
blutdürstige  Göttin  mit  derselben  Begeisterung,  mit  der  sie  ihr 
zu  Ehren  andere  umgebracht  hatten  - umsomehr  als  sie  über- 
zeugt waren,  unmittelbar  nach  ihrer  Hinrichtung  ins  Paradies 
einzugehen.  Sie  erbaten  sich  nur  die  Gunst,  gehenkt  oder  er- 
drosselt zu  werden,  statt  durch  das  Schwert  oder  das  Beil  zu  sterben, 
denn  sie  hegten  gegen  das  Blutvergiefsen  den  gröfsten  Abscheu. 

Als  die  anglo-indische  Regierung  das  Wesen  des  Thagismus 
genau  kennen  gelernt  hatte,  traf  sie  strenge  Mafsregeln  zu  seiner 
Unterdrückung.  Sie  schuf  zu  diesem  Zweck  eine  eigene  Behörde, 
liefs  zahlreiche  Thugs  hinrichten  oder  einkerkern  und  errichtete 
in  Verbindung  mit  dem  Lahorer  Gefängnis  eine  thagistische 
Arbeitsschule.  1882  wurde  diese  geschlossen  und  die  Insassen 
bei  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  freigelassen.  Manche  dieser 
Fanatiker  hatten  unglaublich  viele  Mordthaten  vollbracht.  Einer, 
der  1825  zu  Lucknow  gehenkt  wurde,  war  der  Erdrosselung  von 
etwa  sechshundert  Personen  überführt  worden.  Ein  anderer,  der 
achtzig  Jahre  alt  war,  bekannte,  es  auf  999  Opfer  gebracht  zu 
haben  und  nur  deshalb  nicht  auf  1000,  weil  eine  runde  Zahl 
bei  den  Thugs  nicht  zum  guten  Ton  gehöre.  Allein  trotz  aller 
Strenge  ist  die  Ausrottung  noch  immer  nicht  gänzlich  gelungen; 
religiöse  Geheimgesellschaften  haben  eben  eine  zähere  Lebens- 
kraft als  politische.  Es  giebt  noch  immer  Thugs,  wenngleich  sie 
nicht  mehr  sehr  zahlreich  sind  und  ihre  Opfer  nicht  mehr  zu 
erdrosseln,  sondern  zu  vergiften  pflegen.  Der  Thagismus  hat 
sich  jederzeit  des  geheimen  Schutzes  einzelner  eingeborener 
Herrscher  erfreut,  die  dafür  einen  Teil  der  Beute  erhielten,  und 
dem  mag  wohl  noch  immer  so  sein. 

13* 


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196  Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 

Ein  Thug,  der  während  des  indischen  Aufstandes  zum 
Denunzianten  seiner  Bundesbrüder  wurde,  gestand,  drei  Frauen 
und  nahezu  hundert  Männer  erdrosselt  zu  haben.  Und  doch 
hatte  dieser  Kerl  ein  einnehmendes  Äufsere  und  liebenswürdige 
Manieren.  Nur  wenn  er  von  seinen  Blutthaten  erzählte,  geriet 
er  in  dieselbe  Begeisterung,  mit  der  ergraute  Krieger  von  ihren 
blutigen  Heldenstücken  sprechen.  (Der  Unterschied  zwischen 
diesen  und  jenen  ist,  bei  Licht  besehen,  nicht  sehr  grofs;  hier 
wie  dort  überflüssiges  Töten  einem  Aberglauben  zu  liebe!)  Das 
verhinderte  ihn  aber  nicht,  den  Behörden  zweihundert  seiner 
Religionsgenossen  in  die  Hände  zu  liefern.  Als  der  jetzige  Prinz 
von  Wales  1876  die  thagistische  Abteilung  des  Lahorer  Kerkers 
besuchte,  rühmte  sich  ihm  gegenüber  ein  Greis  namens  Soba 
Singh  ganz  stolz,  36  Menschen  umgebracht  zu  haben  und  zwei 
andere  Sträflinge  zeigten  ihm  das  Erdrosselungsverfahren.  Am 
6.  Januar  1882  wurde  im  Pendschab  ein  gewisser  Scharfu 
auch  Scharif-ad-din  genannt  - gehenkt,  der  1867  ein  Thug 
geworden  war  und  dann  bis  1879  nach  seinem  eigenen  Geständ- 
nis % Personen  vergiftet  hatte.  Die  örtliche  Polizei  veröffent- 
lichte seine  Biographie,  um  die  Verhaftung  der  übrigen  Mit- 
glieder seiner  Bande  zu  erleichtern. 


Die  Brenner. 


Ursprung  und  Organisation  der  Gesellschaft.  — Rechtspflege.  — Gottes- 
dienst.- — Eheschliefsung.  — Die  Grofsmeister.  — Vernichtung  der  Gesell- 
schaft. — Tod  eines  alten  Brenners. 

Die  »Chauffeurs“  (Brenner)  bildeten  eine  französische  Ge- 
heimgesellschaft, der  erst  am  Schlufs  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
ein  Ende  gemacht  wurde  und  die  auf  Raub  und  Mord  beruhte. 
Ihre  Entstehung  geht  auf  die  Zeit  der  Religionskriege  zurück,  die 
Frankreich  unter  Heinrich  III.,  Heinrich  IV.  und  Katharina  von 
Medici  verwüsteten.  Katholische  Forscher  haben  die  Vermutung 
aufgestellt,  dafs  die  ursprünglichen  Mitglieder  die  besiegten  Hu- 
genotten waren,  die  sich  einem  Räuberleben  hingaben,  um  an 
ihren  Überwindern  Rache  zu  nehmen.  Dieser  Annahme  wider- 
spricht aber  schon  die  eine  Thatsache  sehr,  dafs  das  geheime 
Rituale  der  Gesellschaft  eine  Art  Messe  umfafste.  Viel  wahr- 
scheinlicher ist,  dafs,  wie  so  manche  andere  in  anarchischen 
Zeiten  entstandene  ähnliche  Brüderschaft,  auch  diese  aus  allerlei 


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Die  Brenner. 


197 


Verbrechern,  Armen,  Opfern  der  Ungerechtigkeit  und  verschiedenen 
sonstigen  Unzufriedenen  bestand. 

Die  Brenner  waren  eine  von  einem  einzigen  Oberhaupt 
geleitete  kompakte  Körperschaft  Sie  hatten  eine  eigene  Religion 
und  einen  mündlich  vererbten  Kodex  von  Civil-  und  Kriminal- 
gesetzen, die  streng  gehandhabt  und  eingehalten  wurden.  Jeder 
Aufnahmewerber  fand  Aufnahme  in  den  Bund;  aber  den  Vorzug 
erhielten  Kandidaten,  die  sich  bereits  durch  grofse  Verbrechen 
ausgezeichnet  hatten.  Die  Mitglieder  zerfielen  in  drei  Grade, 
deren  jeder  in  Dekurien  mit  je  einem  »guapo"  (Haupt)  eingeteilt 
war.  Die  »Spione"  gehörten  nur  lose  zur  Vereinigung,  »ein- 
geweiht“ waren  sie  nicht. 

Gleich  den  Jesuiten,  liebten  es  die  Chauffeurs,  Genossen 
durch  Erziehung  von  Jugend  auf  heranzubilden.  Ganze  Fa- 
milien gehörten  dem  Bunde  an  und  die  Kinder  empfingen  früh- 
zeitig Unterricht  im  Auskundschaften  sowie  im  Begehen  kleiner 
Diebstähle  und  ähnlicher  Verbrechen,  die  dann  je  nach  Kühnheit 
und  Geschick  belohnt  wurden,  während  jedem  Mifserfolg  eine 
angemessene  Strafe  folgte,  namentlich  körperliche  Züchtigung. 
Diese  war  oft  sehr  hart  und  hatte  auch  noch  den  Nebenzweck, 
die  Knaben  an  das  Ertragen  von  Schmerzen  zu  gewöhnen.  Man 
könnte  fast  glauben,  dafs  jene  Banditengesellschaft  sich  die  Ge- 
setze des  Lykurg  zum  Vorbild  genommen  hatte.  Im  Alter  von 
vierzehn  oder  fünfzehn  Jahren  wurde  der  Knabe  in  den  ersten 
Grad  eingeweiht  Unter  allerlei  religiösen  Feierlichkeiten  leistete 
er  einen  Eid,  mittels  dessen  er  »den  Blitz  und  Zorn  des  Himmels" 
auf  sich  herabrief  für  den  Fall,  dafs  er  seine  Pflichten  gegen 
den  Bund  jemals  vernachlässigen  sollte.  Sodann  nahm  er  das 
Schwert  entgegen,  das  er  künftig  zur  eigenen  Verteidigung  und 
zu  der  seiner  Genossen  benutzen  sollte. 

Die  Macht  des  »Grofsmeisters"  war  fast  unbegrenzt.  Er 
verwaltete  das  Gesellschaftsvermögen , verteilte  die  Beute  nach 
Gutdünken  und  verfügte  über  die  Beförderungen  wie  über  Lohn 
und  Strafe.  Jeder  »Profane“  — d.  h.  Nicht-Genosse  - durfte 
bestohlen  oder  beraubt  werden ; davon  lebte  man  ja.  Aber  wehe 
dem,  der  sich  gegen  einen  Bundesbruder  verging!  Das  erstemal 
wurde  er  mit  dem  dreifachen  Wert  des  Gestohlenen  bestraft,  im 
Wiederholungsfall  schwerer,  schliefslich  zuweilen  sogar  mit  dem 
Tode,  ln  Gefahr  mufste  man  einander  beistehen,  die  Ehre  der 
Gattinen  der  Brüder  mufste  geachtet  werden,  uneheliche  Ver- 
bindungen jeder  Art  — Konkubinat  und  Prostitution  — waren 
bei  strengen  Strafen  verboten. 

Die  Handhabung  der  Rechtspflege  war  eine  recht  summarische. 
Der  Angeschuldigte  wurde  vor  eine  Volksversammlung  der  Mit- 
glieder geladen,  von  der  gegen  ihn  erhobenen  Klage  in  Kennt- 


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19S 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


nis  gesetzt,  den  Zeugen  gegenübergestellt  und  dann  freigesprochen 
oder  verurteilt.  Letzterenfalls  niufste  er,  je  nach  der  verhängten 
Strafe,  sofort  die  Strafsumme  erlegen  oder  die  Tracht  Prügel 
in  Empfang  nehmen  oder  ohne  weitere  Umstände  sich  an  dem 
nächsten  Baum  aufknüpfen  lassen. 

Der  Gottesdienst  der  Brenner  war  eine  Art  Karikatur  des 
kirchlichen  unj  erinnert  in  manchen  Punkten  an  die  Gebräuche 
der  englischen  Erdarbeiter.  An  den  Feiertagen  lasen  ihre  Priester 
die  Messe  und  flehten  den  Segen  des  Himmels  herab  auf  die 
Ziele  und  Pläne  der  Gesellschaft.  Ihre  Predigten  bestanden 
hauptsächlich  in  Weisungen  bezüglich  der  besten  Arten,  den 
Zweck  des  Bundes  zu  erreichen  und  den  Verfolgungen  der 
»Profanen"  zu  entgehen.  Seltsam  war  die  Hochzeitszeremonie. 

Am  Hochzeitstage  erschienen  Braut  und  Bräutigam  in  Begleitung 
des  Brautführers  und  einer  Brautjungfer  vor  dem  Priester,  der 
zuerst  irgend  einen  haarsträubenden  Unsinn  aus  einem  schmutzigen 
alten  Buche  las  und  dann  einen  Stock  mit  Weihwasser  besprengte,  den 
er  zwei  Hauptzeugen  anvertraute,  die  ihn  zusammen  in  die  Höhe 
hielten.  Auf  Geheifs  des  Priesters  mufste  der  Bräutigam  über 
den  Stock  springen;  jenseits  erwartete  ihn  die  Braut,  die  ihn 
umarmte  und  emporhob,  um  dann  ihrerseits  über  den  Stock  in 
die  Arme  des  Bräutigams  zu  springen  und  von  ihm  möglichst  * 

lange  in  die  Höhe  gehoben  zu  werden.  Von  der  Zahl  der 
Sekunden,  während  der  die  Braut  den  Bräutigam  hochhalten 
konnte,  zog  man  Schlüsse  auf  das  künftige  Eheglück  und  den 
voraussichtlichen  Kindersegen  des  jungen  Paares.  Während  dieser 
Mutmafsungen  safs  das  letztere  auf  dem  Stock  und  der  Priester 
steckte  der  Braut  den  Ehering  an  den  Finger.  Fast  genau  in 
der  gleichen  Weise  geht  die  Vermählung  der  englischen  Erd- 
arbeiter noch  heute  vor  sich. 

Was  die  Scheidung  betrifft,  so  konnte  sie  nicht  nur  wegen 
Untreue,  sondern  vernünftigerweise  auch  wegen  Unverträglichkeit 
erfolgen.  Der  Priester  bemühte  sich  nach  Kräften,  eine  Aus- 
söhnung zu  vermitteln;  gelang  ihm  dies  nicht,  so  sprach  er 
öffentlich  die  Scheidung  aus,  während  er  den  Stock,  der  bei  der 
Eheschliefsung  des  Paares  benutzt  worden  war,  über  dem  Kopf 
des  Weibes  entzweibrach.  Darnach  durfte  sich  jeder  Teil  beliebig 
bald  anderweit  verheiraten. 

Die  Gesellschaft,  welche  über  einen  grofsen  Teil  des  nord-  i 

westlichen  Frankreich  verbreitet  war,  bediente  sich  eines  eigenen, 
nur  den  Eingeweihten  verständlichen  Jargons  und  hatte,  wie  alle 
geheimen  Vereinigungen,  ihre  Abzeichen,  Losungsworte  und  Hände- 
drücke, an  denen  die  Genossen  einander  erkannten.  Sie  zählte 
viele  Tausende  von  Mitgliedern.  In  die  Öffentlichkeit  drang  die 
Kenntnis  von  ihrem  Bestehen  zuerst  durch  das  gegen  sie  im 


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Die  Brenner. 


199 


letzten  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts  vom  Gerichtshof  zu 
Chartres  eingeleitete  Strafverfahren,  welches  zahlreiche  rätselhafte 
Morde,  Brandlegungen  und  Räubereien  als  Thaten  von  Chauffeurs 
feststellte.  Der  damalige  Grofsmeister  des  Bundes  hiefs  Franz 
der  Schöne,  so  genannt  wegen  seiner  aufsergewöhnlichen  Schön- 
heit. Vor  seiner  Einweihung  war  er  wegen  gewalttätigen  Raubes 
eingesperrt  worden,  aber  aus ‘dem  Kerker  entflohen;  der  Bund 
wufste  ihn  für  sich  zu  gewinnen  und  machte  ihn  nach  dem 
Tode  des  Grofsmeisters,  Johannes  des  Zieglers,  einstimmig  zu 
dessen  Nachfolger.  Zur  Zeit  jenes  grofsen  Prozesses  wurde  er 
abermals  verhaftet,  ergriff  jedoch  wieder  die  Flucht  — wahr- 
scheinlich hatte  er  das  Gefängnispersonal  bestochen  — und  seit- 
her hat  man  nie  mehr  von  ihm  gehört  Damals  ging  das 
Gerücht,  er  habe  sich  den  Chouans  (d.  h.  der  Cottereauschen 
Schleichhändlerbande)  angeschlossen  und  sei  schliefslich  den 
Folgen  seiner  Ausschweifungen  erlegen.  In  Chartres  wurden 
Hunderte  von  Brennern  hingerichtet;  die  meisten  entkamen  in- 
dessen und  gingen  zu  den  Chouans  über. 

Am  ärgsten  hausten  die  Chauffeurs  während  der  Schreckens- 
herrschaft, jenem  düstersten  Zeitabschnitt  der  französischen  Re- 
volution. Nächtlicherweile  drangen  sie  in  gröfseren  Banden  in 
einzelstehende  Fläuser  und  in  Adelsschlösser,  unterschiedslos  Arm 
und  Reich  beraubend.  - Tagsüber  erschienen  Kinder  und  alte 
Weiber  in  allerlei  Verkleidungen  und  unter  den  verschiedensten 
Vorwänden  an  Örtlichkeiten,  wo  raubenswerte  Gegenstände  ver- 
mutet wurden,  um  zu  spionieren,  und  auf  Grund  ihrer  Berichte 
ging  man  dann  vor.  Zuweilen  verkleideten  Brenner  sich  als 
Nationalgardisten  und  verlangten  im  Namen  des  Gesetzes  Zutritt. 
Stiefsen  die  Eindringlinge  auf  Widerstand,  so  wendeten  sie  Gewalt 
an;  andernfalls  begnügten  sie  sich  mit  dem  Plündern.  Hegten 
sie  den  Verdacht,  dafs  die  Beraubten  ihnen  noch  vorhandene 
Schätze  verheimlichten,  so  banden  sie  ihnen  die  Hände  auf  dem 
Rücken  zusammen,  brachten  ihnen  Messerschnitte  oder  Dolch- 
stiche bei  oder  schlitzten  ihnen  den  Bauch  auf,  warfen  sie  zu 
Boden  und  machten  unter  ihren  Füssen  Feuer  an  (daher  der 
Name  »Chauffeurs"  oder  Brenner),  bis  sie  unter  furchtbaren 
Qualen  starben  oder  das  Versteck  der  Schätze  verrieten;  wer 
nicht  starb,  pflegte  infolge  der  Mißhandlungen  lebenslänglich  ein 
Krüppel  zu  bleiben. 

Interessant  ist  die  Art  und  Weise,  wie  die  Gesellschaft 
unschädlich  gemacht  wurde.  Ein  junger  Mann,  der  von  einer 
Brennerbande  gemartert  worden  war,  beschlofs,  sich  an  dem 
Geheimbund  zu  rächen,  indem  er  denselben  an  die  Obrigkeit 
verriet.  Er  verständigte  sich  mit  der  Polizei  von  Chartres  über 
einen  Plan.  Zunächst  beging  er,  um  die  Aufmerksamkeit  der 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


Chauffeurs  auf  sich  zu  lenken,  am  helllichten  Tage  auf  dem 
Marktplatz  von  Chartres  einen  abgekarteten  Taschendiebstahl  an 
einem  Gendarmen.  Dieser  that,  seiner  Weisung  gemäfs,  als  be- 
merkte er  nichts;  wohl  aber  gingen  die  gerade  anwesenden 
Brenner  — stets  streiften  einige  umher  — in  die  Falle,  indem 
sie  ihrem  Grofsmeister  die  scheinbar  kühne  That  — Beraubung 
eines  Sicherheitsorgans!  — hinterbrachten.  Ein  so  waghalsiger 
und  gewandter  Dieb  mufste  dem  Geheimbund  angehören;  er 
wurde  daher  aufgesucht  und  empfing  vorteilhafte  Anerbietungen 
für  den  Fall  seines  Eintritts.  Anfänglich  schien  er  sehr  abgeneigt, 
schliefslieh  aber  gab  er  nach  und  alsbald  entfaltete  er  den  bei  Neu- 
lingen üblichen  Eifer.  Er  fehlte  bei  keiner  Versammlung  und  machte 
sich  schleunig  mit  allen  Geheimnissen,  Zeichen,  Losungsworten, 
Verstecken,  Verfahren  u.  s.  w.  bekannt;  endlich  erfuhr  er  auch 
von  dem  sichersten  Zufluchtsort  der  Mitglieder  - einem  wilden 
Gehölz  bei  Chartres,  das  zugleich  als  Beute-Niederlage  diente. 
Kaum  war  zur  Beratung  über  einen  grofsen  Streifzugsplan  eine 
Vollversammlung  für  einen  bestimmten  Tag  angesetzt  worden,  eilte 
der  falsche  »Bruder11  nach  Chartres,  um  die  Polizei-Behörde  zu 
verständigen,  die  während  der  Versammlung  das  Gehölz  von 
einer  zahlreichen  Mannschaft  umzingeln  liefs.  Die  überfallenen 
Bundesgenossen  fielen  entweder  im  Kampf  oder  sie  wurden  ge- 
fangen genommen.  Dies  geschah  im  Jahre  1799.  Immerhin 
entwischte  eine  Anzahl  und  sie  setzten  ihre  verbrecherische 
Thätigkeit  jenseits  des  Rheins  unter  Führung  des  berüchtigten 
Schinderhannes  fort,  bis  die  Bande  1803  erwischt  und  samt 
ihrem  Hauptmann  zu  Mainz  hingerichtet  wurde.  Das  war  der 
letzte  Todesstofs,  den  die  Brenner  erhielten. 

Der  letzte  ehemalige  Chauffeur  starb  1883  bei  Cannes 
(Südfrankreich).  Er  hiefs  Yves  Conedie  und  erreichte  ein  Alter 
von  105  Jahren.  Die  letzten  Jahrzehnte  seines  Lebens  verbrachte 
er,  wie  die  Zeitungen  nach  seinem  Tode  berichteten,  »in  acht- 
barer Zurückgezogenheit“ ; in  seiner  Jugend  aber  war  er  ein  gar 
wilder  Geselle  gewesen.  Einmal  — so  erzählte  er  selbst  — 
schund  er  seine  eigene  Gattin  bei  lebendigem  Leib,  weil  sie 
ihm  mit  seinem  ganzen  Gelde  durchgegangen  war.  Ein  andermal 
entführte  er  einen  Regierungskommissar,  der  seinen  (Conedies) 
guapo  — dessen  Nachfolger  übrigens  er  selber  wurde  — hatte 
guillotinieren  lassen,  und  liefs  ihn  erst  nach  Zahlung  eines  schweren 
Lösegeldes  frei. 


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Die  Garduna. 


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Die  Garduna. 

Ursprung  der  Gesellschaft.  — Organisation.  - Geist  des  Bundes.  Er- 
kennungszeichen und  Losungsworte.  - Entstehungs-Legende.  --  Unter- 
drückung der  Garduna.  — Reisenden-Versicherung  durch  Räuber.  — Die 
Garduna  in  Südamerika. 

Ferdinand  der  Katholische  gehörte  zu  den  abergläubischten 
und  bigottesten  Tyrannen,  die  je  gelebt.  Unter  ihm  wurde  die 
Inquisition  in  Spanien  allmächtig;  er  war  es,  der  Kolumbus  in 
schändlicher  Undankbarkeit  in  Ketten  heimbringen  liefs.  Er 
hielt  sich  für  einen  klugen  Diplomaten,  war  aber  stets  nur  das 
Werkzeug  einer  habgierigen,  blutdürstigen  Geistlichkeit.  Als 
dieses  Ungeheuer  beschlofs,  seine  civilisiertesten  Unterthanen 
die  Mauren  - und  seine  arbeitsamsten  - die  Juden  - auszurotten, 
hiefs  es  alle  Landstreicher  und  das  ganze  Gesindel  zur  Teilnahme 
an  diesem  „heiligen“  Krieg  willkommen,  der  angeblich  den  ein- 
zigen Zweck  hatte,  die  Ketzerei  auszumerzen  und  den  „echten“ 
Glauben  zu  fördern.  Übrigens  hatten  schon  lange  vor  Fer- 
dinands Regierungszeit  Übelthäterbanden  Spanien  durchstreift 
und  mit  der  geheimen  Unterstützung  der  katholischen  Geistlich- 
keit, die  einen  Teil  der  Beute  erhielt,  die  Häuser  zahlloser 
Mauren  und  Juden  geplündert,  wobei  sie  zuweilen  einem  Wider- 
stand leistenden  „Ketzer“  das  Haus  über  dem  Kopf  anzündeten 
— zur  gröfseren  Ehre  der  Kirche  und  des  Staates.  Gehörten 
doch  die  spanischen  Juden  einem  „verfluchten  Geschlecht“  an! 
Und  waren  die  Mauren,  die  das  Land  auf  eine  höhere  Stufe 
gebracht  hatten,  nicht  „Feinde“?  Folglich  konnte  die  Kirche  es 
nur  billigen,  dafs  der  Staat  die  Mauren  und  Juden  aus  dem 
Weg  schaffen  wollte. 

Unter  Ferdinand,  wie  gesagt,  schlossen  die  Räuber  sich 
nur  zu  gern  diesem  „verdienstlichen“  Kreuzzug  an.  Da  die 
Räuber  einerseits  gute  Soldaten  zu  sein  pflegen,  anderseits  ge- 
wöhnlich fromme  und  gehorsame  Kinder  der  Kirche  sind,  ist 
es  leicht  begreiflich,  dafs  sie  bei  Ferdinand  in  hoher  Gunst 
standen.  Als  dieser  jedoch  seinen  Hauptzweck  erreicht  und  die 
Macht  der  Mauren  in  Spanien  gebrochen  hatte,  überliefs  er  die 
Freibeuter  sich  selbst  und  sie  kehrten  zu  ihrer  früheren  Be- 
schäftigung, der  blofsen  Räuberei  zurück.  Obgleich  nun  unter 
Ferdinand  und  der  ebenfalls  von  den  Pfaffen  beherrschten 
Isabella  fast  zwei  Millionen  Mauren  und  Juden  aus  dem  Lande 
vertrieben  wurden,  verblieben  ihrer  noch  sehr  viele.  Diese 
liefsen  sich,  um  bleiben  zu  dürfen,  taufen,  wurden  jedoch  von 


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202 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


den  »echten"  spanischen  Christen  mit  der  grölsten  Geringschätzung 
behandelt  und  stets  nur  „marranos"  (=  Schweine)  genannt,  ob- 
gleich viele  von  ihnen  Oberhäupter  oder  Mitglieder  reicher  und 
angesehener  Familien  waren.  Nun  denn,  der  König  und  die 
Inquisitoren  gingen  mit  Vorliebe  darauf  aus,  solche  Personen  des 
Rückfalls  in  die  Ketzerei  anzuklagen,  damit  sie  verbannt  und  ihr 
Vermögen  eingezogen  werden  könne.  Da  die  Räuber  das  genau 
wufsten,  verlegten  sie  sich  auf  die  Plünderung  der  Häuser  von 
Marranos;  und  so  lange  der  König  und  die  Kirche  einen  Teil 
der  Beute  erhielten,  drückte  Themis  beide  Augen  zu.  Als  jedoch 
die  Räuber  den  Tribut  zu  verweigern  begannen,  öffnete  Themis 
beide  Augen  und  hielt  es  für  ihre  Pflicht,  auf  die  Ausrottung  jener 
Missethäter  hinzuarbeiten,  die  sich  erfrechten,  dem  König  und 
der  Inquisition  den  Raubanteil  vorzuenthalten,  der  ihnen  ja  doch 
»von  rechtswegen"  als  Belohnung  für  die  strenge  Unterdrückung 
der  Ketzerei  gebührte. 

Als  behufs  Vertreibung  oder  Verhaftung  der  Räuberbanden 
im  ganzen  Lande  Polizei  und  Militär  in  Bewegung  gesetzt  wurden, 
beschlossen  die  bislang  vereinzelten  Banden,  sich  zum  Zwecke 
gegenseitigen  Schutzes  zu  einem  Geheimbund  zu  vereinigen. 
Es  war  dies  die  »Garduna"  (=  Marder;  in  Spanien  nennt  man 
einen  besonders  gewandten  Dieb  einen  »garduno")  und  sie. 
stattete  sich  alsbald  mit  dem  ganzen  erforderlichen  Apparat  ge- 
heimer Zeichen,  Losungsworte,  Einweihungsriten  u.  s.  w.  aus. 
Ihre  Beziehungen  zur  Inquisition  nahmen  einen  rein  geschäft- 
lichen Charakter  an,  blieben  aber  selbstverständlich  geheim;  es 
war  eine  Art  stiller  Teilhaberschaft.  Der  Hauptsitz  der  Gesell- 
schaft befand  sich  in  Sevilla,  wo  alle  gröfseren  Raub-,  Brand- 
und  Mord-Streifzüge  geplant  und  vorbereitet  wurden.  Angesichts 
der  hohen  Protektion,  deren  sich  der  Bund  bei  Hofe  und  seitens 
der  Kirche  erfreute,  ist  es  leicht  erklärlich,  dafs  er  bald  Tausende 
von  Mitgliedern  zählte. 

Die  Garduna  war  in  drei  Klassen  mit  insgesamt  neun 
Graden  geteilt.  Zur  untersten  Klasse  gehörten  die  Neulinge 
("Chivatos"  = Ziegen  genannt),  die  die  niedrigsten  Arbeiten  zu 
verrichten  hatten:  das  Tragen  der  Beute,  das  Auskundschaften, 
das  Wachestehen  u.  s.  w.  Stand  einer  von  ihnen  während  einer 
»Operation"  seiner  Vorgesetzten  Wache,  so  ahinle  er,  falls  Gefahr 
drohte,  eine  rierstimme  nach:  nachts  die  Eule,  den  Frosch,  die 
Grille  oder  die  Katze,  tagsüber  den  Hund.  Ferner  die  «cober- 
teras“  (=  Decken),  zügellose  Weiber,  die  sich  entweder  in  Privat- 
häuser schlichen , um  Diebsgelegenheiten  auszuspionieren,  oder 
die  die  Aufgabe  hatten,  Männer  an  abgelegene  Orte  zu  locken, 
wo  sie  dann  beraubt  und  oft  auch  ermordet  wurden.  Gewöhn- 
lich jedoch  verwendete  die  Garduna  als  Lockvögel  junge,  schöne 


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Die  Garduna.  203 

Weiber,  meist  die  Maitressen  hervorragender  Mitglieder.  Zur 
ersten  Klasse  zählten  schliefslich  die  .fuelles"  (=>  Blasebälge), 
alte  Männer  von  ehrwürdigem  Aussehen,  die  ebenfalls  als  Spione 
dienen.  Sie  geberdeten  sich  sehr  fromm,  sprachen  stets  salbungs- 
voll, zeigten  sich  fleifsig  in  der  Kirche,  kurz:  sie  waren  schein- 
heilig und  schmeichelten  sich  dadurch  bei  vielen  Familien  ein, 
deren  Geheimnisse  sie  dann  zu  Gunsten  der  Garduna  ausbeuteten. 
Auch  dienten  sie  der  Inquisition  als  Vertraute. 

ln  der  zweiten  Klasse  finden  wir  zunächst  die  „floreadores“ 
(=  Athleten),  äufserst  lasterhafte  Kerle,  zumeist  entlassene  oder 
entsprungene  Galeerensträflinge  oder  durch  den  Henker  gebrand- 
markte Verbrecher.  Ihre  Sache  war  es,  Reisende  auf  der  Land- 
strafse  anzufallen  und  zu  berauben.  Ferner  sind  zti  nennen  die 
ob  ihrer  grofsen  Treffsicherheit  stolzen  „ponteadores"  (=  „Nieder- 
stecher"), ungemein  gewandte  Schwertkämpfer.  Über  ihnen 
standen  die  „guapos“  (=  Oberhäupter),  tüchtige  Fechter,  die  zur 
Anführung  und  Ausführung  schwieriger  oder  wichtiger  Unter- 
nehmungen berufen  waren.  ■ Zur  höchsten  Klasse  gehörten  die 
Magister  (Priester),  die  die  Einweihungen  leiteten  und  für  die 
Aufrechthaltung  der  Satzungen,  Gebräuche  und  Überlieferungen 
des  Bundes  sorgten.  Die  „capatazes"  (=  Befehlshaber)  wohnten 
in  den  Provinzen,  in  welchen  die  Garduna  verbreitet  war,  als 
Vertreter  des  Grofsmeisters  („hermano  mayor“,  wörtlich  „gröfster 
Bruder"),  der  nicht  selten  ein  hervorragender  Höfling  war  und 
kraft  seiner  unumschränkten  Gewalt  den  Bund  mit  eiserner  Strenge 
zu  lenken  pflegte.  Ist  es  nicht  sonderbar,  dafs  zahllose  Menschen, 
die  sich  gegen  die  gesetzlichen  Gewalten  auflehnen,  sich  von 
einer  einzelnen  Person  willig  tyrannisieren  lassen?  Aber  wahr- 
scheinlich könnten  gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen  — Räuber- 
banden, Assassinen,  Thugs,  Chauffeurs  u.  dgl.  - ohne  diese 
knechtische  Disziplin  nicht  bestehen. 

Die  Garduna  lernte  von  der  Heiligen  Inquisition  jedes 
Verbrechen  verüben,  das  Aussicht  auf  Gewinn  bot.  Die  Magister 
des  Bundes  hatten  einen  regelrechten  Tarif,  zu  dessen  Sätzen 
eine  beliebige  Anzahl  von  Mitgliedern  für  irgendwelche  Schand- 
that  gemietet  werden  konnte:  Raub,  Mord,  Verstümmelung,  Meineid, 
Urkundenfälschung,  Mädchenentführung,  Gefangennahme  persön- 
licher Gegner  und  Verkauf  derselben  als  Sklaven  in  überseeischen 
Undern.  All  dies  war  auf  Bestellung  zu  haben  und  die  Mit- 
glieder der  Garduna  erwiesen  sich  in  der  Ausführung  solcher 
Aufträge  stets  als  höchst  gewissenhaft.  Der  bedungene  Preis 
wurde  zur  Hälfte  bei  Erteilung  des  Auftrags,  zur  Hälfte  nach 
dessen  Ausführung  bezahlt.  Diese  Mietgelder  flössen  nur  zu 
einem  Drittel  in  die  Taschen  der  gedungenen  Personen;  der 
Rest  wurde  halb  in  die  Bundeskasse,  halb  in  die  Handkasse  für 


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20-4 


Gesel  lschaf tsfei  nd  I iche  Verei  n igu  ngen . 


laufende  Ausgaben  eingezahlt.  Dafs  die  Garduna  vorzügliche  Ge- 
schäfte machte,  geht  schon  aus  der  einen  Thatsache  hervor,  dafs  sie 
bei  Hofe  hochstehende  Personen  reichlich  subventionieren  konnte, 
damit  dieselben  die  Bundesinteressen  schützten  und  förderten. 
Auch  unter  den  Richtern,  Kerkergouverneuren  u.  s.  w.  hatte  die 
Garduna  geheime  Verbündete,  denen  die  Aufgabe  zufiel,  verhaf- 
teten oder  verurteilten  Genossen  die  Flucht  zu  ermöglichen  oder 
zu  erleichtern. 

Wollte  ein  Mitglied  der  Garduna  sich  in  Gesellschaft  Un- 
bekannter vergewissern,  ob  ein  -.Bruder«  anwesend  sei,  so  legte 
er  wie  zufällig  den  rechten  Daumen  auf  das  linke  Nasenloch; 
daraufhin  meldete  sich  ein  etwa  gegenwärtiger  Genosse,  indem 
er  sich  ihm  näherte  und  ihm  das  Erkennungswort  ins  Ohr 
flüsterte.  Der  andere  antwortete  mit  dem  Gegen-Losungswort 
und  schliefslich  wurde  der  Sicherheit  halber  noch  der  geheime 
Händedruck  ausgetauscht.  Nun  konnten  sich  die  beiden  beliebig 
in  einem  für  jeden  Nichtbruder  unverständlichen  Jargon  unter- 
halten. Was  die  Religion  der  Garduna,  die  sich  für  eine  Reli- 
gionsgesellschaft hielt  oder  ausgab,  betrifft,  so  waren  ihre  Riten 
die  der  päpstlichen  Kirche,  und  wie  die  letztere  auf  zahlreichen 
Legenden  beruht,  hatte  die  Garduna  ebenfalls  ihre  Legende, 
und  zwar  die  folgende. 

Als  die  „Söhne  Beelzebubs"  — so  nannten  die  frommen 
Spanier  die  Mauren  - zum  erstenmal  in  Spanien  einfielen, 
flüchtete  sich  die  wunderthätige  Madonna  von  Cordova  ins 
Christenlager;  dennoch  gewährte  Gott,  um  „sein«  Volk  für 
dessen  Sünden  zu  züchtigen,  den  Fremdlingen  den  Sieg  über 
die  Rechtgläubigen  und  gestattete  ihnen  über  die  Christen  zu 
herrschen,  die  sich  in  die  asturischen  Berge  zurückzogen,  um 
nach  bestem  Können  den  Kampf  gegen  die  „Feinde  Gottes 
und  Bedrücker  des  Landes“  fortzusetzen.  Die  täglich  und 
stündlich  angeflehte  Madonna  liefs  ihre  Getreuen  einige  Waffen- 
erfolge erringen,  sodafs  sie  nicht,  wie  es  der  Himmel  eigentlich 
gewollt,  gänzlich  vernichtet  wurden.  Sie  vermochten  zwar  nicht, 
die  Mauren  aus  Spanien  zu  vertreiben,  konnten  aber  ihre  Frei- 
heit und  ihre  Religion  aufrechthalten.  Damals  nun  lebte  in  den 
Einöden  der  Sierra  Morena  ein  alter  Einsiedler  namens  Apollinare, 
auch  Cal  Polinario  genannt,  ein  Mann  von  strengstem  Lebens- 
wandel und  grofser  Heiligkeit,  ein  ganz  besonders  inniger  An- 
beter der  Mutter  Gottes,  die  ihm  eines  Morgens  erschien  und 
ihn  folgendertnafsen  ansprach: 

„Du  weifst,  wie  viel  Böses  die  Mauren  deinem  Vaterland 
und  der  Religion  meines  Sohnes  zufügen.  Die  Sünden  der 
Spanier  haben  durch  ihre  Gröfse  den  Zorn  des  Allerhöchsten 
so  sehr  erregt,  dafs  er  euch  von  den  Mauren  besiegen  liefs. 


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Die  Garduna. 


20S 


Als  jedoch  mein  Sohn  die  Erde  betrachtete,  hatte  ich  den  glück- 
lichen Einfall,  ihm  von  deinen  zahlreichen  Tugenden  zu  erzählen; 
seine  Stirn  wurde  sofort  klarer  und  ich  benutzte  den  günstigen 
Augenblick,  um  ihn  anzuflehen,  Spanien  durch  dich  von  seinen 
grofsen  Leiden  zu  befreien.  Er  erhörte  meine  Bitte  und  ich 
komme,  um  dir  meine  Befehle  zu  erteilen.  Schare  die  Tapferen 
und  die  Vaterlandsliebenden  um  dich,  führe  sie  in  meinem 
Namen  gegen  den  Feind  und  gieb  ihnen  die  Versicherung,  dafs 
ich  stets  an  ihrer  Seite  sein  werde.  Und  da  sie  für  die  gute 
Sache  des  Glaubens  zu  kämpfen  haben,  sage  ihnen,  dafs  sie 
schon  hiernieden  ihren  Lohn  finden  werden,  denn  sie  dürfen 
sich  nach  Recht  und  Billigkeit  den  gesamten  Besitz  der  Mauren 
aneignen  — gleichviel  in  welcher  Weise.  In  den  Händen  der 
Feinde  Gottes  könnten  Reichtiimer  zur  Unterdrückung  der  Re- 
ligion dienen,  während  sie  von  den  Rechtgläubigen  nur  zur 
Verherrlichung  der  Religion  benutzt  werden  würden.  Auf, 
Apollinare!  Organisiere  und  lenke  den  grofsen  Kreuzzug!  Ich 
gebe  dir  volle  Gewalt  und  salbe  dich  mit  Hirmnelsöl.  Nimm 
diesen  Knopf,  den  ich  selber  vom  Mantel  meines  himmlischen 
Sohnes  abgetrennt  habe;  er  hat  die  Eigenschaft,  sich  zu  verviel- 
fältigen und  endlose  Wunder  zu  wirken.  Wer  einen  solchen 
Knopf  um  den  Hals  trägt,  ist  gefeit  gegen  die  Waffen  der 
Mauren,  die  Wut  der  Ketzer  und  plötzlichen  Tod.“ 

Die  Heilige  Jungfrau  verschwand,  nachdem  sie  den  Ein- 
siedler gesalbt,  unter  Zurücklassung  eines  köstlichen  Duftes.  Cal 
Polinario  gründete  nun  die  »Heilige“  Garduna,  die,  wie  wir 
gesehen,  von  Himmels  wegen  das  Recht  hatte,  zu  rauben  und 
zu  morden.  Daher  wurde  auch  kein  gröfserer  Streifzug  ohne 
die  vorherige  Abhaltung  religiöser  Feierlichkeiten  unternommen; 
und  war  man  sich  nicht  klar,  in  welcher  Weise  ein  Reisender 
anzufallen  war  oder  dergleichen,  so  holte-  man  sich  aus  der 
Bibel  Rat. 

Wie  die  meisten  anderen  Gehei mgesellschaften , schrieb 
auch  die  Garduna  ihre  Satzungen  etc.  nicht  nieder,  sondern 
pflanzte  sie  mündlich  fort;  dagegen  führte  sie  über  ihre  Thätig- 
keit  eine  Art  kurzer  Chronik.  Dieses  Buch  wurde,  als  Don 
Manuel  de  Cuendias  1821  mit  seinen  Bergjägern  die  Garduna 
ausrottete,  nebst  anderen  Schriftstücken  im  Hause  des  Grofs- 
meisters  Francis  Cortina  beschlagnahmt  und  bildete  die  Haupt- 
grundlage des  gegen  den  Geheimbund  angestrengten  grofsen 
Prozesses.  Aus  dieser  Chronik,  welche  im  Sevillaer  Gerichts- 
archiv aufbewahrt  wird,  ging  hervor,  dafs  die  Garduna  in  Toledo, 
Cordova , Barcelona  und  vielen  anderen  Städten  des  Landes 
Zweigniederlassungen  hatte  und  dafs  ihre  Verbindung  mit  der 
Inquisition  bis  tief  ins  1 7.  Jahrhundert  hinein  eine  sehr  innige 


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206 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


war.  ln  den  147  Jahren  von  1520  bis  1667  erteilten  die  In- 
quisitoren ihr  1986  Aufträge,  für  deren  Ausführung  fast 
200000  Frank  bezahlt  wurden  — für  damals  gewaltig  viel  Geld! 
Aus  den  in  Rede  stehenden  Aufzeichnungen  erfuhr  man,  dafs 
rund  ein  Drittel  der  Verbrechen  des  Bundes  in  Entführungen 
von  Frauenspersonen  - hauptsächlich  auf  »Bestellung"  seitens 
der  Inquisition  — ein  Drittel  in  Mordthaten  und  der  Rest  in 
Raub,  Plünderung,  falschem  Zeugnis  und  anderen  Verbrechen 
bestand.  Auf  Grund  der  Chronik  konnten  die  Behörden  auch 
viele  Mitglieder  der  Gesellschaft  verhaften;  sie  wurden  sofort 
vor  Gericht  gestellt  und  am  25.  November  1822  erfolgte  die 
Hinrichtung  des  letzten  Grofstneisters,  und  von  siebzehn  Rädels- 
führern auf  dem  Marktplatz  von  Sevilla. 

Die  Garduna  war  somit  unterdrückt,  doch  gab  es  in  den 
spanischen  Bergen  auch  weiter  - und  giebt  es  sogar  noch 
heute  — Räuberbanden.  Diese  hatten,  gleich  der  Garduna,  in 
allen  Städten  und  in  den  meisten  Landstrafsen-Einkehrhäusern 
Versicherungsagenten , die  den  Reisenden  für  mäfsige  Beträge 
Freiheit  von  Erpressungen  oder  Überfällen  seitens  anderer  Räuber 
gewährleisteten.  Im  Jahre  1823  z.  B.  brauchten  Reisende  von 
Madrid  nach  Cadiz,  wenn  sie  unterwegs  ungeschoren  bleiben 
wollten,  nur  die  Wagen  eines  gewissen  Pedro  Ruiz  zu  benutzen; 
der  Fahrpreis  war  dreimal  so  hoch  als  der  der  gewöhnlichen 
Fuhrwerke,  aber  die  Passagiere  waren  vor  jedem  Überfall  sicher. 
Der  Wirt  zu  den  »Drei  Kreuzen“  in  Merida  (Estremadura)  ver- 
kaufte für  40  Frank  ein  schützendes  Losungswort.  Der  vorhin 
erwähnte  Don  Manuel  de  Cuendias  erzählt  in  seiner  Bearbeitung 
von  F^reals  »Geschichte  der  Inquisition",  er  habe  im  Jahre  1822 
dem  Pater  Alexis  für  das  Losungswort  »Vade  retro!“  (=  Geh’ 
zurück!)  40  Frank  gezahlt.  Als  er  nun  bei  dem  sogenannten 
»Beichtstuhl“  ankam  - einem  Platz,  auf  dem  ein  Reisender 
umgebracht  werden  konnte,  ohne  seine  Mörder  auch  nur  zu 
sehen  - erschienen  vier  Räuber;  allein  kaum  hatte  er  sie  mit 
den  Worten  »Vade  retro!"  angesprochen,  machten  sie  kehrt  und 
schlugen  sich  ins  Gebüsch. 

Später  wurde  in  Südamerika  eine  Garduna  gegründet;  1846 
bestand  sie  nachweislich  in  Brasilien,  Peru,  Argentinien  und 
Mexiko,  ln  diesen  Ländern  konnte  man  sich  jedes  Feindes  für 
wenige  Dollars  entledigen;  die  Ansprüche  der  gedungenen  Meuchel- 
mörder waren  nicht  hoch. 


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Die  Camorra. 


207 


Die  Camorra. 

Ursprung.  — Ableitung  des  Namens.  - Verschiedene  Klassen.  Orade.  - 
Einweihungsriten.  — Mittelpunkte.  — Jargon.  - Ungeschriebene  Vorschrif- 
ten. — Die  Gefängnis-Camorra.  — Die  Strafsen-Camorra.  — Allerlei  camor- 
ristische  Erpressungen.  — Soziale  Ursachen  der  Camorra.  — Die  politische 
Camorra.  — Unterdrückungsversuche  und  Verfolgungen.  Camorristische 

Mordthaten. 

Die  neapolitanische  Camorra,  wohl  die  unheilvollste  Ver- 
einigung, die  es  in  Europa  je  gegeben,  war  und  ist  ein  Sammel- 
surium von  Gaunern,  Schwindlern,  Dieben,  Erpressern  und  Übel- 
thätern  jeder  Art  Über  die  Herkunft  des  Namens  ist  man  im 
Dunkeln,  doch  dürfte  er  ziemlich  sicher  spanischen  Ursprungs 
sein.  Das  spanische  Wort,  „camorra"  bedeutet  so  viel  wie  Zank 
oder  Streit  und  mit  „camorrista"  bezeichnet  der  Spanier  eine 
streitsüchtige,  zänkische  Person.  Da  nun  diese  Worte  in  Italien 
vor  der  spanischen  Usurpation  unbekannt  waren,  läfst  sich  an- 
nehmen, dafs  sie,  wie  auch  die  durch  sie  bezeichneten  Zustände, 
von  Spaniern  im  Neapolitanischen  eingeführt  wurden.  Überdies 
wissen  wir  ja,  dafs  es  verwandte  Gesellschaften  in  Spanien  sehr 
lange  vor  der  Entstehung  der  neapolitanischen  Camorra  gegeben 
hat.  Hier  ein  Beispiel  aus  dem  »Don  Quijote“.  In  dem  Be- 
richt über  Sancho  Pansas  Abenteuer  auf  der  Insel  Barataria  lesen 
wir,  dafs  er  eines  Nachts  zwei  kämpfenden  Männern  begegnete 
und  auf  seine  Frage  nach  der  Ursache  des  Streites  die  Auskunft 
erhielt,  dafs  der  eine  Mann  in  einer  Spielhölle  viel  Geld  gewonnen, 
der  andere  aber  zugesehen,  in  mehreren  Zweifelsfällen  zu  seinen 
Gunsten  gesprochen  — »obgleich  er  es  eigentlich  nicht  mit 
seinem  Gewissen  vereinbaren  konnte"  — und  nunmehr  ein  Ge- 
schenk von  acht  Realen  gefordert  hatte,  während  der  Gewinner 
ihm  nur  vier  bewilligen  wollte.  Die  neapolitanischen  Spielhöllen- 
Camorristen  machen  regelmäfsig  Anspruch  auf  ein  solches  Ge- 
schenk, das  sie  »barattolo“  nennen;  in  Spanien  hiefs  es  „barato". 

Beachtung  verdient  auch  eine  andere  Ableitung  des  Wortes 
»Camorra",  nämlich  die  von  „gamurra"  (spanisch  „chamarra"), 
das  im  altneapolitanischen  Dialekt  eine  Bluse  bedeutet;  damit 
soll  wohl  angedeutet  werden,  dafs  die  Mitglieder  Blusenträger, 
d.  h.  Proletarier  sind.  Über  die  Entstehung  des  Bundes  weifs 
man  nichts;  die  Überlieferung  verlegt  die  Zeit  ins  Jahr  1820. 

Was  die  Organisation  betrifft,  so  giebt  es  vielerlei  Camor- 
risten.  Z.  B.  die  „eleganten“,  die,  wie  schon  erwähnt,  die  Spieler 
brandschatzen;  ferner  jene,  die  die  Ladenbesitzer,  Droschken- 
kutscher, Kahnführer  u.  s.  w.  schröpfen;  sodann  die  Gefängnis- 
Camorristen,  die  an  den  Häftlingen  Erpressungen  verüben.  Früher 


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20S 


Oesel lschaf tsfei nd  1 i che  Vereinigungen. 


gab  es  auch  eine  politische  Camorra  und  eine  .Mordthaten  be- 
gehende. 

Die  Kerker  lieferten  dem  Geheimbund  zahlreiche  Mitglieder. 
Der  junge  Häftling,  der  ein  Camorrist  werden  wollte,  begann 
seine  Lehrzeit  im  Gefängnis,  wo  er  für  die  eingesperrten  Camor- 
risten  die  erniedrigendsten  Dienste  thun  mufste.  Gab  er  im 
Laufe  der  Zeit  Beweise  von  Mut  und  Eifer,  so  rückte  er  zum 
picciotto  di  sgarro“  auf.  „Picciotto"  bedeutet  „Bursche“;  was 
aber  „sgarro“  bedeutet,  wissen  nicht  einmal  die  Bundesgenossen 
selber.  Vielleicht  ist  das  Wort  von  sgarare  („den  Sieg  erringen“) 
oder  von  „sgarrare"  (mifsverstehen)  abgeleitet.  Übrigens  hatten 
die  Grade  nicht  überall  die  gleichen  Namen,  bezw.  dieselben 
Namen  bezeichneten  nicht  immer  die  gleichen  Grade.  An  manchen 
Orten  hiefs  der  Neuling  „tamurro“,  der  Inhaber  des  zweiten 
Grades  „picciotto  d'onore“  und  erst,  der  des  dritten  „picciotto 
di  sgarro“.  In  den  Glanzzeiten  der  Gesellschaft  mufste  der  Be- 
werber um  den  Sgarro-Grad  besondere  Hingebung  an  den  Tag 
legen.  Er  mufste  um  die  Erlaubnis  bitten,  jemand  zu  ver- 
stümmeln oder  nötigenfalls  umzubringen.  War  gerade  kein  solcher 
Auftrag  zu  vergeben,  durfte  der  Kandidat  sein  Messer  gegen 
einen  durch  das  Los  bestimmten  „Bruder"  ziehen;  für  den 
letzteren  war  die  Sache  nicht  sehr  gefährlich,  denn  die  Camor- 
risten  waren  zumeist  geübte  Fechter,  da  es  in  Neapel  und  sogar 
in  den  Gefängnissen  geheime  Schulen  gab,  in  denen  die  Bundes- 
genossen einander  im  Gebrauch  des  Dolches  unterwiesen.  Über- 
dies handelte  es  sich  da  blofs  um  ein  Scheingefecht,  bei  welchem 
der  Bewerber  nur  den  Arm  seines  Gegners  ritzen  sollte,  worauf 
die  Kämpfenden  einander  umarmten  und  die  Einweihung  des 
Kandidaten  erfolgte. 

In  den  ersten  Zeiten  der  Camorra  war  die  Erprobung  eine 
viel  schwierigere.  Die  „Genossen“  umstanden  eine  auf  dem 
Fufsboden  liegende  Münze  und  auf  ein  gegebenes  Zeichen  bückten 
sich  alle  gleichzeitig,  um  mit  ihren  Messern  auf  die  Münze  los- 
zustechen, welche  der  Kandidat  aufheben  mufste.  Dabei  wurde 
ihm  oft  die  Hand  zerstochen,  aber  er  wurde  zum  „picciotto  di 
sgarro“  gemacht.  Sein  Noviziat  dauerte  drei  bis  sechs  Jahre, 
während  welcher  Zeit  er  nur  Pflichten,  aber  keine  Rechte  hatte. 
Gewöhnlich  teilte  man  ihn  einem  „Bruder"  zu,  der  ihn  mit  den 
schwierigsten  Aufgaben  betraute  und  ihn  nur  selten  mit  einer 
Hand  voll  Kupferstücke  belohnte.  Der  Picciotto  mufste  stets 
heran,  wenn  es  sich  darum  handelte,  Blut  zu  vergiefsen  oder 
einen  Todesstreich  zu  führen,  und  er  übernahm  derlei  gern,  weil 
er  rascher  aufzurücken  hoffte.  Der  durch  das  Los  bestimmte 
Picciotto  erhielt,  wenn  er  sich  von  der  Polizei  erwischen  liefs, 
sechs  bis  zwanzig  Jahre  Galeeren,  aber  er  wurde  ein  vollwertiger 


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Die  Camorra. 


209 


Cainorrist.  Solche  Mordthaten  beging  man  nicht  für  Geld,  sondern 
»der  Ehre  halber“,  denn  die  Neapolitaner  verehrten  den  Dolch, 
wie  die  «höhere“  Kulturwelt  das  Schwert  verehrt. 

Anläfslich  der  Aufnahme  des  Picciotto  in  den  Camorristen- 
grad  versammelten  sich  die  gerade  anwesenden  »Brüder"  um 
einen  Tisch,  auf  dem  ein  Dolch,  eine  geladene  Pistole,  ein  Glas 
mit  scheinbar  vergiftetem  Wein  oder  Wasser  und  eine  Lanzette 
lagen  bezw.  standen.  Der  Picciotto  wurde  in  Begleitung  eines 
Barbiers  eingelassen,  der  ihm  eine  Ader  öffnete.  Der  Kandidat 
tauchte  seine  Rechte  ins  eigene  Blut,  streckte  sie  dann  aus  und 
schwor,  die  Geheimnisse  der  Gesellschaft  bewahren  und  ihre 
Aufträge  getreulich  ausführen  zu  wollen.  Ferner  ergriff  er  den 
Dolch,  stiefs  ihn  in  den  Tisch,  spannte  den  Hahn  der  Pistole 
und  führte  das  Glas  an  die  Lippen,  um  anzudeuten,  er  sei,  falls 
der  Meister  es  befehle,  bereit,  sich  umzubringen.  Der  Meister 
hielt  ihn  vom  Trinken  zurück,  hiefs  ihn  niederknieen,  legte  ihm 
die  Rechte  auf  den  Kopf,  feuerte  mit  der  Linken  die  Pistole  in 
die  Luft  ab,  zerschmetterte  das  Glas  mit  dem  Scheingift,  zog  den 
Dolch  aus  dem  Tisch  und  schenkte  ihn  dem  neuen  Camorristen, 
den  er  schliefslich  umarmte  ein  Beispiel,  das  von  allen  An- 
wesenden befolgt  wurde.  Nunmehr  hatte  der  Eingeweihte  An- 
spruch auf  alle  Rechte,  Vorteile  und  Begünstigungen  des  Bundes 
und  seine  Aufnahme  wurde  sämtlichen  Sektionen  mitgeteilt. 
Übrigens  trat  an  die  Stelle  der  soeben  geschilderten  umständ- 
lichen Einweihungsfeier  oft  die  viel  einfachere,  dafs  der  Neuling 
blofs  bei  zwei  gekreuzten  Dolchen  einen  Treuschwur  leistete. 
Auf  die  Einweihung  pflegte  eine  Mahlzeit  auf  dem  Lande  zu 
folgen;  fand  die  Einweihung  unter  Häftlingen  statt,  so  wurde  die 
Bewirtung  im  Gefängnis  selbst  veranstaltet. 

Die  Camorristen  sind  in  »Mittelpunkte“  geteilt,  deren  es 
in  Neapel  zwölf  giebt.  Jeder  »Mittelpunkt"  zerfällt  in  mehrere 
Unterabteilungen  (»paranze"),  deren  jede  selbständig  vorgehen 
kann;  allerdings  gab  es  eine  Zeit,  in  welcher  sämtliche  »Mittel- 
punkte", deren  jeder  ein  Haupt  hat,  den  Lenker  des  »Mittel- 
punktes" von  Vicaria  als  Oberhaupt  anerkannten.  Das  letzte 
dieser  Oberhäupter  war  ein  gewisser  Aniello  Ausiello,  der  eines 
Tages  verschwand,  ohne  dafs  die  Polizei  seiner  jemals  hätte  hab- 
haft werden  können.  Das  Haupt  jedes  »Mittelpunktes“  wird  von 
den  Mitgliedern  des  letzteren  gewählt  und  ohne  sie  kann  es  keine 
wichtigere  Mafsregel  treffen.  Alle  Einnahmen  des  »Mittelpunktes“ 
fliefsen  in  seine  Kasse,  denn  er  hat  das  Recht  der  Verfügung 
über  sämtliche  Ausgaben;  hierbei  stehen  ihm  ein  Rechnungsführer 
(»contarulo“),  ein  Schatzmeister  (»capo  carusiello“)  und  ein  Schrift- 
führer (»segretario")  zur  Seite.  Aufser  diesen  Beamten  giebt  es 
noch  einen  Proviantmeister  (»capo  stanze“)  und  einen  »Rufer“ 

Heclcethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  14 


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210  Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 

(chiamatore),  dem  die  Pflicht  oblag,  die  Gefangenen,  mit  denen 
man  sprechen  wollte,  in  den  Sprechraum  des  Gefängnisses  zu 
rufen.  — Die  Verteilung  der  Spielgeschenke  (barattolo)  erfolgte 
allsonntäglich  und  das  Haupt  des  ..Mittelpunktes«  behielt  selbst- 
verständlich den  Löwenanteil  für  sich. 

Es  wird  von  Interesse  sein,  einige  der  wichtigeren  Aus- 
drücke des  carnorristischen  Jargons  kennen  zu  lernen.  Der  Leiter 
eines  »Mittelpunktes«  heifst  »niasto«  (Meister)  oder  „si  masto« 
(Herr  Meister).  Trifft  ein  Bundesgenosse  seinen  Vorgesetzten  auf 
der  Strafse,  so  salutiert  er  und  fragt:  »Masto,  volete  niente«? 
(»Meister,  wollet  ihr  nichts?«)  Die  gewöhnlichen  Genossen 
werden  mit  »si«  (Abkürzung  von  »signore«)  angesprochen.  Ein 
Auftrag  wird  mit  »ubbidienza«  (=>  Gehorsam)  bezeichnet,  töten 
mit  „freddare“  (»kaltmachen“),  eine  Leiche  mit  »dormente« 
(=  Schläfer),  ein  Beraubter  mit  »agnello«  (Lamm)  oder  »soggetto« 
(Unterthan),  der  gestohlene  Gegenstand  mit  „morto"  (=  der  Tote). 
Ein  Messer  nennt  man  »punta«  (»Spitze),  oder' »misericordia« 
(Mitleid),  ein  ganz  flaches  zweischneidiges  »sfarziglia«,  eine  Kanone 
»bocca«  (Mund),  einen  Revolver  »tictac«  oder  »bobotta«,  die 
Patrouille  „gatti  neri«  (schwarze  Katzen)  oder  »sorci«  (Mäuse), 
den  Polizeikommissär  „capo  lasagna«  (unter  »lasagne«  versteht 
man  eine  Art  langer,  flacher  Maccaroni),  den  Polizeisergeanten 
„lasagnaro“  (Lasagnehändler),  den  gewöhnlichen  Schutzmann  „aspa- 
rago"  (Spargel),  einen  Spion  „palo“  (Stange),  einen  Piaster  „serpen- 
tina“.  Nimmt  ein  Picciotto  das  Verbrechen  eines  andern  auf 
sich,  so  sagt  man  : „l'accollava"  (=  er  hat  ihn  umarmt).  „Guappo“ 
(=  ein  Unbekannter)  bedeutet  einen  den  niedrigsten  Volksschichten 
angehörigen  Camorristen,  „chirurgo“  (Wundarzt)  einen  camor- 
ristischen  Taschendieb,  der  sich  durch  gewaltsames  Strecken  oder 
durch  eine  entsprechende  Maschine  den  Zeigefinger  behufs  Er- 
leichterung des  „Geschäfts"  derart  verlängern  läfst,  dafs  er  die 
Länge  des  Mittelfingers  erreicht. 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dafs  die  Camorra  jemals  ge- 
schriebene Satzungen  hatte;  wohl  aber  hat  sie  mündlich  über- 
lieferte, die  aus  24  Artikeln  bestehen.  Die  wichtigsten  mögen 
hier  auszugsweise  Platz  finden.  Kein  Angehöriger  der  Polizei 
darf  Mitglied  werden.  Dagegen  dürfen  Bundesgenossen  Poli- 
zisten werden,  um  den  Bund  von  etwa  gegen  ihn  geplanten 
Maßregeln  verständigen  zu  können.  Vergehen  gegen  den  Bund 
sind  vom  Grofsmeister  und  von  sechs  „camorristi  proprietarii" 
(d.  h.  solchen  Genossen,  denen  andre  unterstehen)  abzuurteilen. 
Genossen,  die  ihren  Verschwiegenheitseid  brechen,  werden  hin- 
gerichtet. Das  gleiche  Schicksal  trifft  - jeden,  der  durch  Hand- 
lungen oder  Unterlassungen  die  Sicherheit  der  Geheiingesellschaft 
gefährdet;  Sünder  dieser  Art  darf  jedes  beliebige  Bundesmitglied 


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Die  Camorra. 


211 


umbringen,  doch  nur  in  Gegenwart  zweier  Genossen  als  Zeugen. 
Wer  den  Versuch  macht,  den  Grofsmeister  persönlich  kennen  zu 
lernen,  wird  mit  dem  Tod  bestraft.  Camorristen,  die  das  50.  bis 
60.  Lebensjahr  erreicht  oder  im  „Dienst"  Verletzungen  erlitten 
haben,  sind  zu  vorübergehender  oder  dauernder  Unterstützung 
berechtigt;  unter  Umständen  erhalten  auch  die  Witwen  Pensionen. 
Verhaftete  Genossen  werden  während  ihrer  Gefangenschaft  reichlich 
mit  Geld,  Waffen  usw.  versehen. 

Die  Mitglieder  der  „camorra  elegante"  kleiden  sich  zumeist 
alle  gleichmäfsig,  tragen  ihre  Hüte  in  der  gleichen  Weise  und 
halten  ihre  Spazierstöcke  wagrecht  zwischen  zwei  Fingern  der 
rechten  Hand.  Wer  einen  „eleganten"  Camorristen  beleidigt,  gilt 
als  Beleidiger  aller  Angehörigen  dieser  Klasse,  deren  jeder  an 
dem  Beleidiger  Rache  üben  darf.  — Das  Stehlen  ist  gestattet, 
doch  müssen  die  betr.  Gegenstände  einigermafsen  wertvoll  sein, 
da  die  Camorra  sonst  blamiert  sein  würde. 

Wir  haben  bereits  erwähnt,  dafs  die  Camorra  wenigstens 
früher  allgegenwärtig  war.  Zur  Zeit  der  Bourbonen  war  sie 
sogar  in  den  Gefängnissen  stark  vertreten.  Jeder  neue  Häftling 
wurde  von  einem  Camorristen  um  eine  Spende  für  die  Lampe 
der  Madonna  gebeten  und  mufste  nachher  von  allem,  was  er  afs, 
trank  und  rauchte,  sowie  von  jedem  Geldgeschenk,  das  er  von 
Freunden  erhielt,  der  Camorra  Tribut  zahlen.  Weigerte  er  sich, 
so  lief  er  Gefahr,  zu  Tode  geprügelt  zu  werden.  Wurde  ein 
„besserer“  Häftling  in  die  Vicaria  gebracht,  so  erhielt  er  nicht 
selten  von  der  Camorra  ein  Messer  zu  seiner  persönlichen  Ver- 
teidigung. In  jedem  Kerker  gab  es  ein  camorristisches  Waffen- 
lager „pianta“  (Pflanze)  genannt,  das  von  den  Behörden  nie 
entdeckt  wurde.  Man  darf  annehmen,  dafs  die  Gefängnis-Camorra 
ursprünglich  blofs  den  Zweck  hatte,  unter  der  schmählichen 
Herrschaft  der  Bourbonen  die  von  den  Beamten  entsetzlich  mifs- 
handelten  Häftlinge  zu  beschützen.  Thatsächlich  pflegten  die 
Camorristen  in  den  Strafhäusern  einigermafsen  Ordnung  zu 
schaffen  und  die  Kerkermeister  nahmen  oft  ihre  Hilfe  in  Anspruch, 
wenn  es  sich  darum  handelte,  aufrührerische  Sträflinge  zur 
Vernunft  zu  bringen. 

Anfänglich  gab  es  überhaupt  nur  eine  Gefängnis-Camorra ; 
erst  durch  entlassene  Häftlinge  entstand  in  den  ersten  dreifsiger 
Jahren  die  Strafsen-Camorra.  Diese  arbeitete  dann  gruppen-  oder 
bandenweise.  Beim  Herannahen  der  Patrouille  wurde  katzenartig 
gemiaut,  beim  Auftauchen  eines  nächtlichen  Fufsgängers  hahn- 
mäfsig  gekräht;  waren  der  Passanten  mehrere  beisammen,  erfolgte 
ein  langer  Seufzer;  ein  Niesen,  wenn  ein  Überfall  nicht  lohnend 
schien.  Schien  dagegen  die  Beraubung  vielversprechend,  wurde 
ein  Ave  Maria  gesungen;  ein  Gloria  Patri  ertönte,  wenn  ein 

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212 


Qesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


erwartetes  Opfer  auftauchte.  Betrat  ein  Camorrist  einen  ihm 
fremden  Versammlungsort  des  Bundes,  so  deuteten  seine  etwaigen 
Bekannten  die  Thatsache  der  Bekanntschaft  den  Anwesenden  da- 
durch an , dafs  sie  die  Augenlider  mehrmals  aufschlugen , die 
Hände  in  die  Hosentaschen  steckten  und  zur  Decke  emporblickten. 

Die  Stadt-Camorra  drang  früher  in  die  höchsten  Kreise. 
Königliche  Hoheiten  standen  in  Verbindung  mit  Schmugglern 
und  bezogen  einen  Teil  des  Gewinns.  Bestochene  Minister 
beschützten  die  Camorra.  Bischöfe,  Leiter  von  Wohlthätigkeits- 
anstalten,  zahlreiche  Regierungsbeamte  etc.  waren  in  die  Schand- 
wirtschaft  dieses  Geheimbundes  verwickelt  Marc-Monnier  erwähnt 
einen  Camorristen,  den  er  in  Neapel  gekannt  hatte  und  der,  ob- 
gleich ein  Falschspieler  und  Hochstapler,  bei  Hofe  empfangen 
wurde,  weil  er  als  guter  Fechter  gefürchtet  war.  Das  Gros  der 
Camorristen  jedoch  verlegte  und  verlegt  sich  auf  die  Aussaugung 
der  unteren  Schichten.  Zu  einer  Zeit  konnte  kein  Strafsenbettler 
auf  seinem  Posten  bleiben,  ohne  der  Camorra  Steuer  zu  zahlen. 
In  den  niedrigsten  Spelunken  Neapels,  wo  zerlumpte  Bettler  Tag 
und  Nacht  Karten  spielen,  sahen  Camorristen  zu  und  erhoben 
auf  jede  Partie  einen  Zoll  von  10 °/„  des  Gewinnes.  Mit  welchem 
Recht  - das  weifs  man  nicht;  aber  das  Recht  ist  nie  bestritten 
worden. 

Wurde  bekannt,  dafs  ein  reicher  Mann  im  Begriff  stehe, 
sich  an  der  Versteigerung  eines  Hauses  zu  beteiligen,  so  erhielt 
er  den  Besuch  eines  Camorristen,  der  ihm  unter  der  Androhung 
sonstiger  Überbietung  durch  den  Geheimbund  eine  angemessene 
Summe  erprefste.  Die  Schmuggler  und  die  Besitzer  von  Freuden- 
häusern lieferten  an  die  Camorra  einen  beträchtlichen  Teil  ihres 
Einkommens  ab.  Angesichts  der  elenden  Beschaffenheit  der 
Polizei  betrauten  die  hervorragenderen  Kaufleute  Camorristen 
mit  der  Überwachung  des  Lade-  und  Löschverkehrs.  An  jedem 
Stadtthor,  auf  jedem  Zollamt,  Verzehrungssteueramt  und  Bahnhof 
sah  man  Camorristen  die  Kutscher  und  Träger  tributpflichtig 
machen.  Die  Obst  zur  Stadt  bringenden  Handelsgärtner  mufsten 
für  jeden  Korb  einen  Soldo  entrichten.  Auch  mit  dem  Halten 
gesetzwidriger  Lotteriebureaus  verdiente  die  Gesellschaft  viel  Geld. 
Kurz,  der  Geheimbund  spekulierte  auf  alle  menschlichen  Laster 
und  Schwächen.  Unter  den  Bourbonen  steckte  er  sogar  die 
neapolitanische  Armee  an;  als  er  versuchte,  sich  auch  an  das 
italienische  Heer  heranzumachen,  wurden  die  betreffenden  .Mit- 
glieder mit  einem  das  Wort  „Camorrist“  tragenden  Plakat  öffent- 
lich an  den  Pranger  gestellt. 

Der  Hauptdaseinsgrund  der  Camorra  liegt  in  dem  ent- 
setzlich knechtischen  Zustand,  in  welchem  das  Volk  von  Neapel 
unter  den  Bourbonen  schmachtete,  die  gemeine  Verbrecher 


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Die  Camorra. 


213 


beschützten,  um  sich  ihre  Dienste  zu  sichern,  während  die  in- 
telligenten Kreise,  welche  freisinnige  Einrichtungen  forderten,  aufs 
niederträchtigste  verfolgt  wurden.  Die  Geistlichkeit  sorgte  dafür, 
dafs  die  Massen  tief  in  Aberglauben  und  Unwissenheit  stecken 
blieben,  und  die  geistig  höher  Stehenden  wagten  nicht,  energisch 
aufzutreten.  Unter  solchen  Umständen  konnte  eine  Vereinigung 
wie  die  Camorra  nur  zu  leicht  entstehen,  und  da  sie  gut  organi- 
siert war,  mufste  sie  mächtig  werden  und  blühen.  In  Sumpfboden 
gedeihen  naturgemäfs  Sumpfpflanzen. 

Da  die  Camorra  vor  18-48  die  Politik  gänzlich  aus  dem 
Spiele  liefs,  legte  ihr  die  Regierung  nichts  in  den  Weg.  Im 
Gegenteil:  die  Polizei  bediente  sich  ihrer  geradezu  und  das  Haupt 
jedes  der  zwölf  neapolitanischen  „Mittelpunkte“  erhielt  von  der 
Geheimpolizei  monatlich  hundert  Dukaten,  wogegen  die  höheren 
Polizeibeamten  zusammen  ein  Drittel  der  auf  Schwindel  beruhen- 
den Einnahmen  der  Gesellschaft  bekamen.  Zuweilen  gelang  der 
letzteren  die  Entdeckung  von  Verbrechen,  die  der  Polizei  ent- 
gangen waren.  - In  dem  bourbonischen  Polizeigesetze  von  1822 
hiefs  es,  dafs  die  Mitglieder  geheimer  oder  halbgeheimer  Ver- 
einigungen bis  zum  dritten  Grad  zur  Einkerkerung  in  Ketten, 
die  Lenker  aber  zum  Galgentod  und  zu  Geldstrafen  von  1000 
bis  -1000  Dukaten  zu  verurteilen  seien;  und  ein  Gesetz  von  1828 
besagt,  „das  Zusammenkommen  von  zwei  Personen  genüge  zur 
Annahme  der  Geheimbündelei.“  Trotz  alledem  wurde  der 
Camorra  kein  Haar  gekrümmt 

Nach  18-48  trieb  die  Camorra  auch  Politik.  Als  die  Ver- 
schwörer gegen  die  Regierung  in  ihrer  Unfähigkeit,  das  Volk 
aufzurütteln,  den  Versuch  machten,  die  Camorra  für  ihre  Ziele 
zu  erwärmen,  erreichten  sie  lediglich,  dafs  der  Geheimbund  sie 
tüchtig  brandschatzte.  Als  jedoch  die  Polizei  einige  Camorristen, 
die  ihr  Brot  auf  ehrlichem  Wege  verdienen  wollten,  einsperrte, 
wandte  die  Gesellschaft  sich  der  Politik  zu.  Nach  der  er- 
zwungenen Bewilligung  einer  Verfassung  durch  Franz  II.  im 
Juni  1860  erfolgte  eine  Amnestie,  welche  zahlreichen  Camorristen 
die  Kerkerthore  öffnete.  Das  erste,  was  sie  thaten,  war,  die 
Polizeikommissäre  zu  überfallen,  ihre  Papiere  zu  verbrennen  und 
die  Gendarmen  mit  Knütteln  totzuschlagen.  Die  Sanfedisten  - 
d.  h.  der  für  den  König  und  das  Gottesgnadentum  eingenommene 
Teil  des  Pöbels  — drohten  die  Stadt  zu  plündern  und  sie  hatten 
bereits  Niederlagen  behufs  Aufbewahrung  der  Beute  gemietet. 
Da  verbündete  sich  der  neue  Polizeipräfekt  Liborio,  um  Neapel 
vor  der  Plünderung  zu  bewahren,  mit  der  Camorra  und  er  er- 
reichte sein  Ziel,  indem  die  Camorristen  in  Gestalt  einer  Bürger- 
garde die  Ordnung  bis  zur  Ankunft  Garibaldis  aufrecht  hielten. 
Aber  sie  blieben  Camorristen.  Eines  Tages  bemächtigten  sie 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


sich  der  Verzehrungssteuer,  sodafs  der  Regierung  im  ganzen  nur 
25  Soidi  abgeliefert  wurden.  Da  liefs  die  Regierung  neunzig 
Camorristen  verhaften  und  am  nächsten  Tage  gingen  an  den 
Stadtthoren  3400  Lire  ein.  Als  der  1848  er  Patriot  Silvio  Spaventa 
Polizeiminister  wurde,  liefs  er  bei  dem  ersten  gröfseren  Diseiplinar- 
vergehen  der  Bürgergarde  über  hundert  Camorristen  einsperren, 
schaffte  die  seltsame  Bürgergarde  ab  und  ersetzte  sie  durch  eine 
regelrechte  Sicherheitswache. 

Auch  sonst  trat  Spaventa  kräftig  gegen  die  Camorra  auf; 
doch  glückte  es  ihm  nicht,  sie  auszurotten,  denn  sie  war  der 
Bevölkerung  schon  zu  sehr  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen 
und  wurzelte  bereits  tief  in  den  Landessitten.  Zwar  wurden  die 
Häupter  der  »Mittelpunkte“  beseitigt,  allein  die  Gesellschaft 
behielt  ihre  Organisation  unter  anderen  Leitern  bei.  Im  Laufe 
der  Zeit  kamen  die  eingesperrten  »Genossen"  aus  dem  Gefängnis 
und  nahmen  ihre  gesellschaftsfeindliche  Thätigkeit  wieder  auf. 
Zur  Verbannung  auf  Mittelmeer-Inseln  verurteilt,  entflohen  viele, 
kehrten  nach  Neapel  zurück  und  verursachten  Unruhen,  bei  denen 
sie  schrieen:  »Nieder  mit  Spaventa!“  Bei  den  Wahlen  mafsten 
sie  sich  einen  grofsen  Einflufs  an,  indem  sie  mit  ihren  Keulen 
die  Religion  und  Politik  der  Wähler  lenkten.  Allnächtlich  wurden 
in  den  Strafsen  Neapels  Personen  überfallen  und  ausgeraubt; 
auch  die  Zahl  der  Einbrüche  stieg  in  besorgniserregender  Weise. 
Das  war  1 862  - bis  zur  Verhängung  des  Belagerungszustandes 
über  die  südlichen  Provinzen.  La  Marmora  und  Aveta  beschlossen, 
diese  Gelegenheit  zur  Vernichtung  der  Camorra  zu  benutzen. 
Im  September  liefsen  sie  etwa  dreihundert  der  schlimmsten  Ca- 
morristen einkerkem  — teils  im  Florentiner  Zellengefängnis,  teils 
auf  den  Tremiti-Inseln.  Aber  das  nützte  nicht  viel,  denn  wenn 
der  Geheimbund  sich  auch  zuweilen  ruhig  verhält,  so  tritt  er 
doch  von  Zeit  zu  Zeit  mit  erneuter  Kraft  auf  auch  seit  der 
Begründung  der  Einheit  Italiens. 

Im  September  1877  machte  die  neue  italienische  Regierung 
einen  angestrengten  Versuch,  die  Camorra  zu  unterdrücken.  Als 
Angelpunkt  wählte  sie  den  Marktplatz  von  Santa  Anna  della  Paluda, 
wo  kein  Bauer  seine  Gartenfrüchte  verkaufen  konnte,  ohne  von 
der  Camorra  besteuert  zu  werden.  Eines  Tages  liefsen  die 
Behörden  den  Markt  und  dessen  Umgebung  von  Detektivs, 
Schutzmännern  und  Militär  umzingeln  und  plötzlich  gleichzeitig 
sämtliche  Ausgänge  schliefsen.  Als  von  Flucht  oder  Widerstand 
keine  Rede  mehr  sein  konnte,  wurden  57  Camorristen  ergriffen, 
mit  langen  Seilen  zusammengebunden  und  zur  Polizei  gebracht, 
um  baldigst  verurteilt  und  in  Partien  von  je  zehn  eingesperrt 
zu  werden.  Eine  ähnliche  Razzia,  die  einige  Tage  später  auf 
dem  Fischmarkt  abgehalten  wurde,  führte  zur  Dingfestmachung 


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Die  Camorra. 


215 


von  59  der  berüchtigtsten  »Genossen«.  Aber  der  Bund  hing 
mit  solcher  Zähigkeit  an  seinen  »Rechten",  dafs  schon  am  zweiten 
Tag  nach  der  ersten  Razzia  wieder  Camorristen  auf  dem  er- 
wähnten Obst-  und  Gemüsemarkt  erschienen  und  die.  alten  An- 
sprüche erhoben;  freilich  erhielten  sie  nichts  und  wurden  ver- 
haftet. Als  dann  ihre  Gattinnen  auftraten,  um  im  Namen  der 
Gefangenen  den  Tribut  zu  fordern,  niufsten  auch  sie  unver- 
richteter Dinge  ins  Strafhaus  wandern.  Doch  gelang  es  nicht, 
die  Camorra  gänzlich  zu  unterdrücken ; vielmehr  erregte  sie  noch 
mehrmals  grofses  Aufsehen. 

Im  August  1877  wurde  in  der  Nähe  von  Neapel  ein  her- 
vorragender Camorrist  namens  Vincenzo  Borelli  von  Bundes  wegen 
ermordet,  weil  er  im  Verdacht  stand,  im  Dienste  der  Polizei 
Spionage  zu  treiben.  Sechs  »Genossen“  waren  in  einer  Weinstube 
zusammengekommen,  um  zu  losen,  wer  die  Thal  vollbringen  solle. 
Das  Los  traf  einen  gewissen  Rafael  Esposito  (=  »Findling“),  der 
ohnehin  auf  Borelli  wegen  eines  Streites  zwischen  den  beiden 
nicht  gut  zu  sprechen  war.  Esposito  erschofs  Borelli  aus  dem 
Hinterhalt  und  wurde  von  einigen  Soldaten  ergriffen,  jedoch  von 
einer  ihm  günstig  gesinnten  Menge  befreit.  Diese  begleitete  die 
Leiche  des  Ermordeten  unter  Schmähungen  ins  Totenhaus,  mifs- 
handelte  sie,  machte  Esposito  zum  Helden  des  Tages,  sammelte 
für  ihn  Geld  und  verbarg  ihn.  Da  die  Polizei  aber  gar  sehr 
hinter  ihm  her  war,  stellte  er  sich  ihr  nach  drei  Tagen  selber. 
Zahlreiche  »Verehrer“  gaben  ihm,  den  Weg  mit  Blumen  be- 
streuend und  ihm  Geld  und  Zigarren  aufdrängend,  das  Geleite 
zum  Gefängnis.  Damals  wurden  noch  78  andere  Camorristen 
verhaftet  und  als  Mitschuldige  Rafaels  vor  Gericht  gestellt;  allein 
die  Camorra  bedrohte  die  Richter  und  die  Geschworenen  mit 
ihrer  Rache  und  so  wurden  denn  »mildernde  Umstände"  in 
Betracht  gezogen,  auf  Grund  welcher  die  Verbrecher  mit  leichten 
Strafen  davonkamen.  Im  April  1885  führte  die  Angeberei  eines 
»Genossen“  abermals  zu  einer  Gerichtsverhandlung  gegen  zahl- 
reiche Camorristen.  Eine  Anzahl  derselben  wurde  auf  Ischia 
interniert  und  dort  war  ihre  erste  Sorge,  einen  »innern  Kreis 
der  Camorra“  zu  bilden,  dessen  Vorsitzender  Anspruch  auf  alles 
Gestohlene  hatte  - der  Dieb  erhielt  nur  einen  Anteil  und 
gegen  Entrichtung  eines  Teiles  der  Gewinnste  das  Hazardspielen 
gestattete.  Wir  sehen,  dafs  die  Regierung  des  geeinigten  Italien 
das  Wiederaufleben  der  bourbonischen  Gefängnis-Camorra  nicht 
zu  verhindern  vermochte.  Überhaupt  fehlt  noch  immer  viel  zur 
gänzlichen  Ausrottung  des  Geheirnbundes,  der  einen  so  bösartigen 
Krebsschaden  des  neapolitanischen  Lebens  bildet. 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


Die  Mala  Vita. 

Dieser  Geheimbund  scheint  ein  Ableger  der  Camorra  zu 
sein,  denn  der  zweite  und  dritte  Grad  heifsen  „Picciotto“  und 
»Camorrist«.  Der  erste  ist  der  der  ..giovanotti“  (=  Neuling). 
Die  Mitglieder  des  dritten  Grades  nennt  man  »Onkel“,  dessen 
Haupt  »Weiser  Meister".  Jeder  Grad  hat  sein  eigenes  Haupt 
und  seine  eigene  Rechnungsführung.  Im  April  1891  machte  die 
Gesellschaft  zum  erstenmal  öffentlich  von  sich  reden;  damals 
wurden  in  Bari  1 79  Mitglieder  verhaftet  und  vor  Gericht  gestellt, 
und  zwar  infolge  der  Angebereien  und  Enthüllungen  von  neun 
»Genossen«.  Seinen  Namen  (»Mala  Vita«  = »Böses  Leben«) 
soll  der  Bund  dem  Titel  eines  aufserordentlich  beliebten  Romans 
von  Degia  Como  entnommen  haben.  Die  Aufnahme  eines  Mit- 
gliedes ist  mit  grofsen  Vorbereitungen  und  Schwierigkeiten  ver- 
bunden. Man  niufs  dem  Oberhaupt  durch  einen  »Genossen« 
empfohlen  sein  und  ein  andrer  Genosse  stellt  über  die  »Würdig- 
keit" des  Bewerbers  eingehende  Nachforschungen  an.  Die  be- 
treffenden Unterhandlungen  werden  in  einer  Art  Diebesjargon 
geführt. 

Hat  sich  die  Verwaltung  des  Bundes  für  die  Zulassung 
eines  Kandidaten  entschieden,  so  wird  eine  Versammlung  ein- 
berufen. In  dieser  erfolgt  zunächst  eine  formelle  Abstimmung 
und  dann  tritt  der  Neuling  ein,  um  im  Bundesjargon  Red’  und 
Antwort  zu  stehen  und  schliefslich  in  sehr  geheimnisvoller  Weise 
eingeschworen  zu  werden.  Mit  einem  Fufs  in  einem  offenen 
Grab  stehend,  mit  dem  andern  angekettet,  mufs  er  beschwören, 
Vater,  Mutter,  Gattin,  Kinder,  kurz:  alles,  was  ihm  teuer,  zu  ver- 
lassen, sich  gänzlich  den  Zielen  der  Mala  Vita  zu  widmen,  Demut 
und  Selbstverleugnung  zu  üben.  Nach  der  Einweihung  hält  das 
Haupt  eine  phantastische  Ansprache,  darauf  berechnet,  dem  Novizen 
einen  Begriff  beizubringen  von  den  furchtbaren  Strafen,  die  er 
erleiden  würde,  falls  er  die  Geheimnisse  und  Interessen  der 
Gesellschaft  verriete.  Niemand,  der  einmal  Gendarm,  Polizist 
oder  Zollbeamter  war,  kann  Mitglied  werden. 

Der  Hauptzweck  der  Mala  Vita  scheint  Räuberei  zu  sein. 
Die  auf  den  Raubzügen  erzielte  Beute  und  die  für  gefangene 
Reisende  bezahlten  Lösegelder  fliefsen  gröfstenteils  in  die  all- 
gemeine Kasse  behufs  Verteilung  unter  alle  Genossen,  während 
der  Rest  den  Mitgliedern  des  dritten  Grades  zufällt,  wobei  das 
Haupt  den  Löwenanteil  erhält.  Die  Verletzung  der  Satzungen 
oder  die  Nichtbefolgung  von  Befehlen  wird  mit  Folterung  oder 
Tod  bestraft.  Das  Urteil  wird  in  einer  Vollversammlung  erbracht, 
die  auch  die  Henker  und  zwar  durch  das  Los  bestimmt.  Wer 
sich  weigert,  die  über  den  Schuldigen  verhängte  Strafe  zu  voll- 


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Die  Mala  Vita.  - Die  Mafia. 


217 


strecken,  erleidet  wegen  Ungehorsams  dieselbe  Strafe.  Jeder 
Bundesgenosse  mufs  sich  bestimmte  Zeichen  auf  den  Leib  tätto- 
wieren.  lassen,  an  denen  er  nötigenfalls  erkannt  werden  kann. 
Zu  diesen  Zeichen  gehören:  Engel,  Teufel,  Schlangen,  tanzende 
Weiber,  das  Bildnis  Garibaldis,  der  Löwe  von  San  Marco  u.  s.  w. 

Bei  dem  erwähnten  Prozefs  (1891)  erläuterten  die  Angeber, 
in  welcher  Weise  sie  als  Gefangene  im  Auftrag  der  Bundes- 
leitung anderen  eingesperrten  „Genossen"  Briefe  oder  Geld  zu- 
komnien  liefsen  und  die  gegen  Kerkermeister,  „sitzende“  Nicht- 
mitglieder und  andere  Personen  gerichteten  Mifshandlungsbefehle 
den  für  deren  Ausführung  in  Aussicht  genommenen  Häftlingen 
überbrachten.  Das  Beweisverfahren  enthüllte  ein  wohlorganisiertes 
System  gewalttätigen  und  erpresserischen  Vorgehens  gegen  ganz 
unschuldige  Menschen,  sowie  eine  umfassende  Racheübung  gegen- 
über Leuten,  die  des  Verkehrs  mit  der  Polizei  verdächtig  er- 
schienen. Die  meisten  Angeklagten  wurden  vom  Gericht  zu 
schweren  Kerkerstrafen  verurteilt.  Dafs  die  Gesellschaft  trotzdem 
fortbestand,  geht  schon  aus  der  Thatsache  hervor,  dafs  bereits 
im  Mai  1892  abermals  etwa  160  junge  Leute  im  Alter  von 
zwanzig  bis  dreifsig  Jahren  wegen  Zugehörigkeit  zur  Mala  Vita 
verhaftet  wurden ; sie  hatten  sich  durchweg  Räubereien,  Überfälle 
und  andere  Gewalttätigkeiten  zu  schulden  kommen  lassen  und 
ihr  Anführer  hatte  rund  fünfundzwanzig  Jahre  auf  den  Galeeren 
zugebracht.  Auch  diese  Bande  wurde  streng  bestraft,  aber  die 
Mala  Vita  besteht  trotzdem  weiter. 


Die  Mafia. 

Ein  Ehrenkodex.  — Verbreitung  und  Entstehung  der  Gesellschaft.  — Mano 
fratema.  — Ursprung  des  Wortes  ..Mafia".  — Die  Mafia  in  den  Ver- 
einigten Staaten. 

Auch  dieser  sicilianische  Geheimbund  ist  eine  Art  Camorra. 
Sein  Zweck  und  sein  Verhalten  ähneln  denen  der  Camorra  gar 
sehr;  doch  haben  sie  eine  starke  Beimischung  von  Räuberei  und 
Blutdurst.  Sein  Ehrenkodex  — die  „Omerta"  — zwingt  jedes 
Mitglied,  ein  ihm  oder  seinen  Angehörigen  zugefügtes  Unrecht 
selber  zu  rächen,  statt  es  vor  Gericht  zu  bringen.  Man  ist  also 
zur  Vendetta  verpflichtet.  Auch  darf  kein  Mafiuso  vor  Gericht 
gegen  einen  Verbrecher  zeugen;  vielmehr  mufs  er  ihn  möglichst 
verbergen  und  beschützen.  Ohne  Erprobung  im  Zweikampf 
wird  niemand  in  den  Bund  aufgenommen;  auch  niemand,  der 


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218 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


sich  einer  ehrlosen  Handlung  schuldig  macht.  Hierunter  versteht 
die  Mafia:  Taschendiebstahl,  Feigheit,  polizeiliche  Angeberei, 
Zeugenschaft  vor  Gericht  und  dergleichen.  Die  Mafiusi  nennen 
sich  »ehrenhafte  Jünglinge"  (giovani  d’onore)  und  zerfallen  in 
Schutzbefohlene  und  Thätige.  Nur  die  letzteren  empfangen  einen 
Anteil  am  Erlös  des  Schmuggels  und  des  Brandschatzens  von 
Landwirten  und  Grundherren.  Es  ist  der  Gesellschaft  bislang 
gelungen,  ihre  geheimen  Erkennungszeichen,  Losungsworte  u.  s.  w. 
vor  der  Aufsenwelt  zu  verbergen.  Sie  hat  Mitglieder  in  allen 
Bevölkerungsschichten  vom  Stutzer  bis  zum  Kuppler,  Fälscher 
und  Zuhälter. 

Sehr  oft  empfängt  nach  der  Verhaftung  eines  Mörders  oder 
Einbrechers  der  Gefängnisdirektor  einen  Wink,  dafs  der  Schuldige 
ein  Mafiuso  ist,  und  fortan  wird  er  recht  rücksichtsvoll  behandelt. 
Nachher  weigern  sich  die  Geschworenen  gewöhnlich,  ihn  zu  ver- 
urteilen und  er  wird  dann  wegen  Mangel  an  Beweisen  frei- 
gesprochen. Als  1885  das  Treiben  der  Mafia  im  italienischen 
Parlament  zur  Sprache  kam,  wurde  nachgewiesen,  dafs  sie  sogar 
im  Vorzimmer  des  Generalprokurators  von  Palermo  vertreten  sei, 
und  gegen  den  Befehlshaber  der  zu  ihrer  Ausrottung  entsendeten 
königlichen  Truppen  erhob  man  geradezu  die  Beschuldigung,  er 
stecke  mit  dem  Geheimbund  unter  einer  Decke,  falls  er  nicht 
gar  ein  Mitglied  desselben  sei.  Das  Ergebnis  der  stürmischen 
Debatten  war,  dafs  die  Mafia  ungeschoren  blieb. 

Der  Ursprung  der  Gesellschaft  mufs  in  den  früheren 
politischen  Verhältnissen  der  Insel  Sicilien  gesucht  werden.  Seit 
ihrer  Vereinigung  mit  Neapel  als  »Königreich  beider  Sicilien" 
um  die  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  war  sie  von  Statthaltern  mifs- 
regiert  worden.  Eine  Ausnahme  bildete  nur  die  Zeit  der  ersten 
französischen  Republik  und  des  ersten  Kaiserreichs.  Damals  lebte 
^der  von  Napoleon  vertriebene  neapolitanische  Hof  auf  der  un- 
glücklichen Insel  unter  dem  Schutz  englischer  Truppen  und 
Schiffe.  Die  Verfassung,  welche  der  König  auf  Wunsch  Englands 
erliefs,  machte  die  Abschaffung  aller  Feudalrechte  nötig.  Dem- 
gemäfs  mufsten  die  zahlreichen  Lehnsmänner  und  Anhänger,  die 
im  Dienste  des  Adels,  der  Geistlichkeit  und  der  Grofsgrund- 
besitzer  standen,  entlassen  werden  und  sie  wurden  einfach  Räuber. 
Da  der  bourbonische  König  diesen  waghalsigen,  tollkühnen  Kerlen 
nicht  beikommen  konnte,  nahm  er  ihre  Rädelsführer  in  seine 
Dienste  und  schuf  mit  ihrer  Hilfe,  um  die  Sicherheit  einiger- 
mafsen  wieder  herzustellen,  eine  ländliche  Gendarmerie.  Freilich 
beging  diese  die  Räubereien  und  Erpressungen,  die  sie  hätte 
verhindern  sollen,  selber.  Um  nicht  Schlimmeres  zu  erfahren, 
JieTs  die  Bevölkerung  sich  die  Brandschatzungen  ruhig  gefallen. 
Aus  der  den  Bock  ais  Gärtner  spielenden  Gendarmerie  entwickelte 


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Die  Mafia. 


219 


sich  allmählich  die  Mafia,  welche  immer  mächtiger  wurde.  Die 
niedrigeren  Klassen  hielten  sie  bald  für  eine  furchtbare  Gewalt, 
die  der  Regierungsgewalt  überlegen  sei  und  betrachteten  es  schliefs- 
lich  als  nützlich  und  ehrenvoll,  ihr  anzugehören.  Dafs  sie  noch 
heute  besteht,  liegt  an  den  Zuständen  in  den  Schwefelgruben 
und  an  den  landwirtschaftlichen  Verhältnissen  Siciliens.  In  den 
Minen  leisten  zahllose  Kinder,  Männer  und  Weiber  in  schreck- 
lichstem Elend  eine  äufserst  anstrengende  Arbeit.  In  der  Land- 
wirtschaft werden  die  Bauern  durch  die  »Mittelsmänner“  zu  Grunde 
gerichtet,  die  die  Güter  pachten  und  in  kleinen  Parzellen  zu 
ungeheuren  Preisen  an  die  Bauern  weiterverpachten.  Die  letzteren 
werden  durch  die  Not  dem  Verbrechen  in  die  Arme  getrieben. 

Die  Mafia  hat  ihren  Hauptherd  in  der  Umgebung  von 
Palermo.  Niemand  kann  jenseits  der  Stadtthore  zwei  Kilometer 
weit  wandern,  ohne  Gefahr  zu  laufen,  beraubt  oder  ermordet  zu 
werden.  Der  1883  auf  Sicilien  entdeckte  Geheimbund  »Mano 
fraterna“  (=  Bruderhand)  war  ein  Ableger  der  Mafia;  ihre  Mit- 
glieder nannten  sich  »Werkzeuge  der  allgemeinen  Rache"  und 
leugneten,  Räuber  oder  Erpresser  zu  sein. 

Was  bedeutet  das  Wort  »mafia“  und  woher  stammt  es? 
Man  schreibt  dessen  Erfindung  Guiseppi  Mazzini  zu  und  that- 
sächlich  war  es  vor  dem  Erscheinen  des  berühmten  Agitators  auf 
Sicilien  unbekannt.  Die  einzigen  Klassen,  zu  denen  er  Vertrauen 
hatte,  waren  die  untersten  und  er  scheint  in  der  That  die  die 
ganze  Insel  unsicher  machenden  Diebe  und  Strolche  zu  einer 
Geheimgesellschaft  vereinigt  zu  haben,  die  angeblich  »Oblonika“ 
geheifsen  haben  soll  — eine  Bezeichnung,  welche  Mazzini  aus 
den  lateinischen  Worten  »obelus  (=  Spiels)  und  »nico«  (=  ich 
winke)  zusammensetzte.  »Oblonika"  würde  also  besagen:  »Ich 
winke  mit  dem  Spiefs",  eine  Umschreibung  für  »Ich  drohe  mit 
dem  Dolch".  Die  Mafia  soll  ursprünglich  ein  geheimerer,  innerer 
Kreis  der  Oblonika  gewesen  sein  und  ihr  Name  sich  aus  den 
Anfangsbuchstaben  der  Worte  des  Satzes  »Mazzini  autorizza  furti, 
incendi,  avvelenamenti"  (=  »M.  gestattet  Diebstähle,  Brandlegungen, 
Vergiftungen")  zusammengesetzt  haben.  Ob  dem  aber  wirklich 
so  ist,  weifs  man  nicht  bestimmt.  Die  Mafiusi  nennen  ihre  Ver- 
brechen ihr  Brot  (»pavi"),  weil  sie  von  denselben  leben. 

Im  Oktober  1890  wurde  David  Hennessy,  der  Polizeichef 
von  New -Orleans,  ermordet,  und  zwar  durch  Mitglieder  der 
Mafia,  die  gegen  das  Ende  der  sechziger  Jahre  in  die  genannte 
amerikanische  Grofsstadt  verpflanzt  wurde.  Im  Mai  1890  hatte 
eine  Bande  von  dort  ansässigen  Italienern  eine  andre  Bande  von 
Landsleuten,  genannt  »Stoppaghera“,  aus  einem  Hinterhalt  über- 
fallen und  sechs  Personen  getötet  oder  verwundet.  Es  handelte 
sich  um  einen  Racheakt  und  die  Polizei  beschlofs,  mit  der  Vendetta, 


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220 


Gesellscliaftsfeindliche  Vereinigungen. 


welche  unter  den  Italienern  von  New-Orleans  bereits  über  vierzig 
Mordthaten  gezeitigt  hatte , gründlich  aufzuräumen.  Man  ver- 
haftete sechs  Personen  und  klagte  sie  an , aber  während  des 
Prozesses  wurden  sämtliche  Zeugen  ermordet  Dennoch  erfolgte 
die  Verurteilung  der  Angeklagten,  allein  die  Verteidigung  erwirkte 
die  Anordnung  einer  neuen  Untersuchung  und  diese  schwebte 
noch,  als  Hennessy  umgebracht  wurde,  weil  er  das  Treiben  der 
Mafia  eingehend  erforscht  hatte  und  dadurch  zur  Kenntnis  von 
Thatsachen  gelangt  war,  deren  Enthüllung  wahrscheinlich  zur 
Verurteilung  der  sicilianischen  Gurgelabschneider  geführt  haben 
würde.  Der  Polizeileiter  war  längst  vor  einem  drohenden  Atten- 
tat gewarnt  worden  und  hatte  sich  daher  mit  einer  ständigen 
Eskorte  umgeben ; da  indessen  nichts  Böses  geschah,  entliefs  er 
dieselbe  eines  Sonntags  und  am  nächsten  Mittwoch  wurde  er 
um  Mitternacht  auf  der  Strafse  erschossen.  Elf  Sicilianer  wanderten 
als  verdächtig  ins  Untersuchungsgefängnis  und  einer  von  ihnen 
gestand,  dafs  in  einer  geheimen  Versammlung  zehn  Mafiosi  durch 
das  Los  zur  Begehung  des  Attentats  bestimmt  worden  waren. 
Die  durch  Todesdrohungen  eingeschüchterten  Geschworenen 
sprachen  sechs  Angeklagte  trotz  überwältigender  Schuldbeweise 
frei.  Doch  erfolgte  eine  neue  Anklage  und  daher  die  Rück- 
sendung der  Missethäter  ins  Grafschaftsgefängnis.  Da  wurde  das 
letztere  eines  Tages  nach  Aufreizung  durch  einen  gewissen 
Parkerson  von  einer  grofsen  bewaffneten  Volksmenge  erstürmt, 
in  der  sich  jedoch  auch  hervorragende  Kaufleute,  Professoren, 
Beamte,  Redakteure  etc.  befanden.  Dieselbe  schleppte  die  Sicilianer 
heraus  und  hängte  oder  erschofs  sie.  Diese  That  wurde  tags 
darauf  in  vielen  Versammlungen  öffentlicher  Körperschaften  zwar 
bedauert,  aber  gleichzeitig  als  notwendig  gebilligt.  Der  Vorfall 
führte  zu  einer  vorübergehenden  diplomatischen  Spannung  zwischen 
Italien  und  den  Vereinigten  Staaten. 

Seither  hat  es  die  Mafia  von  New-Orleans  nicht  wieder 
gewagt,  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  zu  erregen ; doch  übt  sie 
ihre  schlimme  Thätigkeit  zweifellos  im  geheimen  weiter  aus. 
Vor  den  Ereignissen  von  1890  wufste  sie  die  Bürgerschaft  derart 
zu  tyrannisieren,  dafs  diese  sie  viel  mehr  fürchtete  als  sie  selbst 
die  Gesetze  fürchtete.  Die  meisten  dortigen  Mafiusi  lebten  aus- 
schliefslich  von  Verbrechen  und  die  übrigen  hielten  sich  Geschäfts- 
konkurrenten durch  Todesdrohungen  vom  Halse.  Jedesmal,  wenn 
ein  Mafiuso  vor  Gericht  stand,  erhielten  einzelne  Geschworene 
schriftliche  und  versiegelte  Warnungen,  durch  welche  sie  sich 
nicht  selten  zur  Freisprechung  verleiten  liefsen. 


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Bettler,  Strolche  und  Diebe.  22t 

Bettler,  Strolche  und  Diebe. 

Innerhalb  dieser  Gattungen  von  Miifsiggängern  und  Übel- 
thätern  bildeten  sich  zuweilen  Vereinigungen,  die  durch  geheime 
Zeichen  und  Redensarten  zusammengehalten  wurden,  welche  einem 
gemeinsamen  Zweck  dienten,  wie  das  gegenwärtig  die  Jesuiten 
und  Räuber  zu  thun  pflegen  und  wie  es  früher  die  Garduna 
(vgl.  weiter  oben  ..Die  Garduna“)  oder  die  Banden  des  Schinder- 
hannes thaten.  Im  Mittelalter  wurde  Frankreich  von  den  „truands" 
durchstreift,  einer  Bande  fahrender  Bettler,  die  einen  eigenen  König, 
ein  eigenes  Gesetzbuch  und  eine  eigene  Sprache  hatten,  welche 
man  in  späteren  Zeiten  ..argot"  nannte.  Wahrscheinlich  stammt 
diese  Bezeichnung  von  dem  griechischen  Wort  Ap/o;  = Müfsig- 
gänger,  träger  Kerl;  die  truands  hiefsen  dann  später  auch  „argo- 
tiers".  Der  berüchtigte  Cartouche  vereinigte  seine  Räuberbande 
zu  einem  Bund  mit  eigener  Sprache  und  eigenen  Gesetzen.  Der 
Dialekt  der  englischen  Bettler  und  Diebe  wird  als  „Cant"  oder 
„Hausierer-Französisch“  bezeichnet.  Die  Kesselflicker  haben  ein 
besonderes  Rotwelsch  von  keltischem  Gepräge,  „schelta"  genannt 
und  bei  den  meisten  berufsmäfsigen  Landstreichern  im  Gebrauch. 
In  den  betreffenden  Kreisen  Italiens  wird  „gergo“,  in  Spanien 
„Germania",  in  Böhmen  „hantyrka",  in  Portugal  „calao“  ge- 
sprochen. Die  Dialekte  der  cirkassischen  Diebe  und  Räuber 
heifsen  „schakopse"  und  „forschipse".  In  Asien  ist  ein  als 
„balaibalati“  bekanntes  Rotwelsch  — hauptsächlich  aus  verderbten 
arabischen,  persischen  und  türkischen  Worten  zusammengesetzt 
sehr  verbreitet.  Sogar  die  hottentottischen  Vagabunden  haben 
einen  besonderen  Jargon:  das  „Cuze-cat“.  Der  wohlbekannte 
levantinische  Jargon  „lingua  franca"  ist  ein  Gemisch  aus  italieni- 
schen, neugriechischen,  deutschen,  spanischen,  türkischen  und 
französischen  Brocken,  während  die  europäischen  Diebs-  und 
Bettlersprachen  aus  verdrehten  und  andere  Bedeutungen  haben- 
den Worten  der  betreffenden  Landessprachen  in  seltsamer  Mischung 
mit  hebräischen  und  zigeunerischen  Ausdrücken  gebildet  sind. 
Die  Redewendungen  der  unterschiedlichen  Rotwelsche  bestehen 
meistens  aus  Metaphern  und  phantastischen  Anspielungen,  die 
oft  einen  sehr  witzigen  und  manchmal  sogar  einen  recht  poetischen 
Anstrich  haben. 

Gewisse  Formen  des  Aberglaubens  haben  die  Vagabunden 
selbst  der  von  einander  entferntesten  Länder  gemein.  Vieles  von 
diesem  Aberglauben  ist  ebenso  seltsam  wie  empörend.  Diebe 
und  Bettler  erkennen  einander  an  gewissen  Zeichen,  so  z.  B. 
halten  sie,  wenn  sie  einen  Berufsgenossen  vor  sich  zu  haben 
glauben,  die  Finger  derart,  dafs  sie  den  Buchstaben  C des  Taub- 
stummenalphabcts  bilden,  oder  sie  schliefsen  ein  Auge  und  schielen 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


mit  dem  zweiten.  Fechtbrüder  belehren  ihre  »Kollegen“  über 
die  geschäftlichen  Aussichten  des  Betteins  in  bestimmten  Dörfern 
oder  Häusern  dadurch,  dafs  sie  geheime  Zeichen  mit  Kreide  an 
Mauern  oder  Thore  schreiben  oder  in  Baumrinden  schneiden  oder 
mit  dem  Stock  in  den  Schnee  graben.  Die  Bettler  verehren  den 
heiligen  Martin  (geh.  um  316)  als  ihren  Schutzherrn,  und  zwar 
weil  er,  ehe  er  Priester  wurde,  als  Soldat  in  Amiens  bekanntlich 
seinen  Mantel  entzweischnitt,  um  die  Hälfte  einem  frierenden 
Bettler  zu  schenken.  Jene  Bettler  jedoch,  die  Krüppel  sind  oder 
sich  für  solche  ausgeben,  haben  einen  andern  Schutzpatron:  den 
heiligen  Ägidius.  Dafs  die  Diebe  nicht  gern  in  Gruppen 
»arbeiten®,  sondern  allein  oder  höchstens  zu  zweien,  ist  bekannt. 
Manche  ihrer  bildlichen  Redensarten  sind  urkomisch,  namentlich 
was  das  Londoner  Diebsrotwelsch  betrifft.  »Die  Katze  und  die 
Kätzchen  stehlen®  heifst  so  viel  wie  Quart-  und  Pint-Trinkgefäfse 
stehlen;  »den  Wagen  umschwirren®  bedeutet  den  Taschendiebstahl 
im  Omnibus;  den  Taschendieb  nennt  man  »Taucher®,  die  Tret- 
mühle »Maikäfer®;  unter  »flummux«  (=  stecken  bleiben  oder  in 
Verlegenheit  bringen)  versteht  man  »eines  Monats  Gefängnisstrafe 
sicher  sein®. 

Von  den  heutigen  vereinigungsartig  verbundenen  Räuber- 
banden sind  die  italienischen  wohl  die  bekanntesten,  weil  sie  auch 
im  Ausland  nicht  selten  von  sich  reden  machen.  Die  Schinder- 
hannesbande, welche  an  der  Scheide  des  18.  und  des  19.  Jahr- 
hunderts an  beiden  Ufern  des  Oberrheins  ihr  Unwesen  trieb, 
hörte  nach  der  Hinrichtung  ihres  Hauptmanns  und  von  achtzehn 
Mitgliedern  (1803)  zu  bestehen  auf.  Um  dieselbe  Zeit  versetzte 
eine  sehr  zahlreiche  Räuberbande  die  Gegend  von  Aachen  in 
Schrecken ; es  waren  dies  die  berüchtigten  »Ziegenreiter  von 
Mersen®  — so  genannt,  weil  der  Volksaberglaube  meinte,  dafs  sie 
während  ihrer  Streifzüge  auf  Ziegen  ritten,  die  man  für  verkleidete 
Teufel  hielt.  Ihr  geheimes  Haupt  war  ein  gewisser  Kirchhof,  Arzt 
und  Ökonom  des  Herzogenroder  Klosters,  der  um  1 804  verhaftet, 
im  Kloster  gerichtlich  behandelt  wurde  und  unter  der  Folter 
starb,  während  32  seiner  Banditen  teils  in  Frankreich  und  Holland, 
teils  in  Deutschland  selbst,  hingerichtet  wurden.  Kirchhof  ver- 
pflichtete seine  Leute  durch  förmliche  Verträge  zur  strengsten 
Verschwiegenheit,  widrigenfalls  ihnen  ein  grausamer  Martertod 
drohte.  Und  das  war  keine  leere  Drohung,  wie  eines  von  vielen 
Beispielen  darthun  möge.  Ein  gewisser  Hannickel  zerschmetterte 
einem  des  Verrates  beschuldigten  Genossen  alle  Knochen,  schnitt 
ihm  Nase  und  Oberlippe  ab  und  übergofs  ihn  aufserdem  mit 
Mistjauche,  um  seine  Qualen  zu  vergröfsern. 


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Die  Jesuiten. 


223 


Die  Jesuiten. 

Wieso  sind  die  Jesuiten  gesellschaftsfeindlich  und  ein  Geheinibund?  — 
Geheime  »Kongregationen“.  - Einweihungs-Erprobungen.  - Der  Eid.  - 
Das  Segnen  des  Mörderdolches.  — Billigung  des  Tyrannenrnordes.  - Ge- 
heime Vorschriften.  — Die  ..secreta  monita*  authentisch.  — Jesuiten- 
moral. — Ein  verloster  Beichtvater. 

Zu  den  Geheimbünden  gehört  der  Jesuitenorden  schon 
deshalb,  weil  er  in  Ländern,  die  ihm  verboten  sind,  unter  falschen 
Namen  verbleibt  oder  sich  in  dieselben  einschleicht,  oder  weil 
er  sich  mit  wirklichen , eigentlichen  Geheimgesellschaften  ver- 
bündet oder  auch  weil  er  in  fast  allen  Ländern  der  Erde  zahl- 
reiche Helfer  oder  Vertreter  hatte  und  vielfach  noch  hat,  die, 
ohne  offenkundig  zu  ihm  zu  gehören,  seine  Grundsätze  verbreiten 
und  seine  Interessen  wahrnehmen;  es  sind  dies  die  sogenannten 
„jesuites  de  robe  courte."  Und  was  seine  Gesellschaftsfeindlich- 
keit betrifft,  so  besteht  sie  in  seiner  Gegnerschaft  gegen  die 
bürgerliche  und  Religionsfreiheit,  in  seiner  Sucht  nach  Selbster- 
höhung und  in  seinem  Bestreben,  jeden  Fortschritt  in  Litteratur 
und  Wissenschaft  zu  bekämpfen.  Die  Jesuiten  begnügten  sich 
nicht  mit  dem  beispiellosen  Einflufs,  den  sie  durch  ihre  Thätig- 
keit  als  Beichtväter,  Prediger  und  Schullehrer  erlangt  hatten; 
vielmehr  gründeten  sie  in  Italien  und  Frankreich  um  1 563  auch 
noch  einige  geheime  „Kongregationen",  die  sich  in  unterirdischen 
Kapelfen  oder  an  anderen  verborgenen  Plätzen  versammelten  und 
eigene  Katechismen  etc.  hatten,  die  jedes  Mitglied  vor  seinem  Tode 
zurückgeben  mufste.  Näheres  findet  sich  in  der  in  der  Pariser 
Nationalbibliothek  aufbewahrten  französischen  Handschrift  „Ge- 
schichte der  jesuitischen  Kongregationen  und  Brüderschaften  von 
1563  bis  zur  Gegenwart“  (1709). 

Allmählich  war  es  den  Jesuiten  gelungen,  in  den  meisten 
katholischen  Staaten  den  Jugend-Unterricht  in  die  Hände  zu 
bekommen.  Dadurch  kamen  sie  in  die  Lage,  die  Ausbildung 
der  jungen  Geister  ihren  geheimen  Zwecken  anzupassen.  Die- 
jenigen Zöglinge  nun,  welche  sich  nach  vielen  Jahren  als  blinde 
Fanatiker  und  ebenso  „fromme"  wie  mutige  Männer  bewährten, 
wurden  „eingeweiht“.  Die  Probezeit  dauerte  nur  vierundzwanzig 
Stunden,  war  aber  schrecklich.  • Ihr  ging  langes  und  strenges 
Fasten  voraus,  das  den  Körper  schwächte,  die  Einbildungskraft 
jedoch  entflammte,  und  unmittelbar  vor  der  Erprobung  wurde 
dem  Kandidaten  ein  sehr  starkes  Getränk  verabreicht.  Die  Prüfungs- 
erscheinungen ähnelten  denen  der  antiken  Mysterien ; sie  bestanden 
nämlich  in  Höllenspuk,  Totenbeschwörungen,  Teufelserscheinungen, 
künstlichem  Donner  und  Blitz,  wandelnden  Skeletten  und  der- 
gleichen mehr.  Der  Neophyt  wurde  scharf  beobachtet.  Zeigte 


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Oesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


er  Furcht  oder  gar  Schrecken,  so  blieb  er  auf  immer  beim  ersten 
Grad  stecken.  Dieser  umfafste  die  „coadjutores  temporales",  die 
blofs  niedrige,  untergeordnete  Arbeiten  zu  verrichten  hatten.  Im 
ganzen  gab  es  vier  Grade;  der  zweite  war  der  der  „Scholastiker“ 
und  aus  seiner  Mitte  wurden  die  Jugendbildner  genommen;  die 
Inhaber  des  dritten  hiefsen  „coadjutores  spirituales".  Nur  die 
Mitglieder  des  vierten  Grades,  die  „Professi“,  erlangten  Kenntnis 
von  allen  Geheimnissen  des  Ordens. 

Bestand  der  Kandidat  die  Erprobungen  des  ersten  Grades 
gut,  d.  h.  ohne  Zeichen  von  Angst,  so  wurde  er  zu  geeigneter 
Zeit  in  den  zweiten  eingeweiht.  Hier  waren  die  Prüflingen  von 
der  gleichen  Art,  aber  ihr  Mafsstab  war  ein  gröfserer.  Nach 
langem  Fasten  wurde  er  mit  verbundenen  Augen  in  eine  geräumige 
Höhle  geführt,  in  der  er  wildes  Geheul  und  Gebrüll  hörte. 
Er  durchschritt  sie  unter  Gebeten,  die  für  diesen  Anlafs  ge- 
schrieben waren,  und  mufste  an  ihrem  Ende  durch  eine  enge 
Öffnung  kriechen.  Während  er  dies  that,  nahm  ihm  eine  un- 
sichtbare Hand  die  Binde  von  den  Augen  und  er  sah  sich  dann 
in  einem  viereckigen  unterirdischen  Gelafs,  dessen  Boden  mit 
einem  Leichentuch  bedeckt  war,  auf  dem  drei  Lämpchen  standen, 
welche  die  umherliegenden  und  stehenden  Todtenschädel  und 
Skelette  trüb  beleuchteten.  Es  war  dies  eine  „Beschwörungshöhle“ 
oder  „Schwarze  Kammer",  deren  Vorhandensein  durch  Unter- 
suchungen weltlicher  Gerichte  wiederholt  erwiesen  worden  ist 
Dort  verbrachte  er  längere  Zeit  im  Gebet,  wobei  er,  ohne  es  zu 
wissen,  aufmerksam  beobachtet  wurde.  War  man  mit  ihm  zu- 
frieden, so  standen  plötzlich  er  wufste  nicht,  wieso,  wahr- 

scheinlich mit  Hilfe  einer  verborgenen  und  gut  geölten  Fallthür  — 
zwei  Jesuiten  vor  ihm,  die  Erzengel  darstellten  und  ihm,  ohne 
ein  Wort  zu  sprechen,  ein  blutgetränktes,  mit  Hieroglyphen  be- 
decktes weifses  Band  um  die  Stirn  banden;  auch  hängten  sie 
ihm  ein  kleines  Kruzifix  und  ein  angeblich  Reliquien  enthaltendes 
Täschchen  um  den  Hals.  Schliefslich  entkleideten  sie  ihn,  warfen 
seine  Kleider  auf  einen  in  einer  Ecke  vorbereiteten  kleinen  Scheiter- 
haufen und  malten  ihm  mit  Blut  zahlreiche  Kreuze  auf  den  Leib. 

Jetzt  trat  der  Hierophant  mit  seinen  Gehilfen  ein.  Die 
letzteren,  in  blutbefleckte  Gewänder  gekleidet,  banden  ihm  ein 
rotes  Tuch  um  die  Hüften,  stellten  sich  neben  ihn  und  hielten 
ihre  Dolche  bogenförmig  über  seinen  Kopf.  Alle  knieten  auf 
einen  eigens  ausgebreiteten  Teppich  nieder,  um  eine  Stunde  lang 
zu  beten,  wonach  der  Scheiterhaufen  in  Brand  gesetzt  wurde. 
Nun  öffnete  sich  eine  Wand  und  unter  bald  heiteren,  bald 
düsteren  Musikklängen  zog  an  dem  Kandidaten  eine  lange  Reihe 
von  Gespenstern , Geistern , Engeln  und  Dämonen  vorbei. 
Während  dieses  schauerlichen  Umzuges  legte  er  folgenden  Eid  ab: 


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Die  Jesuiten. 


225 


»Im  Namen  des  gekreuzigten  Christus  schwöre  ich,  die 
Bande  zu  lösen,  die  mich  annoch  mit  Vater,  Mutter,  Brüdern 
und  Schwestern,  Verwandten  und  Freunden  verknüpfen  oder  mit 
dem  König,  den  Behörden  und  jeder  Obrigkeit,  der  ich  jemals 
Treue,  Gehorsam,  Dankbarkeit  oder  Dienstbereitschaft  geschworen 
haben  mag.  Ich  sage  mich  vom  Ort  meiner  Geburt  los,  um 
künftig  in  einem  andern  Kreise  zu  leben.  Ich  schwöre,  meinem 
neuen  Vorgesetzten  . . . alles  zu  offenbaren,  was  ich  gethan, 
gedacht,  gelesen,  erfahren,  beobachtet  oder  entdeckt  haben  werde. 
. . . Ich  schwöre,  meinem  Vorgesetzten  so  ganz  anzugehören, 
als  wäre  ich  eine  leb-  und  willenlose  Leiche.  Endlich  schwöre 
ich,  den  Versuchungen  aus  dem  Wege  zu  gehen  und  alles,  was 
zu  meiner  Kenntnis  gelangt,  mitzuteilen,  wohl  wissend,  dafs  der 
Dolch  mich  überall,  wo  ich  auch  sein  möge,  ebenso  schnell 
treffen  kann  wie  der  Blitz.“ 

Nach  Ablegung  dieses  Eides  nahm  der  Novize  in  einem 
benachbarten  Gemach  ein  Bad,  worauf  er  mit  einem  neuen  weifsen 
Leinenanzug  bekleidet  wurde,  um  schliefslich  mit  einer  üppigen 
Mahlzeit  bewirtet  zu  werden,  bei  der  er  sich  zur  Entschädigung 
für  den  ausgestandenen  Schrecken  und  das  lange  Fasten  nach 
Herzenslust  gütlich  thun  konnte. 

Bezeichnend  war  die  Feierlichkeit  des  Dolchsegnens,  welche 
vorgenommen  wurde,  wenn  der  Jesuitenorden  es  für  angezeigt 
hielt,  einen  König  oder  irgend  eine  andre  hervorragende  Per- 
sönlichkeit umbringen  zu  lassen.  Neben  der  Finstern  (Schwarzen) 
Kammer  lag  in  der  Regel  eine  sogenannte,  »Meditations-Zelle“, 
in  deren  Mitte  ein  kleiner  Altar  mit  einem  verschleierten  Gemälde 
stand,  umgeben  von  scharlachrot  brennenden  Fackeln  und  Lampen. 
Hier  nahm  der  zur  Vollbringung  des  Meuchelmordes  ausersehene 
Ordensbruder  die  nötigen  Weisungen  entgegen.  Auf  einem  Tisch 
befand  sich  ein  mit  seltsamen  Hieroglyphen  und  auf  dem  Deckel 
mit  einer  Darstellung  des  Lammes  bemaltes  Kästchen,  das  den 
für  die  ßlutthat  bestimmten  Dolch  enthielt.  Dieser  wurde  von 
einem  der  Funktionäre  der  Gesellschaft  Jesu  aus  dem  Kästchen 
genommen,  von  seiner  Leinenhülle  befreit  und  dem  Hierophanten 
übergeben,  der  ihn  küfste,  mit  Weihwasser  besprengte  und  einem 
Diakon  reichte.  Der  letztere  befestigte  ihn  an  einem  Rosenkranz, 
den  er  dem  Betreffenden  um  den  Hals  hängte,  wobei  er  ihm 
sagte,  er  sei  »von  Gott  auserwählt“,  diese  oder  jene  Persönlich- 
keit zu  töten.  Nun  beteten  die  Anwesenden  folgendermafsen 
für  das  Gelingen  des  geplanten  Attentats: 

»Und  du,  unbesiegbarer  und  furchtbarer  Gott,  der  du 
beschlossen  hast,  unsern  Erwählten,  deinen  Diener,  mit  der  Ver- 


nichtung des  Tyrannen  und  Ketzers zu  betrauen,  gieb 

ihm  die  nötige  Kraft  und  verleihe  ihm  die  vollkommene  Weihe, 

Heckethor n* Kätscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  15 


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226 


Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


indem  du  seine  That  mit  Erfolg  krönst.  O Gott,  vermehre  seine 
Stärke  hundertfach,  damit  ihm  das  edle  Unternehmen  gelinge. 
Schütze  ihn  mit  der  mächtigen  und  göttlichen  Rüstung  deines 
Sohnes  und  deiner  Heiligen.  Flöfse  ihm  den  Wagemut  ein,  der 
jede  Furcht  mifsachtet,  und  stähle  seinen  Leib  in  Gefahr  wie 
auch  angesichts  des  Todes!" 

Nach  diesem  äufserst  charakteristischen  Gebet,  das  keines 
Kommentars  bedarf,  wurde  das  Altarbild  entschleiert  und  der 
„ Auserwählte"  erblickte  das  Bildnis  des  Dominikaners  Clement, 
wie  ihn  eine  Engelschar  auf  ihren  Flügeln  zu  himmlischem 
Glanz  emporträgt.  Der  Diakon  setzte  dem  Zukunftsmörder 
eine  Krone  — Symbol  der  Himmelskrone  - aufs  Haupt  mit  den 
Worten:  »Habe,  o Herr  der  Heerscharen,  die  Gnade,  mit  wohl- 
wollenden Augen  herabzublicken  auf  den  Diener,  den  du  als 
deinen  Arm  erkoren  hast,  die  hohen  Befehle  deiner  ewigen  Ge- 
rechtigkeit auszuführen.  Amen!"  Dieser  schamlosen  Blasphemie 
folgten  neuerliche  Wandelbilder  von  Geistern,  Gespenstern,  Ske- 
letten, Dämonen  u.  s.  w.,  dann  war  die  freche  Komödie  zu  Ende. 

Handelte  es  sich  um  „Tyrannen“,  die  gegen  die  Jesuiten 
waren,  so  bekannten  sich  diese  offen  als  Anhänger  des  Tyrannen- 
mordes. Das  that  sogar  der  berühmte  Erzbischof  Bellarmin,  Jesuit 
und  Inquisitor,  obgleich  er  nicht  einmal  Ungeziefer  zu  vertilgen 
erlaubte,  weil  dessen  Erdenleben  sein  einziges  Dasein  bilde!  Gegen 
das  Töten  von  Ketzern  hatte  er  freilich  nichts  einzuwenden;  er 
schrieb  vielmehr  ein  Buch,  in  welchem  er  ihre  Ausrottung  empfahl. 

Was  das  berühmte  oder  vielmehr  berüchtigte  Buch  der 
„secreta  inonita"  betrifft,  so  enthält  die  Vorrede  die  Mahnung, 
es  nicht  Fremden  in  die  Hände  fallen  zu  lassen,  da  sonst  leicht 
eine  ungünstige  Meinung  von  dem  Orden  entstehen  könnte.  Die 
Titel  der  einzelnen  Kapitel  sprechen  für  sich:  1.  Verfahren  bei 
Errichtung  einer  neuen  Anstalt.  2.  Wie  die  Ordensbrüder  sich 
die  Freundschaft  von  Fürsten  und  anderen  hochstehenden  Per- 
sonen erwerben  und  bewahren  können.  — 3.  Verhalten  der  Ge- 
sellschaft Jesu  gegenüber  Persönlichkeiten  von  hohem  Einflufs  im 
Staat.  4.  Winke  für  Prediger  und  Beichtväter  von  Königen 
und  anderen  Grofsen.  - 5.  Verhalten  gegen  die  Geistlichkeit 
und  gegen  Klosterorden.  — 6.  Wie  reiche  Witwen  zu  gewinnen 
sind.  — 7.  Wie  man  Witwen  fesselt  und  über  ihr  Vermögen 
verfügt.  8.  Wie  man  die  Kinder  von  Witwen  bewegt,  sich 
einem  Leben  religiöser  Einsamkeit  zu  weihen.  — 9.  Die  Ver- 
mehrung des  Anstaltsbesitzes.  — 10.  Von  der  strengen  Mannes- 
zucht des  Ordens.  — II.  Verhalten  der  Brüder  gegen  die  aus 
der  Gesellschaft  Entlassenen.  12.  Von  denen,  die  man  im 
Orden  behalten  und  hochstellen  soll.  — 13.  Die  Wahl  junger 
Leute,  die  in  den  Orden  aufgenommen  werden  sollen,  und  wie 


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Die  Jesuiten. 


227 


man  sie  an  ihn  fesselt.  — 14.  Von  den  Entlassungsgründen.  - 
15.  Verhalten  gegenüber  Nonnen  und  frommen  Frauen.  — 16. 
Wie  man  vorschützt,  irdische  Güter  zu  mifsachten.  — 17.  All- 
gemeine Mittel  zur  Förderung  der  Ordensinteressen. 

Die  Jesuiten  haben  versucht,  die  Authenticität  der  »geheimen 
Vorschriften“  zu  leugnen;  es  ist  aber  nie  gelungen,  die  Geschichte 
der  Entdeckung  dieses  Buches  zu  entkräften.  Als  Papst  Clemens  XIV. 
die  Gesellschaft  Jesu  im  Jahre  1773  aufhob,  besafs  diese  in  den 
Niederlanden  u.  a.  auch  eine  Niederlassung  zu  Roermond.  Die 
holländische  Regierung  hatte  einen  Liquidierungsausschufs  ein- 
gesetzt, welcher  den  Staatsrat  Zuytgens  mit  der  Aufnahme  des 
Inventars  betraute.  Dieser  Mann  erregte  bald  den  Verdacht,  zu 
Gunsten  des  Ordens  gewisse  Urkunden  etc.  beiseite  geschafft  zu 
haben;  darum  erhielt  er  den  strengen  Befehl,  sämtliche  Papiere 
einzusenden.  Nun  denn,  unter  ihnen  befand  sich  eine  Nieder- 
schrift der  »secreta  monita“.  Diese  Thatsache  wird  erhärtet  durch 
das  im  Brüsseler  Archiv  aufbewahrte  »Protokoll  der  Verhand- 
lungen des  infolge  der  Aufhebung  der  Gesellschaft  Jesu  entsandten 
Ausschusses."  Das  erwähnte  Manuskript  stimmt  sowohl  mit  der 
von  Pater  Berthier  dem  letzten  Pariser  Jesuitenbibliothekar 
vor  der  Revolution  hinterlassenen  lateinischen  Handschrift, 
als  auch  mit  der  im  Jahre  1661  zu  Paderborn  gedruckten  Aus- 
gabe der  »Monita“  überein. 

Aber  selbst  wenn  die  »geheimen  Vorschriften“  nicht  von 
einem  Jesuiten  verfafst  sein  sollten,  bilden  sie  doch  eine  vortreff- 
liche Verkörperung  der  Grundsätze,  nach  denen  die  Jesuiten  sich 
jederzeit  thatsächlich  gerichtet  haben.  Stets  hat  bei  ihnen  der 
Zweck  die  Mittel  geheiligt  und  zu  ihren  Mitteln  gehörte  jede 
Art  der  Täuschung  und  des  Verbrechens  »ad  ittajorem  Dei  gloriani". 
Als  infolge  des  Fallissements  des  Jesuiten  Lavalette  (1760)  der 
Orden  seine  »Konstitutionen“  ausliefern  mufste,  entdeckte  man 
in  ihnen  Lehren  wie  z.  B.  die  folgenden : Nach  dem  Jesuiten  pater 
Taberna  ist  es  »wahrscheinlich,  dafs  ein  Richter,  der  behufs 
Fällung  eines  ungerechten  Urteils  bestochen  wird,  das  Geld  be- 
halten darf,  denn  58  Jesuitendoktoren  sind  dieser  Ansicht."  Wann 
ein  Mönch  sein  Ordenskleid  daheimlassen  darf,  ohne  dem  Kirchen- 
bann zu  verfallen?  »Wenn  er  in  demselben  Anstofs  erregen  würde, 
z.  B.  wenn  er  unerkannt  ein  Haus  der  Schande  besuchen  will." 
Emanuel  Sa  lehrt:  »Versprechen  sind  nicht  bindend,  wenn  man 
sie  ohne  die  Absicht  macht,  sie  zu  halten.“  (Reservatio  mentalis!) 
»Christenkinder  dürfen  ihre  Eltern,“  sagt  Fagundez,  »der  Ketzerei 
selbst  dann  anklagen,  wenn  sie  wissen,  die  Eltern  würden  ver- 
brannt werden.“  Doch  genug  von  der  planmäfsigen  Niedertracht! 

Wir  wollen  mit  einem  pikanten  modernen  Beispiel  von 
Jesuitenmoral  sehliefsen.  Als  1852  das  Geld  zum  Bau  der  Jesuiten- 

15* 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


kirche  in  der  Pariser  Rue  Sevres  nicht  mehr  ausreichte  und  alle 
Mittel  zur  Erlangung  des  noch  nötigen  Betrages  erschöpft  waren, 
erbot  sich  der  jüngste  Ordensbruder  — zugleich  der  beliebteste 
Beichtvater  und  Prediger  des  adeligen  Viertels  — als  Treffer 
einer  zu  veranstaltenden  Lotterie.  Er  schrieb  hundert  Lose  für 
weibliche  Beichtkinder  und  liefs  in  vertraulicher  Weise  verlauten, 
dafs  die  Gewinnerin  des  Treffers  drei  Tage  lang  nach  Belieben 
über  ihn  - Pater  Lefevre  — verfügen  könne!  Die  Damen  rissen 
sich  förmlich  um  die  Lose ! Die  Skeptiker  lachten  und  die  Ketzer 
spöttelten,  aber  - die  Kirche  konnte  vollendet  werden.  Ja,  ja, 
der  Zweck  heiligt  die  Mittel  .... 


Die  Skopzen. 

Verrückte  russische  Geheimsekten : die  Selbstverbrenner,  die  Selbstopferer, 
die  Flagellanten.  — Dr.  Pelikan  und  die  Skopzen.  — Anfängliche  Ge- 
schichte der  Skopzen.  — Die  Seliwanow- Legende  und  ihr  historischer 
Untergrund.  — Ausbreitung  der  Sekte.  — Ihre  weitere  Geschichte.  — Eine 
Entdeckung  in  Morschansk.  — Glaubenslehre  und  Gottesdienst.  — Die 
Feuertaufe.  — Nutzlosigkeit  der  Verfolgung. 

In  Rufsland  hat  nicht  nur  die  politische,  sondern  auch  die 
religiöse  Geheimbündelei  von  jeher  eine  grofse  Rolle  gespielt. 
Zu  den  wahnwitzigsten  unter  den  jetzigen  Sekten  gehören  die  in 
Sibirien  sehr  zahlreichen  „soschigateli“,  die  den  freiwilligen  Feuer- 
tod für  das  Mittel  halten,  sich  von  der  Unreinheit  und  Sünd- 
haftigkeit dieser  Welt  zu  befreien.  Sie  pflegen  sich  — Männer 
und  Weiber  — in  Gruppen  von  15  bis  100  in  grofsen,  mit 
Reisig  gefüllten  Gruben  oder  Scheunen  zu  verbrennen,  ln  der 
Gegend  von  Tjumen  sollen  i.  J.  1867  nicht  weniger  als  1700 
Personen  diesen  Tod  gewählt  haben.  Die  „morelstschiki"  (-=  Selbst- 
opferer) ziehen  dem  Feuer  das  Eisen  vor  und  halten  es  für  heilige 
Pflicht,  einander  zu  töten.  1 868  brachten  auf  einem  Landgut  an 
der  Wolga  47  Männer  und  Weiber  einander  mit  Dolchen  um. 
Nicht  minder  verrückt  sind  die  „Flagellanten“,  die  zuweilen  auch 
den  Nichtbrüdern  gefährlich  werden,  wie  z.  B.  im  Sommer  1869 
einmal  im  Gouvernement  Saratow.  Die  Flagellanten  des  dortigen 
Städtchens  Balaschow,  mehrere  hunderte  an  Zahl,  griffen  bei  der 
Rückkehr  von  einer  ihrer  fanatischen  Übungen  plötzlich  die 
Zuschauer  an,  sie  mit  ihren  Geifseln  und  Knotenstricken  derart 
bearbeitend,  dafs  mehrere  das  Leben  einbüfsten ; andere  wurden 
auf  offener  Strafse  verbrannt,  ohne  entfliehen  zu  können.  Aber 
keine  russische  Sekte  hat  in  neuerer  Zeit  so  viel  von  sich  reden 
gemacht  wie  die  der  Skopzen  (oder  Kastraten).  Und  während 


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Die  Skopzen. 


229 


die  vorstehend  erwähnten  Sekten  fast  gänzlich  aus  ebenso  un- 
wissenden wie  wilden  Fanatikern  bestehen,  gehören  zu  den  Skopzen, 
wie  wir  alsbald  sehen  werden,  auch  Männer  aus  den  »besseren“ 
Klassen,  reiche  und  nicht  ungebildete-  Leute. 

Dafs  das  Leben  seltsamere  Blüten  treibt  als  die  Einbildungs- 
kraft, geht  aus  den  Thatsachen  hervor,  welche  sich  durch  die 
wiederholten  gerichtlichen  Verfolgungen  der  Skopzen  in  verschie- 
denen Teilen  Rufslands  ergeben  haben.  Unsere  nachstehenden 
Mitteilungen  fufsen  gröfstenteils  auf  den  betreffenden  amtlichen 
Berichten,  deren  Kern  der  russische  Geheimrat  Dr.  E.  Pelikan, 
Vorsitzender  des  Medizinalrates,  veröffentlichte,  der  viele  Skopzen 
persönlich  gekannt  und  untersucht  hatte.  Sein  Buch  bildet  text- 
lich und  illustrativ  eine  erstaunliche  Sammlung  von  Schrecknissen, 
welche  man  kaum  für  möglich  halten  würde,  wenn  sie  nicht  gericht- 
lich erhärtet  wären.  Wir  dürfen  nicht  daran  denken,  uns  hier 
auf  die  Mitteilung  von  näheren  Einzelheiten  einzulassen. 

Aus  dem  Schofs  der  Flagellantensekte,  die  in  Rufsland  seit 
1733  besteht,  gingen  um  1757  die  Anfänge  des  Skopzentums 
hervor.  Von  diesem  erlangte  die  Regierung  im  Jahre  1771  die 
erste  Kenntnis.  Die  erste  Entdeckung  geschah  im  jetzigen  Gou- 
vernement Orlow,  wo  der  Bauer  Andrei  Iwanow  überführt  wurde, 
dreizehn  andere  Bauern  zur  Selbstverstümmelung  überredet  zu 
haben  und  zwar  unter  Mitwirkung  des  Bauern  Kondratji  Seliwanow 
aus  Stolbowo  (Gouvernement  Orel).  Auf  Grund  einer  in 
St  Petersburg  vorgenommenen  gerichtlichen  Untersuchung  erhielt 
Iwanow  die  Knute  und  wurde  dann  nach  Sibirien  verbannt,  wo 
er  vermutlich  starb.  Seliwanow  entfloh  und  verbreitete  mit  Hilfe 
eines  gewissen  Alexander  Schilow  seine  Lehre  in  der  Gegend  von 
Tambow.  1 775  ergriffen,  wurde  er  zur  Knute  und  zur  Ver- 
bannung nach  Sibirien  verurteilt  Mehrere  seiner  Anhänger  liefs 
man  verhaften,  peitschen  und  ins  Zuchthaus  stecken.  Das  nützte 
nichts,  das  Skopzentum  nahm  vielmehr  zu.  Seliwanow  entkam 
aus  Sibirien,  wurde  jedoch  1 797  erwischt  und  nach  Petersburg 
gebracht,  wo  der  Kaiser  mit  ihm  eine  Unterredung  hatte,  nach 
welcher  er  ihn  als  verrückt  in  ein  Irrenhaus  sperren  liefs.  Allein 
Pauls  mystisch  angelegter  Nachfolger  Alexander  1.  liefs  sich  von 
der  Baronin  Krüdner,  die  Seliwanow  für  einen  Heiligen  hielt, 
bereden,  den  sonderbaren  Schwärmer  freizulassen,  der  nunmehr 
einige  Jahre  des  Glanzes  und  Ansehens  in  den  Häusern  seiner 
Bewunderer  verlebte  und  insbesondere  vom  Staatsrat  Alexei 
Michailow  Jelanski  beschützt  wurde,  einem  einstigen  polnischen 
Hofkämmerer,  der  insgeheim  selber  ein  Skopze  war. 

Das  Haus,  welches  Seliwanow  mit  Vorliebe  bewohnte,  wurde 
von  seinen  Anhängern  »Haus  Gottes“,  »himmlisches  Zion“  und 
»Neu-Jerusalem"  genannt,  weil  sie  glaubten,  er  sei  der  wieder- 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


gekehrte  Christus.  Gleichzeitig  hielten  sie  ihn  für  den  Zar 
Peter  III.,  der  von  der  unbefleckten  Jungfrau  geboren  sei,  die 
als  Kaiserin  Elisabeth  Petrowna  den  Thron  bestiegen  habe.  Nach 
der  Skopzenlegende  regierte  Elisabeth  nur  zwei  Jahre  und  übertrug 
dann  die  Herrschaft  einer  ihr  sehr  ähnelnden  Hofdame,  um  sich 
in  die  Einsamkeit  zurückzuziehen,  und  zwar  zuerst  ins  Haus  des 
Skopzensehers  Filinion  im  Gouvernement  Orel  und  später  nach 
Bjelogrod  (Provinz  Kursk),  wo  sie  unsichtbar  — hinter  einer 
Gartenwand  — bis  1865  die  Anbetung  ihrer  Getreuen  entgegen- 
nahm. Von  dem  ..Erlöser“,  wie  Seliwanow  auch  genannt  wird, 
glaubt  man,  er  sei  in  Holstein  geboren  worden,  habe  sich  bei 
Erreichung  der  Mannbarkeit  kastriert,  dieselbe  Operation  an  vielen 
anderen  vollzogen  und  zahlreiche  Wunder  gewirkt.  Auf  den 
Thron  gesetzt,  habe  er  heiraten  müssen,  allein  seine  Gemahlin, 
Katharina  II.,  verachtete  ihn  wegen  seiner  »Feuertaufe"  und  wollte 
ihn  umbringen  lassen.  Rechtzeitig  gewarnt,  entfloh  er  in  der 
Uniform  einer  Schildwache,  die  denn  auch  statt  seiner  ermordet 
wurde.  Obgleich  die  Kaiserin  den  Irrtum  kannte,  liefs  sie  die 
Schildwache  mit  kaiserlichen  Ehren  begraben.  Der  verschwundene 
Zar  erschien  nach  einiger  Zeit  als  der  Bauer  Seliwanow  wieder, 
als  welcher  er  seine  Bekehrungsthätigkeit  fortsetzte,  wobei  ihm 
der  »Vorläufer  des  Erlösers“  - der  vorhin  erwähnte  Schilow 
an  die  Hand  ging.  Schliefslich  sei  er  auf  Befehl  der  Regierung 
gepeitscht  und  nach  Sibirien  verschickt  worden ; doch  habe  Paul  1. 
bei  seiner  Thronbesteigung  ihn,  da  er  in  ihm  seinen  Vater  sah, 
nach  Rufsland  zurückbringen  lassen,  um  ihm  die  Krone  wieder- 
zugeben. Als  Seliwanow  jedoch  sagte,  er  könne  Paul  nur  dann 
als  seinen  Sohn  anerkennen,  wenn  dieser  sich  der  Selbstkastrierung 
unterziehe,  geriet  der  Zar  in  Zorn  und  liefs  den  »Erlöser“  in 
die  Festung  Schlüsselburg  sperren.  Unter  Alexander  1.  sei  Seli- 
wanow freigelassen  worden  und  das  Zarenpaar  habe  sich  zu  seinem 
Glauben  bekehrt.  Der  Skopze  Sladownikow  räumte  ihm  eine  präch- 
tige Wohnung  ein  und  es  gelang  ihm,  viele  zu  überzeugen,  dafs  er 
Christus  sei,  »der  wahreGott“.  Später  sei  er,  weil  die  Regierung  dem 
übermäfsigen  Üherhandnehmen  des  Kastratentums  steuern  wollte,  im 
Kloster  von  Suzdal  interniert  worden.  Die  Skopzen  glauben,  dafs 
er  noch  lebe  und  zu  geeigneter  Zeit  wieder  den  russischen  Thron 
besteigen  werde,  nach  welchem  Ereignis  die  »Feuertaufe"  allgemein 
werden  würde.  Da  aber  nach  christlicher  Anschauung  dem  Wieder- 
erscheinen Christi  das  Auftauchen  des  Antichrist  vorhergehen  mufs, 
behaupten  die  Skopzen,  dieser  sei  bereits  erschienen  und  zwar 
in  der  Person  Napoleons,  den  sie  für  einen  Bastard  Katharinens  II. 
und  des  Teufels  halten  und  der  ihrer  Meinung  nach  jetzt  in  der 
Türkei  lebt,  sich  aber  dereinst  ebenfalls  zum  Skopzentum  bekehren 
und  dann  nach  Rufsland  zurückkommen  werde!!! 


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Die  Skopzen. 


231 


Wie  erklärt  es  sieh,  dafs  die  Skopzen  Peter  III.  für  den 
Erlöser  halten?  Peter  111.  — ein  Enkel  Peters  des  Orofsen  und 
Sohn  von  dessen  Tochter  Anna  Petrowna,  die  mit  Herzog  Karl 
Friedrich  von  Holstein  vermählt  war  bestieg  den  Thron  im 
Jahre  1762.  Unter  seinen  Vorgängern  waren  die  ..Leute  Gottes", 
namentlich  die  Flagellanten,  grausam  verfolgt  und  hingerichtet 
worden;  man  ■ liefs  ihnen  die  Zunge  ausreifsen  und  verbrannte  sie 
lebendig.  Peter  III.  jedoch  begnadigte  sie  unmittelbar  nach  seiner 
Thronbesteigung  und  gewährte  ihnen  vollständige  Religionsfreiheit 
Dies  der  Grund,  aus  welchem  sie  ihn  als  ihren  Erlöser  be- 
trachteten, und  da  er  in  ihren  Augen  Christus  ist,  halten  sie  ihn 
für  unsterblich.  Die  geschichtlich  wahre  Ursache  seiner  Er- 
mordung — bereits  ein  halbes  Jahr  nach  dem  Regierungsantritt  - 
war  die  Unzufriedenheit  der  Kaiserin  mit  den  von  ihm  ein- 
geführten freisinnigen  Neuerungen.  Die  vorhin  erwähnte  Akulina 
Iwanowna,  die  sich  für  die  Zarin  Elisabeth  ausgab,  war  das  Kind 
armer  Eltern  in  Lebedschan  (Provinz  Tambow)  und  hiefs  in 
Wirklichkeit  Katassanowa.  Seliwanow  selbst  starb  1832  hoch- 
betagt im  Kloster  von  Spasso-Eufemius,  wohin  er  zwölf  Jahre  vorher 
aus  Suzdal  gebracht  worden  war.  Damals  (1820)  wurden  viele 
überfanatische  Skopzen  im  Kloster  von  Solowetz  interniert,  da- 
runter Sossonovitsch,  der  sich  später  vom  Skopzentum  lossagte 
und  dem  Archimandriten  dieses  Klosters  die  strengsten  Geheim- 
nisse der  Sekte  enthüllte. 

Aus  den  Verbreitungskarten  Pelikans  geht  hervor,  dafs  die 
letztere  von  1805  bis  1839  in  den  meisten  Teilen  Rufslands 
verbreitet  war,  ganz  besonders  in  Petersburg,  in  Kursk  und  am 
Schwarzen  Meer.  Um  1822  nahm  sie  in  Cherson  und  der  Krim 
beträchtlich  zu;  in  der  Hauptstadt  gehörten  ihr  damals  namentlich 
viele  Gold-  und  Silberschmiede  an.  Zwischen  1840  und  1856 
sank  die  Zahl  ihrer  Mitglieder  in  Petersburg  und  am  Weifsen 
Meer  erheblich.  Nikolaus  I.  verfuhr  gegen  die  Skopzen  mit 
gröfster  Strenge;  er  verbannte  sie  massenhaft  nach  Sibirien,  an- 
dere flohen  in  die  Donaufürstentümer  und  liefsen  sich  haupt- 
sächlich in  Galatz  und  Bukarest  nieder,  vor  allem  aber  in  Jassy, 
wo  angeblich  sämtliche  Droschkenkutscher  Skopzen  sein  sollen. 
Von  1860  bis  1870  nahm  das  Kastratentum  in  Rufsland  in 
hohem  Mafse  zu  und  drang  in  Gegenden,  die  es  vorher  kaum 
gekannt  hatten.  Die  »Getreuen«  sind  ungemein  eifrige  Pro- 
selytenmacher, doch  nehmen  sic  ausschliefslich  Russen  auf;  oder 
können  Angehörige  andrer  Völker  nicht  bewogen  werden,  sich 
auf  den  Wahnwitz  der  Skopzen  einzulassen  ? 

1 865  beschwerte  sich  die  russische  Uferbevölkerung  des  Asow- 
schen  Meeres  lebhaft  über  die  grofse  Verbreitung  des  Skopzen- 
tums.  Das  hatte  eine  Untersuchung  zur  Folge,  welche  die 


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Gesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 


Verbannung  vieler  »Getreuen“  — darunter  die  als  Prophetin  ver- 
ehrte Bäuerin  Babanin  — nach  Sibirien  herbeiführte.  Bald  zeigte 
sich,  dafs  die  Asowschen  Brüder  nur  einen  Zweig  der  Sekte 
bildeten  und  dafs  diese  ihren  Hauptsitz  in  der  Stadt  Morschansk 
(Provinz  Tatnbow)  hatte,  ln  der  letzten  Nacht  des  Jahres  1869 
wurde  der  dortige  Polizeileiter,  der  sich  in  einer  Gesellschaft 
befand,  um  Mitternacht  hinausgerufen  und  ein  Diener  übergab 
ihm  einen  Brief  des  Kaufmanns  Ploticyn,  der  ihm  zehntausend 
Rubel  in  Banknoten  mit  der  Bitte  sandte,  drei  eingesperrte  Frauen 
auf  einige  Stunden  zu  entlassen;  am  Morgen  würden  sie  ins 
Gefängnis  zurückkehren.  Der  redliche  Mann  übergab  Brief  und 
Geld  dem  Strafgerichtshof.  Dieser  liefs  Ploticyn  verhaften  und 
bei  ihm  eine  Haussuchung  vornehmen.  Da  stellte  sich  nun 
heraus,  dafs  sein  Wohngebäude  eigentlich  aus  einer  Gruppe  von 
Häusern  bestand,  die  vier  Keller  hatten,  in  denen  sich,  aufser 
Bargeld  im  ungefähren  Betrag  von  zwei  Millionen  Rubeln,  ein 
umfangreicher  Briefwechsel  vorfand,  welcher  viele  reiche  Kauf- 
leute in  verschiedenen  Gegenden  des  Landes  blofsstellte.  Ploticyn 
und  31  andre  Skopzen  wurden  zum  Verlust  aller  bürgerlichen 
Rechte  und  zur  Verschickung  nach  Sibirien  verurteilt;  der  Bauer 
Kusnezow,  der  sich  und  elf  andre  Personen  verstümmelt  hatte, 
erhielt  vier  Jahre  Strafarbeit  in  den  sibirischen  Bergwerken  und 
das  Bestechungsgeld  flofs  in  den  Staatsschatz.  Die  auf  Grund 
der  Morschansker  Entdeckungen  eingeleiteten  gerichtlichen  Ver- 
folgungen erstreckten  sich  auf  viele  Landesteile  und  dauerten  bis 
tief  ins  Jahr  1872  hinein.  Die  Veröffentlichung  der  Verhand- 
lungen wurde  der  Presse  untersagt  Die  minder  schuldigen  Ver- 
urteilten kamen  mit  Kloster-Internierung  davon;  durch  sie  er- 
fuhren die  Mönche  manches  Geheimnis  der  Sekte.  Besonders 
interessant  sind  in  dieser  Hinsicht  die  im  Jahre  1875  in  einem 
Buche  (»Vorträge  in  der  Kaiserlichen  Gesellschaft  für  Geschichte 
und  Altertum")  veröffentlichten  Berichte  des  Klosters  von  Solowetz. 

Die  »Feuertaufe“  ist  das  Thor  zur  vollkommenen  Erlösung, 
das  »Siegel  Gottes".  Es  giebt  eine  höhere,  die  für  verdienst- 
licher gilt:  das  »grofse  Siegel"  (hierunter  versteht  man  die  Aus- 
schneidung der  gesamten  Geschlechtsteile),  und  eine  geringere: 
das  »kleine  Siegel"  (die  einfache  Kastrierung).  Die  ganz  streng- 
gläubigen Skopzen  verpönen  jeden  geschlechtlichen  Umgang,  auch 
den  zwischen  Ehegatten,  als  sträflich.  Sie  sagen,  dafs  Eltern,  die 
einem  Kinde  das  Leben  geben,  eine  »furchtbare  Sünde"  begehen. 
Aus  diesem  Grunde  herrscht  in  manchen  Skopzengemeinden  der 
Brauch,  dafs  jeder  »Getreue“,  ehe  er  (oder  sie)  in  die  tiefsten 
Geheimnisse  der  Sekte  eingeweiht  wird,  die  Namen  seiner  Eltern 
auf  einen  Zettel  schreiben  und  diesen  dann  mit  Füfsen  treten 
mufs.  Doch  giebt  es  auch  Gemeinden , welche  verehelichte 


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Die  Skopzen. 


233 


Kandidaten  erst  nach  der  Geburt  des  ersten  Kindes  aufnehmen ; der 
Bukarester  Zweig  gestattet  vor  der  »Operation«  sogar  zwei  Kinder. 

Die  religiösen  Übungen  bestehen  in  Hymnengesang,  Steg- 
reif-Ansprachen , Prophezeiungen  und  wilden  Tänzen , welch 
letztere  an  die  der  Derwische  erinnern.  Wird  jedoch  ein  Neu- 
ling eingeführt,  so  giebt  es  nichts  dergleichen,  sondern  man 
beschränkt  sich  darauf,  ihm  »rechtgläubige“  Lehren  über  seine 
religiösen  und  sittlichen  Pflichten  zu  erteilen;  doch  wird  die 
Belehrung  immer  aufregender,  um  im  Neophyten  allmählich  die 
nötige  Begeisterung  wachzurufen , welche  ihn  schliefslich  dazu 
führen  soll,  das  schreckliche  Verstümmelungsopfer  auf  sich  zu 
nehmen  und  das  von  ihm  geforderte  Gelübde  zu  leisten,  mittels 
dessen  er  erklärt,  »freiwillig  zum  Erlöser  gekommen  zu  sein«  und 
sich  verpflichtet,  »alle  heiligen  Geheimnisse  vor  dem  Zar,  den 
Prinzen,  den  Eltern,  Freunden  und  Verwandten  geheim  zu  halten 
und  sich  lieber  foltern,  töten  oder  verbrennen  zu  lassen,  als  den 
Feinden  die  Geheimnisse  zu  verraten.“ 

Die  Versammlungen  beginnen  in  der  Regel  zu  später  Nacht- 
stunde und  dauern  bis  zum  Morgengrauen.  Gewöhnlich  werden 
sie  in  einem  der  verborgenen  Beträume  abgehalten,  die  es  in 
den  Häusern  sehr  vieler  Skopzen  giebt.  Diese  Häuser  baut  man 
mit  Vorliebe  in  möglichster  Entfernung  von  anderen  Wohn- 
gebäuden. In  der  Mitte  befindet  sich  ein  Hof,  umgeben  von 
Scheunen,  Remisen  und  Wohnräumen,  aus  denen  geheime  Thüren 
auf  den  Viehhof  führen,  welcher  mit  einem  dritten  Gehege  ver- 
bunden ist,  in  dem  ein  Bienenhaus  steht,  das  mit  hohen  Pfählen 
eingezäunt  ist  Hier  giebt  es  geheime  Öffnungen  in  den  Garten 
hinein,  aus  welchem  ein  Ausgang  auf  die  Felder  führt.  Während 
der  Versammlung  sind  an  verschiedenen  Punkten  Wachen  auf- 
gestellt, die  bei  drohender  Gefahr  oder  auch  nur  verdächtigen 
Erscheinungen  Warnungszeichen  geben,  die  das  Auseinandergehen 
der  Anwesenden  zur  Folge  haben,  wobei  die  besonders  Furcht- 
samen durch  den  Viehhof,  das  Bienenhaus  und  den  Garten  ins 
Freie  flüchten. 

Bei  den  Andachtsübungen  tragen  die  Männer  lange,  weite, 
weifse  Hemden  von  seltsamem  Schnitt,  breite  weifse  Hosen  und 
um  die  Hüften  einen  Gürtel,  der  das  Hemd  zusammenhält.  Die 
Frauen  sind  ebenfalls  in  weifse  Überhemden  gekleidet,  dazu 
tragen  sie  blaue  Gewänder  (in  der  Stadt  aus  Zitz,  auf  dem  Lande 
aus  Nanking);  den  Kopf  bedecken  sie  mit  einem  weifsen  Tuch. 
Zumeist  tragen  beide  Geschlechter  weifse  Strümpfe,  doch  er- 
scheinen sie  bisweilen  barfufs.  In  der  Hand  halten  sie  Taschen- 
tücher, die  sie  »Fahnen«  nennen.  Die  Mitglieder  der  Sekte 
werden  vor  der  Kastrierung  »Esel«  und  «Ziegen«,  nach  der- 
selben »weifse  Lämmer«  und  »weifse  Tauben«  genannt.  Es  giebt 


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234  Oesellschaftsfeindliche  Vereinigungen. 

auch  eine  Art  heiligen  Abendmahls,  bei  welchem  »geweihte“  Brot- 
stückchen zur  Verteilung  kommen.  Die  Weihe  des  Brotes  erfolgt 
dadurch,  dafs  man  es  auf  kurze  Zeit  in  die  Öffnungen  des 
Schlüsselburger  Schilow-Denkmals  legt.  Der  orthodoxe  Priester 
Iwan  Sfergejew,  der  sich  auf  Befehl  seiner  Vorgesetzten  in  das 
Vertrauen  eines  hervorragenden  Skopzen  eingeschlichen  hatte, 
berichtete  über  das  Bestehen  einer  menschenfresserischen,  em- 
pörenden »Fleisch-  und  Blut-Kommunion“.  Diese  Beschuldigung 
ist  nicht  gerichtlich  erwiesen ; da  es  aber  feststeht,  dafs  die 
Flagellanten  eine  derartige  Kommunion  kannten  oder  kennen, 
das  Skopzentum  aber,  wie  erwähnt,  aus  deni  Geifslertum  hervor- 
gegangen ist,  kann  es  möglich  sein,  dafs  Sfergejews  Behauptung 
auf  Wahrheit  beruht.  Auf  einen  Wahnwitz  mehr  oder  weniger 
kommt  es  den  »Getreuen“  vielleicht  nicht  an. 

Nach  der  skopzischen  Glaubenslehre  war  das  Hauptgebot 
Christi,  dafs  der  Mensch,  um  »erlöst"  zu  werden,  sich  der  »Feuer- 
taufe" unterziehen,  d.  h.  sich  mittels  eines  glühend  heifsen  Eisens 
kastrieren  müsse!  Angeblich  habe  Jesus  persönlich  das  Beispiel 
gegeben,  welches  von  den  Aposteln,  den  Heiligen  und  den  Ur- 
christen  — einschliefslich  Origenes  - befolgt  worden  sei.  (Die 
Malerei  der  orientalischen  Christen  stellt  bekanntlich  die  Heiligen 
stets  bartlos  dar.)  Nur  aus  Rücksicht  auf  die  Schwäche  Vieler 
habe  man  später  gestattet,  das  glühende  Eisen  durch  ein  scharfes 
Messer  zu  ersetzen.  Übrigens  kommt  es  den  besonders  »frommen“ 
Skopzen  durchaus  nicht  darauf  an,  welches  Werkzeug  sie  benutzen; 
daher  werden  recht  oft  auch  Sensen,  Äxte,  Glasstücke,  Blech- 
stücke und  dergleichen  mehr  verwendet.  Die  »Operation"  erfolgt 
an  den  verschiedensten  Plätzen,  wie  es  die  Gelegenheit  gerade 
mit  sich  bringt : zumeist  auf  dem  Felde  oder  in  Bauernhäusern, 
häufig  aber  auch  auf  der  Landstraße,  im  Badezimmer,  im  Wasser- 
klosett, in  Scheunen,  Gefängnissen,  Kellern,  Booten,  Wäldern, 
Wagenschuppen,  sogar  auf  dem  Friedhof  und  unter  Brücken. 
Seit  ungefähr  1815  werden  auch  weibliche  Personen  kastriert; 
auf  zehn  Männer  kommen  jetzt  etwa  vier  Frauen.  Es  giebt  sogar 
ziemlich  viele  weibliche  »Getreue“,  die  die  »Operation«  an  an- 
deren vollziehen.  Die  Zahl  der  Skopzen  läfst  sich  selbstver- 
ständlich nicht  feststellen;  im  Jahre  1874  waren  5444  Personen 
als  solche  bekannt,  darunter  1465  Weiber.  Die  Mehrzahl  besteht 
aus  Bauern,  doch  befinden  sich  unter  ihnen  auch  sehr  viele 
Soldaten,  Bürger,  Kaufleute,  Gutsbesitzer,  in  geringerer  Zahl 
Staatsbeamte,  Priester,  Offiziere,  Adelige.  Die  männlichen  Mit- 
glieder der  Sekte  erkennt  man  an  ihrem  aufgedunsenen  Äufsern 
und  ihrem  runzeligen,  bartlosen  Gesicht. 

So  wünschenswert  die  Ausrottung  dieser  so  scheußlichen 
Fanatikersekte  auch  sein  möge,  ist  es  bisher  doch  durchaus  nicht 


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Die  Mucker. 


23S 


gelungen,  ihrer  Herr  zu  werden.  Weder  die  Peitschung  noch 
die  Verbannung,  weder  die  Internierung  noch  die  Einkerkerung 
hat  viel  genutzt  - oft  sogar  das  Gegenteil.  Auch  die  1850 
eingeführte  Mafsregel,  männliche  Skopzen  in  Trauerkleider  zu 
stecken,  ihnen  Narrenkappen  aufzusetzen  und  sie  so  von  Poli- 
zisten umherführen  zu  lassen,  um  sie  dem  öffentlichen  Gespött 
auszusetzen,  hat  häufig  nur  dazu  geführt,  die  Reihen  der  „Ge- 
treuen“ zu  vermehren,  weil  man  sie  eben  für  Märtyrer  hält. 
Was  die  Geistlichkeit  betrifft,  so  ist  sie  in  Rufsland  zu  sehr 
mifsachtet,  um  dem  Obel  mit  Erfolg  entgegentreten  zu  können; 
überdies  drücken  manche  Kirchen  fürsten  geradezu  beide  Augen  zu, 
weil  reiche  Skopzen  grofse  Summen  zur  Erbauung  oder  Aus- 
schmückung orthodoxer  Kirchen  zu  spenden  pflegen.  Es  giebt 
nur  zwei  Mittel,  dem  Oberhandnehmen  der  Sekte  wirksam  zu 
steuern.  Erstens  müfsten  alle  als  Skopzen  erkannten  Personen 
in  entlegene,  dünn  bevölkerte  Gegenden  gebracht  werden  und 
bis  zum  Tode  unter  strenger  Aufsicht  stehen,  damit  sie  keine 
Proselyten  machen  können.  Zweitens  müfste  durch  Einführung 
beträchtlich  verbesserter  Volksbildungsmethoden  - an  Stelle  der 
annoch  üblichen  planmäfsigen  Volksverdummung  — auf  das 
Aussterben  oder  doch  Abnehmen  des  Aberglaubens  hingearbeitet 
werden. 

Von  den  neueren  Skopzenprozessen,  die  zur  Kenntnis  des 
Auslandes  gelangt  sind,  verdient  besondere  Erwähnung  der  im 
Dezember  1893  in  Petersburg  gegen  einen  sechzigjährigen  Bankier 
und  seine  Nichte  durchgeführte.  Er  wurde  wegen  Selbstver- 
stümmelung zu  15  Jahren  Zwangsarbeit  verurteilt,  während  sie 
10  Jahre  Zwangsarbeit  erhielt,  weil  sie  sich  hatte  verstümmeln 
lassen.  An  Strenge  fehlt  es  also  nicht,  aber  sie  nützt  wenig. 


Die  Mucker. 

Diese  abstofsende  Sekte,  ein  krankhafter  Ableger  des  Pie- 
tismus, tauchte  zuerst  gegen  Ende  des  1 7.  Jahrhunderts  auf,  doch 
erhielt  sie  ihren  eigentlichen  Namen  erst  nach  ihrer,  etwa  hundert 
Jahre  später  erfolgten  Erneuerung.  Der  ursprüngliche  Bund 
wurde  von  dem  Marburger  Theologiestudenten  Gottfried  Justus 
Winter  gestiftet,  der  einigen  sächsischen  und  hessischen  Pietisten- 
zirkeln angehört  hatte.  Er  wurde  später  mit  Eva  v.  Vesias  bekannt 
und  sehr  vertraut,  was  ihren  Mann,  Johannes  v.  Vesias  in  Eise- 
nach, bewog,  sich  von  ihr  scheiden  zu  lassen,  worauf  Eva  wieder 
ihren  Mädchennamen  — v.  Buttler  - annahm  und  sich  zu 
Winter  gesellte,  um  mit  ihm  in  der  Eschweger  Anstalt  (mit  rund 


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236 


Gesellschaftsfeindliehe  Vereinigungen. 


zwanzig  Insassen)  zu  leben,  die  er  zum  Zweck  der  freien  Aus- 
übung ihrer  gemeinsamen  »Religion*  gegründet  hatte.  Bald 
wurden  die  Behörden  auf  die  Sekte  aufmerksam ; ihre  Nach- 
forschungen ergaben  die  unzweifelhafte  Unsittlichkeit  des  Treibens 
der  »Mucker*  und  führten  zu  deren  Landesverweisung.  Winter 
und  Eva  liefsen  sich  dadurch  jedoch  nicht  abschrecken,  sondern 
wandten  sich  an  den  Herzog  von  Sayn-Wittgenstein,  der  ihnen 
auf  seinem  zum  Nassauischen  gehörigen , aber  unabhängigen 
Besitz  die  ungestörte  Ausübung  ihres  Glaubens  gestattete  und 
das  Gut  Safsmannshausen  verpachtete.  Dort  täuschten  sie  durch 
Scheinheiligkeit  das  Publikum  über  ihre  empörenden  Ausschwei- 
fungen, allein  allmählich  gelangten  diese  durch  Einschleicher  und 
Abtrünnige  zur  öffentlichen  Kenntnis.  Der  Herzog  sah  sich  ver- 
anlafst,  eine  Untersuchung  anzuordnen,  doch  führten  Bestechungen 
und  die  Geschicklichkeit  des  Sachwalters  Dr.  Vergenius,  der  bei 
der  Wetzlarer  Reichskammer  eine  grofse  Rolle  spielte,  zur  Frei- 
sprechung der  »Brüder*  und  der  Herzog  ernannte  Winter  sogar 
zu  seinem  Privatsekretär. 

Infolge  dieses  Triumphs  wiegten  die  Mucker  sich  allzusehr 
in  Sicherheit  und  legten  sich  keinen  Zwang  mehr  auf.  Eva 
geberdete  sich  wie  eine  zweite  Messalina  und  brachte  den  männ- 
lichen »Heiligen*  die  Lehre  bei,  dafs  die  vollkommene  Heiligkeit 
nur  durch  den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  ihr  selbst  erreichbar 
sei!  Die  Geburt  und  der  alsbaldige  plötzliche  Tod  eines  Kindes 
in  der  scheinheiligen  Gemeinde  - ein  Ereignis,  das  trotz  der 
ebenso  grausamen  wie  abstofsenden  Vorsichtsmafsregeln  eintrat, 
die  man  gegen  dessen  Eintreten  ergriffen  hatte  — brachte  die 
Blase  zum  Platzen.  Der  Herzog  liefs  .die  »Heiligen*  durch  ins- 
geheim in  den  Wänden  ihrer  Wohnräutne  angebrachte  Öffnungen 
beobachten  und  so  wurden  die  begangenen  argen  Ausschweifungen 
enthüllt.  Vor  Gericht  legten  die  Schuldigen  ein  Geständnis  ab. 
Indessen  gelang  es  den  meisten  Rädelsführern,  aus  dem  Gefängnis 
zu  entkommen  und  nach  Luyde  zu  fliehen,  einem  Städtchen  in 
der  Nähe  von  Pyrmont.  Dieser  vornehme  Kurort  verhalf  den 
»Brüdern*  zu  reichen  Proselyten,  mit  deren  Hilfe  ein  neuer 
Bund  ins  Leben  gerufen  werden  konnte.  Aber  die  Herrlichkeit 
dauerte  auch  in  Luyde  nicht  lange,  denn  infolge  der  umständ- 
lichen Anzeige  eines  gewissen  Sebastian  Reuter  wurden  zwanzig 
Mitglieder  verhaftet,  darunter  Winter  und  Eva;  doch  entwischten 
diese  beiden  abermals  und  man  weifs  nicht,  was  nachher  aus 
ihnen  geworden.  Die  nicht  freigesprochenen  Häftlinge  wurden 
zur  öffentlichen  Peitschung  verurteilt. 

Einen  ähnlich  gearteten  Bund  — »die  Theosophen*,  vom 
Publikum  jedoch  »Mucker*  genannt  — entdeckte  man  1835  zu 
Königsberg  in  Preufsen.  Der  Stifter  war  Johann  Heinrich  Schön- 


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Die  Mucker. 


237 


herr  (geb.  1771  in  Memel,  gest.  1826  in  Königsberg).  Zwei 
seiner  Anhänger,  die  Pastoren  Ebel  und  Diestel,  erklärten,  seine 
»dualistisch-gnostische"  Lehre  laufe  darauf  hinaus,  dafs  das  Fleisch 
durch  den  geschlechtlichen  Verkehr  geheiligt  werde.  Das  Treiben 
dieser  Sekte,  zu  welcher  selbstverständlich  auch  weibliche  Personen 
gehörten,  führte  schliefslich  zu  einer  gerichtlichen  Untersuchung, 
die  aber  niedergeschlagen  wurde,  weil  sich  herausstellte,  dafs 
viele  hochgestellte  Personen  in  die  Sache  verwickelt  waren ; doch 
verloren  die  zwei  erwähnten  Pastoren  ihre  Stellen  und  Diestel 
wanderte  überdies  ins  Zuchthaus. 


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NEUNTES  BUCH. 

GESELLSCHAFTLICHE 

Wiepergeburt. 


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Illuminaten. 


Verschiedene  Illuminatenorden.  — Weishaupt  und  sein  Orden.  — Organi- 
sation der  Illuminaten.  — Einweihung  in  den  Priester-  und  den  Regenten- 

Sad.  — Die  höheren  Mysterien.  - Nomenklatur  und  Geheimschrift.  — 
eheime  Papiere  und  Briefe.  — Widerlegung  der  gegen  den  Orden  er- 
hobenen Beschuldigungen.  — Unterdrückung  des  Weishauptschen  Bundes. 
- Französische  Illuminaten.  — Einweihungszeremonien.  — Glaubwürdig- 
keit der  Berichte  über  die  Vorgänge  in  Ermenonville. 

Ziemlich  viele  Seiden  oder  Geheimbünde  haben  sich  » Illu- 
minaten « genannt.  So  z.  B.  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  in 
Spanien  die  »Alombrados“.  Zu  diesen  zu  gehören,  wurde 
Ipatius  v.  Loyola,  der  Stifter  des  Jesuitenordens,  verdächtigt  und 
daher  fast  einen  Monat  lang  von  den  Salamancaer  Inquisitoren 
in  Haft  gehalten,  bis  sie  sich  durch  das  Lesen  seiner  .Geistlichen 
Übungen“  von  seiner  Unschuld  überzeugten.  Anno  1654  ent- 
standen in  Frankreich  die  »Guerinets“,  gleich  den  Alombrados 
Schwärmer  und  Geisterseher.  Unter  dem  Namen  »Illuminaten“ 
gab  es  in  der  zweiten  Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  eine  Mystiker- 
vereinigung in  Belgien.  Hier  aber  wollen  wir  nur  von  dem  be- 
kanntesten Bund  dieses  Namens  sprechen,  dem  eigentlichen 
»llluminaten-Orden“,  dem  von  Adam  Weishaupt,  einem  lngol- 
städter  Universitätsstudenten,  gestifteten. 

Dieser  ebenso  gelehrte  wie  ehrgeizige  Jüngling  besafs  einen 
ausgesprochenen  Hang  zum  Mystischen  und  fafste  die  Gründung 
eines  philosophisch-politischen  Bundes  ins  Auge.  Mit  22  Jahren 
wurde  er  schon  Universitätsprofessor  für  Kirchenrecht  zu  Ingol- 
stadt Da  der  betr.  Lehrstuhl  vorher  zwanzig  Jahre  lang  in  den 
Händen  der  Jesuiten  war,  grollten  ihm  diese  und  verfolgten  ihn 
nach  Kräften.  Er  blieb  ihnen  nichts  schuldig,  hafste  sie  redlich 
und  schärfte  seinen  späteren  Anhängern  ein,  ihnen  aus  dem  Weg 
zu  gehen  »wie  der  Pest“.  Diese  Abneigung  fand  auch  viel- 
fachen Ausdruck  in  den.  Satzungen  des  Illuminatenordens,  den 
Weishaupt  — der  das  Pseudonym  »Spartacus“  annahm  — 1776 

Heckethom-Katscher,  Geheimbunde  u.  Geheimlehren.  1b 


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( 


242  Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 

ins  Leben  rief.  Es  dauerte  Jahre,  bis  es  ihm  gelang,  das 
Rituale  und  die  »Verfassung»  endgültig  festzustellen.  Um  die 
Sache  rascher  zu  fördern,  trat  er  mit  den  Freimaurern  in  Ver- 
bindung, indem  er  der  Münchner  eklektrischen  Loge  »Theodor 
zum  Guten  Rat»  beitrat.  Er  wollte  das  Illuminatentum  auf  die 
Freimaurerei  pfropfen  und  veranlafste  durch  die  Beschaffenheit 
seiner  ersten  Grade  viele  Freimaurer,  llluminaten  zu  werden; 
doch  blieben  die  meisten  wieder  aus,  als  sie  sich  überzeugten, 
dafs  Weishaupt  keine  Spielerei,  sondern  ernste  Arbeit  erwartete. 
Ihm  schwebte  nämlich  die  Milderung  der  durch  Unwissenheit 
wie  auch  durch  politische  Willkür  und  kirchliche  Tyrannei  ver- 
ursachten Übelstände  vor. 

Den  Orden  teilte  Weishaupt  in  drei  Klassen,  deren  jede 
in  mehrere  Grade  und  teilweise  auch  Untergrade  zerfiel,  und 
zwar  folgendermafsen : 

I.  Baumschule  oder  Kinderstube:  1.  Vorbereitungsaufsatz; 
2.  Noviziat;  3.  Minervalis;  4.  llluminatus  minor. 

II.  Maurerei:  1.  Symbolische:  a.  Lehrling;  b.  Geselle; 
c.  Meister.  2.  Schottische:  a.  llluminatus  major  oder  schottischer 
Novize;  b.  llluminatus  dirigens  (=  »leitender  Erleuchteter“)  oder 
schottischer  Ritter. 

III.  Mysterien:  1.  Geringere:  a.  Epopt  oder  Priester; 
b.  Prinz  oder  Regent  2.  Höhere:  a.  Magus  oder  Philisoph; 
b.  Rex  oder  König  oder  Areopagrichter. 

In  den  beiden  ersten  Klassen  wurde  der  Kandidat  lediglich 
erprobt  und  für  die  dritte  vorbereitet.  Bewährte  er  sich  nicht 
als  vertrauenswürdig,  so  rückte  er  nicht  auf.  Erwies  er  sich 
jedoch  als  tüchtig,  so  erfolgte  allmählich  seine  Einweihung  in  die 
gesamten  höheren  Mysterien,  die  alles  in  den  früheren  Klassen 
Gelernte  überden  Haufen  warfen  und  von  deistischen  Lehren  und  radi- 
kalen Plänen  erfüllt  waren,  welchen  aber  nichts  Unsittliches  oder 
Revolutionäres  anhaftete;  es  handelte  sich  eben  nur  um  Auf- 
klärung radikaler  oder  eigentlich  sehr  freisinniger  Art. 

Dem  zur  Einweihung  in  den  Priestergrad  zugelassenen 
Kandidaten  wurden  die  Augen  verbunden  und  er  dann  in  einem 
Wagen,  der  einen  Umweg  machte,  in  das  betreffende  Gebäude 
gebracht.  In  einem  bestimmten  Gemach  befreite  man  ihn  von 
der  Binde  und  hiefs  ihn,  die  Schürze  der  schottischen  Ritter  und 
das  Antoniuskreuz  anzulegen,  den  Hut  aufzusetzen,  das  Schwert 
in  die  Hand  zu  nehmen  und  vor  der  ersten  Thür  auf  seine  Be- 
rufung zu  warten.  Nach  kurzer  Zeit  ertönte  eine  feierliche  Stimme: 
»Tritt  herein,  Verwaiseter,  die  Väter  rufen  dich.  Tritt  herein 
und  verschliefs’  die  Thür  hinter  dir!»  Er  betrat  nun  einen 
prachtvoll  erleuchteten  Saal,  dessen  Wände  mit  schweren  roten 
Tapeten  bekleidet  waren  und  in  dessen  Hintergrund  unter  einem 


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Illuminaten. 


243 


Baldachin  ein  Thron  stand.  Vor  diesem  befand  sich  ein  Tisch, 
auf  dem  eine  Krone,  ein  Scepter,  ein  Schwert,  Goldketten  und 
andere  Wertgegenstände  lagen,  während  auf  einem  in  der  Nähe 
angebrachten  roten  Kissen  die  Kleidung  der  Inhaber  des  Priester- 
grades zur  Schau  gelegt  war.  Stühle  gab’s  nicht,  nur  einen 
einzigen  niedrigen  Sessel  ohne  Lehne.  Der  Kandidat  wurde  er- 
sucht, zwischen  den  Dingen  auf  dem  Tisch  und  den  Kleidern 
auf  dem  Kissen  zu  wählen.  Entschied  er  sich  wider  alles  Er- 
warten für  erstere,  so  war’s  aus  — man  jagte  ihn  davon.  Wählte 
er  aber  das  Gewand,  so  riefen  alle  Anwesenden:  »Heil,  du  Edler!« 
Dann  mufste  er  sich  auf  jenen  niedrigen  Sitz  setzen  und  der 
Erläuterung  seiner  künftigen  Pflichten  lauschen,  die  hauptsächlich 
auf  die  Belehrung  der  Uneingeweihten  hinausliefen. 

Nunmehr  öffnete  sich  im  Hintergrund  eine  Thür,  durch 
die  der  »Einführer"  des  Neulings  eintrat,  in  ein  Priestergewand 
gekleidet,  welches  aus  einer  bis  zu  den  Füfsen  reichenden  weifsen 
Wolltoga  bestand,  dessen  Halsteil  und  Ärmel  mit  scharlachroten 
Seidenbändem  eingefafst  waren;  die  Hüften  umspannte  ein  Seiden- 
gürtel von  derselben  Farbe.  (Der  Diakon  trug  aufserdem  ein 
etwa  fufslanges  rotes  Kreuz  auf  der  linken  Brust.)  Jetzt  wurde 
der  Kandidat  in  das  innere  Zimmer  geführt,  wo  er  einen  mit 
rotem  Tuch  bedeckten  Altar  erblickte,  über  dem  entweder  ein 
gemaltes  oder  ein  geschnitztes  Kruzifix  hing,  während  auf  dem 
Altar  selbst  eine  rotgebundene  Bibel,  das  Buch  der  Ordensriten, 
ein  Schüsselchen  mit  Honig  und  ein  Krüglein  voll  Milch  zu 
sehen  waren.  Zu  beiden  Seiten  des  vor  dem  Altar  stehenden 
Diakonus,  über  dessen  Haupt  ein  brennendes  Lämpchen  hing, 
safsen  die  »Priester"  auf  rotgepolsterten  Bänken.  Der  Kandidat 
wurde  ermahnt,  den  Feinden  der  Menschheit  — böse  Gelüste, 
Unterdrückungsgeist,  Täuschung  — zu  entsagen.  Nachdem  er 
versprochen,  dies  zu  thun,  legte  er  seine  maurerische  Kleidung 
ab.  Nach  der  ferneren  Zusicherung,  dem  Orden  treu  bleiben  zu 
wollen,  hüllte  man  ihn  in  das  Priestergewand,  worauf  er  den  ge- 
schlossenen Bund  durch  den  Genufs  von  etwas  Milch  und  Honig 
besiegelte.  Den  Schlufs  der  Feier  bildete  ein  langer  Vortrag 
wissenschaftlich-sittlicher  Art. 

Der  Händedruck  der  »Priester“  bestand  darin,  dafs  man 
eine  Faust  machte  und  dabei  den  Daumen  senkrecht  in  die  Höhe 
hielt,  worauf  der  andere  ebenfalls  eine  Faust  machte  und  mit  ihr 
die  des  ersten  einschliefslich  des  Daumens  umspannte.  Das 
Losungswort  war  INRI.  Als  Erkennungszeichen  diente  das  flache 
Kreuzen  beider  Hände  auf  dem  eignen  Kopf. 

Der  nächsthohe  Grad  (»Regent«)  wurde  nur  solchen  Per- 
sonen verliehen,  die  infolge  hoher  Bildung,  bewährter  Treue  und 
angesehener  gesellschaftlicher  Stellung  befähigt  und  geeignet  er- 

16* 


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244 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


schienen,  die  Ziele  des  Geheimbundes  zu  fördern.  Der  Ein- 
weihungsort bestand  aus  drei  Gemächern.  Im  letzten  befand  sich 
unter  einem  Baldachin  ein  roter,  erhöhter,  reichverzierter  Thron 
für  den  Provinzial ; rechts  davon  eine  etwa  7 ' hohe  weifse  Säule, 
die  eine  auf  einem  roten  Kissen  ruhende  Krone  trug.  Von  der 
Säule  hingen  ein  künstlicher  Palmzweig  und  ein  Hirtenstab  aus 
weifsem  Holz  herab.  An  der  rechten  Seite  des  Thrones  stand 
ein  Tisch  mit  roter  Decke;  darauf  lagen  die  Gewänder  eines 
»Regenten»:  weifsledemer  Harnisch  mit  eingesticktem  roten  Kreuz; 
weifser  Mantel  mit  ebenfalls  rotem  Kreuz,  roten  Aufschlägen  und 
rotem  Kragen ; hoher  weifser  Hut  mit  roten  Federn ; Halbschuhe 
mit  roten  Schnüren.  (Das  Kreuz  auf  dem  Kürafs  des  Provinzials 
war  von  goldenen  Strahlen  umgeben.)  Der  Saal  war  rot  ver- 
hängt und  schön  beleuchtet  Vorläufig  befand  sich  darin  der 
auf  dem  Thron  sitzende  Provinzial  allein,  während  die  anderen 
»Regenten“  im  mittleren  Raum  weilten.  Das  für  die  Vorbe- 
reitungen bestimmte  erste  Zimmer  war  schwarz  verhängt  und  in 
der  Mitte  stand  auf  einer  Plattform  ein  menschliches  Skelett,  zu 
dessen  Füfsen  eine  Krone  und  ein  Schwert  lagen.  Hier  wurde 
der  Kandidat  mit  gefesselten  Händen  allein  gelassen,  damit  er 
dem  folgenden  Zwiegespräch  lausche,  welches  im  mittleren  Ge- 
mach stattfand : 

»Wer  hat  den  Sklaven  zu  uns  hereingeführt?“ 

»Er  kam  und  klopfte  an.“ 

»Was  will  er?“ 

»Er  sucht  Freiheit.  Er  bittet  euch,  ihn  von  seinen  Banden 
zu  befreien." 

»Warum  wendet  er  sich  nicht  an  die,  die  ihm  die  Bande 
angelegt  haben?" 

»Die  wollen  ihn  nicht  befreien,  sie  ziehen  Vorteil  aus  seiner 
Sklaverei.“ 

»Wer  hat  ihn  denn  in  die  Knechtschaft  gebracht?" 

»Die  Gesellschaft,  der  Staat,  die  falsche  Religion.“ 

»Gilt  bei  ihm  Ansehen  der  Person?  Frage  ihn,  wer  der 
Mann  gewesen,  dessen  Gerippe  jetzt  vor  ihm  steht,  ob  es  ein 
König,  Edelmann  oder  Bettler  war.“ 

»Er  kennt  ihn  nicht;  nur  dieses  sieht  er,  dafs  es  ein  Mensch, 
einer  von  uns  gewesen.  Dieser  Charakter,  ein  Mensch  zu  sein, 
ist  ihm  allein  wichtig.“ 

»Gut,  führe  ihn  herein.“ 

Der  Kandidat  durfte  jetzt  den  mittleren  Raum  und  schliefs- 
lich  den  letzten  Saal  betreten,  wo  ihm  nach  kurzem  Katechisieren 
die  Regentengewandung  verliehen  wurde.  Das  Losungswort 
dieses  Grades  war  „Redemtis“;  das  Erkennungszeichen  bestand 
darin,  dafs  man  dem  anderen  beide  Arme  entgegenstreckte;  statt 


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Illuminaten. 


245 

der  Hand  ergriff  man  die  Ellbogen  so,  als  wolle  man  den  Bundes- 
bruder in  die  Höhe  heben. 

Was  die  höheren  Mysterien  betrifft,  so  hat  Freiherr  v.  Knigge 
seine  Absicht  und  Aufgabe,  sie  schriftlich  auszuarbeiten,  nicht  ver- 
wirklicht Aus  Andeutungen  in  Weishaupts  Schriften  wissen  wir 
jedoch,  dafs  der  „ Philosophen  “-Orad  auf  dem  Spinozismus  be- 
ruhte (Materiellität  alles  Vorhandenen;  Identität  von  Gott  und 
Welt;  alle  Religionen  Menschenerfindung)  und  dafs  dem  »Königs«- 
Grad  die  Lehre  Vorbehalten  blieb,  jeder  Bauer,  Bürger  oder 
Familienvater  sei  ein  Souverän  - wie  zur  Zeit  der  patriarcha- 
lischen Lebensweise,  zu  der  die  ganze  Menschheit  zurückkehren 
müsse,  weshalb  jede  Staatsautorität  abzuschaffen  sei.  Wie  schon 
bemerkt,  wollte  Weishaupt  mit  dem  Inhalt  dieser  zwei  höchsten  Grade 
nur  die  vertrauenswürdigsten  Ordensmitglieder  bekannt  machen ; 
doch  ist  derselbe  durch  die  Entdeckung  seiner  Papiere,  auf  die  wir 
alsbald  zurückkommen  werden,  in  die  Öffentlichkeit  gedrungen. 

Nach  Weishaupt  war  die  Hauptperson  im  Bunde  der  vor- 
hin erwähnte  Freiherr  v.  Knigge,  der  berühmte  Verfasser  von 
»Der  Umgang  mit  Menschen".  Innerhalb  des  Ordens  hiefs  er 
»Philo*.  Alle  Genossen  nahmen  Pseudonyme  an;  so  z.  B. 
nannte  sich  der  Rechtsgelehrte  Zwack  „Cato“,  der  Buchhändler 
Nicolai  „Lucian*  u.  s.  w.  Auch  die  Städte  und  Länder,  in  denen 
es  Genossen  gab,  erhielten  fingierte  Namen:  Bayern  hiefs  „Achaia“, 
München  »Athen«,  Heidelberg  »Utika“,  Frankfurt  »Theben«  etc. 
Für  ihren  Briefwechsel  unter  einander  benutzten  sie  die  persische 
Zeitrechnung,  welche  mit  dem  Jahre  632  v.  Ch.  beginnt.  Ihr 
Jahr  fing  am  21.  März  an.  Das  Wort  »Orden«  schrieben  sie 
niemals  aus,  vielmehr  ersetzten  sie  es  durch  das  Zeichen  O-  Bis 
zur  Einweihung  in  die  höheren  Grade  korrespondierten  sie  in 
der  folgenden  Chiffernschrift: 

a b c d e f g h i(j)  k / in  n o 

12  11  10  9 8 7 6 5 4 3 2 1 13  14 

P q r s t u(v)  w x y s. 

15  16  17  18  19  20  21  22  23  24. 

Die  in  die  höheren  Grade  Eingeweihten  bedienten  sich  statt 
der  Ziffern  einer  der  zwei  nachstehenden  Geheimschriften: 

gu  *■  r € ^1,1  f S,  3 

h,  < T i*  : □ ?■  -L  X X , © J O, © 

t vt*':  8 


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246 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


Dem  Orden  traten  Geistliche,  Ärzte,  Prälaten,  Fürsten  und 
Herzoge  bei.  Zwar  wurden  gewifs  die  wenigsten  in  die  höheren 
Grade  eingeweiht,  aber  immerhin  schien  der  Bund  sich  gedeih- 
lich entwickeln  zu  sollen.  Da  erlangte  der  Kurfürst  von  Bayern 
durch  einige  verräterische  Mitglieder  Kenntnis  von  den  politischen 
Grundsätzen  des  Ordens  und  in  seiner  Beunruhigung  unterdrückte 
er  diesen  in  seinem  ganzen  Staatsgebiet.  Nun  erst  drang  näheres 
über  die  Einweihungsriten  und  Lehren  der  Illuminaten  in  die 
Öffentlichkeit,  und  zwar  hauptsächlich  durch  die  geheimen  Papiere, 
die  man  1786  und  1787  bei  den  Bundesgenossen  Zwack  und 
Baron  Bassus  fand,  deren  Wohnungen  man  gesetzwidrig  durch- 
suchen liefs.  Einem  Schriftstück  war  zu  entnehmen,  dafs  von 
den  leitenden  Persönlichkeiten  als  ein  Hauptmittel  der  Förderung 
der  Ordensinteressen  empfohlen  wurde,  die  Frauen  für  die  Sache 
zu  gewinnen  - bei  einem  guten  Zweck  in  der  That  keine  üble 
Idee.  Wir  lesen  da: 

.■Durch  Weiber  wirkt  man  oft  in  der  Welt  am  meisten.  Bei  diesen 
sich  einzuschmeicheln,  sie  zu  gewinnen  suchen,  sei  eines  eurer  feinsten 
Studien.  Mehr  oder  weniger  werden  sie  alle  durch  Eitelkeit,  Neugierde, 
Sinnlichkeit  und  Hang  zur  Abwechslung  geleitet.  Wir  sollten  sie  lehren, 
wie  sich  von  der  Tyrannei  der  öffentlichen  Meinung  befreien,  wie  sich 
unabhängig  machen.  Das  wird  sie  anfeuem,  mit  Eifer  für  uns  zu  ar- 
beiten“ etc. 

Und  ein  in  dem  geheimen  Briefwechsel  gefundenes  Schreiben 
enthielt  die  folgenden  Stellen,  die  sich  auf  einen  Antrag  eines 
Genossen  bezogen,  der  im  Bunde  den  Namen  Herkules  führte: 

»Der  Vorschlag  des  »Herkules“,  eine  Minervalschule  für  Mädchen 
anzulegen,  verdient  alle  mögliche  Aufmerksamkeit.  Die  Weiber  haben 
zu  viel  Einflufs  auf  die  Männer,  als  dafs  man  es  hoffen  könnte,  die  Welt 
zu  bessern,  wenn  sie  nicht  gebessert  sind.  Nur  die  Art,  es  anzufangen, 
macht  die  Schwierigkeit  und  nie  w'erden  es  die  Eltern,  besonders  die  mit 
Vorurteilen  eingenommenen  Mütter  zugeben , dafs  andere  sich  mit  der 
Erziehung  ihrer  Töchter  abgeben.  Es  mufs  also  mit  erwachsenen  Mädchen 
und  mit  Weibern  der  Anfang  gemacht  werden.  »Herkules"  schlägt 
Ptolemai  Magi  Frau  vor,  und  ich  habe  nichts  dagegen.  Ich  schlage 
meine  vier  Stieftöchter  mit  vor;  sie  sind  gute  Mädchen  und  besonders  die 
älteste,  ein  sehr  gutes  Mädchen  von  24  Jahren,  die  sehr  viel  Belesenheit 
hat,  über  alle  Vorurteile  hinweg  ist.  Sie  haben  viele  Bekanntschaften ; es 
wäre  bald  eine  kleine  Societät  eingerichtet.  Keine  Mannsperson  sollte  zu- 
gelassen werden ; das  würde  sie  anfeuern,  und  sie  werden  weiter  gehen, 
als  wären  wir  zugegen.  Man  überlasse  sie  sich  selbst  und  sie  werden 

unsre  grofsen  Apostel  werden Aber  ich  zweifle  an  einer  langen 

Dauer  dieser  Societät,  denn  die  Weiber  sind  launisch  und  ungeduldig  . . . 
Der  Reiz  der  Neuheit  wird  bald  abgestreift  sein  . . .*  etc. 

Ein  gewisser  persönlicher  Umstand , welcher  Weishaupt 
betraf  und  durch  den  geheimen  Briefwechsel  bekannt  wurde, 
schadete  dem  Ruf  des  Ordens  sehr,  obgleich  derselbe  mit  den 
von  letzterem  vertretenen  Grundsätzen  durchaus  nichts  zu  schaffen 
hatte.  Die  Feinde  der  Illuminaten  benutzten  noch  einen  Umstand 


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Illuminaten. 


247 


zu  deren  Schaden.  Es  wurden  nämlich  folgende  Schriftstücke  in 
der  Handschrift  Zwacks  aufgefunden : die  Beschreibung  einer  eisernen 
Kiste,  die,  wenn  gewaltsam  geöffnet,  explodiert  und  ihren  Inhalt  ver- 
nichtet; das  Rezept  einer  sympathetischen  Tinte;  Ratschläge,  mit 
beiden  Händen  schreiben  zu  lernen,  mehr  als  Eine  Geheimschrift 
anzuwenden  u.  s.  w.;  ein  Wink,  in  welcher  Weise  Siegelabdrücke 
abgelöst  werden  können,  damit  man  sie  anderweit  nochmals  benutze.  >. 

Dazu  eine  Sammlung  von  hunderten  solcher  Abdrücke,  ein  Ver- 
zeichnis der  Eigentümer  der  betreffenden  Siegel  und  ein  Packet 
mit  85  Bildnissen  von  Münchner  Damen,  deren  einige  zur  Auf- 
nahme in  die  geplante  weibliche  llluminatenloge  empfohlen  wurden. 

Robison,  der  diese  Dinge  in  seinen  »Beweisen  einer  Ver- 
schwörung“ vorbringt,  unterdrückt  die  Thatsache,  dafs  Zwack,  der 
ein  Richter  und  Ratsherr  war,  in  einem  offenen  Brief  alle  gegen 
die  Illuminaten  vorgebrachten  schmählichen  Beschuldigungen 
widerlegte.  Zwack  wies  nach,  dafs  der  Gedanke,  den  Einflufs 
der  Frauenwelt  nutzbar  zu  machen,  einem  Essay  über  die  Möpse 
entnommen  war  und  dafs  er  (Zwack)  die  erwähnten  Rezepte, 

Ratschläge  etc.  aus  den  Werken  des  Jesuiten  Kircher  und  anderer 
geistlichen  Autoren  abgeschrieben  habe;  sie  hätten  lediglich  zu  seiner 
Belehrung  als  Strafrichter  und  zu  seiner  privaten  Unterhaltung 
gedient  und  hätten  mit  dem  llluminatentum  nicht  das  Geringste  zu 
thun.  Die  85  Bildnisse  aber  seien  von  der  Polizei  aus  dem  Kleider- 
schrank seiner  Gattin  gestohlen  worden!  1798  erschien  in  einer 
Londoner  Monatsschrift  ein  Brief,  in  welchem  Augustus  Böttiger 
aus  Weimar  Robison  beschuldigte,  falsche  Behauptungen  aufgestellt 
zu  haben;  er  erbot  sich,  jedem  Interessenten  in  Großbritannien  auf 
Wunsch  richtige  Aufschlüsse  zu  erteilen.  In  der  That  waren  die 
vermeintlichen  schrecklichen  Folgen  der  Lehren  der  Illuminaten 
Hirngespinste  Robisons  und  anderer  Gegner. 

Weishaupt  verlor  seine  Professur  und  wurde  aus  Bayern 
verbannt;  man  wollte  ihm  zwar  ein  Ruhegehalt  von  800  Gulden 
gewähren,  er  lehnte  dasselbe  jedoch  ab.  Er  ging  zunächst 
nach  Regensburg,  das  damals  nicht  zu  Bayern  gehörte;  später 
trat  er  in  den  Dienst  des  Herzogs  von  Sachsen-Gotha.  Zwack, 
ebenfalls  des  Landes  verwiesen,  liefs  sich  vom  Fürsten  von  Salms 
anstellen  — demselben,  der  bald  darauf  bei  den  Unruhen  in 
Holland  eine  so  grofse  Rolle  spielte.  Der  Bestand  des  Illumi- 
natenordens war  ein  viel  zu  kurzer,  als  dafs  er  seine  Zeit  oder 
gar  die  Zukunft  in  nennenswerter  Weise  — geschweige  denn 
dauernd  — hätte  beeinflussen  können.  Überdies  wollte  er  seiner 
Zeit  zu  sehr  vorauseilen.  Aber  obgleich  eine  Frühgeburt,  übte 
er  doch  einigen  Einflufs  auf  die  französische  Revolution;  vielleicht 
gab  er  auch  Bahrdt  die  Grundidee  zu  seinem  »Deutschen  Bund", 
von  dem  wir  weiter  unten  sprechen  werden. 


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248 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


1782  fafsten  Weishaupt  und  Knigge  den  Plan,  das  Illu- 
minatentum  in  Frankreich  einzuführen,  wo  es  bereits  eine  Anzahl 
von  Anhängern  hatte,  darunter  Mirabeau,  der  in  Berlin  »ein- 
geweiht«  worden  war,  wohin  Ludwig  XVI.  ihn  in  geheimer 
Mission  geschickt  hatte.  Nach  seiner  Rückkehr  weihte  er  seiner- 
seits Talleyrand  ein.  Der  Weimaraner  Qeheimrat  Bode  (»Amelius“) 
und  Wilhelm  Frhr.  v.  Busch  (»Bayard“),  die  bald  darauf  nach 
Paris  kamen,  setzten  die  Propaganda  fort  und  zogen  namentlich 
Freimaurer  heran.  Die  eifrigsten  und  zuverlässigsten  Proselyten 
traten  zu  einem  »Geheimen  Ausschufs  der  Vereinigten  Freunde" 
zusammen.  Das  grofse  Schlots  zu  Ermenonville,  in  welchem 
Rousseau  seinen  Lebensabend  zubrachte  und  wo  er  auch  be- 
graben liegt,  soll  der  Hauptsitz  der  französischen  Illuminaten 
gewesen  sein.  Vorsitzender  der  dortigen  Loge  war  der  bekannte 
Betrüger  Saint-Germain. 

Ein  um  1790  erschienenes  Buch  stellte  die  Riten,  Eide 
und  Lehren  der  französischen  Illuminaten  als  ganz  fürchterlich 
hin,  wie  die  nachstehenden  kurzen  Einzelheiten  darthun  werden. 

Zu  Ermenonville  wurde  der  Kandidat  am  Tage  seiner  be- 
vorstehenden Einweihung  durch  einen  langen  und  finstern  Gang 
in  einen  grofsen,  schwarzverhängten  Saal  geführt,  wo  er  beim 
schwachen  Schein  einiger  Grablaternen  in  Leichentücher  gehüllte 
Leichname  erblickte.  In  der  Mitte  stand  ein  aus  Menschen- 
skeletten erbauter  Altar.  Gespenster  durchzogen  den  Saal  und 
verschwanden,  üble  Gerüche  hinterlassend.  Sodann  erschienen 
zwei  als  Gespenster  verkleidete  Männer,  händigten  dem  Auf- 
nahmewerber ein  Kreuz  ein,  hängten  ihm  ein  Amulett  um  den 
Hals,  banden  ihm  ein  rosafarbenes,  mit  Blut  beschmiertes,  mit 
dem  Bildnis  unsrer  Lieben  Frau  von  Loretto  bemaltes  Band  um 
die  Stirn,  legten  seine  Kleider  auf  einen  vorläufig  noch  unan- 
gezündeten  Scheiterhaufen,  malten  ihm  mit  Blut  Kreuze  auf  den 
Leib  und  umwickelten  seine  Schamteile  mit  Bindfaden.  Plötzlich 
stürzten  fünf  schrecklich  anzusehende  Gestalten  in  blutbefleckten 
Gewändern  und  mit  Dolchen  bewaffnet  hervor,  warfen  sich  zu 
seinen  Füfsen  nieder  und  beteten.  Demnächst  zündete  man  den 
Scheiterhaufen  an  und  verbrannte  die  Kleider.  Aus  den  Flammen 
erhob  sich  eine  halbdurchsichtige  Riesengestalt,  die  fünf  Schreckens- 
gestalten verfielen  in  furchtbare  Zuckungen  und  von  der  Decke 
her  sprach  die  Stimme  eines  unsichtbaren  Hierophanten  dem 
Neuling  die  folgenden  Schwüre  u.  s.  w.  vor,  die  er  wiederholen 
mufste: 

»lm  Namen  des  Gekreuzigten  schwöre  ich,  alle  Bande 
lösen  zu  wollen,  die  mich  mit  Vater,  Mutter,  Brüdern,  Schwestern, 
Gattin,  Verwandten,  Freunden,  Herrin,  König,  Vorgesetzten,  Wohl- 
tätern oder  irgendwelchen  anderen  Menschen  verknüpfen,  denen 


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Itluminaten. 


249 


ich  Treue,  Gehorsam,  Dankbarkeit  oder  Dienstleistung  versprochen 
habe  ...  Ich  nenne  meinen  Geburtsort,  um  künftig  in  einer 
andern  Sphäre  zu  leben,  die  ich  aber  nicht  erreichen  werde, 
solange  ich  nicht  dieser  vergifteten,  vom  Himmel  verfluchten 
Erde  entsagt  haben  werde.  Von  heute  an  will  ich  meinem  neuen 
Vorgesetzten  alles  verraten,  was  ich  sehen,  hören  und  entdecken 
werde.  Auch  will  ich  nach  Dingen  forschen,  die  mir  ohne  mein 
Auskundschaften  entgehen  könnten.  Ich  will  die  Aqua  Toffana 
als  ein  sicheres,  schnell  wirkendes  und  notwendiges  Mittel  ehren, 
die  Erde  von  denen  zu  befreien,  die  die  Wahrheit  schmähen  oder 
sie  uns  entreifsen  möchten.  Ich  will  Spanien,  Neapel  und  jedes 
andre  verfluchte  Land  ebenso  vermeiden  wie  jede  Versuchung, 
das  in  dieser  Stunde  Erfahrene  nach  aufsenhin  zu  verraten.  Der 
Blitz  trifft  nicht  so  rasch  wie  der  Dolch,  der  mich  überall,  wo 
ich  auch  sein  möge,  erreichen  kann.» 

Nach  der  Beeidigung  stellte  man  vor  den  Neuling  einen 
siebenarmigen  Leuchter  mit  angezündeten  schwarzen  Wachskerzen 
und  eine  Schüssel  Menschenblutes.  Er  trank  von  dem  Blut  ein 
halbes  Glas  und  wusch  sich  in  dem  Rest.  Nach  dem  Losbinden 
der  Schamteile  nahm  er  ein  Bad  und  schliefslich  wurde  er  mit 
einer  Schüssel  Wurzeln  und  Kräuter  bewirtet.  Die  ganze  „Feier“ 
sieht  sehr  theatralisch  aus  und  war  in  Wirklichkeit  gewifs  nicht 
so  schrecklich.  Die  Geschichte  klingt  überhaupt  wenig  glaub- 
würdig - schon  wegen  der  ungemein  auffallenden  Ähnlichkeit  der 
angeführten  Eidschwüre  mit  denen  der  in  die  einstigen  Jesuiten- 
logen (vgl.  „Die  Jesuiten")  Eingeweihten.  Vielleicht  sind  die 
Schilderungen  wahr,  beziehen  sich  aber  nicht  auf  wirkliche  lllu- 
minaten.  Übrigens  — wer  weifs?  Unmöglich  ist  es  nicht,  dafs 
in  Ermenonville  thatsächlich  solch  lächerlicher  Unfug  getrieben 
wurde.  Marquis  Jouffroi  -(„Lexikon  der  sozialen  Irrtiimer")  be- 
hauptet sogar,  daselbst  seien  die  gröblichsten  Ausschweifungen 
begangen  worden. 

Nachschrift  des  Bearbeiters. 

Nachträglich  empfange  ich  von  Herrn  Leopold  Engel  in 
Dresden  (Striesenerstrafse  41),  der  das  llluminatenorgan  „Das 
Wort“  herausgiebt  und  dem  ich  das  vorstehende  Kapitel  zur 
Begutachtung  eingeschickt  hatte,  ein  interessantes  Schreiben,  aus 
dem  einige  Stellen  anzuführen  ich  für  meine  Pflicht  halte: 

„ ...  Der  Illuminatenorden  nach  Weishaupt  besteht  noch 
immer  und  ich  bin  dessen  Kustos.  Doch  ist  er  ganz  anders 
organisiert  und  in  seinen  Lehren,  denen  die  Weishauptschen  nur 
teilweise  zu  Grunde  liegen,  ganz  bedeutend  erweitert.  . . Der  Sitz 
ist  Berlin;  dort  ist  unsre  rechtskräftige  Vertretung,  wir  stehen 
unter  Gesetzesschutz  und  erfüllen  alle  polizeilichen  Forderungen, 


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250 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


werden  auch  durchaus  nicht  als  staatsgefährlich  betrachtet  . . . 
Das  Ordensblatt  vom  1 5.  Dezember  1 899  wird  alle  Klarlegungen 
enthalten.  Ich  bin  jederzeit  bereit,  Interessenten,  die  dem  Orden 
nähertreten  wollen,  Auskunft  zu  erteilen  und  die  Mittel  an  die 
Hand  zu  geben,  das  System  zu  prüfen.  . . .* 

Hiernach  kann  man  den  heutigen  Illuminatenorden  höchstens 
noch  einen  halbgeheimen  Bund  nennen. 


Die  Deutsche  Union. 

Diese  Geheimgesellschaft , die  von  Robison  und  Barruel 
aus  Unkenntnis  der  Verhältnisse  in  übertrieben  schlechtem  Lichte 
dargestellt  worden  ist,  war  vermutlich  nichts  andres  als  eine 
kaufmännische  Spekulation  des  Theologen  Karl  Friedrich  Bahrdt, 
der  eine  hohe  litterarische  Begabung  besafs,  aber  nicht  nach 
strengen  sittlichen  Grundsätzen  handelte,  ln  einer  Flugschrift 
»An  die  Freunde  der  Vernunft,  der  Wahrheit  und  der  Tugend!“ 
behauptete  er  das  Vorhandensein  einer  Vereinigung  von  22  Pro- 
fessoren, Staatsmännern  und  Privatpersonen  behufs  Ausbreitung 
der  Naturreligion,  Ausrottung  des  Aberglaubens  und  Herbei- 
führung der  Freiheit  durch  die  Aufklärung.  »Zu  diesem  Zweck 
haben  wir  einen  Geheimbund  gegründet,  welchem  beizutreten 
wir  alle  Gleichgesinnten  einladen,  die  von  der  Wichtigkeit  jener 
Ziele  durchdrungen  sind."  Die  Gesellschaft  (d.  h.  Bahrdt)  wollte 
eigene  Zeitschriften  und  Werke  herausgeben.  Sie  war  eine  Art 
Ableger  des  Illuminatenordens.  Ein  gewisser  Röper,  den  Bahrdt 
aus  Mitleid  als  Sekretär  angestellt  hatte,  denunzierte  ihn  als  Ver- 
fasser einer  Broschüre,  welche  das  1788  erlassene  Wöllnersche 
»Religionsedikt“  (vgl.  » Rosenkreuzer ")  verhöhnte.  Daraufhin 
wurde  Bahrdt  eingesperrt;  im  Gefängnis  schrieb  er  seine  Denk- 
würdigkeiten,*) die  1790  in  vier  Bänden  erschienen.  Der  erz- 
reaktionäre  Wöllner  befehdete  die  Deutsche  Union  wegen  ihrer 
freisinnigen  Richtung.  Bahrdt  selbst  behauptete,  nicht  der  Ver- 
fasser jener  Satire  zu  sein,  sondern  sie  blofs  in  Druck  gelegt 
zu  haben;  die  Handschrift  selbst  habe  er  aus  Berlin  zugesandt 
erhalten.  Bei  Göschen  in  Leipzig  erschien  1789  ein  heftiger 
Angriff  auf  die  Deutsche  Union  in  Gestalt  eines  anonymen 
Buches,  betitelt  »Mehr  Anmerkungen  als  Text",  welches  von 
manchen  dem  weimarischen  Geheimrat  J.  J.  C Bode,  von  anderen 
dem  Verleger  Göschen  selber  zugeschrieben  wurde. 

*)  „Geschichte  und  Tagebuch  meines  Gefängnisses,  nebst  geheimen 
Urkunden  über  die  Deutsche  Union".  (Berlin,  bei  Friedrich  Vieueg  dem 
altem.) 


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Französische  Gesellenverbindungen. 


2S1 


Da  Bahrdt  einem  reinen  Deismus  huldigte  und  auch  in 
politischer  Hinsicht  sehr  fortschrittlich  gesinnt  war,  hatte  er  sowohl 
in  den  herrschenden  Klassen  als  auch  unter  dem  bigotten  Bürger- 
stand zahlreiche  Feinde.  Daher  verlor  er  die  Anstellungen,  die 
er  in  verschiedenen  Städten  erhielt,  immer  wieder,  so  dafs  er 
schliefslich  genötigt  war,  in  Halle  ein  Wirtshaus  zu  errichten. 
Nach  seinem  Tode  (1793)  wurde  es  von  seinem  Bund  ganz  still. 
Aus  des  letzteren  innerer  Geschichte  sind  einige  Einzelheiten  er- 
wähnenswert. 1777  war  Bahrdt  in  London,  wo  er  Freimaurer 
wurde.  Nach  Deutschland  wiedergekehrt,  empfing  er  von  einem 
hochgestellten  Funktionär  des  Wetzlarer  Reichskammergerichts, 
v.  Ditfurth,  die  Anregung,  eine  Vereinigung  zu  gründen,  welche  die 
wahren  Ziele  der  Freimaurerei  (Wiederherstellung  der  Menschen- 
rechte und  freier  Gebrauch  der  Vernunft)  verwirklichen  sollte. 
Einige  Jahre  später  (1785)  erhielt  Bahrdt  einen  anonymen  Brief, 
enthaltend  den  Plan  zur  Deutschen  Union  und  gezeichnet  «Einige 
Maurer,  Ihre  grofsen  Bewunderer.“  ln  demselben  Jahr  besuchte 
ihn  ein  Engländer,  der  in  ihn  drang,  eine  Loge  ins  Leben  zu 
rufen,  die  er  dann  mit  der  englischen  Maurerei  in  Verbindung 
bringen  wollte.  Bahrdt  zeigte  ihm  den  Plan  zum  Deutschen 
Bund  und  derselbe  fand  seinen  vollen  Beifall.  Bahrdt  gründete 
nun  eine  Loge,  die  aber  für  eine  kaufmännische  Spekulation 
gehalten  wurde.  Dieselbe  soll  noch  nicht  die  Deutsche  Union 
gewesen  sein;  diese  sollen  nach  einigen  Quellen  vielmehr  die 
Schreiber  jenes  anonymen  Briefes  1787  gestiftet  haben.  Es  heifst, 
dafs  sie  Bahrdt  zum  Beitritt  einluden  und  dafs  er  sich  »mit 
Freuden"  um  die  Ausbreitung  der  Gesellschaft  bemühte;  er  soll 
ihr  seine  ganze  Zeit  gewidmet  und  im  Jahre  1788  durch  sie 
sogar  einen  Verlust  von  tausend  Thalern  erlitten  haben. 


Französische  Gesellenverbindungen. 

Organisation.  — Anlehnung  an  die  Freimaurerei.  — Behördliche  Ver- 
bote. — Überlieferungen.  - Namen  und  Grade.  — Gesellcnbräuche.  — 
Bräuche  der  Köhler  und  Holzhauer.  — Bräuche  der  Sattler,  Schuhmacher, 
Hutmacher  und  Schneider.  — Unruhen  und  Zwistigkeiten. 

Der  Ursprung  der  Handwerkervereinigungen  reicht  in  die 
Zeit  zurück,  da  die  unterdrückten  Arbeiter  und  der  vernach- 
lässigte Bürgerstand  den  Wunsch  hegten,  der  Raubsucht  des 
Feudaladels  Widerstand  zu  leisten,  sich  den  Ertrag  der  eigenen 
Arbeit  zu  sichern,  den  Umfang  des  Geschäfts  zu  vergröfsem  und 
dessen  Gewinn  zu  erhöhen,  dabei  aber  auch  freundschaftliche 


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252 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


Beziehungen  unter  einander  herzustellen.  Allein  während  diese 
alten  Körperschaften  sich  gegen  den  Geburts-  und  Geldadel 
wendeten,  blieben  sie  ihrerseits  keineswegs  vom  Geiste  der  Oli- 
garchie frei.  Einst  war  der  Unterschied  zwischen  Meister  und 
Geselle  kein  so  ausgeprägter  wie  später  und  jetzt.  Wie  noch 
heute  vielfach  in  Mitteleuropa,  so  wohnte  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  auch  in  Frankreich  der  Geselle  bei 
seinem  Meister  und  afs  an  dessen  Tisch  mit  ihm  zusammen. 
Konnte  der  Knappe  des  Ritters  im  Lauf  der  Zeit  selber  Ritter 
werden,  so  durfte  der  Geselle,  sobald  er  tüchtig  geworden,  sich 
als  Meister  etablieren,  wenn  er  die  erforderlichen  Mittel  besafs. 
Allmählich  aber  genügten  Kapital  und  Tüchtigkeit  nicht  mehr  zur 
Erlangung  der  Meisterschaft;  es  wurde  auch  verlangt,  dafs  der 
Geselle  zwei  bis  drei  »Wanderjahre"  hinter  sich  bringe,  um  sich 
zu  vervollkommnen  und  die  in  verschiedenen  Gegenden  des 
Landes  üblichen  verschiedenen  Arbeitsweisen  seines  Handwerks 
kennen  zu  lernen.  Nach  seiner  Rückkehr  mufste  er  ein  »Meister- 
stück" verfertigen;  fand  dieses  den  Beifall  des  Meisterausschusses, 
so  wurde  er  Meister;  andernfalls  durfte  er  nicht  auf  eigene  Rech- 
nung arbeiten,  sondern  blieb  Geselle.  So  bildeten  die  Meister 
eine  dem  Gros  der  Arbeiter  feindliche  Arbeits-Aristokratie  mit 
selbstischen  Interessen,  die  denen  der  Gesellen  entgegengesetzt 
waren. 

Die  Folge  dieses  Zustandes,  welcher  auch  die  Absonderung 
der  Meister  von  den  Gesellen  mit  sich  brachte,  war  ein  Rück- 
schlag, der,  weil  er  sich  nicht  in  offener  Auflehnung  zu  äufsern 
vermochte,  die  Gestalt  geheimer  Brüderschaften  mit  besonderen 
Rechten  und  Bräuchen  annahm.  Dazu  kam,  dafs  der  an  der 
Selbständigkeit  verhinderte  Arbeiter  es  nicht,  wie  der  Meister, 
nötig  hatte,  an  der  Scholle  zu  kleben,  sondern  von  Stadt  zu  Stadt 
und  unter  Umständen  sogar  von  Land  zu  Land  ziehen  konnte, 
folglich  in  die  Lage  kam,  nützliche  Erfahrungen  zu  sammeln,  an 
denen  es  ihm  fehlen  mufste,  wenn  er  immer  in  einer  und  der- 
selben Werkstätte  verblieb.  So  entwickelte  sich  der  Brauch  der 
langen  »Wanderschaften"  in  ganz  Frankreich,  so  entstanden  die 
vielen  Gesellenverbindungen  („compagnonnage"),  deren  Bestand 
den  ansässigen  Arbeitern  eine  Quelle  des  Vergnügens  war,  während 
sie  für  den  Wanderburschen  eine  dringende  Notwendigkeit  bildeten, 
weil  sie  ihm  die  Möglichkeit  boten,  sich  gegen  die  Ungerechtig- 
keiten der  Gesetzgebung  und  der  Meister  zu  schützen. 

Die  französischen  Gesellenverbindungen  erhielten  sehr  früh 
einen  freimaurerischen  Anstrich.  Der  »Tempel"  der  Maurer  spielt 
auch  bei  ihnen  eine  grofse  Rolle.  Der  von  dem  biblischen 
Salomo  so  grundverschiedene  Salomo  der  Sage  ist  einer  ihrer 
Patriarchen.  Wie  die  maurerischen  Zeremonien,  haben  auch  die 


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Französische  Oesellenverbindungen.  253. 

der  Gesellen  viel  mit  der  »sittlichen  Baukunst"  zu  thun,  welche 
der  Tugend  Tempel,  dem  Laster  Kerker  errichten  will.  Die  Um- 
armungen der  »compagnons"  erinnern  an  die  sinnbildlichen 
Händedrücke  der  Freimaurer,  ihre  Küsse  an  den  Bruderkufs  des 
alten  Rittertums. 

Dafs  die  ,, com pagnon nage"  schon  vor  Franz  I.  bestand, 
geht  aus  einem  Edikt  hervor,  welches  dieser  König  — obgleich 
er  der  Schutzherr  der  Carbonari  war  (vgl.  »Die  Carbonari*)  - 
gegen  die  Gesellenverbindungen  erliefs,  um  den  Mitgliedern  zu 
verbieten,  eidliche  Verpflichtungen  einzugehen,  einen  Vorsitzenden 
zu  wählen,  sich  in  Gruppen  von  mehr  als  fünf  vor  den  Werk- 
stätten zu  versammeln,  im  Hause  der  Meister  oder  in  den  Strafsen 
Stöcke  oder  Degen  zu  tragen,  Versuche  zu  Erhebungen  zu  machen 
und  bei  Beginn  oder  Beendigung  der  Lehrzeit  Gelage  zu  ver- 
anstalten. Ein  Erlafs  vom  Jahre  1723  untersagt  jede  »Ver- 
einigung, Versammlung,  Gemeinsamkeit  oder  Verbrüderung“  von 
Arbeitern.  Ein  Parlamentsdekret  von  1778  erneuert  dieses  Verbot 
und  schärft  den  Schänkenbesitzern  ein,  weder  Ansammlungen 
von  mehr  als  vier  Gesellen  zuzulassen,  noch  die  sogenannte 
»Pflicht"  (»devoir«)  irgendwie  zu  begünstigen.  Ein  Beschlufs 
der  Pariser  Geistlichkeit  vom  Jahre  1655  besagt: 

»Die  angebliche  devoir  besteht  in  den  drei  Vorschriften, 
Gott  zu  ehren,  das  Eigentum  des  Meisters  zu  schützen  und  den 
Genossen  Hilfe  zu  leisten.  Aber  die  Genossen  entehren  Gott, 
entweihen  die  Geheimnisse  unserer  Religion  und  richten  die 
Meister  zu  Grunde,  indem  sie,  wenn  einzelne  Mitglieder  der  Ver- 
bindung sich  über  ungerechte  Behandlung  beklagen,  die  Arbeiter 
zum  Verlassen  der  Werkstätten  bewegen.  Die  Gottlosigkeiten, 
die  sie  begehen,  sind  in  den  verschiedenen  Gewerben  verschieden ; 
aber  in  allen  mufs  jedes  Mitglied  vor  seiner  Aufnahme  auf  das 
Evangelium  schwören,  weder  Vater,  noch  Mutter,  ncch  Gattin 
oder  Kinder,  weder  Geistliche  noch  Laien  wissen  zu  lassen, 
was  es  in  der  Verbindung  thun  oder  erfahren  wird.  Zu  diesem 
Zweck  wählen  sie  eine  Herberge,  die  sie  »Mutter“  nennen  und 
in  der  sie  zwei  Stuben  haben;  in  der  einen  vollziehen  sie  ihre 
verabscheuenswerten  Riten,  in  der  andern  feiern  sie  ihre  Feste.“ 

Schon  früher  hatte  die  Geistlichkeit  die  Vereinigungen  der 
Schneider-  und  der  Schuhmachergesellen  wegen  Ketzerei  und 
Ehrlosigkeit  bei  den  Pariser  Behörden  angezeigt  und  die  theo- 
logische Fakultät  hatte  den  Arbeitern  bei  Strafe  des  grofsen 
Kirchenbannes  verboten,  »verderbliche  Versammlungen“  abzu- 
halten. Um  den  Verfolgungen  des  Pfaffentums  zu  entgehen, 
versammelten  sich  die  Gesellen  in  denjenigen  Teilen  des  Tempel- 
viertels, welche  Freistätten  bildeten;  aber  ein  Erlafs  vom  11.  Sep- 
tember 1651  vertrieb  sie  auch  von  dort. 


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254 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


Die  „compagnonnage“  zerfiel  in  zwei  grofse  Parteien:  die 
Genossen  „der  Pflicht“  und  die  „der  Freiheit*.  Die  letzteren 
nannten  sich  „Kinder  Salomos“,  die  ersteren  waren  Anhänger 
von  „Jakob"  und  „Soubise“.  Die  „Genossen  der  Pflicht“  heifsen 
nach  ihrer  Angabe  so,  weil  sie  vermeintlich  von  den  Arbeitern 
abstammen,  die  zur  Zeit  der  Ermordung  Hirams  ihrer  Pflicht 
treu  blieben.  Die  andre  Partei  hinwiederum  behauptet,  dafs  ihre 
Verbindung  von  Salomo  selbst  gegründet  worden  sei.  Nach  den 
recht  verworrenen  Überlieferungen  der  französischen  compag- 
nonnage baute  Salomo  den  Tempel  und  war  Jakob  der  Sohn 
eines  berühmten  Baumeisters  namens  Joachim  aus  Saint-Romily. 
Jakob  habe  während  einer  Reise  in  Griechenland  von  Salomos 
Aufforderung  gehört  und  derselben  Folge  geleistet.  Von  Hiram 
mit  der  Errichtung  zweier  Säulen  betraut,  habe  er  sich  seiner 
Aufgabe  mit  so  grofsem  Eifer  und  Geschick  entledigt,  dafs  er 
von  Hiram  sofort  zu  seinem  Mitmeister  gemacht  worden  sei. 
Nach  Vollendung  des  Tempels  sei  er  mit  Meister  Soubise  — in 
Jerusalem  sein  unzertrennlicher  Gefährte  - nach  Gallien  zurück- 
gekehrt  Die  auf  ihn  (Jakob)  eifersüchtigen  Jünger  des  Soubise 
wollten  ihn  ermorden,  doch  flüchtete  er  in  einen  Sumpf,  dessen 
Schilf  ihn  verbarg.  Indes  sei  er  später  von  den  jungen  Leuten 
wieder  entdeckt  und  umgebracht  worden.  Soubise,  der  von  dem 
Mordplan  seiner  Jünger  keine  Ahnung  gehabt,  habe  Jakob  lange 
betrauert,  später  auf  dem  eigenen  Sterbebett  die  „Genossen“  über 
ihre  „devoir"  belehrt  und  ihnen  aufgetragen,  bei  ihren  Riten 
zur  Erinnerung  an  Jakob  den  „Kufs  brüderlicher  Zuneigung" 
einzuführen  und  ein  Schilfrohr  aufzubewahren.  Das  letztere 
entspricht  der  Akazie  der  Freimaurer.  Eine  Variante  dieser 
Legende  besagt,  dafs  Soubise  an  der  Ermordung  seines  Freundes 
Jakob  teilgenommen  und  nachmals  aus  Verzweiflung  einen  Selbst- 
mord begangen  habe.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  wir  es  da 
mit  einer  neueren  Lesart  der  Geschichte  von  Hiram,  Osiris  und 
so  vielen  anderen  Helden  und  Göttern  der  antiken  Welt  zu  thun 
haben.  Die  Tempellegende  stellt  Salomo  als  an  der  Tötung 
seines  Architekten  mitschuldig  hin. 

Die  „Kinder  Salomos“  bezeichneten  und  bezeichnen  sich 
mit  verschiedenen  Namen.  So  nennen  sich  die  Steinmetze  „Wölfe“; 
sie  haben  zwei  Grade:  Gesellen  und  Jünglinge.  Die  Zimmer- 
leute und  die  Grobschmiede  heifsen  „Gavots"  und  sind  in  drei 
Grade  eingeteilt:  aufgenommene  Gesellen,  fortgeschrittene  Ge- 
sellen, eingeweihte  Gesellen.  Sie  alle  feiern  den  Gedenktag  des 
Todes  Hirams.  Die  „Söhne  des  Meisters  Jakob"  legen  sich 
ebenfalls  mancherlei  Namen  bei,  z.  B.  „Passants»,  „ Devorants"  etc. 
Die  „Söhne  des  Vaters  Soubise"  nennen  sich  „Drilles"  (lustige 
Gesellen),  „Heitere",  „Füchse",  „Hunde“.  Die  letztere  Bezeich- 


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Französische  Gesellenverbindungen.  255 

nung  soll  angeblich  an  den  Hund  erinnern,  der  Hirams  Leichnam 
entdeckte;  wahrscheinlicher  ist  aber,  dafs  sie  vom  Hundsstern 
(Sirius)  herrührt  und  dafs  »Soubise“  nichts  andres  ist  als  eine 
Korrumpierung  des  Bacchusnamens  »Sabazius"  (vgl.  »Eleusinische 
Mysterien").  Je  gröfser  die  Zahl  der  Gewerbe  wurde,  die  sich 
der  compagnonnage  anschlossen,  desto  mehr  Lostrennungen  und 
Absonderungen  erfolgten  naturgemäfs;  so  entstanden  die  »Re- 
bellen", die  »Unabhängigen»,  die  »Füchse  der  Freiheit"  etc. 

Winkelmafs  und  Zirkel  waren  die  Symbole  der  Gesellen- 
verbindungen. Die  Mitglieder  benannten  einander  mit  den  Namen 
der  Gegenden  ihrer  Herkunft  und  liefsen  sich  wechselseitig  Hilfe 
und  Gastfreundschaft  angedeihen..  Die  Vereinigung  vertrat 
an  den  Wanderburschen  Mutterstelle;  sie  gab  ihnen  im  Notfälle 
Speise,  Trank  und  Obdach  und  ermöglichte  ihnen  so,  Arbeits- 
löhne, die  hinter  den  marktläufigen  zurückblieben,  abzulehnen. 
Der  Einweihungskandidat  mufste  seine  Lehrzeit  hinter  sich  haben  ; 
er  wurde  mit  den  Erkennungszeichen,  Losungsworten  und  Hände- 
drücken bekannt  gemacht,  trug  ein  Band  von  bestimmter  Farbe 
auf  dem  Hut  und  in  einem  Knopfloch  und  erhielt  einen  Stock 
von  bestimmter  Länge  sowie  Ohrringe  in  Gestalt  von  Winkel- 
mafs und  Zirkel.  Auf  Arm  und  Brust  wurde  er  mit  einem  Er- 
kennungsmal versehen.  Beim  Antritt  der  Wanderschaft  begleiteten 
seine  Freunde  ihn  zur  Stadt  hinaus;  einer  trug  ihm  das  Ränzel, 
der  zweite  sang  ein  Abschiedslied,  dessen  Refrain  die  übrigen 
mitsangen,  ‘ mehrere  nahmen  Bierflaschen  und  Gläser  mit.  Beim 
Abschied  w'urden  die  Flaschen  leergetrunken  und  dann  mitsamt 
den  Gläsern  ins  Feld  geworfen,  ln  manchen  Gewerben  befestigte 
man  bei  diesem  Anlafs  eine  der  leeren  Flaschen  an  einen  Baum 
und  alle  — mit  Ausnahme  des  Fortziehenden  — bewarfen  sie 
mit  Steinen.  Das  sollte  den  Tod  des  heiligen  Märtyrers  Stephanus 
durch  Steinigung  versinnbildlichen.  Der  Wandergeselle  sagte: 
»Freunde,  ich  verabschiede  mich  von  euch,  wie  sich  die  Apostel 
von  Christus  verabschiedeten,  als  sie  auszogen,  um  das  Evan- 
gelium zu  predigen." 

Die  uralte  Verbindung  der  Köhler,  deren  Schutzpatron  der 
heilige  Theobald  ist,  hatte  früher  drei  Grade:  Aspirant  (»guepier"), 
Meister  und  Hauer.  Für  den  Aspiranten  breitete  man  auf  den 
Fufsboden  ein  weifses  Tischtuch  - aus,  auf  welches  ein  Salznapf, 
ein  Becher  Wassers,  eine  angezündete  Fackel  und  ein  Kruzifix 
gestellt  wurden.  Der  knieende  Kandidat  schwor  beim  Salz  und 
' beim  Wasser  einen  Verschwiegenheitseid,  worauf  man  ihn  lehrte, 
wie  er  die  »Brüder“  im  Walde  erkennen  und  sich  ihnen  zu  er- 
kennen geben  könne.  Schliefslich  wurde  ihm  die  Bedeutung  der 
Symbole  erklärt : das  Tischtuch  war  das  Leichentuch,  in  das  jeder 
Mensch  einmal  gehüllt  wird;  die  Fackeln  stellten  die  am  Totenbett 


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Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


brennenden  Kerzen  vor,  das  Kruzifix  die  Erlösung,  das  Salz  die 
theologischen  Tugenden.  Dieses  düstere  Rituale  war  besonders 
im  Jura,  in  den  Alpen  und  im  Schwarzwald  üblich.  Der  Kate- 
chismus der  Holzhauer  enthält  Stellen  von  rührender  Schlicht- 
heit. ln  den  ungeheuren  Forsten  verstreut  und  vereinsamt, 
richten  sie  den  Blick  auf  den  Himmel  über  sich  und  auf  die 
Erde  unter  sich  und  huldigen  einer  zärtlich-leidenschaftlichen, 
sittlich  hochstehenden  Brüderlichkeit.  Hier  eine  Stelle  voll  Ent- 
sagung und  Menschenliebe: 

„Woher  kommst  du,  Vetter  der  Eiche?« 

„Aus  dem  Walde.« 

„Wo  ist  dein  Vater?« 

„Erhebe  deine  Augen  gen  Himmel.« 

„Und  wo  ist  deine  Mutter?« 

„Blicke  auf  die  Erde.« 

„Welchen  Kultus  weihst  du  deinem  Vater?« 

„Huldigung  und  Verehrung.“ 

„Was  gewährst  du  deiner  Mutter?« 

„Im  Leben  meine  Pflege  und  nachher  meinen  Leib.“ 

„Wenn  ich  Hilfe  benötige,  was  wirst  du  mir  geben?« 

„Ich  werde  meinen  Tagelohn  und  mein  bitteres  Brot  mit 
dir  teilen;  auch  sollst  du  in  meiner  Hütte  ausruhen  und  dich 
an  meinem  Feuer  wärmen.« 

Eine  Holzhauerverbindung,  die  sich  „Der  verlorne  Sohn« 
nannte,  hatte  noch  düsterere  Riten.  Drei  Thüren  eines  sym- 
bolischen Turmes  trugen  die  Aufschriften:  „Die  Vergangenheit 
täuscht  mich«,  „ Die  Gegenwart  quält  mich«,  „Die  Zukunft  schreckt 
mich."  Ein  Dreieck  mit  den  Initialen:  S.  J.  P.  sollte  an  die 
Weisheit  Salomos  (S.),  die  Geduld  Hiobs  (J.)  und  die  Reue  des 
verlornen  Sohnes  (P.)  erinnern.  Auf  der  weifsen  Schürze  war 
ein  schwarzgerändertes  Herz  abgebildet,  über  welches  eine  rote 
Thräne  rann  — eine  blutige  Verzweiflungsthräne.  Die  Schwere 
und  der  Jammer  des  Lebens  wirkte  auf  die  Einbildungskraft  dieser 
armen  Waldbewohner  bedrückend.  Doch  glaubten  sie  an  die 
Heilkraft  der  Zeit  und  eines  ihrer  Sinnbilder  trug  die  Inschrift: 
„Die  Zeit  macht  allem  ein  Ende.“  Eine  Köhlerverbindung,  von 
der  wir  nichts  Näheres  wissen,  hiefs  „Weniger  Teufel  als  schwarz", 
womit  wohl  gesagt  sein  sollte,  dafs  das  rufsige  Äufsere  ein  reines 
Innere  nicht  ausschliefse. 

Die  Sattler-  und  Schuhmacherverbindung  hatte  besondere 
Einweihungsfeierlichkeiten.  In  dem  betreffenden  Saal  oder  Gemach 
stand  ein  wohlgezimmerter  Altar  mit  Kruzifix,  Gebetbuch  und  ^ 
den  übrigen  gottesdienstlichen  Behelfen.  Nach  dem  Gottesdienst, 
in  welchen  allerlei  seltsame  Phrasen  eingeflochten  wurden, 
empfing  der  Neuling  Unterweisung  in  den  Riten  des  „devoir«, 


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Deutsche  Oesellenverbindungen.  2S7 

in  den  Erkennungszeichen  und  Losungsworten,  sowie  in  der 
sinnbildlichen  Bedeutung  der  betreffenden  Gegenstände  und 
Geschmeide.  Noch  näher  standen  den  antiken  Einweihungsriten 
die  Aufnahmezeremonien  der  Hutmacher  mit  ihren  »Reinigungen" 
und  ihren  Totensagen,  ln  einem  grofsen  Saal  sah  man  auf  einer 
Estrade  ein  Kreuz,  eine  Dornenkrone,  einen  Palmzweig  und  die 
sonstigen  Behelfe  der  Leidensgeschichte  Christi,  wie  auch  ein 
grofses  Waschbecken  voll  Wassers.  Der  Christus  darstellende 
Kandidat  machte  dessen  verschiedene  Leidensstationen  durch  und 
kniete  dann  vor  dem  Becken  nieder,  um  sich  zum  Zeichen  seiner 
Wiedergeburt  durch  die  Taufe  mit  dem  Wasser  übergiefsen  zu 
lassen.  Die  ersten  Urheber  dieser  Feierlichkeit  hegten  gewifs 
die  besten  Absichten,  aber  im  Lauf  der  Zeit  entartete  dieselbe 
zu  einer  Bierklubposse.  Bei  den  Schneidern  wurde  der  Auf- 
nahmewerber in  ein  Gemach  geführt,  in  dessen  Mitte  ein  weifs- 
gedeckter Tisch  stand,  auf  dem  ein  Brotlaib,  ein  umgekippter 
Salznapf,  drei  Hut  Zucker  und  drei  Nadeln  lagen.  Nachdem  er 
die  Leidensstationen  Christi  zurückgelegt  hatte,  erfolgte  seine 
Bewirtung  in  einem  andern  Raum,  wo  angeblich  sehr  pikante 
Gemälde  hingen,  die  die  galanten  Abenteuer  dreier  Schneider- 
gesellen dargestellt  haben  sollen. 

Die  Einweihungszeremonien  verliehen  den  Verbindungen 
und  deren  einzelnen  Mitgliedern  eine  gewisse  Wichtigkeit  und 
trugen  viel  zur  Aufrechthaltung  des  Gemeingeistes  bei.  Anderseits 
fehlte  es  innerhalb  der  compagnonnage  nicht  an  Anmafsung, 
Ausschliefslichkeitssucht , Unduldsamkeit , Eifersüchteleien  und 
heftigen  Fehden.  Die  letzteren  führten  in  Lyon,  Marseille  und 
Bordeaux  wiederholt  zu  argen  Unruhen.  Um  die  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  standen  z.  B.  die  Lyoner  Steinmetzgesellen 
einander  in  zwei  feindlichen  Parteien  gegenüber,  deren  eine  die 
andre  schliefslich  aus  der  Stadt  verjagte;  der  Versuch,  zurück- 
zukehren, hatte  die  furchtbarsten  Gewaltthätigkeiten  zur  Folge, 
bei  denen  viel  Blut  flofs.  Auch  heutzutage  noch  kommen 
Zwistigkeiten  innerhalb  des  einen  oder  des  andern  Gewerbes  zu- 
weilen vor.  Die  Pariser  Zimmerleute  legten  ihre  alte  Fehde  erst 
vor  wenigen  Jahren  bei;  sie  einigten  sich  nämlich  dahin,  dafs 
die  »Genossen  der  Pflicht"  nur  auf  dem  rechten  Seine- Ufer 
arbeiten  dürfen,  während  das  linke  den  »Genossen  der  Freiheit" 
Vorbehalten  bleiben  soll.  Sie  halten  sich  denn  auch  getreulich 
an  diese  Abmachung.  Wie  sehr  die  Gesellen  der  Pflicht  und  die 
der  Freiheit  einander  einst  hafsten,  zeigt  ein  Liedchen,  das  bei 
den  ersteren  in  früheren  Zeiten  sehr  im  Schwang  war  und  in 
welchem  es  heifst:  »All  diese  infamen  Gavots  werden  in  die 
Hölle  kommen  und  dort  wie  Teufel  in  den  Flammen  brennen!" 


Heclcethorn- Kätscher,  Gehcimbünde  u.  Gcheimlehren.  17 


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258 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


Deutsche  Gesellenverbindungen. 

Jäger-Redensarten.  — Einweihung.  — Einweihung  eines  Böttchers.  — Merk- 
würdige Bücher  über  den  Gegenstand.  — Dascinsgründe  der  Gesellen- 
verbindungen. — Die  Zünfte.  — Kalandsbrüder. 


Die  Wälder,  in  denen  Räuber  hausten,  bargen  die  ersten 
Keime  der  deutschen  Gesellenverbindungen  mit  ihren  rauhen  aber 
sehr  bezeichnenden  Sitten.  Die  Köhler  und  die  Jäger  bedurften 
gegenseitiger  Erkennungsbehelfe,  um  nicht  an  Feinde  zu  geraten. 
In  den  »Altdeutschen  Wäldern“  der  Gebrüder  Grimm  finden 
wir  eine  Sammlung  von  über  zweihundert  waidmännischen  Aus- 
drücken und  Redensarten.  Die  Fragen  und  Antworten  der 
wandernden  Handwerksburschen  besitzen  eine  grofse  Ähnlichkeit 
mit  denen  der  Waidmänner;  die  Betonung  ist  dieselbe  und  beide 
machen  einen  ausgedehnten  Gebrauch  von  den  sinnbildlichen 
Zahlen  3 und  7.  Die  Formeln  beziehen  sich  naturgemäfs  auf 
das  Jagdleben;  z.  B.: 

Frage:  Lieber  Waidmann, 

Was  wittert  dich  heut  an? 


Antwort:  Ein  edler  Hirsch  und  ein  Schwein, 

Was  kann  mir  besser  geseyn  ? 

Frage:  Sag'  mir  an,  mein  lieber  Waidmann, 

Warum  wird  ein  Jäger  ein  Meisterjäger  genannt? 
Antwort:  Ein  gerechter  und  ein  gewisser  Jäger  hat  von  Fürsten 

und  Herren  die  Vergunst, 

Er  solle  genannt  werden  ein  Meister  der  sieben  freien 

Kunst. 


Frage:  Sag'  mir,  mein  lieber  Waidmann, 

Wo  hast  du  das  schöne  hübsche  Jungfräulein  lassen  stehn? 
Antwort:  Ich  habe  sie  gelassen  zu  Holz 
Unter  einem  Baum  stolz, 

Unter  einer  grünen  Buchen  — 

Da  will  ich  sie  suchen. 

Wohlauf  einer  Jungfrau  in  einem  weifsen  Kleid, 

Die  wünscht  mir  heute  Glück  und  alle  Seligkeit. 

Wohl  in  demselben  Thauschlag 
Da  seh  ich  allezeit  eben  nach. 

Da  ward  ich  verwundt, 

Da  macht  mich  die  schöne  Jungfrau  gesund. 

Ich  wünsche  dem  Jäger  Glück  und  Heil, 

Dafs  ihm  werd’  ein  guter  Hirsch  zu  teil. 

Die  Handwerksgesellen  waren  mit  einander  viel  inniger  ver- 
bunden als  die  Jäger;  daher  nahmen  sie  in  ihre  Brüderschaft 
neue  Genossen  nicht  ohne  lange  und  feierliche  Erprobungen  auf. 


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Deutsche  Oesellenverbindungen. 


259 


Ihre  Katechismen  sind  durchweg  vom  Geiste  brüderlicher  Zu- 
neigung und  gewissenhafter  Pflichterfüllung  - in  sittlicher  wie 
bürgerlicher  Hinsicht  - belebt.  Sie  waren  in  Grade  geteilt,  und 
es  ist  bemerkenswert,  dafs  die  deutschen  Gesellen  von  jeher  mit 
den  Losungsworten,  den  Erkennungszeichen  und  dem  Hände- 
druck der  Freimaurer  bekannt  waren.  Die  Maurergesellen  zer- 
fielen in  » Wortmaurer«  und  »Schriftmaurer";  die  ersteren  be- 
wiesen ihre  Kenntnis  des  Handwerks  durch  ihre  Kenntnis  der 
Zeichen  und  Losungsworte,  die  anderen  durch  Vorzeigung  schrift- 
licher Verträge.  Es  gab  Gesetze,  welche  den  Maurermeistern  vor- 
schrieben, den  Gesellen,  die  sich  mit  den  richtigen  Erkennungs- 
zeichen und  Losungsworten  einführten,  Arbeit  zu  geben.  Einzelne 
Städte  besafsen  in  dieser  Beziehung  gröfsere  Vorrechte  als  andere; 
so  z.  B.  berechtigte  die  Kenntnis  des  Wetzlarer  Losungswortes 
zur  Arbeit  im  ganzen  Deutschen  Reich.  Drei  Wanderjahre 
waren  für  den  deutschen  Gesellen  unerläfslich  und  zumeist  trat 
er  die  Wanderschaft  im  Frühling  an.  Gegenwärtig  giebt  es  in- 
folge der  Eisenbahnen,  die  das  Reisen  bequemer  und  billiger 
machen,  in  den  deutschen  Ländern  weit  weniger  reisende  Hand- 
werksburschen als  früher. 

Jedes  Handwerk  hatte  seine  eigene  Art  der  Einweihung, 
doch  ähnelten  die  Riten  und  Förmlichkeiten  einander  selbst- 
verständlich vielfach.  Wir  wollen  als  ein  interessantes  Beispiel 
die  mit  der  Aufnahme  in  die  Gesellenverbindung  der  Böttcher 
verknüpften  Zeremonien  schildern.  Vor  allem  wurde  um  die  Er- 
laubnis gebeten,  den  aufzunehmenden  Burschen  — »Ziegenfeil- 
schürze" genannt  — in  die  Versammlung  der  Genossen  einzu- 
führen. Der  Einführer  sagte  ungefähr:  »Jemand  - ich  weifs 
nicht,  wer  es  ist  - folgt  mir  mit  einer  Ziegenhaut:  ein  Fafs- 
daubenmörder,  ein  Holzverderber,  ein  Verräter.  Er  steht  auf  der 
Schwelle  und  erklärt  sich  unschuldig.  Er  tritt  herein  und  ver- 
spricht, ein  guter  Geselle  zu  werden,  nachdem  wir  ihn  roh  be- 
hauen haben  werden.“  Die  Erlaubnis  wurde  erteilt,  der  Bewerber 
setzte  sich  auf  einen  auf  dem  Tisch  stehenden  Schemel,  von  dem 
die  Anwesenden  ihn  hinunterzuwerfen  trachteten.  Der  Einführer 
hielt  ihn  jedoch  aufrecht  und  nun  folgte  die  Biertaufe.  Sodann 
wurde  der  Neuling  aufgefordert,  sich  »einen  feinen,  kurzen 
Namen“  zu  wählen,  »der  den  Mädchen  gefällt“,  sowie  sein 
Scherflein  zu  den  Kosten  der  Biertaufe  beizutragen.  Auch  er- 
teilte man  ihm  zahlreiche  Weisungen  bezüglich  seines  Verhaltens 
auf  der  Wanderschaft.  Er  sollte  sich  von  den  anfänglichen 
Schwierigkeiten  nicht  abschrecken  lassen.  Diese  stellte  man  sich 
folgendermafsen  vor. 

Nach  Durchquerung  eines  von  Gefahren  erfüllten  Forstes 
erreicht  der  Wanderbursche  eine  freundliche  Wiese,  auf  der  er 

17* 


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Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


einen  vollbehangenen  Birnbaum  erblickt.  Soll  er  sich  unter 
diesem  niederlegen  und  warten,  bis  ihm  die  verlockenden  Früchte 
in  den  halbgeöffneten  Mund  fallen?  Soll  er  auf  den  Baum 
steigen?  Nein,  sonst  würde  der  betreffende  Landwirt  ihn  sehen 
und  durchprügeln.  Er  soll  den  Baum  schütteln,  sich  mit  der 
herabfallenden  Frucht  erfrischen  und  etwas  liegen  lassen  für 
einen  möglicherweise  nachkommenden  Genossen,  der  vielleicht 
nicht  kräftig  genug  sein  würde,  den  Baum  zu  schütteln.  Weiter- 
wandernd, gelangt  er  zu  einem  Strom,  dessen  Brücke  blofs  aus 
einem  Baumstamm  besteht.  Auf  diesem  begegnet  er  einem 
jungen  Mädchen  mit  einer  Ziege.  Was  soll  er  thun?  Das 
Mädchen  und  die  Ziege  ins  Wasser  stofsen,  um  seinen  Weg  fort- 
setzen zu  können?  Nein,  sondern  die  Ziege  auf  die  Schulter, 
das  Mädchen  auf  den  Arm  nehmen  und  so  die  Brücke  über- 
schreiten. Später  kann  er  das  Mädchen  heiraten,  die  Ziege  fürs 
Hochzeitsmahl  schlachten  und  sich  aus  ihrem  Fell  eine  Schürze 
machen  lassen.  Nach  der  Ankunft  in  einer  Stadt  soll  er  in  der 
von  einem  Böttchermeister  gehaltenen  Herberge  einkehren  und 
auf  seiner  Hut  sein,  falls  das  Wirtstöchterlein  ihm  den  Weg  zu 
seinem  Schlafzimmer  zeigt.  Am  nächsten  Tag  soll  er  auf  die 
Suche  nach  Arbeit  ausgehen.  Vielleicht  bietet  sich  solche  bei 
drei  Meistern : der  erste  ist  reich  an  Holz  und  Reifen,  der  zweite 
hat  drei  hübsche  Töchter  und  bewirtet  seine  Gesellen  reichlich 
mit  Bier  und  Wein,  der  dritte  aber  ist  arm.  Bei  welchem  soll 
der  Wanderbursche  einstehen?  Beim  ersten  würde  er  wahr- 
scheinlich ein  tüchtiger  Böttcher  werden;  beim  zweiten  wäre  er 
glücklich,  denn  er  könnte  viel  trinken  und  mit  den  schönen 
Mädchen  tanzen.  Aber  er  solle  ebenso  bereit  sein,  für  den  armen 
Meister  zu  arbeiten  wie  für  die  anderen. 

Nach  dem  Empfang  dieser  und  vieler  ähnlichen  Belehrungen 
läuft  der  Neuling  auf  die  Strafse  und  schreit  »Feuer!“  Die  Ge- 
nossen halten  ihn  zurück  und  begiefsen  ihn  reichlich  mit  kaltem 
Wasser.  Den  Schlufs  der  Feierlichkeiten  bildet  eine  Mahlzeit 
Es  giebt  viele  deutsche  Bücher  über  die  merkwürdigen 
Sitten  und  Bräuche  in  den  verschiedenen  Handwerken.  Eines 
betitelt  sich: 

»Neu  verbesserter  Müller  Ehren-Krantz; 

Oder  rechtgemessener  Urkund 
Von  dem  wahrhaftigen  Cirkels  Grund. 

So  dem  Mühlhandwerk  zu  Ehren  gethan 
Ein  Mühlknapp  namens  Georg  Bohrmann.“ 

Wir  geraten  da  in  maurerischen  Symbolismus  hinein.  Ein 
Holzschnitt  zeigt  einen  Kreis  mit  mystischen  Sätzen,  und  die  Er- 
läuterung besagt,  dafs  alles  aus  oder  durch  den  Kreis  erschaffen 


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Deutsche  Oesellenverbindungen. 


261 


worden  sei.  Dann  folgt  die  Geschichte  der  Bäcker  auf  Grund 
der  Bibel,  ferner  eine  poetische  Reiseschiiderung  mit  Beschrei- 
bungen der  berühmtesten  Mühlen  von  Schlesien,  Mähren,  Ungarn, 
Böhmen,  der  Lausitz  etc  Die  Namen  der  angeblich  berühmtesten 
drei  Müller,  die  je  gelebt,  sind  in  einem  Dreieck  wiedergegeben. 
Das  Werk  schliefst  mit  einer  Anrufung  des  Baumeisters  des  Welt- 
alls. Ein  anderes  Buch  behandelt  die  »Gebräuche  des  ehrsamen 
Bäckergewerbes.  Wie  Jedermann  sich  in  der  Herberge  und  bei 
der  Arbeit  betragen  soll.  Gedruckt  zu  Nutz  und  Frommen  der 
Wanderburschen".  Der  Titel  eines  dritten  • lautet:  »Ursprung, 
Alter  und  Ruhm  der  ehrsamen  Kürschnerzunft.  Eine  genaue  Be- 
schreibung filier  Formalitäten,  die  seit  undenklichen  Zeiten  bei 
den  Einweihungen  der  Meister  und  den  Prüfungen  der  Gesellen 
beobachtet  wurden.  Alles  getreulich  geschildert  von  Jakob 
Wahrmund. « Sämtliche  Zünfte  pflegen  sich  eines  hohen  Alters  zu 
rühmen,  des  höchsten  jedoch  die  Kürschner,  denn  sie  sagen,  Gott 
selber  sei  schon  zu  Adams  Zeiten  ein  Kürschner  gewesen,  denn 
nach  der  Bibel  habe  er  für  Adam  und  Eva  nach  dem  Sündenfall 
Fellschürzen  gemacht. 

Man  könnte  die  Gesellenverbindungen  eine  Arbeitsritter- 
schaft nennen.  Ihre  Riten,  Symbole  und  Überlieferungen  sind 
blofs  ihre  greifbare  Form.  Einer  ihrer  Daseinsgründe  lag  in  der 
Notwendigkeit,  dafs  die  Arbeiter  bei  Ankunft  in  einer  ihnen  noch 
fremden  Stadt  gleichsam  Freunde  finden  und  eine  »Ansprache“ 
haben,  widrigenfalls  sie  infolge  der  Ausschliefslichkeit  der  fest- 
gefügten Zünfte  auf  sich  selbst  angewiesen  gewesen  wären.  Ein 
zweiter  Daseinsgrund  war  in  der  Möglichkeit  zu  suchen,  etwaige 
Bedrückungen  seitens  der  Meister  mit  vereinten  Kräften  zu  be- 
kämpfen, überhaupt  durch  gemeinsames  Zusammenwirken  un- 
gleiche Kräfte  auszugleichen.  Aus  demselben  Grunde  entstanden 
im  Mittelalter  - in  welchem  die  Regierungen  zum  Bedrücken  ge- 
rade genug  stark,  zum  Beschützen  aber  zu  ohnmächtig  waren,  so 
dafs  der  einzelne  schutzlos  der  Willkür  preisgegeben  blieb  — 
in  manchen  Ländern  geheime  Gesellschaften  für  Recht,  Gerechtig- 
keit und  Sicherheit. 

Die  Zünfte  hatten  den  gleichen  Ursprung;  doch  kann  man 
sie,  obwohl  sie  ihren  Einflurs  oft  insgeheim  ausübten,  nicht  zu 
den  Geheimgesellschaften  rechnen.  Nicht  selten  bedienten  sich 
Könige  ihrer  im  Kampf  gegen  die  Aristokratie.  So  z.  B.  Ludwig 
der  Fette,  der  selber  einen  Verein  gründete,  die  »Volksgemeinde", 
welche  die  Aufgabe  hatte,  dem  feudalen  Raubritterwesen  zu 
steuern.  Während  in  England  die  Einführung  des  Maschinen- 
betriebs in  die  Industrie  das  Kleingewerbe  bereits  fast  ganz  ver- 
drängt hat,  wodurch  das  alte  Verhältnis  zwischen  Meister  und 
Gesellen  aufgehört  hat,  lebt  dieses  Verhältnis  in  anderen  Ländern 


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Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


— namentlich  in  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  — noch  in 
ziemlicher  Ausdehnung  fort. 

Im  12.  Band  von  Hermann  Rolletts  »Neuen  Beiträgen  zur 
Chronik  der  Stadt  Baden  bei  Wien“  (Baden  1899)  finden  wir 
den  wörtlich  folgenden  interessanten  »Färberbrauch  bei  Ein- 
wanderung fremder  Gesellen“,  der  in  Wien  an  Sonntagen  in  der 
Herberge  bis  1848  in  Übung  war: 

1.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  so  wollt  ich  dich  im  Namen  der  ganzen  löblichen 
Brüderschaft  befragt  haben , ob  du  und  deine  Mitgesellen , von 
mir  und  meinen  Mitgesellen,  ein  öffentliches  Geschenk  begehrst, 
für  gut  anzunehmen,  oder  nicht. 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ja  freilich,  warum  nicht. 

2.  Alt  Gesell.  Als  mit  V'ergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  es  ist  allzeit  allhier  in  dieser  k.  k.  Residenzstadt 
Wien  der  Gebrauch  gewesen,  wenn  fremde  Gesellen  eingewandert, 
oder  einer  von  seinen  Meister  oder  Wittfrau  Feierabend  bekommen 
oder  genommen  hat,  so  ist  ihnen  allzeit  von  mir  und  meinen 
Mitgesellen  ein  öffentliches  Geschenk,  Ehr  und  Gutthat  erzeugt 
und  erwiesen  worden;  solches  habe  ich  und  meine  Mitgesellen 
nicht  aufgebracht,  solches  werde  ich  und  meine  Mitgesellen  nicht 
abbringen,  wir  wollen  es  beim  alten  verbleiben  lassen.  Als  mit 
Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein  lieber  Bruder,  so  wollt  ich 
dich  im  Namen  der  ganzen  Brüderschaft  befragt  haben,  wo  hast 
du  das  Handwerk  gelernt. 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ich  habe  es  in  Baden 
bei  Wien  gelernt 

3.  Alt  Gese  I.  Als  mit  Vergunst,  wo  hast  du  das  letzte 
mahl  gearbeitet? 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ich  habe  in  Potsdam 
bei  Berlin  gearbeitet 

4.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  was  ist  dir  von  Meister 
und  Gesellen  anbefohlen  worden? 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  es  ist  mir  nichts  an- 
befohlen worden,  als  Liebs  und  Guts  und  einen  freundlichen 
Grufs,  habe  ich  den  Einen  oder  Anderen  nicht  gebracht,  so  bin 
ich  ihn  noch  schuldig  zu  bringen,  darauf  wünsch  ich  Euch  Ihr 
Brüder  einen  guten  Tag,  Glück  zu  wegen  des  Ehrsammen  Hand- 
werk, Meister  und  Gesellen  von  Potsdam,  lassen  Euch  Brüder 
ganz  freundlich  grüfsen,  wegen  des  Ehrsammen  Handwerk. 

Gesellen  in  Arbeit.  Wir  sagen  Meister  und  Gesellen  Dank, 
dir  auch  Willkommen  wegen  des  Ehrsammen  Handwerk. 

15.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  so  sollt  ihr  auch  wissen,  was  auf  unseren  öffent- 
lichen Geschenk  für  Gewohnheit  gehalten  werden,  es  geht  vor 


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Deutsche  Oesellenverbindungen. 


263 


den  Geschenk  eine  Umfrage  herum,  wenn  Einer  oder  der  Andere, 
auf  Einen  etwas  weis,  so  kann  er  solches  vermelden  und  anzeigen, 
weil  das  öffentliche  Geschenk  vorhanden,  der  Willkum  [Trinke 
gefäfs],  Bier  und  Brod,  auf  den  Tisch  steht  und  eine  ganze  löb- 
liche Brüderschaft  bei  einander  versammelt  ist;  wofern  aber  Einer 
oder  der  Andere  nichts  weis,  so  wollt  er  stille  sein,  fröhlich  guter 
Dings  zu  sein,  desgleichen  werd  ich  auch  mit  Ihm  zu  sein.  Als 
mit  Vergunst,  sei  gebethen,  und  beantworte  die  Anfrage. 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  dafs  ich  meine  Anfrage 
sage,  ihr  gunsthaftige  Burschen,  junge  und  alte  zugleich,  wie  uns 
der  liebe  Gott,'  heutigen  Tages,  so  wunderbarlicher  Weise,  bei- 
einander versammelt  hat,  so  weis  ich  auf  Einen  gut  Ehrlichen 
Gesellen  nichts,  als  Liebs  und  Guts,  was  Treu  und  Ehr  zusteht, 
ist  aber  ein  gut  ehrlicher  Gesell  vorhanden , der  etwas  wieder 
mich  weis,  dafs  ich  etwas  über  das  ganze  löbliche  Handwerk 
gethan  oder  verbrochen  habe,  so  wollt  er  solches  vermelden,  und 
anzeigen,  wofern  er  aber  nichts  weis,  so  wollt  er  stille  sein,  fröh- 
lich guter  Dings  zu  sein,  desgleichen  werd  ich  auch  mit  Ihm  zu 
sein;  als  mit  Vergunst,  weiter  weis  ich  nichts,  als  was  Treu  und 
Ehr  zusteht. 

6.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  hast  ausgeredt? 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ja! 

Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  setz  dich  nieder,  sollst  Aus- 
geschenkt werden,  nach  Handwerksgebrauch  und  Gewohnheit. 

7.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  so  sollst  auch  wissen,  was  auf  unseren  öffentlichen 
Geschenk  für  Artikeln  verbothen  sind.  Als  mit  Vergunst  zum 
1.  mahl,  wer  den  öffentlichen  Willkumm  ohne  Vergunst  angreift, 
aufhebt  oder  niederstellt,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein. 
Als  mit  Vergunst  zum  2.  mahl,  wer  den  öffentlichen  Willkum 
angreift,  eh  er  seinen  Groschen  erlegt  hat,  der  soll  in  der  Ge- 
sellen Straffe  sein.  Als  mit  Vergunst  zum  3.  mahl,  wer  Gottes 
Gaben  mifsbraucht,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein.  Als 
mit  Vergunst  zum  4.  mahl,  wer  mehr  Bier  verschüttet,  als  er  mit 
der  Hand  verdecken  kann,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein. 
Als  mit  Vergunst  zum  5.  mahl,  wer  flucht  oder  schwört,  unter 
den  Geschenk,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein.  Als  mit 
Vergunst  zum  6.  mahl , wer  ohne  Vergunst  aufsteht  oder  gar 
hinausgeht,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein.  Als  mit  Ver- 
gunst zum  7.  mahl , wer  Handschuh  oder  Blaufarbstab  während 
den  Geschenk  fallen  läfst,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein. 
Als  mit  Vergunst  zum  8.  mahl,  wer  mit  Augen  winkt,  mit  Finger 
zeigt,  oder  mit  Füfsen  stofst,  der  soll  in  der  Gesellen  Straff  sein. 
Als  mit  Vergunst  zum  9.  mahl,  wer  Karten  oder  Würfeln  begehrt, 
unter  den  Geschenk,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe  sein.  Als 


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Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


mit  Vergunst  zum  10.  mahl,  wer  von  den  öffentlichen  Willkum 
einen  Schild  herunter  fallen  läfst,  der  soll  in  der  Gesellen  Straffe 
sein.  Als  mit  Vergunst  zum  11.  mahl,  wer  ein  Glas  Bier  unter 
währenden  Geschenk  mit  Absatz  stehen  läfst,  der  soll  in  der  Ge- 
sellen Straffe  sein.  Als  mit  Vergunst  zum  12.  mahl,  wer  unter 
den  Geschenk  den  Alt  Gesellen  in  die  Rede  fällt,  ein  Wochen 
Lohn  ohne  Gnad.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  es  sind  die  Artikel  so  viel,  dafs  ich  nicht  alle 
sagen  kann;  darnach  wirst  du  dich  zu  richten  wissen,  und  vor 
Schaden  zu  hütten,  darauf  stell  ich  dir  den  öffentlichen  Willkum 
vor,  wird  dir  vorgestellt  von  mir  als  Alt  Gesell 'im  Namen  der 
ganzen  löblichen  Brüderschaft,  es  ist  dir  auch  zu.  getrunken 
worden  von  denjenigen  Gesellen,  die  vor  8 oder  14  Tagen  hier 
ausgeschenkt  wurden,  und  wirst  bescheid  thun,  auf  diejenigen 
Gesellen,  die  noch  auf  frischer  grünen  Haide  lauffen;  hilf  Gott, 
das  Sie  möchten  herein  kommen,  damit  sie  auch  aus  diesen  Will- 
kum einen  Trunk  daraus  bescheid  thun,  ist  es  nicht  aus  diesen, 
so  ist  es  aus  einen  Anderen,  dann  trink  ihn  aus,  trinkst  du  ihn 
nicht  aus,  so  erlegst  du  deinen  Groschen,  den  wir  haben  unser 
Bier  und  Brod  nicht  zu  Verschenken,  wir  müssen  es  den  Herbergs- 
vater und  der  Frau  Mutter  mit  baarem  Gelde  bezahlen. 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du 
mein  lieber  Bruder  Alt  Gesell,  ich  bin  ein  schwacher  Trinker, 
ich  bin  den  Trunk  nicht  gewohnt,  hier  erleg  ich  meinen  Groschen. 
Als  mit  Vergunst  ergreiffe  ich  den  öffentlichen  Willkum  und 
trinke  auf  das  Wohl  allen  Arbeits  Gesellen,  so  wie  auch  auf  die 
Gesellen,  die  noch  auf  frischer  grüner  Haide  lauffen,  Hilf  Gott, 
dafs  Sie  möchten  hereinkommen,  damit  Sie  auch  aus  diesen  Will- 
kum einen  Trunk  daraus  bescheid  thun,  ist  es  nicht  aus  diesen, 
so  ist  es  aus  einen  Andern. 

8.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  lafs  dir  unser  Bier  und  Brod  wohl  schmecken, 
seid  Ihr  gern  bei  uns,  so  sind  wir  gern  bei  Euch.  Nimm  ein 
bischen  Brod,  stecks  in  Salz,  und  dann  im  Hals,  dann  schmeckt 
der  Trunk  darauf. 

Fremder  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  euer  Bier  und  Brod 
und  eure  Weis,  gefällt  mir  wohl,  seid  Ihr  gern  bei  uns,  so  sind 
wir  gern  bei  Euch. 

9.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  defswegen  sollt  Ihr  grofsen 
Dank  haben,  dafs  Ihr  gerne  bei  uns  seid. 

Fremde  Gesellen.  Als  mit  Vergunst,  defshalb  sind  wir 
auch  so  stark  gelauffen. 

10.  Alt  Gesell.  Als  mit  Vergunst,  ihr  Bursch  und  du  mein 
lieber  Bruder,  so  wünschen  wir  dir  und  deinen  Mitgesellen,  viel 
Glück  und  Heil  auf  den  Weg.  Grüfs  Meister  und  Gesellen,  wo 


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Deutsche  Gesellenverbindungen. 


265 


das  Handwerk  Redlich  und  Ehrlich  ist,  wenn  es  nicht  Redlich 
und  Ehrlich  ist,  hilf  es  Redlich  und  Ehrlich  machen,  hilf  Straffen 
nach  billigen  Sachen,  straff  dafs  der  Beutel  kracht,  und  das  Herz 
im  Leibe  lacht,  gieb  aber  acht,  dafs  es  dich  und  deine  Mitgesellen 
nicht  schuldig  macht. 

Im  13.  Jahrhundert  gab  es  in  ganz  Mitteleuropa  - insbe- 
sondere in  Deutschland,  Frankreich  und  Ungarn  - ,,  Kalands- 
brüder*,  die  Wohlthätigkeit  übten,  unentgeltlich  Totenmessen 
lasen  und  bei  ihren  Zusammenkünften  geselligen  Vergnügungen 
huldigten.  Da  sie  ihre  Versammlungen  immer  am  1.  jeden 
Monats  abhielten,  nannten  sie  sich  » Kalandsbrüder",  denn  bei  den 
Römern  hiefs  der  Monats-Erste  »calendae",  woher  übrigens  auch 
das  Wort  »Kalender“  stammt.  Männer  (auch  Priester)  und  Frauen 
hatten  Zutritt,  nur  Mönche  und  Nonnen  nicht.  Die  »Brüder“ 
waren  trotz  ihres  Messelesens  offenbar  keine  Kostverächter  — das 
geht  aus  ihren  nachstehenden  Tischgesetzen  hervor: 

Der  Wirt  soll  geben  zur  Not 
Out  Bier  und  gut  Brot; 

Vier  gute  Schüsseln  zurichten, 

Die  er  mit  nichten 
Darf  gar  übermehren. 

Kuchen,  Käse,  Nüsse,  Beeren  — 

Dergleichen  reicht  man  wohl  hinterdrein, 

Sonst  nichts.  Auf  keinerlei  Weis’  soll  man  Wein 
Zum  Kaland  schenken, 

Ihn  irgendwie  durch  Willkür  kränken. 

Doch  ist  es  zweifelhaft,  ob  diese  Enthaltsamkeit  auch  wirk- 
lich stets  geübt  wurde,  denn  später  erhielten  die  Kalandsbrüder 
den  Spitznamen  »Feuchte  Brüder"  und  »kalendern“  bedeutete  so 
viel  wie  reichlich  trinken.  Noch  heute  hat  die  Volkssprache 
mancher  Gegenden  für  »schmausen“  den  Ausdruck  »kalendern". 
Geistliche,  die  zur  Gesellschaft  gehörten,  hiefsen  »Kalandsherren“. 
Nach  der  Reformation  starb  die  Vereinigung  allmählich  ab. 
Über  ihre  Gebräuche  und  Erkennungszeichen  wissen  wir  nichts 
Näheres.  Das  Berliner  Bürgergefängnis  pflegte  man  »Kalands- 
halle«  zu  nennen,  weil  das  Gebäude  ursprünglich  den  Kalands- 
brüdem  als  Versammlungsort  gedient  hatte. 


Deutsche  Studenten. 

Der  deutsche  »Bursche*  (vom  mittelhochdeutschen  »burse", 
d.  h.  »bursarii*,  da  die  Schulgebäude  »bursae*  hiefsen)  be- 
trachtet die  Bevölkerung  seiner  Universitätsstadt  als  »Philister* 


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266 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


und  reibt  sich  nicht  selten  an  ihr.  Es  giebt  zweierlei  Studenten- 
verbindungen: die  Burschenschaften,  denen  Söhne  aller  Gegenden 
oder  Länder  angehören  können,  und  die  Landsmannschaften, 
die  nur  Söhne  einer  bestimmten  Provinz  oder  eines  bestimmten 
Staates  aufnehmen.  Jede  Verbindung  hat  ihre  eigenen  Satz- 
ungen und  Funktionäre,  sämtliche  aber  haben  einen  gemein- 
samen Komment.  Die  Nicht-Korpsstudenten  werden  von  den 
Korpsstudenten  geringgeschätzt  und  »Kameele",  »Finken“  u.  dgl. 
genannt  Die  »Frösche"  (so  nennt  man  die  Gymnasiasten)  dürfen 
an  den  Zusammenkünften  der  »Burschen“  nicht  teilnehmen.  Die 
Neulinge  wurden  in  alten  Zeiten  »Pennale»  genannt,  weil  sie 
den  älteren  Studenten  die  Federbüchsen  .nachtragen  mufsten; 
später  erhielten  sie  wegen  ihrer  Furchtsamkeit  den  Scherznamen 
»Füchse“;  hat  ein  Anfänger  vom  Hause  viel  Geld  mitgebracht, 
so  heifst  er  »Goldfuchs“.  Im  zweiten  Semester  rückt  der  »Fuchs" 
unter  komischen  Zeremonien  zum  »Brandfuchs"  auf,  im  zweiten 
Jahrgang  zum  »Jungbursch",  im  dritten  zum  » Altbursch";  später 
wird  er  ein  »altes  Haus»  oder  ein  »bemoostes  Haupt“.  Die  Er- 
probungen beim  Aufrücken  bestehen  hauptsächlich  in  tüchtigen 
Trink-  und  Rauchleistungen;  drohender  »Katzenjammer“  darf 
nicht  vom  Trinken  bis  zur  Sinnlosigkeit  abschrecken.  Der 
»Fuchs»  trachtet,  ein  »flotter  Bursch»  zu  werden  und  ist  stolz, 
wenn  ein  »altes  Haus»  ihn  zu  seinem  »Leibfuchs"  macht. 

Beleidigt  ein  »Philister"  einen  Korpsstudenten,  so  kommt 
er  in  »Verruf».  Früher  traten  die  Burschenschaften  oft  zusammen 
mit  ihren  »Stiefelwichsern*  gegen  die  Bürgerschaft  auf.  Der  Ruf 
»Burschen  'raus!»  pflegte  die  kleinen  deutschen  Universitätsstädte 
in  Schrecken  zu  versetzen.  Zuweilen  (wie  in  Göttingen  1823, 
in  Halle  1827,  in  Heidelberg  1830  etc.)  bestraften  die  Studenten 
die  zum  grofsen  Teil  von  ihnen  lebende  Stadt  dadurch,  dafs  sie 
streikten,  d.  h.  abreisten  und  erst  nach  Erfüllung  ihrer  Beding- 
ungen zurückkehrten.  Die  ihnen  solchermafsen  geleistete  Genug- 
tuung war  manchmal  eine  recht  ausgiebige.  Die  Tabakpfeife 
heifst  »Stinktopf»,  die  Bürgertöchter  sind  »Geier»,  die  Freuden- 
mädchen »Besen»,  die  Gläubiger  »Manichäer».  Die  Korps- 
studenten verbringen  einen  grofsen  Teil  ihrer  Zeit  mit  dem  Rauchen, 
dem  Kneipen,  den  Mensuren  u.  s.  w.;  das  richtet  häufig  ihre 
Gesundheit  zu  Grunde,  hindert  sie  in  sehr  vielen  Fällen  jedoch 
nicht  daran,  etwas  Tüchtiges  zu  lernen  und  es  im  Leben  recht 
weit  zu  bringen. 

Bis  tief  ins  1 7.  Jahrhundert  hinein  war  die  Immatrikulierung 
mit  Bräuchen  verbunden,  die  in  vielen  Punkten  lebhaft  an  die 
Einweihungsriten  der  antiken  Mysterien  erinnern.  Damals  nannte 
man  den  noch  nicht  eingeschriebenen  Zukunftsstudenten  »beanus» 
(eine  Korruption  des  französischen  Wortes  bec  jaune  oder  be- 


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Deutsche  Studenten. 


267 


jaune  = Gelbschnabel).  Der  beanus  stellte  sich  dem  Fakultäts- 
Dekan  mit  der  Bitte  um  Aufnahme  vor.  Sobald  eine  gewisse 
Mindestzahl  von  beani  beisammen  war,  bestimmte  der  Dekan 
einen  Tag  zur  Feier  der  Einschreibung  (depositio).  An  diesem 
Tag  erschien  aufser  den  »Gelbschnäbeln“  der  »Einschreiber" 
(depositor)  mit  seinem  Handwerkszeug  und  einem  Amanuensis 
vor  dem  Dekan,  legte  Hanswurstkleider  an,  hiefs  die  jungen 
Leute  dasselbe  thun  und  »schmückte"  sie  dann  noch  mit  Scherz- 
artikeln, namentlich  gehörnten  Hüten  und  Kappen.  Auch  ver- 
teilte er  unter  sie  Scheren,  Holzkämme,  Äxte,  Hobel,  Beile, 
Sägen,  Rasiermesser,  Spiegel,  Schemel  und  andere  Gegenstände. 
Nun  stellte  er  die  beani  in  Reih  und  Glied  auf  und  marschierte 
an  ihrer  Spitze  in  den  Festsaal,  wo  er  an  den  Dekan  und  das 
aus  Studenten  bestehende  »Publikum“  eine  Ansprache  hielt 
Darauf  schlug  er  mit  einem  Kleien-  oder  Sandsack  auf  die  beani 
los,  die  unter  komischem  Geberdenspiel  hin  und  her  sprangen, 
um  den  Schlägen  zu  entgehen.  Weiter  stellte  er  ihnen  eine  An- 
zahl von  Fragen  und  gab  ihnen  Rätsel  auf;  wer  nicht  rasch 
antworten  konnte,  wurde  mit  dem  Sack  geprügelt,  bis  ihm  Thränen 
in  die  Augen  traten.  Jetzt  gaben  sie  ihm  die  vorhin  empfangenen 
Gegenstände  zurück  und  legten  sich  derart  auf  den  Fufsboden 
nieder,  dafs  ihre  Köpfe  einander  fast  berührten.  Der  Einschreiber 
machte  sich  nun  daran,  ihnen  im  Scherz  die  Schultern  zu  hobeln, 
die  Nägel  zu  feilen,  die  Füfse  abzusägen,  die  Ziegenhörner  ab- 
zuhauen, die  — früher  eigens  in  den  Mund  gesteckten  - Satyr- 
zähne mit  grofsen  Zangen  auszuziehen  u.  s.  W.  u.  s.  w.  Demnächst 
mufsten  sie  sich  auf  lehnenlose,  einbeinige  Stühle  setzen;  der 
Einschreiber  band  ihnen  schmutzige  Servietten  vor,  seifte  sie  mit 
Ziegelstaub  oder  Schuhwichse  oder  noch  unangenehmeren  Dingen 
ein  und  rasierte  sie  so  scharf,  dafs  sie  oft  weinten.  Das  sodann 
folgende  Kämmen  mit  den  Holzkämmen  fiel  recht  rauh  aus  und 
das  Haar  wurde  mit  Hobelspänen  bestreut  Nach  all  diesen  »Er- 
probungen« verjagte  der  Einschreiber  die  jungen  Leute  mittels 
des  Kleien-  oder  Sandsacks  aus  dem  Saal,  legte  seinen  possen- 
haften Anzug  ab,  zog  seine  gewöhnlichen  Gewänder  an  und  be- 
fahl den  beani,  das  Gleiche  zu  thun,  worauf  er  sie  in  den  Saal 
zurückführte,  um  sie  in  kurzer  lateinischer  Rede  dem  Dekan  zu 
empfehlen,  der  ebenfalls  lateinisch  antwortete,  mit  guten  Rat- 
schlägen nicht  sparte,  jedem  einige  Salzkörner  - als  Sinnbild 
der  Weisheit  — zu  essen  gab,  ein  paar  Tropfen  Weines  über 
ihre  Köpfe  sprengte  und  ihnen  endlich  das  schriftliche  Ein- 
schreibungszeugnis einhändigte.  An  der  Altdorfer  Universität,  die 
1809  mit  der  Erlanger  vereinigt  wurde,  soll  die  »depositio«  — 
wie  man  diese  Zeremonie  nannte  - sogar  noch  1763  vollzogen 
worden  sein. 


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26S 


Gesellschaftliche  Wiedergeburt. 


Diese  Studenteneinweihungen,  in  denen  Luther  eine  symbo- 
lische Darstellung  der  Mifshelligkeiten  und  des  Ungemachs  des 
Menschenlebens  erblickte,  weisen  eine  unverkennbare  Ähnlichkeit 
mit  den  Einweihungen  der  alten  Mysterien  und  der  Freimaurerei 
auf.  Die  etwas  rohen  Verkleidungsspäfse  und  Erprobungen  gleichen 
in  vielen  Punkten  denen  gar  mancher  Oeheimbünde.  Wer  eine 
treffliche  und  köstliche  Satire  auf  das  deutsche  Studentenleben 
lesen  will,  dem  seien  E.  T.  A.  Hoffmanns  » Lebensansichten  des 
Katers  Murr"  empfohlen. 


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ZEHNTES  BUCH. 

POLITISCHE 

GEHEIMGESELLSCHAFTEN. 


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Chinesische  Geheimgesellschaften. 


Die  frühesten  geheimen  Gesellschaften  Chinas.  — Die  Gelbmützen.  — Die 
Weifse  Lilie.  — Die  Familie  der  Himmelskönigin.  — Der  Hung-Bund.  — 
Neuere  Gesellschaften.  — Der  Taeping-Aufstand.  — Der  Ghi-Hin-Bund. 
- Logen.  — Organisation.  — Aufnahme  von  Mitgliedern.  — Siegel  des 
Hung-Bundes.  — Ko-lao-Hui.  — Tschen-kin  Lung.  — Ausrottungsversuche. 

Der  älteste  chinesische  Geheimbund,  von  dem  wir  Kenntnis 
haben,  bestand  gegen  das  Ende  der  Han-Dynastie  (etwa  185  n. 
Chr.).  Drei  verbündete  Patrioten  verteidigten  damals  den  Thron 
gegen  die  aufrührerischen  »Gelbmützen“,  einen  Geheimbund, 
dem  die  Blüte  der  »Literaten«  angehörte.  Seither  gab  diese 
Gesellschaft  nur  selten  ein  Lebenszeichen;  aber  im  Anfang  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  verpflichteten  sich  fünf  Mönche  und 
sieben  Laien  eidlich,  die  gegenwärtige  tatarische  Tsing- Dynastie 
zu  stürzen  und  die  frühere  chinesische  Ming-Dynastie  wieder  ein- 
zusetzen. Diese  Verschwörer  besiegelten  ihren  Eid  dadurch,  dafs 
sie  ihren  eigenen  Armen  Blut  abzapften,  es  mischten  und  aus- 
tranken. Sie  gründeten  den  Bund  der  Weifsen  Lilie  (pe-lin-kiao) 
und  bauten  auf  eine  Weissagung,  die  dahin  ging,  dafs  einer  von 
ihnen  Kaiser  werden  werde.  Die  Anführer  waren  ein  gewisser 
Wang-Iung  und  ein  Bonze  Namens  Fan-ui.  Der  erstere  nahm 
die  Stadt  Schu-tschang-hien  ein,  wurde  aber  bald  vertrieben,  ver- 
haftet und  nebst  vielen  seiner  Anhänger  hingerichtet.  1777  tauchte 
die  pe-lin-kiao  wieder  auf,  jedoch  nur,  um  bald  eine  grofse 
Niederlage  zu  erleiden,  nach  welcher  man  den  Rädelsführern  — 
unter  denen  sich  auch  zwei  Frauen  befanden  — die  Köpfe  ab- 
schnitt,  die  dann  in  Käfigen  öffentlich  zur  Schau  gestellt  wurden. 

Auch  im  Jahre  1800  verschworen  sich  zwei  Geheimgesell- 
schaften erfolglos  gegen  die  herrschende  Dynastie:  die  „Wunder- 
bare Vereinigung"  und  die  Tsing-lien-kiao.  Die  letztere  hielt 
man  für  eine  Fortsetzung  der  Pe-lin-kiao  unter  anderem  Namen. 
Während  der  Regierungszeit  des  Kaisers  Kia-King  (1 799  - 1 820) 
entstand  die  „Familie  der  Himmelskönigin"  (Th’ien-hamo-hoi'h), 


272 


Politische  Geheimgesellschaften. 


die  ihren  Sitz  im  Süden  des  Reiches  hatte  und  auch  in  Korea, 
Siam  und  Kochinchina  verbreitet  war.  Entdeckt  und  scheinbar 
ausgerottet,  lebte  diese  Gesellschaft  als  der  »Große  Hungbund“ 
wieder  auf.  »Hung"  heifst  Flut  und  dieser  Name  sollte  an- 
deuten, dafs  der  Bund  die  Erde  überschwemmen  werde.  Damit 
es  den  Anschein  habe,  dafs  nicht  alle  seine  Mitglieder  zu  einer 
und  derselben  Vereinigung  gehören,  erhielten  die  Zweige  ver- 
schiedene Namen,  darunter  diejenigen  einiger  früherer  Geheim- 
gesellschaften — z.  B.  Dreieinigkeitsverein,  Halle  des  blauen 
Lotus,  Bezirk  der  goldenen  Orchidee  u.  dgl.  m.  Diese  Ableger 
erregten  bald  die  Aufmerksamkeit  der  Regierung,  von  der  sie 
eine  Zeitlang  im  Schach  gehalten  wurden. 

Um  1826  herum  hatte  der  Hung-Bund  ein  Oberhaupt 
namens  Kwang  San,  der  sich  zumeist  in  dem  Bergwerksbezirk 
von  Lukut  aufhielt,  wo  besonders  viele  Bundesgenossen  lebten. 
Einmal  soll  er,  um  sich  in  eine  wilde  Stimmung  zu  versetzen, 
die  mit  Wein  vermengte  Galle  eines  Ermordeten  ausgetrunken 
haben. 

Die  Leitung  des  Hungbundes  lag  in  den  Händen  dreier 
Personen:  des  eigentlichen  Oberhauptes,  Koh  genannt  (=  »des 
Älteste“),  und  der  beiden  Hiong  Thi  (-=>  »jüngere  Brüder“).  Die 
auf  der  Halbinsel  Malakka  bestandenen  Zweigvereine  nannten 
ihre  je  drei  Leiter  Tai-koh  (=  »ältester  Bruder"),  Ji-koh  (•=  »zweiter 
Bruder“)  und  San-Koh  (—  »dritter  Bruder").  Den  Verschwiegenheits- 
eid mufste  der  Aufnahmebewerber  vor  einem  Götzenbild  knieend 
leisten.  Während  seines  Schwures  mufsten  auch  die  beiden 
Hiong  Thi  niederknieen  — der  eine  zu  seiner  Rechten,  der 
andre  zu  seiner  Linken  — um  zwei  scharfe  Schwerter  in  der  Form 
eines  Dreiecks  über  sein  Haupt  zu  halten.  Der  Eid  bestand  aus 
36  Punkten,  deren  wichtigster  der  folgende  war:  »Ich  schwöre, 
dafs  ich  weder  Vater  noch  Mutter,  weder  Bruder  noch  Schwester, 
weder  Gattin  noch  Kind,  sondern  ausschließlich  die  Brüderschaft 
kennen  werde.  Wohin  diese  führt  oder  wo  diese  verfolgt,  werde 
ich  folgen  oder  verfolgen;  ihre  Feinde  werden  meine  Feinde 
sein."  Zur  Bekräftigung  des  Eides  schnitt  sich  der  Kandidat  in 
einen  Finger  und  liefs  drei  Blutstropfen  in  eine  Schale  Arrak 
träufeln;  die  drei  Oberhäupter  thaten  nun  dasselbe  und  leerten 
dann  die  Schale.  Zur  weiteren  Verstärkung  des  Schwures  köpfte 
der  Neuling  einen  weifsen  Hahn,  womit  angedeutet  werden 
sollte,  dafs  auch  er  seinen  Kopf  verlieren  würde,  falls  er  sich  als 
treulos  erwiese. 

1850  machte  der  berühmte  Rebellenführer  Tae-ping-wang 
einen  neuerlichen  Versuch,  die  Ming-Dynastie  wieder  einzusetzen, 
von  welcher  abzustammen  er  vorgab.  Er  nannte  sich  »König 
des  Friedens"  und  erklärte,  der  jüngere  Bruder  Christi  und  mit 


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Chinesische  Geheimgesellschaften. 


273 


der  Aufgabe  betraut  zu  sein,  ein  »Weltreich  der  Getreuen“  zu 
errichten.  Er  hatte  sicherlich  keine  Kenntnis  von  den  Schwärmereien 
der  europäischen  Rosenkreuzer,  die  in  ihrer  »Thesaurinella  chymica- 
aurea“  das  Erscheinen  einer  geheimnisvollen  Persönlichkeit  weis- 
sagten - des  Elias  Artista,  der  die  Herrschaft  Christi  in  einer 
neuen  Welt  aufrichten  werde;  dennoch  gab  er  (Tae-ping-wang) 
sich  für  eine  ähnliche  Persönlichkeit  aus. 

Nach  der  Niederlage  und  dem  Tode  dieses  merkwürdigen 
Mannes  hörte  man  nichts  mehr  von  der  Hung-Liga,  bis  im  Früh- 
ling 1863  die  Polizei  bei  einer  Haussuchung  in  Padang  auf 
Sumatra  - der  betreffende  Chinese  war  eines  Diebstahls  ver- 
dächtig - zufällig  ein  Packet  aufstöberte,  das  die  Satzungen, 
Eidesformeln,  Einweihungsgeheimnisse,  Sinnbilder- Erklärungen, 
geheime  Zeichen,  die  Beschreibung  der  Fahnen,  den  Katechis- 
mus etc.  des  Bundes  enthielt.  So  erfuhr  man,  dafs  dieser  noch 
bestehe  und  1870  trat  er  wieder  thätig  auf.  Damals  nahm  sein 
Wirken  namentlich  in  Sarawak  so  bedrohliche  Formen  an,  dafs 
die  Regierung  ein  Gesetz  schuf,  welches  schon  die  blofse  That- 
sache  der  Mitgliedschaft  mit  dem  Tode  bestrafte.  Die  Unruhen, 
welche  1872  in  Singapore  ausbrachen,  wurden  von  den  Zweigen 
der  Liga  in  den  Straits-Settlements  angezettelt;  damals  waren  die 
Hauptrebellen  die  »sam-sings"  (=  »kämpfende  Männer“),  die  für 
die  Strafsenhausierer  eintraten,  gegen  die  die  Behörden  äufserst 
strenge  Mafsregeln  getroffen  hatten.  Der  Bund,  welcher  sich 
stets  vieler  Morde,  Brandlegungen,  Folterungen  und  Verstümme- 
lungen schuldig  gemacht  hat,  entwickelte  in  den  Jahren  1883  und 
1885  abermals  eine  recht  lästige  Thätigkeit.  Namentlich  die 
»Schwarzflaggen"  — Überbleibsel  der  Tae-pings  — und  die 
»Weifsen  Lilien“  traten  eifrig  gegen  die  Tsing-Dynastie  auf.  Die 
Polizeiberichte  aus  Perak  — einem  Schutzstaat  auf  der  Halb- 
insel Malakka  besagten,  dafs  i.  J.  1 888  geheime  Gesellschaften 
»endlose  Verwirrung  und  Angst  erzeugten“,  obgleich  ein  Jahr 
vorher  vier  Mitglieder  der  Ghi-Hin-Vereinigung  wegen  ihrer 
Vertretung  der  Interessen  dieses  Bundes  zu  zwanzig  Jahren  Ge- 
fängnis verurteilt  worden  waren.  Die  Hälfte  der  in  Perak  leben- 
den Chinesen  gehört  geheimen  Gesellschaften  an. 

Die  »Straits  Times“  vom  1 7.  September  1889  enthielt  einen 
ausführlichen  Bericht  über  die  Gerichtsverhandlung  gegen  eine 
Gruppe  von  Mitgliedern  des  Sarawaker  Ghi-Hin-Bundes,  auch 
Sam-Tian  genannt.  Die  sechs  Rädelsführer  wurden  erschossen; 
elf  eifrig  thätige  Genossen,  welche  Nichtmitglieder  geprügelt,  be- 
droht oder  umgebracht  hatten,  empfingen  je  72  Stockstreiche  und 
wanderten  auf  unbestimmte  Zeit  in  den  Kerker,  während  sieben  andere, 
gegen  die  nichts  Besonderes  vorlag,  freigesprochen  wurden,  aber 
schwören  mufsten,  jede  Verbindung  mitdem  Geheimbund  aufzugeben. 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  13 


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274 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Ende  1895  erhob  sieh  eine  Anzahl  von  Mohammedanern 
gegen  die  chinesische  Regierung  und  nahm  die  Hauptstadt  der 
Provinz  Kan-su  ein.  Ihnen  schlossen  sich  die  zentralchinesischen 
Geheimgesellschaften  an.  Ihr  Erfolg  war  jedoch  von  sehr  kurzer 
Dauer;  bereits  nach  wenigen  Wochen  gelang  es,  den  Aufstand 
zu  unterdrücken  und  fünfzehn  der  Anführer  zu  enthaupten.  Die 
übrigen  entkamen,  damnter  der  bekannte  Hongkonger  Arzt  Sun- 
Jet-Sun,  auch  Sun  Wen  genannt.  Im  Oktober  1896  wurde  er 
in  der  chinesischen  Gesandtschaft  zu  London  gefangen  gehalten, 
bis  auf  Lord  Salisburys  Betreiben  seine  Freilassung  erfolgte.  Er 
behauptete,  von  Angestellten  des  Gesandten  ins  Gesandtschafts- 
gebäude gelockt  worden  zu  sein. 

Die  politischen  Geheimgesellschaften  Chinas  dürfen  trotz 
ihrer  ernsten  Fehler  nicht  gänzlich  verurteilt  werden.  Vielmehr 
mufs  man  bedenken,  dafs  ihre  Aufstände  sich  gegen  die  Unter- 
drückung der  Chinesen  durch  Fremdlinge  wenden.  Die  nicht- 
chinesische Mandschudynastie  der  Tsings  beherrscht  das  unge- 
heuere „Reich  der  Mitte»  in  einer  beispiellos  willkürlichen,  un- 
gerechten, grausamen  Weise  mit  Hilfe  strenger,  blutrünstiger  Ge- 
setze und  eines  furchtbar  bestechlichen  und  habgierigen  Be- 
amtenstandes. 

Einem  auf  völlig  authentischen  Quellen  fufsenden,  1866  in 
Batavia  veröffentlichten  englischen  Fachwerk  entnehmen  wir  die 
nachstehende  Schilderung  einer  Loge  des  Hungbundes.  Die  Loge 
ist  quadratisch  gebaut  und  von  Mauern  umgeben,  die  in  den 
vier  Himmelsrichtungen  je  ein  Thor  haben.  Die  Fanden  sind 
mit  Dreiecken  geschmückt,  dem  mystischen  Sinnbild  der  Einig- 
keit. Der  „Saal  der  Treue  und  Loyalität",  in  welchem  die  Neu- 
linge eingeschworen  werden,  enthält  den  Altar  und  die  neun- 
stöckige Pagode,  in  der  sich  die  Bildnisse  der  fünf  mönchischen 
Stifter  des  Bundes  befinden.  Nur  an  entlegenen  Orten,  die  sich 
der  Aufmerksamkeit  der  Mandarinen  entziehen,  errichtet  man 
Logen;  in  den  Städten  und  in  verkehrsreichen  Gegenden  ver- 
zichtet man  auf  Logen  und  trifft  sich  im  Hause  des  örtlichen 
Vorsitzenden.  Das  Handwerkszeug  der  Logen  besteht  aus  vielen 
Dingen;  am  wichtigsten  sind  das  „Diplom“  und  der  „Scheffel", 
der  u.  a.  den  „roten  Stab"  enthält,  den  man  gegen  Verletzer 
der  Bundessatzungen  anwendet.  Sodann  finden  sich  vor:  zahl- 
reiche Fahnen,  eine  Schreibtafel,  eine  Wage,  ein  Fufsmäfs  aus 
Jade,  die  Schere,  mit  der  dem  Neuling  das  Haar  abgeschnitten 
wird  etc. 

Die  Oberleitung  der  Grofsen  Hung-Liga  ist  den  Grofs- 
meistern  der  fünf  Hauptlogen  anvertraut.  Die  Angelegenheiten 
jeder  einzelnen  Loge  werden  verwaltet  von  einem  Präsidenten, 
einem  Vizepräsidenten,  einem  „Meister»,  zwei  „Einführern",  einem 


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Chinesische  Geheimgesellschaften. 


275 


Finanzbeamten,  dreizehn  »Räten",  mehreren  „Agenten“  („Gras- 
schuhe“, „Eisenplanken“  oder  „Nachtbrüder"  genannt)  und 
mehreren  untergeordneten,  Blumen  im  Haar  tragenden  Funktionären. 

In  Friedenszeiten  treten  nur  Freiwillige  dem  Bund  bei, 
während  dieser,  wenn  er  etwas  Ernstes  im  Schild  führt,  Drohungen 
und  Gewalt  anwendet,  um  neue  Mitglieder  zu  bekommen.  Der 
Aufnahmebewerber  wird,  wie  in  der  Royal-Arch-Freimaurerei,  in 
den  „Saal  der  Treue  und  Loyalität“  unter  einer  „Schwerter- 
brücke“ eingeführt,  d.  h.  die  „Brüder"  halten  ihre  Schwerter  der- 
art empor,  dafs  sie  einen  Bogen  bilden.  Nach  der  Eidesleistung 
folgt  die  Zopfabschneidung,  die  jedoch  unterbleibt,  wenn  der 
Neuling  unter  Chinesen  lebt,  die  sich  der  tatarischen  Vorschrift 
des  Zopftragens  fügen.  Sodann  wird  ihm  das  Gesicht  gewaschen 
und  zum  Zeichen  der  Reinheit  und  des  Beginns  eines  neuen 
Lebens  ein  langes  weifses  Gewand  angezogen.  Die  Füfse  be- 
kleidet man  ihm  mit  Strohschuhen,  einem  Abzeichen  der  Trauer. 
Nunmehr  wird  er  zum  Altar  geführt,  damit  er  neun  Grashalme 
und  eine  Weihrauchstange  opfere;  zwischen  jeder  Opferung 
wiederholt  er  eine  angemessene  Strophe.  Hierauf  wird  eine  rote 
Kerze  angezündet  und  die  Anwesenden  beten  Himmel  und  Erde 
an,  wobei  sie  drei  Becher  Weines  gemeinsam  austrinken.  Jetzt 
werden  drei  Lampen  angezündet:  die  „siebensternige“,  die  „kost- 
bare Reichslampe“  und  die  „Hung-Lampe“.  Die  Versammlung 
bittet  die  Götter,  die  Bundesgenossen  zu  beschützen.  Jeder  An- 
wesende sticht  sich  in  den  Mittelfinger  und  läfst  einige  Bluts- 
tropfen in  eine  halb  mit  Wein  gefüllte  Schale  fallen,  die  dann 
von  den  Neuaufgenommenen  geleert  wird,  deren  jeder  ferner 
einen  weifsen  Hahn  köpft,  um  anzudeuten,  dafs  der  gleiche  Tod 
allen  ungetreuen  Genossen  drohe.  Jeder  Neuling  empfängt  ein 
Diplom,  zwei  Dolche,  drei  Hung-Medaillen  und  ein  Buch,  das 
den  Eid,  die  Satzungen,  die  geheimen  Zeichen  u.  s.  w.  des  Bundes 
enthält.  Die  Erkennungszeichen  sind  zahlreich;  siebeziehen  sich 
auf  die  Art,  ein  Haus  zu  betreten,  seinen  Regenschirm  nieder- 
zulegen, den  Hut  in  der  Hand  zu  halten,  seinen  Thee  zu  trinken, 
die  Schuhe  zu  tragen  und  vieles  andere  zu  thun. 

Henry  Pöttinger  bezog  sich  wahrscheinlich  auf  eine  Ge- 
heimgesellschaft, als  er  1843  in  einer  diplomatischen  Depesche 
an  Lord  Aberdeen  schrieb:  „Nach  Beendigung  des  Gesanges 
nahm  der  chinesische  Kommissär  Ke-dsching  von  seinem  Arm 
ein  goldenes  Armband,  gab  es  mir  und  teilte  mir  mit,  er  habe 
es  in  seiner  Kindheit  von  seinem  Vater  empfangen,  es  enthalte 
eine  geheimnisvolle  Inschrift  und  ich  würde  in  China  überall, 
wo  ich  es  vorwiese,  brüderlich  aufgenommen  w'erden." 

Jedes  Mitglied  des  Hungbundes  ist  im  Besitz  eines  farbigen 
Seiden-  oder  Baumwoll -Abdrucks  des  Bundessiegels,  dessen 

is* 


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276 


Politische  Geheimge  ellschaften. 


Original  das  Oberhaupt  der  Liga  aufbewahrt.  Es  ist  immer  fünf- 
eckig und  hat  eine  scheinbar  sinnlose  chinesische  Inschrift  von 
vermutlich  abgekarteter  geheimer  Bedeutung.  Hier  ein  Beispiel. 
Innerhalb  des  Fünfecks  befindet  sich  ein  Achteck  mit  sechzehn 
Zeichen,  welche  in  wörtlicher  Übersetzung  so  lauten:  „Der  älteste 
Bruder  vereinigt  Schlachtordnung.  Jedermann  bereitet  sich  Zeichen 
Anführer  vor.  Angeschwollener  Bergstrom  breitet  sich  in  Kanälen 
aus.  Heute  ist  zehntausend  Jahre.“  Viele  Mitglieder  tragen  den 
Siegelabdruck  als  Amulett  und  alle  halten  seine  Bedeutung  streng 
geheim.  Als  Talisman  mag  das  Siegel  gegen  Verwundung  oder 
Tod  auf  dem  Schlachtfeld  ebenso  wirksam  sein  wie  im  fünf- 
zehnten Jahrhundert  die  von  einem  Passauer  Scharfrichter  ver- 
kauften Waren,  als  deren  Inschrift  ein  neugieriger  Soldat  die  Worte 
entdeckte:  „Feigling,  verteidige  dich!“ 

Heutzutage  scheint  die  mächtigste  Geheimgesellschaft  Chinas 
die  Ko-lao  Hui  zu  sein,  die  ursprünglich  eine  rein  militärische 
Vereinigung  war  zum  wechselseitigen  Schutz  gegen  die  Er- 
pressungen und  Veruntreuungen  der  mit  der  Besoldung  und  Ver- 
pflegung der  Truppen  betrauten  Civilbeamten.  Allmählich  wurden 
auch  Nichtsoldaten  zugelassen.  Es  heifst,  dafs  der  Neuling  bei 
seiner  Aufnahme  einen  Hahn  töten  und  dessen  Blut  rein  oder 
mit  Wein  gemischt  trinken  tnufs.  Angeblich  benutzt  man  bei 
den  Versammlungen  einen  Zirkumferentor,  dessen  Bewegungen 
geheimen  Einflüssen  zugeschrieben  werden.  Der  Mitgliednach- 
weis besteht  in  einem  kleinen  rechteckigen  Stück  Leinwand  oder 
Baumwollstoff,  das  mit  einigen  chinesischen  Zeichen  gestempelt 
ist;  wer  im  Besitz  einer  solchen  Mitgliedskarte  betroffen  wird,  den 
lassen  die  Behörden  ohne  Umstände  hinrichten. 

Die  Ko-lao  Hui  ist  ausländer-  und  missionsfeindlich  und 
man  vermutet,  dafs  sie  die  eigentliche  Anstifterin  aller  neueren 
chinesischen  Angriffe  und  Überfälle  auf  Ausländer,  insbesondere 
auf  christliche  Missionäre  sei.  Freilich  tragen  namentlich  die 
letzteren  durch  unvernünftigeso  der  rücksichtsloses  Verhalten  nicht 
selten  selber  die  Schuld  an  den  bedauernswerten  Vorfällen,  über 
welche  die  Presse  seit  Jahren  leider  so  oft  berichten  mufs.  Nur 
zu  häufig  mifsachten,  verletzen  oder  verhöhnen  einzelne  fanatische 
oder  unüberlegte  Missionäre  die  berechtigten  Empfindungen  der 
Eingeborenen  absichtlich  oder  unabsichtlich  und  erregen  dadurch 
Zorn  und  Hafs.*)  Oder  sie  und  andre  Ausländer  vergehen  sich 
gegen  die  Staatsverträge  zwischen  China  und  den  Mächten  und 
werden,  wenn  dann  die  Bevölkerung  Rache  übt,  von  ihren 


*)  Näheres  über  diesen  ebenso  interessanten  wie  wichtigen  Gegen- 
stand findet  sich  in  Leopold  Kätschers  „Was  in  der  Luft  liegt“  (Leipzig 
1S99),  Abschnitt:  „Fremdenhafs  und  Christenverfolgungen  in  China“,. 
S.  195-2)3. 


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Chinesische  Geheimgesellschaften. 


277 


heimischen  Regierungen  gedeckt,  obgleich  sie  im  Unrecht  sind. 
Unter  solchen  Umständen  ist  die  Abneigung  der  Chinesen  gegen 
die  »weilsen  Teufel"  begreiflich.  Die  Ko-lao  Hui  hat  bereits 
wiederholt  Flugschriften  unter  Titeln  wie  »Die  Teufelslehrer  sollten 
getötet  werden"  u.  dgl.  verteilen  lassen,  worin  die  christlichen 
Missionäre  der  ärgsten  Verbrechen  gegen  Leben  und  Sitten  be- 
schuldigt wurden  - selbstverständlich  irrigerweise. 

Die  Ko-lao  Hui  ist  auch  antidynastisch.  1891  liefs  sie  in 
mehreren  Provinzen  aufreizende  Plakate  ankleben;  die  Obrigkeit 
liefs  dieselben  sofort  entfernen,  doch  prangten  sie  alsbald  wieder 
an  den  Strafsenecken.  Im  September  des  genannten  Jahres  organi- 
sierte dieser  Oeheimbund  einen  Aufstand  und  zwei  Monate 
später  fiel  sein  berühmtes  Oberhaupt  Tschen-kin  Lung  den  Be- 
hörden in  die  'Hände.  Er  war  in  einem  Oasthause  erwischt,  ge- 
knebelt und  gefesselt  worden  und  wurde  an  Bord  einer  bereit- 
stehenden Dampfbarkasse  nach  Shanghai  gebracht,  wo  eine  äufserst 
geheime  Untersuchung  gegen  ihn  stattfand.  Aufser  einem  Dolch 
mit  vergifteter  Klinge  wurden  bei  ihm  mehrere  amtliche  Schrift- 
stücke des  Bundes  gefunden,  in  denen  er  als  »achter  grofser 
Fürst“  angesprochen  war.  Bei  den  Verhören  verhielt  er  sich 
sehr  wortkarg;  auch  das  Foltern  bewog  ihn  nicht  zum  Verrat. 
Er  sagte  blofs:  »Ersparet  euch  die  Mühe  und  mir  den  Schmerz; 
seiet  überzeugt,  dafs  es  Männer  giebt,  die  bereit  sind,  ihr  Leben 
zu  lassen  für  eine  gute  Sache,  die  diesem  Land  auf  Jahrtausende 
hinaus  Glück  bringen  wird."  Sein  weiteres  Schicksal  ist  un- 
bekannt. 

Die  Hui-Liga  hat  mehrere  Ableger;  da  diese  aber  eigentlich 
gegenseitige  Hilfsvereine  sind,  schenkt  die  Regierung  ihnen  wenig 
Aufmerksamkeit.  Einer  der  gröfsten  ist  die  »Goldene  Lilie",  die 
in  West-China  gut  gedeiht  und  deren  Mitglieder  sich  in  vier 
Abteilungen  um  die  weifse,  die  schwarze,  die  rote  und  die  gelbe 
Fahne  scharen. 

Nach  einem  englischen  amtlichen  Bericht  von  1892  ist  es 
mit  Hilfe  eines  drei  Jahre  vorher  erlassenen  Gesetzes  gelungen, 
die  chinesischen  Geheimgesellschaften  in  den  Straits-Settlements 
gröfstenteils  zu  unterdrücken.  Aber  es  wird  wohl  noch  hübsch 
lange  dauern,  bis  das  Dreieinigkeits-Element  gänzlich  ausgerottet 
sein  wird.  Namentlich  der  Hung-Bund  schlummert  blofs;  aus 
ihm  sind  viele  kleine  Gesellschaften  hervorgegangen,  welche  in 
öffentliche  Häuser,  Singspielhallen,  Kaufläden  u.s.w.  Strolchgruppen 
entsenden,  die  unter  Androhung  von  Überfällen  und  Geschäfts- 
störungen Erpressungen  verüben  müssen.  Die  »kämpfenden’ 
Männer“  dieser  Vereine  werden  von  den  Leitern  in  den  Logen 
mit  dem  Erlös  solcher  Brandschatzungen  erhalten. 


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278 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Die  Comuneros. 

Einleitende  Bemerkungen.  — Älteste  spanische  Geheimgesellschaften.  — Die 
Freimaurerei  in  Spanien  die  Vorläuferin  der  Comuneros.  — Die  Comu- 
neros. — Einweihungsriten.  — Klerikale  Geheimgesellschaften. 

Nach  einer  Phrase  der  philosophischen  Schule  der  Ge- 
schichtschreibung, einem  angenehmen  historischen  Aberglauben, 
befreite  der  Sturz  Napoleons  1.  Europa.  Allerdings  bewirkten 
die  Schlacht  bei  Belle-Alliance  und  der  Wiener  Kongrefs,  dafs 
einige  Könige  ihre  verlorenen  Throne  wiedererlangten,  aber  von 
einer  Befreiung  Europas  zu  reden,  war  lediglich  bequeme  Selbst- 
täuschung oder  auch  Täuschung.  An  die  Stelle  des  einen 
Tyrannen  traten  wieder  mehrere  — das  war  der  ganze  Unter- 
schied. Immerhin  hatte  der  Meteor  Bonaparte  auf  seiner  Flug- 
bahn den  „beschränkten  Unterthanen verstand"  der  Landesväter- 
Anbeter  in  den  verschiedenen  eroberten  Staaten  einigermafsen 
erhellt,  so  dafs  er  die  „Göttlichkeit"  des  Herrschertums  nicht  mehr 
blindgläubig  hinnahm.  Die  Folge  war,  dafs  in  allen  Ländern, 
deren  Throne  in  Wien  wieder  aufgerichtet  wurden,  politische  Ge- 
heimgesellschaften entstanden,  also  in  Spanien,  Italien,  Österreich, 
Deutschland,  Frankreich.  Manche  dieser  Vereinigungen  waren 
von  den  betreffenden  Fürsten  selbst  gefördert  worden,  solange 
das  erstrebte  Ziel  deren  Wiedereinsetzung  war;  als  jedoch  nach 
der  Wiedereinsetzung  die  Geheimgesellschaften,  bezw.  die  von 
ihnen  vertretenen  Völker  die  Forderung  stellten,  dafs  den  letzteren 
verfassungsmäfsige  Rechte  und  Freiheiten  gewährt  werden,  wen- 
deten die  Könige  sich  gegen  ihre  früheren  Helfer  und  Wohl- 
thäter.  Daher  mufsten  sich  dann  diese  gegen  jene  wenden. 

Was  insbesondere  Spanien  betrifft,  so  gab  es  dort  schon 
vor  der  französischen  Revolution  Geheimgesellschaften,  die  teils 
antimonarchisch,  teils  zu  Gunsten  einer  Pfaffenherrschaft  gesinnt 
waren.  Zu  den  letzteren  gehörte  der  Bund  der  „Verteidiger  der 
Unbefleckten  Empfängnis“  (die  „concepcionistas“),  der  seine 
glühende  Verehrung  Ferdinands  VII.  und  der  Kirche  so  weit 
trieb,  die  Rückkehr  der  herrlichen  Zeiten  der  Inquisition  herbei- 
zusehnen. Seine  Anführer  trachteten  im  eigenen  Interesse,  die 
Leitung  der  Staatsangelegenheiten  in  die  Hände  zu  bekommen; 
dafs  ihnen  dies  teilweise  leider  auch  gelang,  beweist  die  traurige 
Wirtschaft  der  Bourbonen.  Wahrscheinlich  aus  dem  Schofs  der 
concepcionistas  gingen  die  „Beschützer  des  Glaubens“  hervor  — 
verhüllte  Jesuiten,  die  sich  1 820  ausbreiteten  und  für  den  Thron, 
die  Kirche,  aber  meistens  jedoch  für  sich  selbst  wirkten.  Unter 
Ferdinand  VII.  erstanden  auch  die  „Königsanhänger",  die  den 
Herrscher  in  ihrem  eigensten  Interesse  in  seiner  rückschrittlichen 
Politik  unterstützten. 


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Die  Comuneros. 


279 


Nach  der  französischen  Invasion  (1809)  war  die  Frei- 
maurerei in  Spanien  offen  wieder  zugelassen  und  in  Madrid  ein 
Grofs-Orient  errichtet  worden;  doch  vermied  sie  das  Gebiet  der 
Politik  und  beschränkte  sich  auf  Volkserziehung  und  Wohlthätig- 
keit.  Der  Sturz  des  Königs  Joseph  und  die  Wiederkehr  der 
Bourbonen  machten  diesen  Bestrebungen  ein  Ende.  1816  trat 
eine  Anzahl  von  aus  der  französischen  Gefangenschaft  zurück- 
gekommenen spanischen  Soldaten  und  Offizieren  zu  unabhängigen, 
ganz  geheimen  Logen  zusammen,  die  in  der  Hauptstadt  einen 
Grofs-Orient  hatten  und  mit  den  wenigen  französischen  Logen, 
welche  sich  mit  Politik  befafsten,  in  Verbindung  standen. 
Zu  den  letzteren  gehörte  die  Pariser  Loge  der  »Anhänger 
Zoroasters“,  welche  mehrere  in  Paris  wohnhafte  spanische  Offi- 
ziere aufnahm,  u.  a.  den  Kapitän  Luezada,  der  nachmals  die 
Flucht  des  Patrioten  Mina  begünstigte.  Die  Erhebung  auf  Leon 
war  das  Werk  der  wiederhergestellten  spanischen  Freimaurerei, 
die  die  Vorbereitungen  dazu  von  langer  Hand  getroffen  hatte. 

Bald  nach  diesem  Sieg  brachen  Eifersüchteleien  aus,  in 
deren  Verfolg  viele  »Brüder“  austraten  und  1821  den  »Bund 
der  Comuneros"  ins  Leben  riefen  — ein  Name,  den  sie  im  Hin- 
blick auf  den  weltgeschichtlichen  Aufstand  der  Städte  wählten, 
welcher  1 520  ausbrach,  weil  Karl  V.  den  Versuch  gemacht  hatte, 
deren  alte  Freiheiten  zu  beseitigen.  Damals  wurden  die  Comu- 
neros in  der  Schlacht  von  Villalar  geschlagen  und  der  Aufstand 
unterdrückt.  Die  modernen  Comuneros  fanden  beim  jungen 
Spanien  so  grofsen  Anklang,  dafs  ihre  Mitgliederzahl  bald  auf 
etwa  sechzigtausend  anwuchs.  Auch  Frauen  wurden  aufge- 
nommen ; sie  hatten  eigene  Logen,  »Türme"  genannt,  die  von 
einem  »Grofskastellan“  geleitet  wurden.  Dieser  Geheimbund 
hatte  den  Zweck,  die  Befreiung  der  Menschheit  zu  fördern,  die 
Rechte  des  spanischen  Volkes  gegen  Mißbräuche  und  Übergriffe 
seitens  des  König-  und  Priestertums  zu  schützen  und  die  Be- 
dürftigen zu  unterstützen.  Der  radikalste  Flügel  befürwortete  die 
Enthauptung  oder  mindestens  Verbannung  des  Monarchen,  drang 
damit  aber  nicht  durch. 

Der  Aufnahmebewerber  wurde  zuerst  in  den  »Waffensaal* 
geführt,  wo  man  ihn  über  die  Pflichten  der  Mitglieder  belehrte, 
worauf  man  ihn  mit  verbundenen  Augen  in  einen  anderen  Raum 
geleitete.  Dort  erklärte  er,  dem  Bund  beitreten  zu  wollen.  Nun 
rief  ein  als  »Schildwache"  funktionierender  Bruder  laut:  »Lasset 
ihn  vortreten,  ich  will  ihn  zum  Wachthause  des  Schlosses  be- 
gleiten!“ Nach  der  Nachahmung  des  Herablassens  einer  Zug- 
brücke und  des  Aufziehens  eines  Fallgatters  wurde  der  Kandidat 
ins  Wachlokal  gebracht;  hier  nahm  ihm  die  »Schildwache“  die 
Binde  von  den  Augen  und  liefs  ihn  allein.  Er  fand  die  Wände 


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I 


280  Politische  Geheimgesellschaften. 

mit  Waffen,  Trophäen,  patriotischen  und  kriegerischen  Inschriften 
bedeckt  Bald  erschien  der  Gouverneur  und  redete  ihn  folgender- 
mafsen  an:  »Du  stehst  jetzt  unter  dem  Schild  unseres  Obersten 
Padilla*).  Wiederhole  nun  inbrünstig  den  Eid,  den  ich  dir  vor- 
sprechen werde."  Durch  den  Schwur  unternahm  der  Neuling, 
für  eine  freiheitliche  Verfassung  zu  kämpfen  und  jedes  dem 
Vaterland  zugefügte  Unrecht  rächen  zu  helfen.  Der  frisch- 
gebackene Ritter  bedeckte  sich  mit  dem  Padillaschild,  die  an- 
wesenden Mitritter  zückten  ihre  Schwerter  auf  ihn  und  der 
Gouverneur  sagte:  »Der  Schild  unseres  Schirmherrn  Padilla  wird 
dich  vor  jeder  Gefahr  schützen,  dir  das  Leben  und  die  Ehre 
retten;  solltest  du  aber  deinen  Eid  brechen,  so  werden  wir  dir 
diesen  Schild  entreifsen  und  diese  Schwerter  in  die  Brust  bohren." 

Sowohl  die  Freimaurer  als  die  Comuneros  strebten  nach 
grofsetn  politischen  Einflufs;  allein  die  ersteren  hatten  mehr  Er- 
fahrung, siegten  daher  bei  den  Wahlen  und  brachten  ein 
Ministerium  nach  ihrem  Sinn  zustande.  Hieraus  entwickelte  sich 
ein  Zwist,  der  das  Land  erschütterte  und  die  Sache  der  Freiheit 
schädigte.  1832  versuchten  die  Comuneros  vergebens,  die  Frei- 
maurerpartei zu  stürzen ; dann  vereinigten  sich  die  beiden  Ge- 
heimgesellschaften zum  Zweck  der  Überwindung  der  Reaktionäre. 
Es  gelang  ihnen  auch,  den  von  einigen  italienischen  Flücht- 
lingen nach  Spanien  gebrachten  Carbonarismus  zu  unterdrücken. 
Wie  selbstsüchtig  diese  Gesellschaften  übrigens  auch  sonst  bei 
aller  wirklichen  oder  angeblichen  Vaterlandsliebe  waren  und  wie 
sehr  sie  ihre  eigene  Macht  im  Auge  hatten,  geht  aus  der  In- 
konsequenz hervor,  mit  der  sie  in  Amerika  verfuhren,  indem  sie 
— wie  es  ihnen  grade  in  den  Kram  pafste  — aus  Brasilien  ein 
Kaisertum  und  aus  Mexiko  eine  Republik  machten. 

Auch  die  Königspartei  gründete  geheime  Gesellschaften. 
Auf  die  von  Ferdinand  VII.  begünstigten  Concepcionistas  (1823), 
die  wir  bereits  erwähnt  haben  und  die  ebenfalls  schon  ange- 
führten »Beschützer  des  Glaubens"  (1825)  folgten  1827  die 
»Zerstörungsengel",  deren  Leiter  der  Minister  Calomarde  war. 
Geistliche  Schriftsteller  haben  umsonst  zu  leugnen  versucht,  dafs 
der  letztgenannte  Bund  bestanden  habe.  Die  Thätigkeit  dieser 
klerikalen  Vereinigungen  bedeckte  den  ohnehin  verächtlichen 
Herrscher  mit  Schmach  lind  untergrub  den  Wohlstand  der  Be- 
völkerung, indem  sie  das  Land  in  Vernichtungskriege  stürzte.  Im 
allgemeinen  Iäfst  sich  sagen,  dafs  die  spanischen  Geheimgesell- 
schaften jener  Zeit  in  vier  Parteigruppen  zerfielen: 

1.  Die  »aristokratische",  die  von  England  her  lebhaft 


•)  Juan  Padilla  war  der  Anführer  des  Coinuncros-Aufstandes  von  1520. 


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Die  Hetairia. 


281 


unterstützt  wurde  und  sowohl  die  Wiederherstellung  der  Ver- 
fassung als  auch  einen  Dynastiewechsel  anstrebte. 

2.  Die  „Mineros“.  Vom  General  Miner  angeführt,  be- 
standen sie  zumeist  aus  Militärs.  Den  »Aristokraten"  nahe  ver- 
wandt, wurden  sie  von  England  freigebig  subventioniert  und  auch 
von  der  amerikanischen  Regierung  begünstigt. 

3.  Die  diesen  beiden  Parteien  entgegengesetzte  »repu- 
blikanische." 

4.  Die  »Comuneros",  die  ebenfalls  die  Republik  wünschten, 
aber  auf  andrer  Grundlage  als  die  „republikanische"  Partei,  die 
deshalb  von  ihnen  bekämpft  wurde. 


Die  Hetairia. 

Ursprung.  - Die  Hetairia  von  1812.  — Die  Hetairia  von  1 S1 4.  - Er- 
kennungszeichen und  Losungsworte.  - Galatis'  kurze  I .aufbahn.  — Ver- 
halten des  Direktoriums.  - Ipsilantis  Vorgehen.  - Seine  Verfehlungen.  - 
Fortschritte  des  Aufstandes.  — Vorrücken  der  Türken.  — Ipsilantis 
Schwierigkeiten.  — Sein  Sturz,  sein  Manifest,  seine  Gefangenschaft  und 
sein  Tod.  — Schicksal  der  Hetairisten.  — Georgakis  Tod.  — Fannakis 
Tod.  — Mittelbare  Erfolge  der  Hetairia  von  1814.  — Die  Hetairia  von  1894. 

Die  griechische  Hetairia  (-  „Freundesbund“)  gehört,  gleich 
dem  italienischen  Carbonaribund,  zu  den  wenigen  geheimen  Ge- 
sellschaften, welche,  weil  eine  ganze  Nation  hinter  ihnen  stand, 
ihr  Ziel  erreichten.  Der  Ursprung  der  Hetairiabewegung  läfst 
sich  auf  den  griechischen  Dichter  Konstantin  Rhigas  zurückführen, 
der  in  der  zweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  lebte  und 
einen  Aufstand  gegen  die  Türken  plante.  Die  österreichische 
Regierung,  in  deren  Gebiet  er  reiste,  lieferte  ihn  der  Pforte  aus, 
die  ihn  1798  in  Belgrad  hinrichten  liefs.  Doch  pflanzten  sich 
seine  Absichten  fort  und  so  entstand  1812  zu  Athen  der  Verein 
„Hetairia  Philomuse“,  dessen  Hauptzweck  zunächst  — angesichts 
der  Schiffsladungen  von  Kunstschätzen,  die  Lord  Eigin  nach  Eng- 
land schaffen  liefs  — der  Schutz  der  griechischen  Altertums- 
denkmäler bildete.  Nebstbei  hofften  die  Mitglieder,  durch  An- 
wendung friedlicher  Mittel  die  soziale  und  politische  Lage 
Griechenlands  heben  zu  können,  wobei  sie  auf  fremde  Herrscher 
und  auf  den  Wiener  Kongrefs  bauten.  Den  letzteren  für  die  Sache 
zu  gewinnen,  liefs  sich  Graf  Capo  d'Istria  angelegen  sein,  der 
Privatsekretär,  Günstling  und  Vertraute  des  Zars.  Die  Kongrefs- 
mitglieder  hatten  den  Kelch  der  Vergnügungen  bis  zur  Neige 
geleert  und  es  mochte  ihnen  eine  angenehme  Abwechslung  dünken, 
sich  für  altgriechische  Kunst  und  neugriechischen  Fortschritt  zu 


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2S2 


Politische  Geheimgesellschaften. 


interessieren.  Minister,  Prinzen  und  Könige  zeigten  sich  zum 
Tragen  des  goldenen  oder  eisernen  Ringes  bereit,  auf  dem  das 
Abzeichen  der  Philomuse,  der  alt-attische  Obolus,  eingraviert  war. 
Kaiser  Alexander  sowie  die  Kronprinzen  von  Bayern  und  Württem- 
berg traten  dem  athenischen  Verein  bei  und  unterstützten  ihn 
auch  materiell. 

Da  jedoch  nicht  daran  zu  denken  war,  mit  Hilfe  solcher 
Männer  Griechenland  vom  türkischen  Joch  zu  befreien  — dies 
war  das  Ziel  der  Anhänger  des  Märtyrers  Rhigas  geblieben 
wurde  1814  zu  Odessa,  wo  sich  russische  und  griechische  In- 
teressen zu  begegnen  pflegten,  eine  neue,  rein  politische  Hetairia 
gegründet,  ein  wirklicher  Geheimbund.  Die  Gründer  waren 
Ikufas  aus  Arta,  ein  wenig  bekannter  Kaufmann,  der  noch  weniger 
bekannte  Freimaurer  E.  Xanthos  aus  Patmos  und  der  am  wenigsten 
bekannte  Athanas  Tsakalow,  ebenfalls  aus  Patmos.  Für  ihre 
Freiheitsbestrebungen  wählten  sie  den  Schleier  des  Geheimnisses, 
um  nicht  dem  Mifsgeschick  Rhigas  zu  verfallen.  Hinsichtlich 
der  Äufserlichkeiten  und  des  Formelwesens  hatte  Xanthos  als 
Freimaurer  und  Tsakalow  als  einstiger  Gründer  eines  Pariser 
Geheimvereins  griechischer  Studenten  einige  Erfahrung. 

Die  Hetairia  von  1814  hatte  sieben  Grade:  die  Brüder, 
die  Lehrlinge,  die  Priester  von  Eleusis,  die  Schäfer,  die  Prälaten, 
die  Eingeweihten , die  vollkommen  Eingeweihten.  Die  beiden 
letztgenannten  Grade  trugen  einen  militärischen  Charakter  und 
ihre  Mitglieder  sollten  in  einen  etwaigen  Freiheitskrieg  ziehen. 
Die  Aufnahmebewerber  mufsten  nachts  in  einer  Kapelle  nieder- 
knien und  vor  einem  Auferstehungsbild  Treue,  Verschwiegenheit 
und  Gehorsam  schwören.  Den  »Brüdern“  wurde  gesagt,  sie 
mögen  ihre  Waffen  nebst  je  fünfzig  Patronen  bereithalten;  den 
»Priestern  von  Eleusis",  dafs  der  Zweck  des  Bundes  die  Er- 
langung der  Unabhängigkeit  Griechenlands  sei;  sonst  wurde 
beim  Aufrücken  in  einen  höheren  Grad  wenig  Positives  mit- 
geteilt — die  Hauptsache  war  ein  eindrucksvolles  Zeremoniell. 

Wie  die  meisten  Geheimgesellschaften,  blieb  auch  die  He- 
tairia nicht  frei  von  Selbstsucht,  Falschheit  und  Humbug.  Da 
die  »Priester“  Kandidaten  einführen  durften,  die  ihnen  gewisse 
Beträge  bezahlen  mufsten,  war  der  Priestergrad  sehr  gesucht 
Manchem  Kandidaten  mochte  es  sonderbar  erscheinen,  dafs  der 
Priester  ihn  einerseits  auf  das  Evangelium  schwören  liefs  und 
ihm  anderseits  mitteilte,  dafs  er  ihn  auf  Grund  der  ihm  vom 
Hohepriester  übertragenen  Machtvollkommenheit  einweihe.  Die 
Leiter  des  Bundes  entblödeten  sich  nicht,  sich  eines  geheimen 
Einverständnisses  mit  dem  russischen  Hof  zu  rühmen;  man 
deutete  sogar  an,  Zar  Alexander  sei  der  Grofsmeister.  Diese 
Dinge  sind  der  Hetairia  zum  Vorwurf  gemacht  worden,  allein 


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Die  Hetairia. 


283 


da  nichts  auf  Erden  vollkommen  ist,  kann  man  auch  von  einem 
revolutionären  Militärbund  nicht  gut  erwarten,  dafs  er  fehlerfrei 
sei.  Wenn  den  Unterdrückern  keine  gesetzlichen  Mittel  zur  Ver- 
fügung stehen,  ist  es  erklärlich,  wenn  sie  zu  Hinterlist  und 
Täuschung  greifen. 

Einige  Erkennungszeichen  und  Losungsworte  waren  sämt- 
lichen Graden  gemeinsam,  während  andere  blofs  den  Mitgliedern 
der  höheren  Grade  bekannt  waren.  Die  „Brüder“  grüfsten  durch 
Berührung  der  Brust  des  Anderen  mit  der  rechten  Hand  unter 
gleichzeitigem  Aussprechen  des  albanischen  Wortes  sipsi  (=  Pfeife); 
die  Antwort  des  Eingeweihten  lautete  „sarrukia“  (=  Sandalen). 
Die  „Lehrlinge"  sagten  „Lon“;  war  der  Angesprochene  ein 
Bundesgenosse,  so  ergänzte  er  das  Wort  mit  der  Schlufssilbe  „don“. 
ln  den  höheren  Graden  waren  die  Formeln  verwickelter.  Die 
„Priester“  fragten  und  antworteten:  „Wie  befindest  du  dich?"  — 
»So  gut  wie  du.“  — „Wie  viele  hast  du?“  — „Ebenso  viele 
wie  du.“  Gehörte  der  Angesprochene  bereits  dem  dritten  Grad 
an,  so  antwortete  er:  „Ich  habe  sechszehn.“  Zur  Vorsicht  fragte 
der  Erste  dann:  „Hast  du  nicht  mehr?“  und  der  Zweite  ant- 
wortete ebenso  vorsichtig:  „Sage  mir  die  erste  und  ich  will  dir 
die  zweite  nennen."  Nun  sprach  der  eine  die  erste,  der  andre 
die  zweite  Silbe  eines  türkischen  Wortes  aus,  welches  „Gerechtig- 
keit“ bedeutet.  Das  Erkennungszeichen  bestand  in  einer  eigen- 
artigen Berührung  der  rechten  Hand  unter  Knacken  der  Finger- 
gelenke,  nachherigem  Falten  der  Arme  und  schliefslichem  Aus- 
wischen der  Augen.  Die  „Prälaten“  drückten  einander  beim 
Händeschütteln  das  Gelenk  mit  dem  Zeigefinger,  stützten  den 
Kopf  auf  die  linke  Hand  und  legten  die  rechte  aufs  Herz;  die 
Antwort  bestand  im  Reiben  der  Stirne.  Bestand  ein  Zweifel,  so 
erfolgte  der  Austausch  der  vorhin  angeführten  geheimnisvollen 
Phrasen  der  „Priester"  und  nachher  das  gegenseitige  Aussprechen 
der  einzelnen  Silben  des  mystischen  Wortes  va-an-va-da. 

Anfänglich  war  der  Bund  wenig  zahlreich.  1819  bestand 
die  oberste  Leitung  aus  den  drei  Gründern  und  vier  anderen 
Personen:  Galatis,  Komisopulos,  A.  Sekeris  und  A.  Gasis;  später 
traten  noch  hinzu : Leventis,  Dikäos,  Ignatios  und  Mavrokordato, 
schliefslich  auch  Patsimadis  und  Alexander  Ipsilanti.  Galatis 
schädigte  die  Sache  der  Hetairia  bald  so  sehr,  dafs  er  ihr  beinahe 
verhängnisvoll  geworden  wäre.  Ob  seines  Eintritts  ins  Direktorium 
ungemein  eitel,  ging  er  nach  Petersburg  und  gab  sich  dort  für 
den  Abgesandten  der  Hellenen  aus,  was  die  Polizei  zu  seiner 
Verhaftung  veranlafste.  Die  Prüfung  seiner  Papiere  brachte  das 
ganze  Geheimnis  der  Hetairia  an  den  Tag.  Der  Zar  schwankte 
zwischen  seiner  Vorliebe  für  die  Griechen  und  seiner  Abneigung 
gegen  Aufstände,  doch  liefs  er  sich  von  Capo  d’Istria  bewegen, 


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284 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Oalatis  in  Freiheit  zu  setzen  und  ihm  sogar  Schmerzensgeld  zu 
zahlen.  Später,  als  Skufas  den  kühnen  Gedanken  hatte,  sich  in 
Konstantinopel  niederzulassen,  um  den  Feind  gelegentlich  an  Ort 
und  Stelle  angreifen  zu  können,  erregte  Galatis  den  Verdacht, 
mehr  an  seinen  eigenen  Vorteil  zu  denken  als  an  den  des  Vater- 
landes; er  verlangte  nämlich  immer  Geld  und  stiefs,  wenn  es 
ihm  verweigert  wurde,  Drohungen  aus,  wobei  er  sich  auf  seine 
Vertrautheit  mit  dem  Minister  Halet  Efendi , den  Günstling 
Mahmuds  berief.  Die  Hetairia  beschlofs,  sich  seiner  zu  ent- 
ledigen. Eines  Tages  beauftragte  ihn  das  Direktorium  mit  einer 
Reise  und  liefs  ihn  von  einigen  verläfslichen  Bundesmitgliedern 
begleiten,  deren  einer  ihn  unterwegs  in  einem  geeigneten  Augen- 
blick erschofs. 

Skufas  war  kurz  zuvor  gestorben,  aber  infolge  der  Blindheit 
der  Pforte  blieb  Konstantinopel  der  Sitz  der  Hetairia.  Die  oberste 
Leitung  hielt  ihre  Sitzungen  im  Hause  Xanthos'  und  setzte  eine 
planmäfsige  Agitation  ins  Werk,  ln  allen  Provinzen  des  Reiches 
gab  es  Ober-Aufseher,  die,  mit  Geld  und  Vollmachten  versehen, 
die  Bundessache  in  ihren  Bezirken  selbständig  fördern  durften 
und  nur  die  allerwichtigsten  Angelegenheiten  dem  Direktorium 
zu  unterbreiten  brauchten.  Aus  Rufsland  zurückgekehrte  Soldaten 
wurden  nach  Morea  und  Hydra  geschickt.  Damit  die  Hetairia 
den  wertvollsten  strategischen  Platz,  Maina,  in  die  Hände  bekomme, 
bewog  der  eingeweihte  Patriarch  Gregor  den  mächtigen  Gouver- 
neur desselben,  Petras  Mavromichalis,  zum  Verrat.  Die  Send- 
linge  des  Geheimbundes  verstanden  es,  Stämme,  die  einander 
seit  Jahrhunderten  befehdet  hatten,  zu  versöhnen  und  für  die 
Sache  der  Hetairia  zu  gewinnen.  Die  Folge  von  alledem  war, 
dafs  die  letztere  bereits  1820  in  allen  Teilen  des  Peloponnes, 
auf  den  Cykladen,  den  Sporaden,  den  jonischen  Inseln,  an  den 
Küsten  von  Klein-Asien  und  selbst  in  Jerusalem  Anhänger  hatte. 

Bald  stellte  sich  die  Notwendigkeit  heraus,  der  Gesellschaft 
ein  Oberhaupt  zu  geben.  Man  hatte  nur  die  Wahl  zwischen 
dem  Soldaten  Alexander  Ipsilanti  und  dem  Diplomaten  Capo 
d'Istria.  Der  letztere  lehnte  die  offene  Unterstützung  des  Bundes 
ab,  weil  Zar  Alexander  nicht  als  Schutzherr  desselben  gelten 
wollte.  So  trat  denn  Ipsilanti  an  die  Spitze,  was  zur  Folge  hatte, 
dafs  die  Hoffnungen  der  Verschwörer  auf  die  Unterstützung 
Rufslands  immer  höher  stiegen.  1820  hielt  Ipsilanti  es  für  an- 
gezeigt, Petersburg  zu  verlassen  und  nach  Odessa  zu  gehen,  um 
mehr  inmitten  der  Bewegung  zu  sein.  Da  ihm  jedoch  die 
wichtigsten  Eigenschaften  eines  Generals  fehlten,  liefs  er  sich  von 
der  Begeisterung  hinreifsen,  der  er  ringsum  begegnete.  Obgleich 
die  Geldbeiträge  in  so  geringem  Mafse  einflossen,  dafs  er  sich 
privatim  Geld  borgen  mufste,  blieb  er  vertrauensselig.  Im  Juli 


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Die  Hetairia. 


2SS 


ernannte  er  zwei  Oberbefehlshaber:  Georgakis  für  die  »Donau- 
Armee“  und  Perrhävos  für  die  »Epirus- Armee".  Er  selbst  be- 
schlofs,  seinen  ersten  Angriff  auf  die  türkische  Macht  in  die  Donau- 
Fürstentümerzu  verlegen,  wobei  er  fürden  Fall,  dafsdie  Pforte  Truppen 
nach  Bukarest  senden  sollte,  auf  den  Beistand  Rufslands  rechnete. 

Bald  wurde  seine  Lage  kritisch.  Ein  gewisser  Äsimakis, 
ein  Hetairist,  verriet  im  Verein  mit  dem  Bruder  des  ermordeten 
Galatis  alle  Einzelheiten  der  Verschwörung  an  die  türkische 
Polizei.  Das  aus  Petersburg  zurückgekehrte  Bundesmitglied  Ka- 
marinos  enthüllte  öffentlich  die  Nichtigkeit  der  russischen  Ver- 
sprechungen — dafür  liefs  ihn  das  Direktorium  umbringen.  Die 
Hetairia  suchte  auch  von  dem  Streit  zwischen  Ali  Pascha  und 
dem  Sultan  Nutzen  zu  ziehen.  Ali  wurde  damals  in  seiner 
Hauptstadt  von  den  besten  Truppen  des  Sultans  belagert  und 
versprach  der  Hetairia,  mit  ihr  gegen  den  gemeinsamen  Feind 
Zusammenwirken  zu  wollen.  Ipsilanti  glaubte  nicht  länger  zögern 
zu  sollen.  Im  März  1821  verlegte  er  seinen  Wohnsitz  nach 
Jassy,  von  wo  aus  er  an  die  Griechen,  die  Moldauer  und  die 
Wallachen  pomphafte  Proklamationen  erliefs.  In  einem  an  die 
in  Sachen  der  neapolitanischen  Revolution  versammelten  Herrscher 
und  Diplomaten  gerichteten  »Manifest"  lud  er  Europa,  namentlich 
Rufsland,  zur  Förderung  der  griechischen  Unabhängigkeit  ein. 
Aber  Metternich  war  ein  schroffer  Gegner  der  letzteren  und  der 
Zar,  der  sich  soeben  kräftig  gegen  einen  Aufstand  ausgesprochen 
hatte,  konnte  nicht  gut  für  einen  andern  eintreten.  Vielmehr  ver- 
kündete er  — natürlich  in  Unkenntnis  der  heimlichen  russischen 
Hilfe-Versprechungen , welche  sein  Liebling  Capo  d'lstria  der 
Hetairia  gemacht  hatte  - mit  grofsem  Nachdruck  sein  Festhalten 
an  der  Heiligen  Allianz  und  seine  Abneigung  gegen  jederlei 
Revolution.  Ipsilantis  Thätigkeit  wurde  streng  getadelt  und  sein 
Name  aus  der  russischen  Armeeliste  gestrichen.  Die  russischen 
Truppen  am  Pruth  erhielten  den  Befehl,  unter  keinen  Umständen 
an  den  Unruhen  in  den  Donau-Fürstentümern  teilzunehmen  und 
der  Pforte  wurde  versichert,  dafs  die  russische  Regierung  diesen 
Unmhen  vollkommen  fernstehe.  Capo  d'lstria  aber  mufste  an 
seinen  Freund  Ipsilanti,  den  er  insgeheim  ermutigt  hatte,  schreiben, 
er  dürfe  von  Rufsland  weder  moralische  noch  materielle  Unter- 
stützung erwarten,  da  Rufsland  sich  an  der  Untergrabung  des 
türkischen  Reichs  durch  geheime  Gesellschaften  nicht  beteiligen  könne. 

Inzwischen  hatte  Ipsilanti  alles  vernachlässigt,  was  seinem 
Unternehmen  hätte  den  Erfolg  sichern  können.  Statt  die  Ober- 
leitung zu  zentralisieren  oder  die  Truppen  zu  konzentrieren,  be- 
ging er  einen  Schnitzer  nach  dem  andern.  Er  beschränkte  sich 
darauf,  die  Donau-Fürstentümer  für  ein  russisches  Hauptquartier 
zu  halten  und  abzuwarten,  bis  der  Zar  ihn  auf  den  griechischen 


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286  Politische  Geheimgesellschaften. 

Thron  setzen  werde.  Als  ob  der  Sieg  bereits  errungen  wäre, 
verteilte  er  unter  die  zahlreichen  Verwandten  und  Schmeichler, 
die  ihn  umgaben,  Zivil-  und  Militärposten.  Häuptlinge  von  ein  paar 
hundert  Abenteurern  ernannte  er  zu  Generalen  und  seine  Brüder 
stellte  er  an  die  Spitze  seiner  imaginären  Armeekorps,  dabei 
Persönlichkeiten,  die  der  Revolutionssache  von  grofsem  Nutzen 
hätten  sein  können,  vernachlässigend  und  vor  den  Kopf  stofsend, 
Plünderer  begünstigend,  die  Niedermetzelung  friedlicher  türkischer 
Bewohner  Jassys  ruhig  duldend.  Auch  liefs  er  einen  reichen 
Bankier  unter  einem  leeren  Vorwand  verhaften  und  erst  nach 
Zahlung  eines  Lösegeldes  von  sechzigtausend  Dukaten  in  Freiheit 
setzen  - ein  Willkürakt,  infolge  dessen  viele  Reiche  sich  auf 
russisches  oder  österreichisches  Gebiet  zurückzogen,  denn  sie  fanden 
die  Mifswirtschaft  der  »Befreier"  noch  ärger  als  die  der  Türken. 

Schliefslich  verliefs  Ipsilanti  an  der  Spitze  von  zweitausend 
Mann  — die  er  aber  überall  für  zehntausend  ausgeben  liefs  — 
Jassy  und  begab  sich  nach  Bukarest.  Einen  Aufruf,  den  er  von 
Fokschani  aus  an  die  »Dazier“  erliefs,  blieb  erfolglos;  dagegen 
erhielt  er  dort  Verstärkungen  durch  die  Arnauten  des  Karavias 
und  durch  die  zweihundert  Reiter  des  patriotischen  Helden 
Georgakis.  Bald  erwuchs  ihm  auch  Hilfe  seitens  des  »Heiligen 
Bataillons",  das  aus  fünfhundert  Jünglingen  bestand,  die  den 
reichsten  und  vornehmsten  Griechenfamilien  angehörten.  Diese 
modernen  Thebaner  trugen  schwarze  Gewänder  und  auf  der 
Brust  ein  Kreuz  mit  der  Inschrift:  »In  diesem  Zeichen  wirst  du 
siegen.“  Die  Mütze  »zierte"  ein  Totenschädel  mit  gekreuzten 
Armknochen  darunter.  Diese  kleine  Schar  iibertraf  die  übrigen 
Streitkräfte  Ipsilantis  an  Tapferkeit  und  Manneszucht,  doch  dämpfte 
Ipsilanti  durch  seine  Politik  der  Langsamkeit  und  des  Zauderns 
ihre  Thatkraft.  In  Bukarest,  wohin  er  erst  am  9.  April  kam,  er- 
klärten sich  die  restlichen  Bojaren  und  die  höhere  Geistlichkeit  zu 
Gunsten  seiner  Bestrebungen  — in  der  Hoffnung,  dafs  die  Führer 
der  irregulären  Truppen,  die  sich  Ipsilanti  angeschlossen  hatten, 
die  anarchischen  Elemente  der  Revolution  dem  allgemeinen  Ziel 
unterordnen  werden.  Aber  nur  Georgakis  unterstellte  sich  dem 
Oberfehl  Ipsilantis,  während  Wladimiresko  und  Savas  dies  ver- 
weigerten; der  letztere  soll  angeblich  insgeheim  sogar  an  der 
Wiederherstellung  der  türkischen  Oberhoheit  gearbeitet  haben. 

Ipsilanti  hatte  nichts  Dringenderes  zu  thun  als  — ein 
Theater  zu  errichten,  Schauspieler  anzustellen  und  täglich  in  der 
prunkvollen  Uniform  eines  russischen  Generals  spazieren  zu  gehen. 
Die  Offiziere  quälten  die  reichen  Bürger  mit  willkürlichen  Requi- 
sitionen und  die  zuchtlose  Mannschaft  lebte  ebenfalls  auf  Kosten 
der  Bevölkerung.  Nur  das  Heilige  Bataillon  enthielt  sich  jeder  Aus- 
schreitung. Bald  erliefs  der  Patriarch  gegen  Ipsilanti  und  die 


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Die  Hetairia. 


287 


Hetairia  den  Bannfluch  der  Kirche,  worauf  die  Geistlichkeit  und 
die  Bojaren  sich  von  der  griechischen  Sache  zurückzogen  und 
Savas  wie  Wladimiresko  die  letztere  offen  verleugneten.  Im 
Namen  der  griechischen  Nation  richtete  Ipsilanti  an  den  Zar  und 
dessen  Gesandten  in  Konstantinopel  eine  Anzahl  von  Forderungen, 
vor  deren  Erfüllung  er  seine  Stellung  nicht  niederlegen  zu  wollen 
erklärte.  Kühne  Ratgeber  empfahlen  ihm,  durch  Bulgarien  nach 
Epirus  zu  marschieren,  den  in  Janina  belagerten  Ali  Pascha  zu 
entsetzen  und  mit  dessen  Hilfe  dann  Griechenland  zu  befreien ; 
aber  teils  war  er  nicht  der  Mann  für  solche  waghalsige  Unter- 
nehmungen, teils  hielt  er  diesen  Plan  für  eine  Falle,  weil 
Wladimiresko  denselben  befürwortete.  Er  wendete  sich  daher 
nicht  donauwärts,  sondern  --  fast  ohne  jede  Artillerie  - nord- 
wärts gegen  die  Karpathen  und  beabsichtigte  für  den  Fall,  dafs 
die  Türken  ihn  ernstlich  bedrohen  sollten,  sich  auf  öster- 
reichisches Gebiet  zu  flüchten,  wobei  er  hoffte,  dafs  der  russische 
Gesandte  in  Konstantinopel  ihm  und  seinen  Truppen  freien 
Durchzug  verschaffen  würde.  Mittlerweile  mufste  er  sich  auf 
einen  baldigen  Zusammenstofs  mit  den  türkischen  Truppen  ge- 
fafst  machen,  welche  mit  russischer  Erlaubnis  in  die  Donau- 
fürstentümer einrückten,  um  den  Aufstand  zu  unterdrücken.  Er 
liefs  Schanzen  aufwerfen  und  Bajonett-Übungen  abhalten,  wobei 
er  fortfuhr,  seiner  »Armee"  einzureden,  Rufsland  werde  ihm  bald 
zu  Hilfe  kommen. 

ln  der  zweiten  Maiwoche  überschritten  die  Türken  die 
Donau  und  am  13.  Mai  erfolgte  vor  Galatz  das  erste  Treffen, 
bei  dem  die  Hetairisten  durch  ihre  Tapferkeit  manchen  Fehler 
ihrer  Anführer  wettmachten.  Etwa  siebenhundert  Aufständische 
hielten  mit  zwei  Kanonen  drei  Redouten  auf  der  nach  Braila 
führenden  Strafse  besetzt.  Befehligt  waren  sie  von  Athanasios 
aus  Karpenisi,  der  alles  so  geschickt  anordnete,  dafs  sie  sich 
längere  Zeit  gegen  eine  fünffache  Feindeszahl  hätten  halten 
können,  wenn  nicht  der  gröfste  Teil,  aus  vorübergehend  ange- 
worbenem  undisziplinierten  Gesindel  bestehend , bei  der  ersten 
Annäherung  der  Türken  davongelaufen  wäre,  so  dafs  die  Ver- 
teidigung der  Redouten  auf  Athanasios  mit  seiner  Handvoll 
Griechen  beschränkt  blieb.  Die  kleine  Schar  kämpfte  wacker 
bis  in  die  Nacht  hinein,  und  nachdem  der  Kampf  aufgehört 
hatte,  gelang  es  ihr  mittels  einer  kleinen  Kriegslist,  unbemerkt 
zu  entkommen.  Sie  marschierte  insgeheim  nach  Jassy,  wo  die 
gröfste  Verwirrung  herrschte.  Fürst  Kantakuzeno,  dem  Ipsilanti 
die  Verteidigung  der  Stadt  anvertraut  hatte,  konnte  sich  nur 
wenige  Tage  halten;  als  Mitte  Juni  die  türkischen  Truppen  heran- 
rückten, zog  er  sich  nach  Bessarabien  zurück  und  riet  Athanasios, 
mit  seinen  Leuten  dasselbe  zu  thun.  Sie  aber  erklärten  ihn  für 


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2S8 


Politische  Geheimgesellschaften. 


einen  Feigling  und  drückten  den  festen  Entschluß  aus,  für  die 
griechische  Freiheit  zu  sterben  oder  zu  siegen.  Athanasios 
widerstand  denn  auch  mit  vierhundert  Mann  und  acht  Kanonen 
hinter  einer  schwachen  Baumbarrikade  bei  Skuleni  acht  Tage 
lang  einer  mehrfach  überlegenen  Feindesschar.  Er  starb  wie 
ein  grofser  Patriot  und  von  den  Seinigen  blieben  kaum  hundert 
übrig,  die  auf  das  jenseitige  Ufer  des  Pruth  entflohen. 

Die  Moldau  war  also  verloren.  Ende  Mai  hatte  inzwischen 
der  Pascha  von  Silistria  Bukarest  besetzt  und  Ipsilanti  lagerte 
hilflos  in  Tergovist.  Seine  Truppen , selbst  das  Heilige 

Bataillon  nicht  mehr  ausgenommen , waren  gründlich  demo- 
ralisiert und  seine  Zwistigkeiten  mit  Savas  — der  Bukarest  ohne 
Umstände  übergeben  hatte  — und  mit  Wladimiresko  hörten  nicht 
auf.  Letzteren,  der  sich  als  gefährlicher  Ränkeschmid  erwies,  liefs 
er  übrigens  bald  crschiefsen.  Am  8.  Juni  stiefs  die  schleunig 
vorwärts  eilende  Vorhut  der  türkischen  Heeresmacht  auf  eine 
griechische  Abteilung  unter  Anastasius  aus  Argyrokastro.  Zu 
dessen  Verstärkung  entsandte  Ipsilanti  aus  Tergovist  eine  Ab- 
teilung unter  dem  Befehl  Dukas’;  allein  Dukas  lief  samt  seinen 
Mannen  auf  und  davon,  was  im  Hauptlager  einen  so  schlimmen 
Eindruck  machte,  dafs  Ipsilantis  Soldaten  unter  Zurück- 
lassung der  Bagage  zu  fliehen  begannen.  Nun  begab  sich 
Ipsilanti  unter  grofsen  Hindernissen  nach  Ribnik,  um  für  den 
Notfall  in  der  Nähe  der  österreichischen  Grenze  zu  sein.  Übrigens 
verfügte  er  trotz  alledem  noch  über  7500  Mann  und  vier 
Kanonen.  Georgakis  hielt  es  für  ratsam,  den  gesunkenen  Mut 
der  Truppen  durch  einen  Angriff  auf  das  strategisch  hochwichtige 
Dragatsehau  zu  heben,  das  die  Türken  mit  zweitausend  Mann 
besetzt  hielten.  Er  ordnete  denn  auch  alles  so  vortrefflich  an, 
dafs  er  am  19.  Juni  (1821)  den  Feind  mit  fünftausend  Mann 
umzingelte  und  einen  leichten  Sieg  erfochten  haben  würde,  wenn 
nicht  einerseits  die  Türken,  um  fliehen  zu  können,  das  Dorf  in 
Brand  gesteckt  hätten  und  anderseits  der  ebenso  unfähige  wie 
schlechte  Karavias  durch  seinen  Neid  und  seine  Ehrsucht  alles 
verdorben  hätte,  indem  er  das  Heilige  Bataillon  ins  Verderben 
führte.  Mit  Mühe  rettete  Georgakis  die  letzten  hundert  Mit- 
glieder des  Bataillons  nebst  zwei  Kanonen  und  der  Fahne. 

Dieser  verlorene  Tag  zerstörte  alle  Hoffnungen  Ipsilantis. 
Der  letztere  floh  nach  Kosia,  von  wo  aus  er  die  österreichische 
Regierung  um  die  Erlaubnis  bat,  die  Grenze  zu  überschreiten. 
Ihm  drohte  Gefahr  von  seinen  eigenen  Leuten,  die  davon  sprachen, 
ihn  den  Türken  auszuliefern,  welche  auf  seinen  Kopf  einen  Preis 
ausgesetzt  hatten.  Von  Mannszucht  war  keine  Spur  mehr,  die 
Soldaten  beraubten  und  töteten  einander.  Als  der  gröfste  Ehren- 
mann erwies  sich  andauernd  Georgakis;  er  ermöglichte  Ipsilanti 


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Die  Hetairia. 


289 


die  Flucht  und  begab  sich  dann  zu  seinem  Freund  Farmakis 
nach  Adschile,  um,  seines  Eides  eingedenk,  den  Kampf  für  die 
Befreiung  Griechenlands  fortzusetzen,  während  Ipsilanti  fortfuhr, 
mit  Täuschungen  zu  arbeiten.  Er  setzte  falsche  Gerüchte  und 
Briefe  in  Umlauf,  wonach  Kaiser  Franz  der  Pforte  den  Krieg 
erklärt  habe,  österreichische  Truppen  die  Donaufürstentümer  be- 
setzen würden  und  er  selbst  demnächst  mit  dem  kaiserlichen 
Gouverneur  eine  Unterredung  haben  werde.  Aber  kaum  hatte 
er  unter  dem  Namen  „Alexander  Komorenos“  ungarisches  Ge- 
biet betreten,  wurde  er  verhaftet  und  in  Arad  gefangengesetzt. 
Dort  suchte  er  sich  von  dem  Verschulden,  seine  Waffengenossen 
im  Stich  gelassen  zu  haben,  dadurch  reinzuwaschen,  dafs  er  seine 
Mifserfolge  anderen  in  die  Schuhe  schob.  Auf  Grund  der  be- 
treffenden Verträge  zwischen  Österreich  und  der  Türkei  mufste 
er,  wenn  er  nicht  ausgeliefert  werden  wollte,  sein  schriftliches 
Ehrenwort  geben,  dafs  er  keinen  Fluchtversuch  machen  werde. 
Sodann  wurde  er  in  der  von  Sümpfen  umgebenen  oberungarischen 
Festung  Munkäcs  eingekerkert  und  später,  als  seine  Gesundheit 
sehr  litt,  in  der  böhmischen  Festung  Theresienstadt.  1827  er- 
langte er  infolge  des  Einschreitens  des  Zars  seine  Freiheit  und 
ein  Jahr  später  starb  er,  nachdem  seine  Familie  zu  Grunde  ge- 
gangen war  und  das  griechische  Volk  für  seine  Unabhängigkeit 
erfolgreicher  gekämpft  hatte  als  die  Hetairisten  der  Donaufürsten- 
tümer. Übrigens  bemächtigte  sich  des  Gefangenen  von  Munkäcs 
die  Romantik  und  schliefslich  gelangten  die  Griechen  dahin,  ihn 
für  einen  Märtyrer  ihrer  Freiheit  zu  halten. 

Da  der  Aufstand  mit  der  Flucht  Ipsilantis  als  beendet  be- 
trachtet werden  konnte,  kämpfte  der  Rest  seiner  Mannen  nur  noch 
ehrenhalber  und  wurde  von  den  Türken  ziemlich  rasch  aufge- 
rieben. Wer  sich  auf  Treu  und  Glauben  ergab,  wurde  er- 
barmungslos hingerichtet;  ebenso  der  Verräter  Savas  trotz  seines 
türkenfreundlichen  Eifers.  Am  schwersten  und  spätesten  konnte 
man  mit  den  zwei  besten  Männern  der  Bewegung  fertig  werden 

mit  Georgakis  und  Farmakis,  die  entschlossen  waren,  weder 
dem  Schutz  Österreichs  noch  dem  Mitleid  der  Türken  zu  ver- 
trauen und  daher  in  die  Moldau  zurückkehrten.  Die  Zahl  der 
Truppen  des  kranken  Georgakis,  der  auf  einer  Sänfte  getragen 
werden  mufste,  schmolz  während  des  ebenso  langen  wie  müh- 
samen Marsches  auf  350  Mann  zusammen.  Die  Bauern  ver- 
rieten den  Türken  jede  seiner  Bewegungen  und  daher  war  er 
schon  vor  Erreichung  der  Moldau  auf  allen  Seiten  umgeben. 
Dazu  kam  seine  Unklugheit,  sich  in  eine  Sackgasse  zu  flüchten, 
indem  er  das  in  einer  tiefen  Schlucht  mit  nur  einem  Ausgang 
gelegene  Kloster  Sekko  befestigte.  Zwar  warf  er  die  türkische 
Vorhut  bei  ihrem  ersten  Angriff  (17.  September)  zurück,  aber 

Heckethorn-Katacher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  19 


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290  Politische  Geheimgcsellschaften. 

schon  drei  Tage  später  überfielen  viertausend  türkische  Soldaten 
das  Kloster  und  setzten  zunächst  den  Glockenturm  in  Brand,  in 
den  sich  Georgakis  mit  elf  Griechen  geflüchtet  hatte.  Georgakis 
gelang  es,  den  Pulvervorrat  anzuzünden,  wobei  er  mit  zehn 
seiner  Genossen  und  einer  Anzahl  Türken  umkam.  Farmakis 
hielt  sich  mit  den  letzten  zweihundert  Griechen  noch  elf  Tage 
lang  gegen  eine  riesige  Übermacht.  Als  ihm  die  Lebensmittel 
und  die  Munition  ausgingen,  vereinbarte  er  unter  der  Bürgschaft 
des  Paschas  von  Braila  und  des  österreichischen  Konsuls  die 
Übergabe  unter  ehrenvollem  freien  Abzug  mit  den  Waffen.  Aber 
unmittelbar  vor  dem  geplanten  schriftlichen  Abschlufs  dieses 
Übereinkommens  entflohen  33  Griechen,  die  dem  Landfrieden 
nicht  trauten,  und  die  übrige  Mannschaft  wurde  niedergemetzelt. 
Die  Offiziere  schickte  man  behufs  Hinrichtung  nach  Silistria, 
während  Farmakis  selbst  in  Konstantinopel  grausam  gefoltert  und 
dann  enthauptet  wurde. 

Obgleich  die  Hetairia  also  eigentlich  nichts  ausrichtete, 
stiftete  sie  doch  mittelbar  Nutzen.  Die  von  den  Türken  in  den 
Donaufürstentümern  nach  Unterdrückung  des  Aufstandes  verübten 
Schändlichkeiten  hatten  nämlich  den  Ausbruch  ernster  Zwistig- 
keiten zwischen  Petersburg  und  Konstantinopel  zur  Folge  und 
schliefslich  kam  es  zum  russisch-türkischen  Krieg  von  1828  29, 

in  welchem  das  griechische  Volk,  mit  echten  Mitteln  kämpfend, 
mehr  Glück  hatte  als  die  Hetairia  mit  ihren  künstlichen  gehabt 
hatte.  Dieser  Geheimbund  bestand  noch,  aber  nur  als  schwäch- 
liches Kind;  er  konnte  in  dem  Krieg  keine  besondere  Rolle  mehr 
spielen  und  mufste  mit  dem  Erlangen  der  Unabhängigkeit  Griechen- 
lands aussterben.  Erst  1894  lebte  die  Hetairia  wieder  auf  und 
zwar  wegen  der  Kretafrage,  die  infolge  der  ewigen  Einmischung 
der  Grofsmächte  in  die  Angelegenheiten  der  Türkei  nicht  zur 
Ruhe  kommen  wollte. 

Was  diese  neueste  Hetairia  betrifft,  so  wurde  sie  itn 
* November  1894  von  einem  jungen  Offizier  der  griechischen 

Armee  nebst  vierzehn  Waffengenossen  gegründet  — zu  dem 
ausgesprochenen  Zweck,  den  »Nationalismus"  (d.  h.  wohl  Chau- 
vinismus) wiederzubeleben  und  der  Befreiung  aller  dem  Sultan 
noch  unterthanen  Griechen  die  Bahn  zu  ebnen.  Die  Gründer 
erklärten  ihr  Vorgehen  mit  der  angeblichen  Vernachlässigung  der 
griechischen  Interessen  in  Macedonien  seitens  der  Athener  Re- 
gierung. Im  Laufe  des  Jahres  1895  traten  dem  Geheimbund 
zahlreiche  Offiziere  und  angesehene  Bürgerliche  bei.  Ein  Jahr 
später  entfachte  die  Gesellschaft  in  Macedonien  eine  aufständische 
Bewegung,  schickte  Waffen  und  Munition  nach  Kreta  und  drängte 
den  König,  das  Heer  zu  reorganisieren.  Als  1 897  der  griechisch- 
türkische Krieg  ausbrach,  gehörten  der  Hetairia  viele  hochstehende 


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Die  Carbonari. 


29t 


Staatsdiener,  Offiziere,  Richter,  Professoren  u.  s.  w.  an  und  sie  er- 
freute sich  der  weitestgehenden  Unterstützung  des  Kabinettchefs 
Delyannis,  durch  dessen  Vermittlung  grofse  Waffen-  und  Mann- 
schaftssendungen erfolgten  und  der  König  die  Erlaubnis  zum  Ein- 
fall in  türkisches  Gebiet  erteilte.  Bekanntlich  erlitten  in  dem 
Krieg  die  Griechen  eine  Niederlage  nach  der  anderen,  so  dafs  der 
anfangs  beträchtliche  Mut  der  Truppen  bald  gänzlich  in  die 
Brüche  ging.  Die  Hetairia,  deren  Ziel  so  arg  gescheitert  war, 
löste  sich  auf  und  ein  Ende  1897  eingesetzter  Parlaments- 
Ausschufs  ging  so  weit,  diese  Geheimgesellschaft  verbrecherischer 
Handlungen  zu  beschuldigen ; doch  war  der  Justizminister  schlau 
genug,  das  weitere  Verfahren  in  dieser  Sache  niederzuschlagen. 


Die  Carbonari. 


Vermeintliche  Ursprünge  und  erste  Geschichte.  — Wirkliche  Entstehung.  — 
Die  Carboneria.  — Die  Holzhauer.  — Die  Vendita.  — Einweihungsriten.  — 
Die  vier  Grade.  — Bedeutung  der  Sinnbilder.  Zeremonien  und  Vor- 
schriften. — Die  ausonische  Republik.  — Der  geheimste  Carbonaro-Grad.  — 
Johannes  Witts  Lebenslauf.  — Ein  carbonaristischer  Plan  für  England.  — 
Der  Carbonarismus  und  König  Murat.  Gerichtsverhandlung  gegen  die 
Carbonari.  Die  Bourbonen  und  der  Carbonarismus.  Neugründung 
des  Calderaribtindes  — Des  Königs  Rache.  — Wiederaufleben  des  Car- 
bonarismus. Die  Carbonari  und  die  Kirche.  — Die  Carbonari  in  Ober- 
Italien,  Frankreich,  Deutschland  und  Spanien.  — Die  Giardiniere.  . 


Die  Carbonari  (=■*  Köhler)  halten  ihren  Bund  für  ungemein 
alt.  Manche  haben  sogar  an  die  Abstammung  von  Philipp  von 
Macedonien,  dem  Vater  Alexanders  des  Grofsen,  geglaubt  und  auf 
diesen  sagenhaften  Ursprung  den  hohen  Grad  der  Thebanischen 
Ritter  zu  gründen  versucht.  Andere  gehen  nur  bis  zur  Zeit  des 
Papstes  Alexander  III.  zurück,  da  in  Deutschland  Vereinigungen 
gegen  die  Raubritter  entstanden  und  die  Köhler  in  den  endlosen 
deutschen  Forsten  sich  gegen  Räuber  und  Feinde  zusammen- 
thaten.  Mit  Hilfe  von  Worten  und  Zeichen,  die  nur  ihnen 
bekannt  waren,  leisteten  die  Köhler  einander  Beistand.  Kunz 
von  Kauffungens  Absicht  (1455),  die  sächsischen  Prinzen  zu  ent- 
führen, wurde  durch  einen  Köhler  vereitelt,  dessen  Dazwischen- 
kunft  allerdings  nur  eine  zufällige  war.  Im  Jahre  1514  zwangen 
die  Köhler  den  Herzog  Ulrich  von  Württemberg  unter  Todes- 
drohungen zur  Aufhebung  gewisser  drückender  Waldgesetze. 
Ähnliche  Verbindungen  entstanden  in  vielen  gebirgigen  Ländern 
und  sie  umgaben  sich  mit  grofser  Geheimthuerei.  Ihre  Mitglieder 

19* 


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292 


Politische  Geheimgesellschaften. 


hielten  so  treu  zu  einander  und  zum  Geheimbund,  dafs  in  Italien 
das  Sprichwort  in  Umlauf  war:  »Auf  Carbonaro-Ehre.“ 

Der  Umstand,  dafs  bei  den  Festen  der  Carbonari  der  Grofs- 
meister  auf  den  französischen  König  Franz  I.  zu  toastieren  pflegte, 
rührte  von  der  folgenden  Überlieferung  her.  Während  der 
schottischen  Unruhen  unter  der  — übrigens  völlig  erdichteten  — 
Königin  Isabella  flüchteten  sich  zahlreiche  hervorragende  Personen, 
um  dem  Tyrannenjoch  zu  entgehen,  in  die  Wälder.  Um  jeden 
Verdacht  einer  sträflichen  Verbindung  von  sich  abzulenken,  be- 
schäftigten sie  sich  mit  Holzhauerei  und  Köhlerei.  Unter  dem 
Vorwand  des  Verkaufs  der  Kohle  kamen  sie  in  die  Dörfer,  wo 
sie  leichter  mit  einander  Zusammentreffen  und  Pläne  etc.  aus- 
tauschen  konnten.  Hierbei  wandten  sie  verschiedene  Erkennungs- 
zeichen und  Losungsworte  an.  Da  sie  in  den  Wäldern  keine 
Wohnungen  hatten,  bauten  sie  sich  aus  Baumzweigen  rechteckige 
Hütten.  Ihre  Wohnungen  (vendite)  waren  in  »baracche"  geteilt, 
deren  jede  von  einem  hervorragenden  »Guten  Vetter"  (Carbonaro) 
errichtet  wurde.  In  jenem  Riesenforst  lebte  der  Einsiedler  Theobald, 
der  sich  den  angeblichen  Köhlern  anschlofs  und  ihre  Pläne  be- 
günstigte, weshalb  die  Carbonari  ihn  zum  Schutzherrn  machten. 
Nun  ereignete  es  sich  eines  Tages,  dafs  Franz  I.  sich  auf  der 
Jagd  an  den  Grenzen  seines  Reiches  in  der  Nähe  von  Schott- 
land (! !)  plötzlich  von  seinem  Gefolge  getrennt  sah,  den  Weg 
verlor,  auf  eine  der  baracche  stiefs,  in  dieser  gastfreundlich 
bewirtet  und  in  den  Geheimbund  eingeweiht  wurde.  Nach  seiner 
Rückkehr  nach  Frankreich  habe  er  sich  als  dessen  Protektor 
erklärt. 

Der  Ursprung  dieser  Sage  ist  wahrscheinlich  in  dem  Schutze 
zu  suchen,  den  Ludwig  XII.  und  Franz  I.  den  Waldensern 
gewährten,  die  sich  in  die  Dauphin^  geflüchtet  hatten.  Der  er- 
wähnte Einsiedler  Theobald  soll  von  den  ersten  Grafen  von  Brie 
und  der  Champagne  abgestammt  sein.  Obgleich  reich  und 
hochgestellt,  liebte  er  die  Einsamkeit  und  verliefs  das  Vaterhaus, 
um  sich  mit  seinem  Freund  Gautier  in  einen  schwäbischen  Forst 
zurückzuziehen,  wo  sie  als  Einsiedler  von  gelegentlichen  Arbeiten, 
namentlich  aber  dem  Herstellen  von  Schmiede-Holzkohle  lebten. 
Nachdem  sie  mehrere  Pilgerfahrten  unternommen,  liefsen  sie 
sich  in  der  Nähe  von  Vicenza  nieder.  Theobald  starb  1066, 
wurde  von  Papst  Alexander  III.  heilig  gesprochen  und  von  den 
Carbonari  zu  ihrem  Schutzpatron  erwählt.  Als  solchen  rufen  * 
sie  ihn  in  ihren  Hymnen  an  und  man  sieht  in  den  vendite 
gewöhnlich  ein  Bild  hängen,  das  ihn  vor  seiner  Hütte  sitzend 
darstellt. 

Den  ersten  Spuren  eines  Köhlerbundes  mit  politischen 
Zwecken  begegnen  wir  im  zwölften  Jahrhundert.  Wahrscheinlich. 


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Die  Carbonari. 


293 


bildete  er  einen  Ausfluls  der  damaligen  strengen  Waldfrevel- 
gesetze. Um  jene  Zeit  gab  es  im  französischen  Departement 
Jura  auch  grofse,  in  ihren  Riten  den  Carbonari  ähnliche  Ver- 
bindungen, die  sich  »fendeurs"  (=  Holzhauer)  nannten.  Den 
Nebentitel  »gute  Vetterschaften“,  den  sie  führten  (»bons  cousi- 
nages"),  nahmen  auch  die  Carbonari  an.  Mächtige  Grand- 
seigneurs, Mitglieder  des  verfolgten  Templerordens,  schlossen  mit 
ihnen  geheime  Verträge.  Es  scheint  auch,  dars  die  Fendeurs  den 
ersten  und  die  Carbonari  den  höheren  Grad  der  Geheimgesell- 
schaft „Carboneria"  bildeten.  Mit  Hilfe  der  Genueser  »könig- 
lichen Carboneria“  dürfte  die  französische  Regierung  vor  der 
Grofsen  Revolution  den  Versuch  gemacht  haben,  die  alte  oli- 
garchische  Regierung  zu  stürzen  und  Genua  für  Frankreich  zu 
erobern.  Sicher  ist,  dafs  zwischen  1770  und  1790  die  meisten 
Mitglieder  der  französischen  Kammern  dem  Holzhauerbund  an- 
gehörten, der  auch  noch  unter  Napoleon  I.  zu  bestehen  fortfuhr. 
Nach  Süd-Italien  gelangte  die  Carboneria  durch  zurückgekehrte 
neapolitanische  Flüchtlinge,  die  in  Deutschland  und  der  Schweiz 
eingeweiht  worden  waren.  Bereits  1 807  sprach  der  neapolitanische 
Polizeiminister  Salicetti  von  einer  carbonaristischen  Verschwörung 
gegen  die  französische  Armee  im  Neapolitanischen.  Vorläufig 
jedoch  war  der  Bund  noch  machtlos.  Als  1809  der  napoleo- 
nische  Krieg  mit  Österreich  ausbrach  und  daher  ein  grofser 
Teil  der  französischen  Truppen  aus  Italien  zurückgezogen  wxrden 
mufste,  wurde  zu  Capua  die  erste  Hauptloge  (vendita)  gegründet. 

Diese  besteht  aus  einem  scheunenförmigen  Raum  aus  Holz, 
doch  mit  Ziegelfufsboden  — einer  Nachahmung  des  Mosaikbodens 
der  Freimaurerlogen.  Die  Stühle  haben  keine  Lehnen.  Am 
Ende  des  Saales  steht  auf  drei  Beinen  ein  Holzblock  (statt  eines 
Tisches),  an  welchem  der  Grofsmeister  sitzt;  an  den  Seiten  stehen 
zwei  gleiche  Blöcke  für  den  Redner  und  den  Schriftführer.  Auch 
für  die  beiden  »Gehilfen“  des  Grofsmeisters  sind  solche  Blöcke 
vorhanden.  Auf  dem  Block  des  Grofsmeisters  müssen  die  folgen- 
den sinnbildlichen  Gegenstände  liegen  oder  stehen : ein  Leintuch, 
etwas  Wasser,  etwas  Erde,  Salz,  Blätter,  Stäbe,  Feuer,  ein  Kreuz,  eine 
Weifsdornkrone,  eine  Leiter,  ein  Zwirnknäuel,  ein  blaues,  ein  rotes 
und  ein  schwarzes  Band  (Rauch,  Feuer  und  Kohle  bedeutend), 
ein  leuchtendes  Dreieck  mit  den  Anfangsbuchstaben  der  Losungs- 
worte des  zweiten  Grades,  links  davon  ein  Dreieck  mit  dem 
Wappen  der  Vendita,  rechts  drei  durchsichtige  Dreiecke  mit  den 
Anfangsbuchstaben  der  geheimen  Worte  des  ersten  Grades.  Der 
Grofsmeister  und  seine  beiden  Gehilfen  hatten  je  ein  Beil  in 
der  Hand.  Die  Meister  sitzen  an  der  einen  Wand,  die  Lehr- 
linge an  der  entgegengesetzten.  Diese  Daten  entnehmen  wir 
dem  »Carbonari-Codex»,  der  am  eingehendsten  in  einem  Buche 


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294 


Politische  Geheimgesellschaften. 


(»Geschichte  der  süditalienischen  Geheimgesellschaften,  insbe- 
sondere der  Carbonari“,  London  1821)  des  getauften  Juden 
Baron  Bertholdi  mitgeteilt  ist,  der  lange  russischer  Gesandter 
beim  Heiligen  Stuhl  war. 

Das  Einweihungszeremoniell  der  Carbonari  ist  in  seiner  seit 
dem  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  festgestellten  Gestalt 
das  folgende.  Der  Grofsmeister  eröffnet  die  Loge  und  fragt: 
»Erster  Gehilfe,  wo  wird  der  erste  Grad  verliehen?" 
Antwort:  „In  der  Hütte  eines  guten  Vetters,  in  der  Loge 
der  Carbonari.“ 

»Wie  wird  der  erste  Grad  verliehen?“ 

„Ein  Holzblock  wird  mit  einem  Tuch  bedeckt,  auf  dem 
die  Grundlagen  liegen:  Wasser,  Feuer,  Salz,  ein  Kruzifix,  ein 
trockener  Zweig  und  ein  grüner  Zweig.  Mindestens  drei  gute 
Vettern  müssen  anwesend  sein;  der  stets  von  einem  Meister 
begleitete  Einführer  bleibt  draufsen.  Der  den  Einführer  be- 
gleitende Meister  stampft  dreimal  mit  den  Füfsen  und  ruft: 
„Meister , gute  Vettern , ich  benötige  Beistand.“  Die  guten 
Vettern  umstehen  den  Holzblock,  berühren  diesen  mit  den 
Stricken,  die  sie  um  den  Leib  tragen,  bewegen  die  rechte  Hand 
von  der  linken  Schulter  zur  rechten  und  einer  von  ihnen  ruft 
aus:  „Ich  habe  die  Stimme  eines  hilfsbedürftigen  guten  Vetters 
gehört,  vielleicht  bringt  er  Holz  zum  Speisen  der  Öfen.“  So- 
dann wird  der  Einführer  eingelassen.“ 

Der  erste  Gehilfe  schweigt  hier,  der  Einführer  erscheint 
und  es  entwickelt  sich  das  folgende  Gespräch: 

Grofsmeister:  „Mein  guter  Vetter,  woher  kommst  du?“ 
Einführer:  „Aus  dem  Wald.“ 

G.:  „Wohin  gehst  du?“ 

E. : „In  die  Ehrenkammer,  um  meine  Leidenschaften  zu 
beherrschen,  meinen  Willen  zu  meistern  und  carbonaristischen 
Unterricht  zu  nehmen.“ 

G.:  „Was  hast  du  aus  dem  Wald  gebracht?“ 

E.:  „Holz,  Blätter  und  Erde.» 

G.:  „Was  bringst  du  sonst  noch?" 

E. : „Glaube,  Hoffnung  und  Barmherzigkeit“ 

G. : „Wer  ist  jener,  den  du  hieherführst?“ 

E.:  „Ein  im  Wald  verirrter  Mann.» 

G.:  „Was  will  er?“ 

E. : „Unserem  Orden  beitreten.“ 

G.:  „Führe  ihn  herein." 

Der  Bewerber  wird  eingelassen,  der  Grofsmeister  stellt  ihm 
mehrere,  seinen  Lebenswandel  und  seine  Religion  betreffende 
Fragen  und  läfst  ihn  den  Eid  leisten,  wobei  er  knieen  und  das 
Kruzifix  in  der  Hand  halten  mufs: 


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Die  Carbonari. 


295 


»Ich  verspreche  und  verpflichte  mich  auf  meine  Ehre,  die 
Geheimnisse  der  guten  Vettern  nicht  zu  verraten,  mich  nicht 
gegen  die  Tugend  ihrer  Frauen  und  Töchter  zu  vergehen  und 
jedem  hilfsbedürftigen  guten  Vetter  jeden  in  meiner  Macht 
stehenden  Beistand  zu  leisten.  So  wahr  mir  Gott  helfe!“ 

Nun  wechseln  Grofsmeister  und  Neuling  Frage  und  Ant- 
wort wie  folgt: 

Was  bedeutet  der  Holzblock?  — »Den  Himmel  und  das 
Erdenrund.“ 

Was  bedeutet  das  Tuch?  - »Dasjenige,  was  sich  bei  der 
Geburt  verbirgt.“ 

Und  das  Wasser?  — »Dasjenige,  was  zur  Reinigung  von 
Ursünde  dient.“ 

Und  das  Feuer?  - »Es  zeigt  uns  unsre  höchsten  Pflichten.“ 

Und  das  Salz?  - »Dafs  wir  Christen  sind.“ 

Und  das  Kruzifix?  - »Es  erinnert  uns  an  unsre  Erlösung.“ 

Und  der  Zwirn?  - »An  die  Mutter  Gottes,  die  ihn  ge- 
sponnen hat.“ 

Was  bedeutet  die  Dornenkrone?  - »Die  Leiden  und 
Kämpfe  der  guten  Vettern.“ 

Was  stellt  der  Ofen  vor?  — »Die  Schule  der  guten 
Vettern." 

Und  wie  ist  es  mit  dem  Baum  bewandt,  dessen  Wurzeln 
hoch  oben  in  der  Luft  schweben?  — »Wenn  alle  Bäume  so 
beschaffen  wären,  würde  die  Thätigkeit  der  guten  Vettern  über- 
flüssig sein." 

In  solcher  Weise  geht  es  noch  längere  Zeit  weiter  bei  der 
Einweihung  in  den  ersten  Grad.  Die  wichtigeren  Geheimnisse 
soll  der  Neuling  erst  in  den  höheren  Graden  erfahren;  zunächst 
handelt  es  sich  nur  darum,  seine  Einbildungskraft  anzuregen  und 
seine  Fähigkeiten  bezw.  Verläfslichkeit  zu  erproben.  Übrigens 
erklären  sich  einige  der  Symbole  trotz  aller  Geheimhaltung 
gleichsam  von  selber.  So  bedeutet  der  Ofen  das  gemeinsame 
Ziel,  an  welchem  der  Bund  arbeitet.  Das  brennend  erhaltene 
heilige  Feuer  ist  die  Flamme  der  Freiheit,  mit  deren  Hilfe  die 
Carbonari  die  Welt  erleuchten  wollen.  Ihr  Hauptwahrzeichen, 
die  Kohle,  bildet  die  Quelle  des  Lichtes  und  der  Wärme,  welche 
die  Luft  reinigen.  Der  Wald  mit  seinen  wilden  Tieren  soll 
Italien  und  seine  fremden  Unterdrücker  vorstellen.  Der  um- 
gekehrte Baum  (mit  den  Wurzeln  nach  oben)  versinnbildlicht 
die  gestürzten  Throne.  Eine  grofse  Rolle  spielt  bei  den  Carbonari 
der  katholische  Mysticismus.  Die  höchsten  Ehren  erweisen  sie 
Christo,  dem  guten  Vetter  der  ganzen  Menschheit.  Doch  bemüht 
sich  der  Carbonarismus,  die  Religion  zu  vereinfachen  und  auf 
ihre  Hauptgrundzüge  zu  beschränken,  wie  das  auch  die  Frei- 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


maurerei  thut.  Eine  weitere  Ähnlichkeit  mit  der  letzteren  besteht 
darin,  dafs  der  Kandidat  imaginäre  Reisen  durch  Wälder  und 
durch  Feuer  macht;  jede  solche  Reise  hat  eine  symbolische  Be- 
deutung, doch  wird  der  wahre  Sinn  im  ersten  Grad  noch  nicht 
enthüllt  Oberhaupt  mufs  man,  um  die  wirklichen  Ziele  des 
Bundes  kennen  zu  lernen,  in  die  höheren  Grade  eingeweiht  sein. 

Fast  der  ganze  zweite  Grad  wird  von  dem  Martyrium 
Christi  ausgefüllt  - ein  Gegenstand,  der  dem  Katechismus  etwas 
sehr  Trauriges  verleiht.  Dies  ist  darauf  berechnet,  den  Bewerber 
zu  überraschen  und  zu  erschrecken.  Die  mehrerwähnten  Sym- 
bole erhalten  jetzt  neue,  ungeahnte  Bedeutungen,  die  sich  auf 
die  geringfügigsten  Einzelheiten  der  Kreuzigung  Christi  beziehen. 
Die  Eingeweihten  erlangen  die  Überzeugung,  dafs  die  un- 
gewöhnlichen, wunderlichen,  mit  erstaunlicher  Künstelei  ausge- 
klügelten Symbole  und  Auslegungen  den  Zweck  haben,  die  Feinde 
des  Bundes  zu  verwirren  und  ihren  Verdacht  von  dessen  eigent- 
lichen Zielen  abzulenken.  Die  beständige  Beschäftigung  mit  den 
Leiden  Christi  soll  zwei  Aufgaben  lösen:  die  erziehliche,  den 
Eingeweihten  an  den  Gedanken  der  Selbstaufopferung  im  Notfall  zu 
gewöhnen,  und  die  politische,  die  abergläubischen  und  zum  Mysti- 
cismus  neigenden  Elemente,  die  bei  aller  christlichen  Liebe  von  reli- 
giösen Vorurteilen  erfüllt  sind,  für  den  Bund  zu  gewinnen.  Der 
Ofen  bedeutet  hier  das  heilige  Grab,  das  Rauschen  der  Blätter  die 
Geifselung  des  Grofsmeisters  des  Weltalls  u.  s.  w.  Der  Kandidat 
selbst  stellt  bei  den  Einweihungserprobungen,  denen  er  sich  unter- 
ziehen mufs,  Jesus  dar,  während  der  Grofsmeister  den  Pilatus,  der 
erste  Gehilfe  den  Kaiphas,  der  zweite  den  Fferodes  »spielt“  und 
die  anwesenden  Bundesmitglieder  als  »Volk“  figurieren.  Schliefs- 
lich  zum  Tode  am  Kreuz  verurteilt,  wird  der  Kandidat  begnadigt; 
doch  mufs  er  einen  furchtbaren  Verschwiegenheitseid  leisten  und 
die  Verpflichtung  eingehen,  sich  im  Falle  des  Eidbruches  zer- 
stückeln und  verbrennen  zu  lassen.  Aber  auch  im  zweiten  Grad 
werden  die  eigentlichen  Geheimnisse  noch  nicht  enthüllt. 

Der  dritte  Grad,  der  des  »Grofs-Erwählten“,  ist  politischer 
Natur  und  wird  nur  unter  den  gröfsten  Vorsichtsmafsregeln  und 
mit  der  tiefsten  Heimlichkeit  verliehen,  und  zwar  blors  an  solche 
Bundesgenossen,  deren  Eifer,  Mut,  Vorsicht  und  Bundestreue 
wohlbewährt  ist  und  die  ferner  wahre  Volksfreunde  und  als 
solche  bereit  sein  müssen,  die  Tyrannen  zu  bekämpfen.  Die 
Aufnahme  erfolgt  mittels  geheimer  Abstimmung;  drei  schwarze 
Kugeln  genügen  zur  Ablehnung.  Der  Kandidat  mufs  33  Jahre 
und  3 Monate  alt  sein  - das  Älter  Christi  an  seinem  Todestag. 
Die  Einweihung  findet  in  einer  an  einem  entlegenen,  nur  den 
»Grofs-Erwählten“  bekannten  Ort  befindlichen  Loge  statt,  welche 
dreieckig  und  an  der  Ostseite  abgestumpft  ist.  Am  Eingang 


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Die  Carbonari. 


297 


stehen  zwei  Wächter,  nach  der  Form  ihrer  Schwerter  »Flammen“ 
genannt.  Innen  sitzt  der  Grofsmeister  der  »Grofs-Erwählten“ 
auf  einem  Thron,  umgeben  von  den  zwei  Gehilfen,  hier  »Sonne“ 
und  »Mond“  genannt.  In  den  drei  Winkeln  hängen  drei  Lampen 
in  Gestalt  der  Sonne,  des  Mondes  und  eines  Sternes.  Der  Be- 
werber erfährt  nun  aus  dem  Katechismus,  dafs  das  eigentliche 
Ziel  des  Carbonarismus  ein  politisches  ist,  nämlich  die  Beseitigung 
der  Tyrannen  und  die  Herbeiführung  der  Freiheit.  Die  Feier- 
lichkeit schliefst  damit,  dafs  alle  Anwesenden  niederknieen  und 
ihr  Schwert  gegen  die  eigene  Brust  zücken,  während  der  Grofs- 
meister den  folgenden  Eid  vorspricht: 

»Ich,  ein  freier  Bürger  der  ausonischen  Republik,  schwöre 
vor  dem  Grofsmeister  des  Weltalls  und  dem  Grofsmeister  der 
Grofs-Erwählten,  mein  ganzes  Leben  dem  Sieg  der  Grundsätze 
der  Freiheit,  der  Gleichheit  und  des  Fortschrittes  widmen  zu 
wollen  - Grundsätze,  die  die  Triebfeder  aller  öffentlichen  und 
geheimen  Thätigkeit  des  Carbonarismus  bilden.  Ich  verspreche, 
bis  zum  Tode  zu  fechten,  falls  es  unmöglich  sein  sollte,  die 
Freiheit  ohne  Kampf  zu  erringen.  Für  den  Fall,  dafs  ich  meinen 
Eid  brechen  sollte,  gestatte  ich  meinen  guten  Vettern,  den  Grofs- 
Erwählten,  mich  umzubringen.  Ich  will  mich  in  einer  Loge 
nackt  und  mit  einer  Dornenkrone  auf  dem  Kopf  ans  Kreuz 
schlagen,  mir  den  Bauch  aufschlitzen,  die  Eingeweide  und  das 
Herz  ausreifsen  lassen  . . . Schwöret!“ 

Die  Versammelten  rufen  laut:  „ Wir  schwören ! “ Bei  diesen 
Veranstaltungen  spielt  das  theatralische  Element  eine  grofse  Rolle ; 
offenbar  dachten  die  Organisatoren  daran,  dafs  auf  die  Einge- 
weihten nach  Möglichkeit  Eindruck  hervorgebracht  werde. 

Der  vierte  und  höchste  Grad,  der  eines  Grofsmeisters  der 
Grofs-Erwählten,  ist  nur  jenen  Carbonari  zugänglich,  die  die 
gröfste  Intelligenz  und  Thatkraft  an  den  Tag  gelegt  haben. 
Während  die  guten  Vettern  in  der  Loge  versammelt  sind,  wird 
der  Bewerber  mit  verbundenen  Augen  hereingeführt.  Zwei  Mit- 
glieder, die  die  beiden  Schächer  des  Neuen  Testaments  vor- 
stellen, bringen  Kreuze  herbei  und  befestigen  sie  im  Erdboden. 
Einer  der  angeblichen  Schächer  wird  nun  als  Verräter  an  der 
Bundessache  angesprochen  und  zur  Kreuzigung  verurteilt.  Er 
fügt  sich  in  sein  Schicksal,  wird  mit  Seidenstricken  ans  Kreuz 
gebunden  und  stöfst,  um  den  Kandidaten  zu  täuschen,  Weherufe 
aus.  Der  Grofsmeister  verurteilt  auch  den  andern  Dieb  zur 
gleichen  Strafe;  dieser  aber  schreit:  »Ich  fluche  euch  und  tröste 
mich  mit  dem  Gedanken,  dafs  ich  werde  gerächt  werden.  Fremd- 
linge werden  alle  Carbonari  bis  zum  letzten  ausrotten.  Wisset, 
dafs  ich  euer  Versteck  den  Anführern  der  feindlichen  Armee 
verraten  habe  und  dafs  ihr  ihnen  binnen  kurzem  in  die  Hände 


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29S" 


Politische  Oeheimgesellschaften. 


fallen  werdet.  Nun  machet  mit  mir,  was  ihr  wollt.*  Jetzt 
wendet  sich  der  Grofsmeister  an  den  Kandidaten,  um  ihn  auf 
die  schwere  Bestrafung  der  Verräter  hinzulenken  und  ihm  zu 
sagen,  dafs  auch  er,  wenn  er  Grofsmeister  der  Grofs-Erwählten 
werden  wolle,  ans  Kreuz  gefesselt  werden  und  an  seinem  Leibe 
die  heiligen  Zeichen  empfangen  müsse,  durch  die  alle  Grofs- 
meister einander  erkennen ; auch  müsse  er  einen  Eid  leisten, 
worauf  die  Augenbinden  entfernt,  er  vom  Kreuz  abgenommen 
und  mit  den  Insignien  des  vierten  Grades  bekleidet  werden 
würde.  Er  wird  denn  auch  wirklich  fest  ans  Kreuz  gebunden 
und  dreimal  in  den  rechten,  siebenmal  in  den  linken  Arm,  drei- 
mal unterhalb  der  linken  Brust  gestochen.  Auf  ein  Zeichen  des 
Grofsmeisters  wird  ihm  die  Augenbinde  abgenommen.  Sodann 
umstellen  ihn  die  Versammelten,  zücken  ihre  Dolche  und 
Schwerter  gegen  ihn  und  bedrohen  ihn  für  den  Fall  des  Verrats 
mit  einem  noch  schlimmeren  Tod;  dabei  beobachten  sie  scharf, 
ob  er  Angst  verrät.  Nun  trinken  sie  siebenmal  auf  seine  Ge- 
sundheit und  der  Grofsmeister  erklärt  ihm  die  wahre  Bedeutung 
der  Symbole;  er  mufs  versprechen,  die  Abschrift  — gedruckt 
darf  sie  nicht  werden  - eher  zu  verschlucken  oder  zu  ver- 
brennen, als  sie  in  fremde  Hände  fallen  zu  lassen.  Schliefslich 
spricht  der  Grofsmeister  von  dem  nahen  Sieg  der  bereits  be- 
gonnenen Revolution  und  endet  mit  den  Worten:  »Sehr  bald 
werden  die  der  Willkür  müden  Völker  über  die  Tyrannen 
triumphieren!  Sehr  bald  . . .“ 

Da  unterbricht  ihn  der  verstocktere  der  beiden  Schächer 
mit  dem  Ausruf:  »Sehr  bald  werdet  ihr  alle  zu  Grunde  gehen!" 
Und  schon  hört  man  aufserhalb  der  Grotte  den  Lärm  von 
Kämpfern  und  das  Geräusch  von  Waffen.  Einer  der  Wächter 
stürzt  herein,  um  zu  melden,  dafs  man  die  Thüre  einbrechen 
wolle  und  sofort  werden  Schläge  gegen  dieselbe  hörbar.  Die 
guten  Vettern  eilen  zu  der  hinter  den  Kreuzen  angebrachten  und 
für  den  Neuling  daher  unsichtbaren  Thüre,  der  Lärm  wird  immer 
gröfser,  man  hört  österreichische  Soldaten  schreien,  die  Carbonari 
kehren  in  scheinbarer  Unordnung  wie  von  einer  Übermacht 
überwältigt  — zurück,  sprechen  dem  noch  immer  am  Kreuz 
hängenden  Neuling  Mut  zu  und  verschwinden  durch  den  sich 
unter  ihnen  öffnenden  Fufsboden.  Jetzt  treten  Mitglieder  in  der 
verhafsten  Uniform  der  Fremdlinge  ein,  thun  verwundert  ob  des 
Verschwindens  der  Carbonari  und  wollen  die  drei  Gekreuzigten 
töten ; sie  laden  ihre  Gewehre  und  legen  zum  Schiefsen  an ; da 
fliegen  plötzlich  einige  Kugeln  herein,  die  Soldaten  fallen  schein- 
bar tot  nieder,  die  guten  Vettern  erscheinen  wieder  und  rufen : 
»Sieg!  Tod  der  Tyrannei!  Lange  lebe  die  ausonische  Repu- 
blik! Hoch  die  Freiheit!  Es  lebe  die  von  den  tapferen  Car- 


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Die  Carbonari. 


299 


bonari  eingesetzte  Regierung!"  Die  scheinbar  toten  Soldaten 
und  die  fingierten  Diebe  werden  schleunigst  hinausgeschafft  und 
der  Kandidat,  vom  Kreuz  losgemacht,  wird  vom  Qrofsmeister 
unter  sieben  Axtschlägen  als  ein  Grofsmeister  der  Grofs-Erwählten 
ausgerufen.  Damit  schliefsen  die  Einweihungsriten. 

Die  Bedeutung  der  Symbole  im  vierten  Grad  macht  das 
Druckverbot  derselben  erklärlich.  Das  Kreuz  dient  zur  Kreuzigung 
des  Tyrannen,  die  Dornenkrone  soll  ihm  das  Haupt  zerstechen, 
an  dem  Faden  — d.  h.  Strick  — soll  er  zum  Gerüst  geführt 
werden,  die  Leiter  dient  ihm  zum  Emporsteigen,  die  Blätter 
stellen  die  ihm  Füfse  und  Hände  durchbohrenden  Nägel  vor, 
die  Spitzhacke  wird  ihm  die  Brust  zerfleischen  und  sein  unreines 
Blut  vergiefsen,  die  Axt  den  Kopf  vom  Rumpf  trennen,  das  Salz 
die  Verwesung  des  Kopfes  verhindern,  damit  er  als  Denkmal 
der  Niedertracht  der  Willkürherrscher  fortdauere.  Die  Stange  soll 
den  Kopf  tragen,  der  Ofen  den  Leib  verbrennen,  die  Schaufel 
die  Asche  in  die  Winde  verstreuen,  das  Wasser  die  Hände  von 
dem  vergossenen  Blut  des  Verhalten  reinigen,  das  Leintuch  die 
Flecken  wegwischen.  Die  baracca  hat  den  Zweck,  den  Tyrannen 
vor  seiner  Tötung  zu  foltern.  Der  Wald  ist  der  Ort,  wo  die 
guten  Vettern  ihr  wichtiges  Ziel  zu  erringen  trachten.  Diese 
Einzelheiten  entnehmen  wir  den  Berichten  über  das  Gerichts- 
verfahren in  Sachen  der  neapolitanischen  Verschwörung  der 
Carbonari. 

Innerhalb  des  Geheimbundes  hatten  alle  Mitglieder  falsche 
Namen.  In  einem  Buch  waren  die  echten,  in  einem  anderen 
die  angenommenen  Namen  verzeichnet.  Jedes  Buch  wurde  anders- 
wo verborgen  gehalten,  damit  die  Polizei,  falls  sie  etwa  eins 
entdeckte,  die  Leute  nicht  identifizieren  könne.  Die  höheren 
Würdenträger  hiefsen  »grofse  Lichter“;  darunter  befanden  sich 
die  »Insinuatoren«,  die  »Censoren«,  die  »Skrutatoren"  u.  s.  w.  Die 
mit  den  gefährlichsten  Aufgaben  betrauten  »Vettern«  nannte  man 
»verlorene  Hoffnung";  »Festsitzende"  hiefsen  jene,  die  wegen 
zu  geringer  Fähigkeiten  oder  wegen  Mangel  an  Mut  nie  über 
den  ersten  Grad  hinauskamen.  Die  Carbonari  hatten  eine  eigene 
Zeitrechnung,  die  mit  Franz  I.  begann.  Auch  hatten  sie  Losungs- 
worte und  Erkennungszeichen.  Die  Dekoration  bestand  im 
Lehrlingsgrad  aus  einem  schwarzen,  einem  blauen  und  einem 
roten  Band,  im  Meistergrad  aus  einer  Schleife  in  diesen  drei 
Farben.  Wie  sehr  der  Carbonaribund  vom  Geist  der  Freiheit 
und  Gerechtigkeit  erfüllt  war,  geht  aus  einem  interessanten 
carbonaristischen  Schriftstück  hervor,  dessen  Entstehungszeit  un- 
bekannt ist  und  das  wir  hier  auszugsweise  mitteilen: 

»Italien,  dem  neue  Zeiten  einen  neuen,  reinen,  klangvollen 
Namen  — Ausonia  — geben  werden,  muls  von  seinen  drei 


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300 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Meeren  bis  zum  höchsten  Gipfel  der  Alpen  frei  sein.  Das  Ge- 
biet der  Republik  wird  in  21  Provinzen  geteilt  sein,  deren  jede 
einen  Vertreter  in  die  Nationalversammlung  entsenden  soll.  Jede 
Provinz  mufs  ihre  örtliche  Volksvertretung  haben  und  jeder 
Bürger,  ob  reich  oder  arm,  darf  sich  um  jedes  öffentliche  Amt 
bewerben.  Die  Wahl  der  Richter  ist  durch  strenge  Vorschriften 
geregelt.  Es  soll  zwei  Könige  (?)  geben:  einen  fürs  Land  und 
einen  fürs  Meer;  die  souveräne  Nationalversammlung  wählt  sie 
auf  21  Jahre.  Sämtliche  Bürger  von  Ausonia  sind  Soldaten. 
Alle  nicht  zum  Schutz  des  Landes  gegen  das  Ausland  notwendigen 
Festungen  müssen  geschleift  werden.  Längs  der  Küste  wären 
neue  Häfen  zu  bauen,  auch  wäre  die  Flotte  zu  vergröfsern.  Das 
Christentum  soll  die  Staatsreligion  sein,  doch  soll  jedes  andre 
Glaubensbekenntnis  geduldet  werden.  Solange  der  zur  Zeit  der 
Verkündigung  dieser  Verfassung  regierende  Papst  lebt,  kann  das 
Kardinalskollegium  im  Gebiet  der  Republik  wohnen ; nach  dem 
Tode  des  Papstes  wird  das  Kardinalskollegium  aufgehoben.  Die 
erblichen  Titel  und  die  Feudalrephte  werden  abgeschafft.  Die 
Zahl  der  Krankenhäuser,  Wohlthätigkeitsanstalten , Schulen, 
Kollegien  u.  s.  w.  wird  erheblich  vermehrt  werden.  Die  Todes- 
strafe darf  nur  über  Mörder  verhängt  werden;  an  die  Stelle  aller 
übrigen  Strafen  tritt  Deportation  auf  eine  der  zur  Republik  ge- 
hörigen Inseln.  Die  Klöster  werden  beibehalten;  doch  kann 
kein  Mann  vor  dem  45.  Lebensjahr  ein  Mönch,  kein  Weib  vor 
dem  40.  eine  Nonne  werden,  und  selbst  nach  dem  Ablegen  der 
Gelübde  darf  man,  wenn  man  will,  in  den  Schofs  der  Familie 
zurückkehren.  Das  Bettelwesen  ist  verboten;  das  Land  giebt  den 
arbeitsfähigen  Armen  Beschäftigung  und  den  Arbeitsunfähigen 
Unterstützung.  Die  Gräber  hervorragender  Männer  kommen  an 
die  Landstrafse  zu  stehen;  die  Ehrung  durch  Bildsäulen  erfolgt 
durch  die  souveräne  Versammlung.  Der  Verfassungsvertrag  kann 
nach  je  21  Jahren  revidiert  werden.“ 

Aufser  dem  vierten  Grad  (»Grofsmeister  der  Grofs- 
Erwählten»)  gab  es  einen  noch  höheren,  ganz  geheimen  - ge- 
nannt »der  Siebente“  in  den  aber  nur  sehr  wenige  einge- 
weiht wurden.  Nur  diese  wenigen  kannten  das  wahre  Ziel  des 
Carbonarismus;  nur  sie  wufsten,  dafs  dasselbe  mit  dem  der 
Illuminaten  identisch  sei.  Der  Eingeweihte  Johannes  Witt  von 
Döring  berichtet  in  seiner  Selbstbiographie,  dafs  der  Aufnahme- 
bewerber jeder  Regierung  - ob  despotisch  oder  demokratisch 
— Vernichtung  schwören  mufste.  Nach  de  Witt  »lacht  der 
summo  maestro  ob  des  Eifers  der  gewöhnlichen  Carbonari,  die 
sich  für  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  Italiens  opfern.  Ihm 
gilt  dies  nicht  als  das  Ziel,  sondern  nur  als  ein  Mittel.  Mir 
wurde  bei  Verleihung  dieses  Grades  der  Name  Giulio  Alessandro 


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Die  Carbonari. 


301 


Jerimundo  Werther  Domingone  gegeben."  Die  Verleihung  er- 
folgte entweder  in  der  Loge  oder  durch  schriftliche  Mitteilung; 
da  nun  de  Witt  auf  letzterem  Wege  ernannt  wurde  und  folglich 
keinen  Verschwiegenheitseid  geleistet  hatte,  glaubte  er  manches 
über  den  Gegenstand  veröffentlichen  zu  können.  Einiges  über 
den  Lebenslauf  dieses  merkwürdigen  Mannes  wird  unsere  Leser 
lebhaft  interessieren , denn  er  spielte  in  der  Geheimbündelei  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  eine  grofse  Rolle. 

Im  Jahre  1800  zu  Altona  geboren,  wurde  de  Witt  früh- 
zeitig von  dem  Alsener  Pastor  Meier  unterrichtet,  der  dem 
Jakobinerklub  angehört  hatte.  Im  Alter  von  17  Jahren  bezog  er 
die  Kieler,  später  die  Jenenser  Universität.  1818  schlofs  er  sich 
der  „Burschenschaft"  an  und  bald  ward  er  von  den  „Schwarzen 
Rittern"  aufgenommen,  weshalb  er  nach  England  fliehen  mufste, 
wo  er  im  Londoner  „Morning  Chronicle“  zahlreiche  skandal- 
erfüllte Artikel  über  die  deutsche  Politik  und  die  deutschen 
Fürsten  veröffentlichte.  Auf  Einladung  des  Eiarons  Eckstein,  der 
sein  Oheim  war  und  im  französischen  Polizeiministerium  die 
Stelle  eines  General-Inspektors  bekleidete,  ging  er  nach  Paris,  wo 
er  sich  des  Schutzes  des  Justizministers  Grafen  Serre  erfreute,  ob- 
gleich er  mit  französischen  und  italienischen  Verschwörern  ver- 
trauten Verkehr  pflegte.  1.821  lebte  er  in  Genf  als  „General- 
Inspektor  der  schweizerischen  und  deutschen  Carbonari.“  Kurz 
darauf  in  Savoyen  ergriffen,  wurde  er  nach  Turin  gebracht,  dort 
aber  vom  österreichischen  Oberbefehlshaber,  Feldmarschall  Bubna, 
der  ein  Freimaurer  war,  mit  der  grölsten  Hochachtung  behandelt, 
denn  in  der  Freimaurerei  bekleidete  de  Witt  einen  viel  höheren 
Rang  als  Bubna.  Als  die  Turiner  Gesandten  aller  Höfe  - mit 
Ausnahme  des  englischen  — de  Witts  Auslieferung  verlangten, 
gestattete  Bubna  ihm  gegen  das  Ehrenwort,  keinen  Fluchtversuch 
zu  machen,  nach  Mailand  zu  gehen,  wo  er  im  Hause  des 
Polizeidirektors  Baron  Göhausen  mit  grofser  Auszeichnung 
empfangen  wurde,  und  frei  umhergehen  konnte.  Bubna  hatte 
sich  der  österreichischen  Regierung  gegenüber  persönlich  für  das 
sichere  Gewahrsam  de  Witts  verbürgt ; als  dieser  jedoch  sah,  dals 
die  österreichischen  Behörden  Vorbereitungen  für  das  Gerichts- 
verfahren gegen  ihn  trafen,  schrieb  er  an  Bubna,  er  sei  zur 
Flucht  entschlossen.  Zwar  ordneten  die  Behörden  nun  seine 
strenge  Gefangenhaltung  an,  aber  innerhalb  einer  Woche  befand 
er  sich  im  Besitz  von  1200  Lire  Reisegeldes  sowie  eines  Bundes 
von  Nachschlüsseln  zu  allen  Thüren  des  Gefängnisses,  und  der 
Oberkerkermeister,  der  ihn  allzu  scharf  überwacht  hatte,  wurde 
nach  Mantua  versetzt.  So  ward  es  ihm  sehr  leicht  gemacht,  nach 
Genua  zu  entfliehen.  Von  dort  wollte  er  nach  Spanien;  da  er 
indes  alle  nach  Spanien  gehenden  Schiffe  unter  I^olizeiaufsicht 


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Politische  Qeheimgesellschaften. 


stehend  fand,  begab  er  sich  in  die  Schweiz.  Etwa  ein  Jahr  ver- 
brachte er  unter  allerlei  falschen  Namen  teils  daselbst,  teils  in 
Deutschland.  Sämtliche  deutschen  Regierungen  schrieben  für 
seine  Ergreifung  hohe  Belohnungen  aus,  aber  hochstehende  Be- 
amte liefsen  ihm  anonyme  Verständigungen  darüber  zukommen, 
dafs  ihm  die  Polizei  auf  der  Spur  sei.  Trotzdem  war  er  unvor- 
sichtig genug,  sich  in  Bayreuth  erwischen  zu  lassen;  allein  kaum 
war  er  gefangen,  besuchten  ihn  einige  hohe  Beamte  — wahr- 
scheinlich Freimaurer  um  ihm  Schutz  und  Freundschaft  anzu- 
bieten. Aus  Berlin  hielten  ihn  die  Häupter  der  preufsischen 
Freimaurerei  insgeheim  auf  dem  Laufenden  über  die  gegen  ihn 
erhobenen  Beschuldigungen ; infolgedessen  wurde  er  in  allen 
Punkten  freigesprochen  und  erlangte  seine  Freiheit  wieder.  Der 
berühmte  italienische  Geschichtschreiber  Cesare  Cantü  wirft  de 
Witt  vor,  er  habe  sich  in  alle  revolutionären  Bewegungen  Europas 
nur  darum  einweihen  lassen,  um  sie  zu  verraten  und  um  zwischen 
ihnen  Zwietracht  zu  säen.  Und  wenn  man  de  Witts  spätere 
Laufbahn  in  Betracht  zieht,  klingt  das  nicht  ganz  unwahrschein- 
lich. 1828  verheiratete  er  sich  mit  einer  reichen  Dame  und 
kaufte  in  Oberschlesien  ein  Rittergut,  auf  dem  er  bis  1855 
lebte,  und  zwar  bekannte  er  sich  zu  so  rückständigen  Grund- 
sätzen, dafs  man  ihn  beschuldigte,  ein  Ultramontaner  zu  sein, 
was  ihm  viele  Angriffe  seitens  der  demokratischen  Partei  zuzog. 

Der  folgende  Plan  soll  im  Jahre  1813,  als  Napoleons  Stern 
im  Sinken  begriffen  war,  von  den  italienischen  Carbonari  der 
britischen  Regierung  unterbreitet  worden  sein;  doch  bezweifeln 
wir  seine  Echtheit:  Italien  soll  frei  und  unabhängig  sein.  Seine 
Grenzen  sollen  die  drei  Meere  und  die  Alpen  bilden.  Korsika, 
Sardinien,  Sicilien,  die  Sieben  Inseln,  sowie  die  Inseln  an  den 
Küsten  des  mittelländischen,  des  adriatischen  und  des  Ionischen 
Meeres  werden  einen  integrierenden  Bestandteil  des  römischen 
Reiches  ausmachen.  Rom  wird  die  Hauptstadt  des  Reiches  sein. 
Sobald  die  Franzosen  die  Halbinsel  geräumt  haben,  ist  der  neue 
Kaiser  aus  der  Herrscherfamilie  von  Neapel  oder  Piemont  oder 
England  zu  wählen.  Illyrien  hätte  ein  selbständiges  Königreich 
zu  bilden,  das  dem  König  von  Neapel  als  Ersatz  für  den  Ver- 
lust Siciliens  zu  verleihen  wäre. 

Das  ungeheure  Anwachsen  des  Geheimbundes  begann  die 
italienischen  Herrscher  zu  beunruhigen,  insbesondere  Murat,  den 
König  von  Neapel,  dessen  Furcht  durch  den  Staatsrat  Dandolo 
vergröfsert  wurde,  der  ihm  schrieb:  »Sire,  der  Carbonarismus 
breitet  sich  in  Italien  immer  mehr  aus;  wenn  möglich,  befreien 
Sie  Ihr  Königreich  davon,  denn  dieser  Geheimbund  ist  den 
Thronen  feindlich  gesinnt.“  Der  Genueser  Maghella  jedoch, 
Murats  Polizeiminister,  riet  dem  König,  sich  gegen  Napoleon 


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Die  Carbonari. 


303 


offen  aufzulehnen,  die  Unabhängigkeit  Italiens  auszusprechen  und 
daher  die  Carbonari  zu  begünstigen.  Allein  Murat,  zu  unent- 
schieden, um  sich  zu  derlei  zu  entschliefsen,  erklärte  sich  gegen 
die  Carbonari.  Die  von  ihm  ergriffenen  Mafsregeln  hatten  aber 
nur  zur  Folge,  dafs  der  Bund  immer  thätiger  wurde  und  die 
Hoffnungen  der  verbannten,  im  benachbarten  Sicilien  den  Gang 
der  Ereignisse  beobachtenden  Bourbonen  sich  wieder  belebten. 
Die  Carbonari,  von  Murat  proskribiert , wurden  von  England 
und  den  Bourbonen  begünstigt.  Die  nach  Palermo  entsandten 
Emissäre  einigten  sich  mit  der  verbannten  Königsfamilie  über 
einen  Plan.  England  — dem  es  hauptsächlich  um  den  Sturz 
Napoleons  zu  thun  war  — lockte  die  Carbonari  mit  dem  Ver- 
sprechen einer  freisinnigen  Verfassung  und  zwang  die  Bourbonen, 
eine  solche  für  den  Fall  der  Wiedereinsetzung  zuzusichern. 
Murat  sandte  General  Manh£s  aus,  die  Carbonari  zu  vertilgen. 
Viele  ihrer  Führer  wurden  denn  auch  ergriffen  und  hingerichtet; 
dennoch  gelang  es  dem  Bund,  eine  zeitweilige  Erhebung  zu 
Gunsten  der  Bourbonen  zustande  zu  bringen,  aber  dieselbe  wurde 
von  der  energischen  Königin  Karoline  in  Abwesenheit  Murats 
bald  unterdrückt.  Um  diese  Zeit  erhoben  sich  innerhalb  der 
Geheimgesellschaft  Meinungsverschiedenheiten.  In  Erkenntnis  der 
Schwierigkeiten,  die  Bewegungen  einer  so  umfangreichen  Körper- 
schaft zu  lenken , beschlossen  die  führenden  Persönlichkeiten, 
Reformen  zu  bewirken.  Sie  führten  diesen  Entschlufs  rasch  und 
insgeheim  durch  und  schlossen  zahlreiche  unzuverlässige  Elemente 
aus.  Diese  sollen  angeblich  den  Namen  calderari  (=  Kohlen- 
pfannen) angenommen  und  die  Carbonari  furchtbar  gehafst  haben. 
Murat  schwankte  eine  Zeitlang  zwischen  den  beiden  Gesell- 
schaften und  entschied  sich  schliefslich  für  die  viel  zahlreicheren 
Carbonari,  allein  es  war  zu  spät,  denn  sie  hatten  kein  Vertrauen 
zu  ihm  und  kannten  überdies  das  Verzweifelte  seiner  Lage.  Er 
kam  zu  Fall. 

Im  Jahre  1817  wurde  eine  umfassende  Organisation  ent- 
deckt, die  den  Zweck  hatte,  alle  Carbonari -Verbindungen  zu 
einem  grofsen  Bunde  zu  vereinigen.  Die  Entdeckung  geschah 
infolge  eines  reinen  Zufalls.  Bei  einem  am  24.  Juni  unter- 
nommenen Erhebungsversuch  zu  Macerata  gingen  nämlich  zwei 
Musketen  vorzeitig  los.  Viele  leitende  Carbonari  wurden  in  Rom 
eingekerkert  und  im  Oktober  1818  auf  Anordnung  des  Papstes 
vor  Gericht  gestellt.  Fünf  traf  das  Todesurteil,  das  der  Papst 
jedoch  in  lebenslängliche  Haft  verwandelte;  drei  auf  Lebenszeit 
zu  den  Galeeren  Verurteilte  begnadigte  der  Papst  zu  zehn  Jahren. 
Durch  diesen  Prozefs  erfuhr  man,  dafs  die  »Republikanischen 
Schutzbrüder"  - eine  carbonaristische  Vereinigung  — auf  eine 
Giftphiole  und  ein  rotglühendes  Eisen  schwören  mufsten,  »die 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


Geheimnisse  der  Gesellschaft  niemals  zu  enthüllen  und  sich  für 
den  Fall  des  Eidbruchs  vergiften  und  mit  einem  glühenden  Eisen 
brennen  zu  lassen.“ 

König  Ferdinand  hatte,  um  wieder  ans  Ruder  zu  kommen, 
die  Carbonari  begünstigt.  Da  er  jedoch  in  Wirklichkeit  gegen 
diese  wegen  ihrer  Freiheitsliebe  eine  Abneigung  hatte,  wendete 
er  sich  gegen  sie,  nachdem  er  wieder  fest  auf  dem  Throne  safs. 
Sie,  die  nicht  nur  den  König  wieder  eingesetzt,  sondern  in  Ka- 
labrien und  den  Abruzzen  auch  die  öffentliche  Sicherheit  her- 
gestellt hatten  und  die  so  verehrt  worden  waren,  dafs  der  Papst 
die  Priester  und  Mönche  predigen  liefs,  jedem  Carbonaro  stehe 
ohne  weiteres  das  Thor  des  Paradieses  offen  - sie  wurden  jetzt 
als  Feinde  Gottes  und  der  Menschen  hingestellt.  Der  König 
verweigerte  die  Einhaltung  seiner  Zusagen  und  verbot  den  Car- 
bonari, sich  zu  versammeln.  Der  Fürst  von  Canosa,  der  Polizei- 
minister, beschlofs,  sie  auszurotten.  Zu  diesem  Zweck  vereinigte 
er  die  Räuber,  die  bei  den  blutigen  Ereignissen  von  1799  eine 
Rolle  gespielt  hatten,  zu  einem  neuen  Bund,  an  dessen  Spitze 
er  selbst  trat  und  dem  beizutreten  er  die  carbonarifeindlichen 
Calderari  einlud.  Er  liefs  die  Mitglieder  den  folgenden  Eid 
leisten : 

»Ich,  ....  , verspreche  und  schwöre  bei  der  heiligen 
Dreifaltigkeit,  auf  dieses  Kreuz  und  dieses  Schwert,  das  Rache- 
werkzeug für  die  Meineidigen,  dafs  ich  als  römischer  Katholik 
im  apostolischen  Glauben  leben  und  sterben  werde.  Ich  schwöre, 
dafs  ich  diese  Religion  und  die  Gesellschaft  der  Treuen  Freund- 
schaft und  der  Calderari  mit  meinem  Blut  verteidigen  werde. 
Ich  schwöre,  dafs  ich  niemals  das  Leben,  die  Ehre  oder  das 
Eigentum  der  Kinder  der  Treuen  Freundschaft  verletzen  werde. 
Ich  schwöre  ewigen  Hafs  aller  Freimaurerei  und  ihren  verab- 
scheuenswerten Förderern,  sowie  allen  Jansenisten,  Materialisten, 
Illuminaten  etc.  Ich  schwöre,  dafs  ich,  falls  ich  aus  Schlechtig- 
keit oder  Leichtsinn  meineidig  werden  sollte,  mich  umbringen 
und  dann  verbrennen  lassen  will." 

Aus  der  Sache  wurde  jedoch  nichts,  da  der  König  den 
Minister,  als  er  erfuhr,  was  dieser  ohne  sein  Vorwissen  unter- 
nommen hatte,  entliefs  und  verbannte.  Der  Aufstand  von  Cadiz 
(1819),  infolge  dessen  Ferdinand  VII.  von  Spanien  seinem  Volk 
verfassungsmäfsige  Rechte  gewähren  mufste , ermutigte  die 
italienischen  Carbonari  wieder,  doch  waren  sie  uneinig  und  so 
wurden  ihrer  viele  verbannt  oder  eingekerkert.  1820  gelang  es 
ihnen  unter  Führung  des  Abbeo  Meniehini,  eine  Verfassung  zu 
erringen,  was  ihren  Einflufs  erhöhte  und  zur  Errichtung  zahl- 
reicher neuer  Logen  führte.  Das  kam  so.  1815  — 1820  waren 
dem  Bunde  im  Neapolitanischen  allein  über  200000  neue  Mit- 


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Die  Carbonari. 


305 


glieder  aus  allen  Bevölkerungsschichten  beigetreten,  darunter  viele 
Priester,  Mönche,  Politiker  und  Soldaten.  Vergeblich  wendete 
der  Polizeichef  von  Neapel,  Oiampietro,  die  grausamsten  Mittel 
an,  um  den  Bund  zu  unterdrücken.  Die  Erbitterung  des  Pub- 
likums wurde  immer  gröfser.  Da  geschah  es  am  1.  Juli  1820, 
dafs  die  Offiziere  Morelli  und  Silvati  nebst  120  Mann  von  ihrem 
Regiment  zu  Nola  desertierten  und  in  Begleitung  Menichinis  und 
mehrerer  hervorragenden  Carbonari  nach  Avellino  marschierten, 
wo  sich  ihnen  der  Truppenkommandant,  Oberstleutnant  de  Con- 
cili  — ebenfalls  ein  Carbonaro  — anschlofs.  Als  diese  Ereig- 
nisse in  Neapel  bekannt  wurden,  eilten  viele  der  dort  gami- 
sonierenden  Soldaten  und  die  meisten  Universitätsstudenten  in 
das  Lager  de  Concilis.  Alle  Carbonari  bereiteten  sich  darauf 
vor,  ihren  aufständischen  Genossen  Hilfe  zu  leisten.  Der  König, 
der  den  General  Pepe  des  Freisinns  verdächtigte,  verwarf  den 
ihm  erteilten  Rat,  diesen  General  gegen  die  Aufwiegler  zu  ent- 
senden und  entsandte  lieber  den  General  Carrascosa,  der  am 
4.  Juli  Neapel  verliefs.  Tags  darauf  wurden  aus  Nocera  General 
Nunziante  und  aus  Salerno  General  Campana  gegen  die  Insur- 
genten ausgeschickt.  Carrascosa  wollte  es,  ehe  er  zum  Blutver- 
giefsen  schritt,  mit  Unterhandlungen  versuchen;  allein  ehe  die 
letzteren  eingeleitet  werden  konnten,  erlitt  Campana  eine  Nieder- 
lage, während  Nunziantes  Truppen  sich  um  die  Fahne  des 
Carbonarismus  scharten  und  zu  de  Concili  übergingen. 

Nun  beabsichtigte  Carrascosa  mit  des  Königs  Einverständnis, 
die  Führer  des  Aufstandes  mit  hohen  Geldsummen  zu  bestechen, 
damit  sie  die  gute  Sache  im  Stiche  lassen  und  das  Land  ver- 
lassen; doch  konnte  er  seine  Absicht  nicht  ausführen,  denn  in- 
zwischen hatten  sich  in  Neapel  die  Bevölkerung  und  der  Rest 
der  Garnison  gegen  den  König  erhoben,  der  in  seiner  gänzlichen 
Vereinsamung  zum  Nachgeben  gezwungen  war.  Der  Herzog 
von  Piccotellis  begab  sich  mit  fünf  anderen  Carbonari  in  den 
Palast  und  nötigte  Ferdinand  zu  einer  Unterredung,  bei  der  er 
die  unverzügliche  Verkündigung  einer  Verfassung  forderte.  Zwei 
Stunden  später  gab  der  König  die  Verfassung,  die  er  bald  auch 
feierlich  beschwor.  Er  lud  die  Oberhäupter  des  Bundes  an  den 
Hof  und  sein  Sohn,  der  Herzog  von  Kalabrien,  wurde  ein  Car- 
bonaro. Durch  seine  Zulassung  schadete  die  Geheimgesellschaft 
sich  aufserordentlich,  denn  nun  erfuhren  Hof  und  Polizei  mühelos 
alle  Zeichen,  Losungsworte,  Sinnbilder  und  Geheimnisse  der 
Carbonari.  Als  Rufsland , Preufsen  und  Österreich  mit  Ein- 
mischung drohten,  beschlossen  einige  der  ältesten  Carbonari 
in  einer  geheimen  Zusammenkunft,  den  König  im  Schlots  von 
St.  Eleno  zu  internieren,  aber  der  Beschlufs  wurde  nicht  aus- 
geführt. Um  den  gefährdeten  Herrscher  zu  retten,  lud  die 

Hecketh  o rn -Kat  scher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  -0 


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306 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Heilige  Allianz  ihn  ein,  an  dem  Kongrefs  von  Laibach  teilzu- 
nehmen und  das  neapolitanische  Parlament  war  so  thöricht,  ihn 
ziehen  zu  lassen.  Noch  am  Bord  des  Schiffes  wiederholte  der 
verräterische  Despot  die  Versicherung,  die  gewährte  Verfassung 
einhalten  zu  wollen;  aber  kaum  in  Laibach  eingetroffen,  erklärte 
er,  nur  gezwungen  eine  Verfassung  bewilligt  zu  haben  und  ent- 
schlossen zu  sein,  dieselbe  zu  verleugnen  und  als  absoluter 
Monarch  nach  Neapel  zurückzukehren.  Der  Papst  entband  ihn 
seines  Eides  und  befahl  den  Priestern  in  einer  feierlichen  Enzy- 
klika, das  Beichtgeheimnis  zu  verletzen,  so  oft  dies  zu  Ungunsten 
der  Carbonari  nötig  sein  sollte.  Auf  Ersuchen  Ferdinands  sendete 
Österreich  fünfzigtausend  Mann  nach  Neapel  mit  einer  russischen 
Armee  im  Hintergrund.  Das  Gefolge  des  Königs  trug  Kokarden 
mit  der  Inschrift:  »Es  lebe  die  absolute  Macht  Ferdinands  I. !" 
So  hielt  dieser  Tyrann  seine  Zusicherungen ! 

Am  23.  März  1821  rückten  die  Österreicher  in  Neapel  ein 
und  nun  stillte  der  Tyrann  seinen  Rachedurst  im  Blute  seiner 
Unterthanen  in  ergiebigster  Weise.  Alle  früheren  Gnadenakte 
wurden  widerrufen,  täglich  fanden  Hinrichtungen  statt,  Tausende 
angesehener  Bürger  schmachteten  in  den  entsetzlichen  unter- 
irdischen Kerkern  von  San  Stefano,  Pantelleria  oder  der  sicilischen 
Straf-lnseln,  während  zahlreiche  andere  sich  dem  Zorn  des  Königs 
durch  die  Flucht  ins  Ausland  entzogen.  Erst  nach  vier  Jahren 
(1825)  wagte  sich  der  Carbonarismus  wieder  hervor  und  1835 
verband  er  sich  mit  dem  Jungen  Italien , das  die  gleichen 
politischen  Ziele  verfolgte:  die  Vertreibung  der  Fremdlinge  und 
die  Einigung  Italiens. 

Der  Herzog  von  Modena  hatte,  in  der  Hoffnung,  mit  Hilfe 
der  Carbonari  die  Herrschaft  über  Sardinien,  Venetien,  die  Lom- 
bardei und  die  kleinen  Herzogtümer  zu  erlangen , mit  dem 
Geheimbund  kokettiert  und  dadurch  Menotti,  den  hervorragendsten 
Patrioten  Mittel-Italiens,  ermuntert,  bei  einem  Versuch,  die  Fremd- 
linge zu  vertreiben,  auf  seinen  Beistand  zu  rechnen.  Als  der 
Herzog  jedoch  sah,  dafs  Frankreich,  auf  dessen  Mitwirkung  er 
gezählt  hatte,  sich  ablehnend  verhielt,  liefs  er  die  Carbonari  im  Stich 
und  trat  gegen  sie  auf.  Dafür  zwangen  sie  ihn  zur  Flucht  nach 
Mantua;  auch  Marie  Louise,  Herzogin  von  Parma  und  Witwe 
Napoleons,  trieben  sie  in  die  Verbannung.  Allein  schon  nach 
wenigen  Wochen  wurden  beide  durch  die  Österreicher  wieder 
eingesetzt;  der  Herzog  liefs  Menotti  hinrichten  und  überfüllte 
die  Gefängnisse  von  Modena  mit  Patrioten.  Graf  Arrivabene 
schrieb:  »Unbeschreiblich  waren  die  Schrecknisse  der  mode- 
nesischen  Kerker,  wie  ich  sie  damals  sah.  Ausgenommen  die 
Schandkäfige  in  den  päpstlichen  und  den  neapolitanischen  Staaten, 
läfst  sich  nichts  damit  vergleichen.“ 


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Die  Carbonari. 


307 


Nun  nahm  der  Carbonarismus  den  Namen  »Italienische 
Einheit“  an.  Die  gerichtliche  Verfolgung  dieser  geheimen  Ge- 
sellschaft zu  Neapel  im  Jahre  1850  brachte  ihre  Erkennungs- 
zeichen und  Losungsworte  an  den  Tag. 

Die  Carbonari  des  Kirchenstaates  strebten  die  Beseitigung 
der  weltlichen  Macht  des  Papstes  an  und  bereiteten  alles  für  den 
Augenblick  vor,  da  man  den  Tod  des  erkrankten  Oberhauptes 
der  Kirche  erwartete,  ln  Maeerata  wurden  beträchtliche  Vorräte 
und  zahlreiche  Truppen  angesammelt,  aber  die  unerwartete  Ge- 
nesung des  heiligen  Vaters  verhinderte  die  Ausführung  der 
Verschwörung.  Die  Anführer  fielen  durch  Verrat  in  die  Hände 
der  Regierung  und  wurden  schwer  bestraft. 

Auch  in  den  lombardo-venezianischen  Staaten  gab  es  Car- 
bonari-Logen,  deren  angesehenste  der  »Italienische  Bund»  war. 
Sie  bezweckten  die  Beseitigung  der  verhafsten  Fremdherrschaft 
Aber  sie  richteten  nichts  aus  und  viele  ihrer  bedeutendsten  Mit- 
glieder hülsten  ihre  Bestrebungen  zuerst  am  Mailänder  Pranger 
und  dann  in  österreichischen  Gefängnissen ; so  z.  B.  Silvio  Pellico, 
Confalonieri,  Torelli,  Maroncelli,  Castiglia  u.  a. 

In  Frankreich  wurde  der  Carbonarismus  unter  dem  Namen 
»Philadelphier“  (auch  »Adelphes“)  durch  Joubert  und  Dugied 
eingeführt,  die,  1820  wegen  Beteiligung  an  revolutionären  Be- 
wegungen geflüchtet,  in  Italien  Carbonari  geworden  waren  und 
nach  ihrer  baldigen  Rückkehr  dem  Carbonarismus  Eingang 
verschafften,  und  zwar  mit  so  grofsem  Erfolg,  dafs  die  Gesell- 
schaft sich  rasch  ausbreitete;  die  Universitätsstudenten  traten  fast 
alle  bei  und  auch  in  der  Armee  wurden  Ventas  errichtet  mit 
Lafayette  als  Oberhaupt.  Logen  gab  es  in  La  Rochelle,  Poitiers, 
Bordeaux,  Niort,  Kolmar,  Neu-Breisach  und  Beifort,  ln  der 
letztgenannten  Stadt  wurde  noch  1821  ein  Aufstandsversuch 
gemacht,  der  aber  scheiterte,  weil  die  Regierung  durch  falsche 
Carbonari  von  der  Sache  Wind  bekommen  hatte.  Aus  dem 
gleichen  Grund  mifsglückten  auch  die  übrigen  ähnlichen  Ver- 
suche. Bei  den  Vorbereitungen  zur  Julirevolution  (1830)  spielte 
der  Geheimbund  eine  gewisse  Rolle;  im  grofsen  ganzen  jedoch 
kann  man  nicht  behaupten,  dafs  er  angesichts  seiner  hohen  Mit- 
gliederzahl und  der  ihm  zur  Verfügung  gestandenen  reichen 
Mittel  auch  nur  einigermafsen  angemessene  Ergebnisse  erzielt  habe. 

Auch  in  Deutschland  bestanden  viele  Carbonari  - Logen. 
Eine  derselben,  der  »Totenbund",  erregte  1849  durch  ihre  Ent- 
deckung grofses  Aufsehen.  Damals  verhaftete  die  Bremer  Polizei 
einen  gewissen  Hobelmann,  Erzieher  im  Hause  eines  thüringischen 
Edelmannes,  denn  er  erwies  sich  als  das  Oberhaupt  des  »Toten- 
bundes“, der  so  hiefs,  weil  seine  Mitglieder  jeden  Gegner  seiner 
politischen  Zwecke  umbringen  sollten.  Die  Polizei  erwischte  die 

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Politische  Geheiingesellschaften. 


Satzungen  und  ein  langes  Verzeichnis  von  zum  Tode  verurteilten 
Personen.  Nach  Spanien  gelangte  der  Carbonarismus  um  1820 
durch  Flüchtlinge  aus  Italien;  die  gröfste  Verbreitung  fand  er 
in  Katalonien.  Anfänglich  von  wenig  Bedeutung,  gewann  er 
1822  eine  gröfsere  Wichtigkeit  dadurch,  dafs  er  sich  im  Streite 
zwischen  den  spanischen  Freimaurern  und  den  Comuneros  auf 
die  Seite  der  ersteren  stellte.  Als  sich  jedoch  die  Comuneros 
mit  den  Freimaurern  aussöhnten  (1823),  wendeten  sich  diese 
beiden  Geheimgesellschaften  gegen  die  Carbonari,  die  demzu- 
folge jedes  Ansehen  verloren. 

Wie  die  Freimaurer  ihre  Adoptivlogen  hatten,  liefsen  die 
Carbonari  Frauen  zu.  Die  weiblichen  Mitglieder  erhielten  Blumen- 
namen und  führten  die  Gesamtbezeichnung  »giardiniere“  (=  Gärt- 
nerinnen). Ihre  Flaupt-Aufgaben  waren:  den  Feind  auszuspio- 
nieren und  das  Los  der  eingekerkerten  Bundesbrüder  zu  erleichtern. 
Das  letztere  war  oft  nicht  schwierig,  denn  da  viele  weibliche 
Mitglieder  der  »Barmherzigkeitsgesellschaft“  zugleich  giardiniere 
waren,  hatten  sie  in  ersterer  Eigenschaft  freien  Zutritt  zu  den 
österreichischen  Gefängnissen  in  Piemont  und  konnten  daher  in 
ihrer  zweiten  Eigenschaft  die  kärgliche  Gefängniskost  der  Carbo- 
nari nach  Belieben  ergänzen. 


Moselklub  und  Tugendbund. 

Um  1737  lebte  in  Weimar  ein  Zimmermann  namens  Vogt, 
den  man,  weil  er  aus  Trarbach  an  der  Mosel  stammte,  den 
»Moseler“  nannte.  Er  errichtete  eine  Wirtschaft,  welche  be- 
sonders von  den  Studenten  stark  besucht  wurde.  Diese  gründeten 
im  Lauf  der  Zeit  den  »Moselklub“,  der  sich  1762  in  einen 
politischen  Verein  verwandelte,  dessen  Aufgabe  die  Erhebung 
Preufsens  zur  leitenden  Macht  Deutschlands  bildete.  Die  Mit- 
glieder verpflichteten  sich  sogar,  Friedrich  dem  Grofsen,  der  ein 
Freimaurer  war,  bewaffnete  Hilfe  zur  Verfügung  zu  stellen.  Neun 
Jahre  später  entstand  innerhalb  des  Moselklubs  ein  engerer  Ge- 
heimbund, der  »Freundschaftsorden",  welchem  namentlich  Elsässer 
und  Badenser  angehörten  und  dem  nur  Mitglieder  des  Mosel- 
klubs beitreten  konnten.  Das  Erkennungszeichen  bestand  in  einem 
eigenartigen  Händedruck  und  im  Berühren  des  Gesichts.  Die 
Genossen  trugen  ein  an  einem  gelben  Band  befestigtes  Kreuz. 
1783  wurde  ein  Eid  der  Treue  eingeführt,  den  die  Aufnahme- 
bewerber  über  vier  Schwertern  schwören  mufsten,  die  auf  einem 
mit  vier  brennenden  Kerzen  versehenen  Tisch  gekreuzt  lagen.  Die 


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Moselklub  und  Tugendbund. 


309 


Formel  lautete:  »Sollte  ich  meinem  gegebenen  Wort  und  Ver- 
sprechen untreu  werden,  so  sollen  meine  Brüder  das  Recht 
haben,  die  hier  liegenden  Degen  gegen  mich  zu  brauchen  und 
mich  für  meinen  Bundesbruch  zu  strafen."  ln  Jena,  Giefsen, 
Erfurt,  Göttingen,  Marburg  und  Erlangen  wurden  Logen  er- 
richtet Die  Studenten  lehnten  sich  gegen  die  Universitäts- 
satzungen auf,  was  1779  zu  einer  gerichtlichen  Untersuchung 
und  zur  Auflösung  des  Ordens  führte,  der  jedoch  alsbald  unter 
dem  Namen  »Schwarzer  Orden"  (in  Halle  »Die  Unionisten") 
wieder  auflebte.  Zwar  schlief  er  nach  wenigen  Jahren  ein, 
allein  bis  in  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  gab  es  in 
Deutschland  allerlei  Geheimgesellschaften,  in  denen  die  Universi- 
tätsstudenten die  Hauptrolle  spielten.  Besonders  zahlreich  waren 
solche  Verbindungen  zwischen  1819  und  1842;  im  letztgenannten 
Jahre  bestanden  ihrer,  wie  sich  bei  den  einschlägigen  amtlichen 
Nachforschungen  ergab,  nicht  weniger  als  32. 

Wie  wenig  die  betreffenden  Geheimbündler  von  den  durch 
den  Sturz  Napoleons  I.  wiedereingesetzten  Herrschern  erbaut 
waren,  geht  schon  aus  der  einen  Thatsache  hervor,  dafs  das 
Junge  Deutschland  den  Geburtstag  des  Königs  von  Preufsen  mit 
dem  Beschiefsen  seines  Porträts  feierte.  Die  Satzungen  be- 
handelten nicht  nur  den  Verrat,  sondern  schon  die  blofse  Indis- 
kretion mit  grofser  Strenge.  So  z.  B.  schrieb  Dr.  Breidenstein 
im  Juni  1834  an  Mazzini,  dafs  ein  Mitglied  des  Jungen  Deutsch- 
land, Strohmayer,  zum  Tode  verurteilt  worden  sei,  obgleich  er 
kein  Verräter  war;  man  fürchtete  lediglich  seine  Indiskretion.  Im 
November  1835  fand  ein  Milchmann  im  Zürcher  Sihlthal  die 
mit  49  Dolchwunden  bedeckte  Leiche  des  Studenten  Louis  Lessing, 
der  wegen  — freilich  unerwiesenen  — Spionageverdachts  vom 
Jungen  Deutschland  zum  Tode  verurteilt  worden  war. 

Während  Napoleon  I.  in  Deutschland  einen  aus  gefügigen 
Königen  und  Fürsten  bestehenden  Hof  bilden  konnte,  gab  es 
daselbst  auch  unbestechliche,  wahrhaft  tugendreiche  Männer,  die 
dem  Tyrannen  Hafs  schworen.  Freilich  hegten  diese  Personen 
keine  bestimmten  Pläne  und  liefsen  sich  durch  trügerische  Hoff- 
nungen verleiten.  Ihre  Führer  stellten  die  kühneren  Elemente 
in  den  Vordergrund  gleichsam  als  die  zum  Untergang  bestimmte 
Vorhut,  welche  die  Aufgabe  hat,  die  die  Haupttruppen  vom  Siege 
trennende  Kluft  auszufüllen.  Zu  dieser  Vorhut  gehörten  vor 
allem  Mosqua,  Lehmann,  Velhagen,  Both,  Bardeleben,  Baczko 
und  Krug,  die  im  Frühling  1808  in  Königsberg  mit  Ge- 
nehmigung des  Königs  von  Preufsen  den  »sittlich-wissenschaft- 
lichen Verein",  gemeiniglich  »Tugendbund“  genannt,  ins  Leben 
riefen.  Die  Zwecke  waren:  Aufrichtung  der  durch  Unglück  ver- 
zweifelten Gemüter,  Linderung  physischen  und  sittlichen  Elends, 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


volkstümliche  Jugenderziehung,  Reorganisierung  des  Heeres,  Pflege 
von  Patriotismus  und  Königsfreundlichkeit.  Diese  Aufgaben 
waren  die  offenkundigen ; das  geheime  Hauptziel  jedoch  richtete 
sich  auf  die  Abschüttlung  des  französischen  Jochs.  Während 
Berlin  sich  ganz  kühl  verhielt,  fand  der  Bund  in  Schlesien  und 
Pommern  viel  Anklang.  Einer  grofsen  Ausbreitung  desselben 
stand  mancherlei  im  Wege.  Viele  ängstliche  Leiter  von  Be- 
hörden untersagten  ihren  Angestellten  den  Beitritt.  Auch  schadete 
der  Umstand,  dafs  Preufsen  sich  nicht  schon  1809  der  Er- 
hebung Österreichs  anschlors,  sowie  das  Scheitern  der  Schillschen 
Unternehmung  gegen  Jerome  Bonaparte,  die  man  irrigerweise 
dem  Tugendbund  zuschrieb.  Von  bedeutenden  Menschen  traten 
dem  Tugendbund  bei:  Boyen,  Witzleben,  Grolmann,  v.  Thile, 
v.  Ribbentrop,  Merkel,  Ladenberg,  Eichhorn,  Manso  etc. 

Die  napoleonische  Polizei  entdeckte  den  Bestand  des 
Tugendbundes,  den  der  König  auf  Andrängen  des  genialen 
korsischen  Abenteurers  am  31.  Dezember  1809  auflöste  - jedoch 
nur  scheinbar;  in  Wirklichkeit  verbarg  der  Bund  sich  nur  besser 
hinter  der  Freimaurerei.  Seine  Ziele  wurden  während  Steins 
Verbannung  vom  »Turnvater“  Jahn  aufgegriffen,  der  1811  den 
berühmten  Turnverein  gründete,  dem  die  Blüte  der  Berliner 
Jugend  angehörte.  Stein  behielt  zu  Petersburg  seine  patriotischen 
Pläne  im  Auge  und  blieb  mit  den  Berliner  Patriziern  in  Ver- 
bindung. Er  und  Blücher  waren  dem  Tugendbund  günstig  ge- 
sinnt; dagegen  gab  es  am  preufsischen  Hof  auch  eine  dem  Bund 
feindselige  Partei,  an  deren  Spitze  die  Generale  Bülow  und 
Schuckmann  standen,  allerdings  ohne  sich  deshalb  für  Napoleon 
zu  erwärmen.  Ganz  besonders  bundesfreundlich  war  die  Partei 
des  Freiherrn  v.  Nostitz,  der  die  »Vereinigung  der  Ritter  der 
Königin  von  Preufsen"  gründete,  welche  die  dieser  Fürstin  von 
Napoleon  zugefügten  Beleidigungen  rächen  und  die  Schmach  von 
Jena  auslöschen  wollte;  namentlich  in  der  letzteren  Aufgabe  be- 
rührte sie  sich  mit  dem  Tugendbund. 

Eine  der  Hauptthaten  des  Tugendbundes  war  die  Ent- 
sendung von  Hilfstruppen,  die  Rufsland  im  Feldzuge  von  1813 
beistehen  sollten.  Die  Ereignisse  hatten  Preufsen  zum  Aufgeben 
seiner  Zauderpolitik  gezwungen;  Gneisenau,  Scharnhorst  und 
Grolmann  nahmen  die  militärischen  Pläne  des  Tugendbundes 
auf  und  eine  Massenaushebung  wurde  angeordnet.  Aber  so 
rühmenswert  die  Thätigkeit  jener  Patrioten  auch  war,  arbeiteten 
sie  gegen  Napoleon  doch  nur,  um  ihrem  Vaterland  — freilich 
gegen  ihren  Willen  - schliefslich  eine  Regierung  zu  geben, 
deren  Willkür  noch  drückender  war  als  die  des  Franzosenkaisers. 
Diese  Männer  kämpften,  wie  man  nur  für  eine  wirklich  grofse 
Sache  zu  kämpfen  pflegt,  und  die  Sterbenden  glaubten  denn  auch 


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Moselklub  und  Tugendbund. 


311 


die  Morgenröte  der  deutschen  Freiheit  anbrechen  zu  sehen,  aber 
die  Überlebenden  erkannten  bald,  wie  sehr  sie  sich  geirrt  hatten. 
In  seinen  Hoffnungen  getäuscht,  wurde  der  Tugendbund  aufge- 
löst, doch  traten  seine  Mitglieder  anderen  Vereinigungen  bei,  die 
teils  schon  bestanden,  teils  erst  ins  Leben  gerufen  wurden.  Die 
von  Jahn  geleiteten  »Schwarzen  Ritter"  (gegründet  1815),  so 
genannt  wegen  ihrer  schwarzen  Kleidung,  blieben  nach  dem  Krieg 
ebenso  bestehen  wie  die  »Ritter  der  Königin  von  Preufsen“. 
Dr.  Lang  stellte  sich  an  die  Spitze  der  »Konkordisten»,  die  jedoch 
keine  grofse  Rolle  spielten.  Mehr  Bedeutung  hatte  der  1810  ge- 
stiftete »Deutsche  Bund»,  welcher  die  Einführung  von  Ver- 
tretungskörpern für  die  verschiedenen  Staaten  Deutschlands  an- 
strebte und  in  seinem  Schofse  den  noch  geheimeren  »Verein  der 
Unbedingten"  barg,  der  freisinnige  Ideen  nötigenfalls  auch  ohne 
die  Mitwirkung  des  Volkes  fördern  wollte.  Diese  Gesellschaft, 
deren  Vorhandensein  zuerst  von  der  westfälischen  Regierung  ent- 
deckt wurde,  führte  in  ihrem  Siegel  einen  unter  dem  Freiheits- 
baum ruhenden  Löwen  und  die  phrygische  Mütze.  All  die  er- 
wähnten Geheimbünde  standen  mit  einander  in  Verbindung. 
Jahn  war  in  Preufsen,  Dr.  Lang  im  Norden  und  Baron  Nostitz 
im  Süden  thätig. 

Nach  Napoleons  Sturz  trachtete  die  preufsische  Regierung 
insgeheim,  den  Tugendbund  zu  unterdrücken.  Sie  wagte  nicht, 
ihn  offen  anzugreifen,  liefs  ihn  aber  von  Soldschreibern  an- 
rempeln. Schmalz  schmähte  ihn  so  sehr,  dafs  Niebuhr  und 
Schleiermacher  sich  zu  entrüsteten  Protesten  veranlafst  sahen.  Am 
meisten  empörte  die  Deutschen  die  gemeine  Weise,  in  der  Schmalz 
den  »heiligen"  Arndt  verleumdete.  Der  Pamphletist  hatte 
mehrere  Zweikämpfe  zu  bestehen  und  selbst  die  Gunst  des 
preufsischen  Hofes  konnte  ihn  nicht  gegen  persönliche  Miß- 
handlungen schützen.  Nun  schritt  der  König  selber  ein,  indem 
er  eine  Verordnung  erliefs,  in  welcher  er  die  Einstellung  des 
Streites  befahl,  zugab,  den  Tugendbund  als  »litterarisch-wissen- 
schaftlichen  Verein“  zu  einer  Zeit  begünstigt  zu  haben,  da  das 
Vaterland  der  Hilfe  desselben  bedurfte,  und  erklärte,  dafs  in 
Friedenszeiten  geheime  Gesellschaften  nur  schädlich,  nie  nützlich 
sein  können,  folglich  zu  verbieten  seien. 

Das  Verbot  führte  jedoch  nicht  zur  gänzlichen  Beseitigung 
der  Geheimbünde,  sondern  nur  zu  ihrem  Wiederaufleben  unter 
neuen  Namen.  So  folgte  dem  Tugendbund  1818  die  »Burschen- 
schaft“, die  an  den  Universitäten  das  Turnen  und  militärische 
Übungen  einführte  und  von  Jahn  übrigens  bereits  1810  geplant 
war.  Neben  einem  preufsischen  Zentralausschufs  hatte  sie 
Unterausschüsse  an  den  Universitäten  zu  Halle,  Leipzig,  Jena, 
Göttingen,  Erlangen,  Würzburg,  Heidelberg,  Tübingen  und 


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312 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Freiburg.  Deutschland  war  in  zehn  Bezirke  geteilt  und  es  gab 
zweierlei  Zusammenkünfte:  vorbereitende  und  geheime.  Die 
Mitglieder  der  letzteren  entsprachen  den  früheren  »Schwarzen 
Rittern“  und  fafsten  die  wirkliche  Befreiung  Deutschlands  ins 
Auge,  denn  die  durch  Belle-Alliance  bewirkte  war  nur  eine 
scheinbare.  Da  Rufsland  als  der  gröfste  Gegner  der  patriotischen 
Bestrebungen  der  Burschenschaft  galt,  richteten  sich  diese  ganz 
besonders  gegen  den  politischen  Einflufs  der  Regierung  des 
Zars.  Russenhafs  drückte  dem  Mörder  Kotzebues,  dem  Jenenser 
Studenten  Karl  Ludwig  Sand,  am  9.  März  1819  den  Dolch  in 
die  Hand.  Dieser  Mord  hatte  eine  strengere  behördliche  Über- 
wachung der  Universitäten,  das  unbedingte  Verbot  aller  geheimen 
Verbindungen  und  die  Mafsregelung  einiger  hervorragenden 
Professoren  wegen  ihrer  politischen  Meinungen  zur  Folge.  Die 
Burschenschaft  wurde  aufgelöst,  lebte  aber  1830  wieder  auf. 
Der  von  einigen  Studenten  am  3.  April  1833  unternommene 
Frankfurter  Putschversuch,  der  den  Sturz  der  Willkürherrschaft 
und  die  Einführung  einer  Verfassung  bezweckte,  führte  zur  \ er- 
folgung  vieler  Burschenschaftsmitglieder  und  zur  endgültigen 
Unterdrückung  der  geheimen  Verbindungen. 


Der  Babismus. 

Der  Stifter  Ali  Mohammed.  — Ausbreitung.  — Babs  Lehren.  — Schisma. 
— Neuere  Geschichte.  — Grausame  Verfolgungen.  — Die  Freimaurerei 

in  Persien. 


„Bab“  ist  ein  Titel,  kein  Name.  Der  Gründer  des  per- 
sischen Babismus  hiefs  Ali  Mohammed  und  soll  ein  Abkömm- 
ling der  Familie  des  Propheten  gewesen  sein.  1819  zu  Schiras 
als  Sohn  eines  Kaufmannes  geboren,  widmete  er  sich  anfänglich 
dem  Handelsstande , begann  aber  bereits  1 840  seine  neue 
Lehre  zu  verkünden.  Er  nannte  sich  den  »Bab“,  d.  h.  Mahdi 
oder  Thüre  der  Wahrheit  und  pilgerte  drei  Jahre  später  nach 
Mekka.  Der  Schah  liefs  ihn  nach  seiner  Rückkehr  verhaften 
und  von  1844  bis  1849  zu  Ispahan  und  Täbris  in  Halb- 
gefangenschaft halten.  Zum  Tode  durch  Erschiefsen  verurteilt, 
wurde  er  mit  Stricken  an  den  Mauern  der  Citadelle  aufgehängt 
und  zwölf  Soldaten  schossen  auf  ihn.  Nachdem  die  Rauchwolken 
sich  verzogen  hatten,  bemerkte  man,  dafs  der  Bab  verschwenden 
war  — eine  geschickt  ins  Werk  gesetzte  Machenschaft  behufs 


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Der  Babismus. 


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Erweckung  des  Glaubens  an  ein  Wunder.  Bald  wieder  ergriffen, 
wurde  er  abermals  zuni  Tode  verurteilt;  näheres  weifs  man  nicht, 
doch  soll  er  erschossen  worden  sein. 

Seine  lange  Gefangenschaft  und  sein  geheimnisvolles  Ende 
trugen  zur  Ausbreitung  seiner  Lehren  ebenso  bei  wie  die  That- 
sache,  dafs  er  zu  seinen  Lebzeiten  ab  und  zu  Raserei-Anfälle 
hatte.  Bekanntlich  gelten  im  Osten  — manchmal  sogar  auch  im 
Westen  — die  Verrückten  für  inspiriert.  Auch  verschmähte  der 
Bab,  gleich  allen  Propheten,  nicht  den  Gebrauch  weltlicher 
Mittel  zur  Bekanntmachung  seiner  Lehren.  Am  meisten  unter- 
stützte ihn  die  hohe  Beredsamkeit  und  außerordentliche  Schön- 
heit eines  Mädchens  aus  guter  Familie,  Kurratu-l-Ayn,  die  eine, 
der  ersten  Babistinnen  war  und  für  ihren  Glauben  den  Märtyrer- 
tod erlitt.  1848  unterzog  der  damalige  Kronprinz  Nasr-ed-din, 
der  vor  einigen  Jahren  als  Schah  einem  babistischen  Attentat 
zum  Opfer  fiel,  den  Bab  einer  auf  dessen  Lehren  bezüglichen 
Prüfung,  wobei  dem  Thronfolger  eine  Anzahl  von  Geistlichen 
an  die  Hand  ging.  Das  Ergebnis  war  seine  Verurteilung  zur 
Bastonnade;  infolge  dessen  soll  er  alles  widerrufen  haben.  Da 
uns  jedoch  lediglich  mohammedanische,  also  befangene  Quellen 
zu  Gebote  stehen  und  die  Untersuchung  geheim  war,  dürfte  die 
Geschichte  von  dem  Widerruf  kaum  wahr  sein. 

Der  Babismus  verfolgt  nicht  nur  theologische,  sondern  auch 
politische  Zwecke.  Seine  Bestrebungen  waren  — im  Gegensatz 
zur  Rückständigkeit  der  persischen  Herrscher  — reformatorischer 
Art,  und  das  Volk  nahm  ihn  leicht  an,  weil  er  geeignet  schien, 
die  Willkürwirtschaft  der  das  Land  aussaugenden  Provinzgouver- 
neure zu  überwinden.  Als  die  Babisten  sich  stark  genug  fühlten, 
nahmen  sie  Besitz  von  der  Stadt  Masanderan  in  der  Nähe  von 
Barfurusch;  aber  sie  mufsten  sich,  weil  die  kaiserlichen  Truppen 
ihnen  die  Lebensmittelzufuhr  abschnitten,  ergeben  und  wurden 
insgesamt  niedergemetzelt.  Ein  Jahr  später  (1848)  erhoben  sich 
nach  der  Thronbesteigung  Nasr-ed-dins  etwa  tausend  Babisten 
gegen  ihn,  doch  wurden  sie  von  einem  Oheim  des  neuen  Schahs 
besiegt;  die  dreihundert  Überlebenden,  die  sich  gegen  das  Ver- 
sprechen, dafs  ihnen  das  Leben  geschenkt  werden  würde,  er- 
gaben, erlitten  einen  grausamen  Tod.  1849  bekehrte  der  Babisten- 
führer  Mulla  Mohammed  Ali  siebentausend  von  den  zwölftausend 
Einwohnern  der  Stadt  Sandschan,  besetzte  diese  und  vertrieb  den 
Gouverneur  aus  der  Citadelle;  im  Kampf  mit  den  gegen  ihn 
ausgesandten  18000  Mann  kaiserlicher  Truppen  fielen  8000 
Personen ; die  überlebenden  Babisten  mufsten  sich  ergeben  und 
wurden  unter  furchtbaren  Foltern  umgebracht.  1850  predigte 
der  mehr  ehrgeizige  als  fanatische  Babist  Se-id  Jahia  Darabi  den 
Babismus  und  gewann  zweitausend  Anhänger,  mit  deren  Hilfe 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


er  die  Stadt  Niris  besetzte;  allein  die  Truppen  des  Schahs  eilten 
herbei,  erdrosselten  ihn  mit  seinem  eigenen  Gürtel  und  töteten 
seine  ausgehungerten  Anhänger. 

Zwei  Jahre  darauf  begingen  einige  Babisten  ein  Attentat 
auf  den  Schah.  Die  eingeleitete  Untersuchung  ergab,  dafs  es  in 
allen  gröfseren  Städten  Persiens  umfangreiche  Vereinigungen  von 
Babisten  und  Lautis  gab,  die  den  Sturz  der  herrschenden  Dynastie 
anstrebten.  Alle  erwiesenen  Anhänger  des  Babismus  wurden 
öffentlich  oder  insgeheim  hingerichtet  und  es  brach  auf  Anord- 
nung Nasr-ed-dins  eine  fast  zwei  Jahre  dauernde  Schreckenszeit 
voll  Tod  und  Verderben  an.  Der  Zorn  und  die  Beunruhigung 
des  Schahs  waren  so  grofs,  dafs  er  den  teuflischen  Plan  ersann, 
die  Anhänglichkeit  seiner  Unterthanen  dadurch  zu  erproben,  dafs 
er  alle  Klassen  der  Gesellschaft  zur  Rache  an  den  Babisten 
heranzog.  So  z.  B.  mufsten  die  Farraschen  (wörtlich  »Teppich- 
leger“, in  Wirklichkeit  die  asiatischen  Liktoren)  den  Mann  um- 
bringen, der  den  den  Monarchen  verwundenden  Schufs  abgefeuert 
hatte;  sie  thaten  es,  indem  sie  ihm  viele  Schnittwunden  bei- 
brachten, in  diese  brennende  Kerzen  steckten,  die  dann  eine  Zeit- 
lang das  Fleisch  verbrannten,  bis  der  Unglückliche  schliefslich 
entzweigesägt  wurde.  Das  Marstall-Personal  bewies  seine  Königs- 
treue dadurch,  dafs  es  dem  ihm  »an vertrauten“  Opfer  glühende  « 

Hufeisen  an  die  Füfse  nagelte  und  dann  den  Kopf  mit  Nägeln 
und  Keulen  zertrümmerte.  Die  Artilleristen  mußten  einem 
Babisten  die  Augen  ausstechen  und  ihn  nachher  aus  einer  Kanone 
feuern.  Die  Teheraner  Kaufleute  versetzten  einem  anderen  Ba- 
bisten so  lange  je  eine  Wunde,  bis  er  starb.  Vambery  erwähnt 
in  seinen  »Wanderungen  und  Erfahrungen  in  Persien"  einen 
gewissen  Kasim  aus  Niris,  der  mit  brennenden  Kerzen  in  Wunden, 
mit  glühenden  Hufeisen  und  dem  Ausreifsen  aller  Zähne  ge- 
martert wurde,  ehe  man  ihm  mit  einer  Keule  den  Schädel  ein- 
schlug. 

Dies  nur  wenige  Beispiele  der  Grausamkeit,  mit  welcher 
der  »liebenswürdige“  Monarch  wütete,  dem  nachmals  die  Be- 
völkerung der  europäischen  Weltstädte  mit  so  viel  Begeisterung 
zujubelte!  Statt  der  Unterdrückung  des  Babismus  hatten  diese 
schrecklichen  Verfolgungen  dessen  desto  gröfsere  Ausbreitung  zur 
Folge;  er  nahm  nicht  nur  in  Persien  mit  erstaunlicher  Schnellig* 
keit  zu,  sondern  griff  sogar  nach  Indien  hinüber.  Aufser  An-  , 

gehörigen  der  niedrigen  Klassen  traten  der  Sekte  auch  viele  ge- 
bildete und  reiche  Personen  bei.  Blofs  die  Christen  Persiens 
und  die  Mitglieder  der  Nuseirijeh-Sekte  hielten  und  halten  sich 
dem  Babismus  fern. 

Die  babistische  Lehre  ist  in  dem,  dem  Bab  selber  zu- 
geschriebenen Buche  „Bij-jan“  enthalten,  das  aus  drei  Teilen  be- 


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Der  Babismus. 


315 


steht,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden  sind.  Dieser  Babisten- 
Koran  ist  grofsenteils  rhapsodischer  Natur  und  an  zahlreichen 
Stellen  unverständlich.  Es  wimmelt  darin  von  Mysticismus,  ent- 
artetem Platonismus,  guebristischen  Brocken  und  Magiertum;  auch 
an  Einflüssen  des  Christentums  und  der  französischen  Philosophie 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  fehlt  es  nicht;  die  letzteren  dürften 
durch  die  Freimaurerei  nach  Persien  gedrungen  sein,  obgleich,  wie 
wir  alsbald  sehen  werden,  die  Maurerei  in  diesem  Land  keine 
besondere  Rolle  gespielt  hat.  Zu  den  abergläubischen  Vor- 
schriften des  Bij-jan  gehört  das  Tragen  von  Amuletten:  für  die 
Frauen  in  Kreis-,  für  die  Männer  in  Sternform,  während  bezüg- 
lich der  Toten  empfohlen  wird,  ihnen  Kameolringe  an  die  Finger 
zu  stecken.  Das  sind  Anklänge  an  das  aramäische  Heidentum. 
Das  »heilige»  Buch  behauptet  ferner  die  Göttlichkeit  des  Bab;  er 
und  seine  Jünger  seien  Verkörperungen  höherer  Mächte  und 
sollen  vierzig  Tage  . nach  ihrem  Tod  in  anderen  Gestalten  wieder- 
erscheinen. „Gott  erschuf  die  Welt  durch  seinen  Willen;  der  Wille 
drückte  sich  in  Worten  aus;  da  nun  die  Worte  aus  Buchstaben 
bestehen,  besitzen  diese  Buchstaben  göttliche  Eigenschaften.“  Der 
Zahlenwert  der  Buchstaben,  aus  denen  die  babistischen  Namen 
Gottes  bestehen,  beträgt  immer  19;  demgeniäfs  bestehen  die 
kirchlichen  Körperschaften  der  Sekte  stets  aus  19  Priestern,  ihr 
Jahr  ist  in  19  Monate  zu  19  Tagen  geteilt  und  das  Ramadan- 
fasten dauert  statt  30  nur  19  Tage. 

Ali  Mohammed,  der  Bab,  wählte  achtzehn  Jünger  aus,  die 
er  „Buchstaben  des  Lebendigen"  nannte  und  die  zusammen  mit 
ihm,  dem  „Ersten  Punkt"  (d.  h.  der  Punkt  der  Offenbarung,  aus 
dem  alle  erschaffen  sind  und  zu  dem  alle  zurückkehren)  die 
heilige  Hierarchie  der  Neunzehn  (oder  „die  erste  Einheit") 
bildeten.  Den  vierten  Platz  in  dieser  Rangordnung  nahm  Mirza 
Jahija  ein,  der  daher  nach  dem  Tode  des  Ersten  Punktes  und 
der  zwei  ersten  Buchstaben  zum  Oberhaupt  der  Sekte  auf- 
rückte. Aber  ein  anderes  Mitglied  der  ersten  Einheit,  Mirza 
Hussein  Ali,  genannt  Beha,  behauptete,  derjenige  zu  sein,  durch 
den  nach  des  Bab  Prophezeiung  Gott  seine  endgültige  Offen- 
barung am  Jüngsten  Tag  kundthun  werde.  Der  Anspruch  Behas 
hatte  ein  Schisma  zur  Folge,  so  dafs  der  Babismus  seither  zwei 
Sekten  hat:  die  Behaiten  und  die  Ezeliten;  Mirza  Jahija  hiefs 
nämlich  auch  Subh-i-Ezel  (=  „Morgen  der  Ewigkeit").  Die 
meisten  Babisten  sind  Behaiten,  und  Jahija  lebt  in  der  Verbannung 
zu  Famagusta  auf  Cypern. 

In  der  Frauenfrage  sind  die  Babisten  den  übrigen  Asiaten 
so  voraus,  dafs  sie  die  Lage  der  Frauen  zu  heben  wünschen. 
Sie  bemühen  sich  um  die  Abschaffung  des  Schleiers  und  wollen 
dem  schwachen  Geschlecht  alle  bürgerlichen  Rechte  des  starken 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


zugestehen.  Während  der  Stifter  des  Babismus  den  Genufs  des 
Tabaks  untersagte,  gestattete  Beha  denselben.  Wie  gegen  jede 
neue  Sekte,  werden  auch  gegen  die  Babisten  allerlei  Beschuldi- 
gungen erhoben : sie  seien  Kommunisten,  treiben  Vielmännerei 
(jedem  Weib  seien  neun  Gatten  gestattet),  trinken  Wein  u.  dgl.  m.; 
doch  ist  nichts  von  alledem  bewiesen  worden.  Angeblich  er- 
kennen sie  sich  an  besonderen  Arten  des  Grufses  und  an  Ringen 
von  eigentümlicher  Form.  Sie  tragen  eine  charakteristische 
Frisur  und  kleiden  sich  in  der  Regel  weifs.  Obgleich  der  Babis- 
mus erst  etwas  über  ein  halbes  Jahrhundert  alt  ist,  »erfreut"  er  sich 
bereits  einer  Unmenge  von  theologischen  Streitschriften;  die 
Menschen  streiten  eben  von  jeher  am  meisten  und  liebsten  über 
Dinge,  von  denen  sie  am  wenigsten  verstehen ! 

Vielleicht  ist  der  Babismus  berufen,  in  Asien  noch  eine 
bedeutende  Rolle  zu  spielen.  Inzwischen  bietet  er  der  Mitwelt 
Gelegenheit,  die  Entwickelung  einer  neuen  Religion  zu  beobachten, 
die  dem  Priestertum  eine  über  die  königliche  weit  hinausreichende 
Macht  zuweist,  es  sei  denn,  dafs  der  König  selber  ein  Babist  wäre, 
was  er,  falls  die  Sekte  je  die  Oberhand  gewinnen  sollte,  auch  wirk- 
lich sein  müfste,  wenn  er  seine  Würde  bewahren  wollte,  da  der 
Bab  gelehrt  hat,  dafs  nur  Babisten  bürgerliche  Rechte  geniefsen 
können,  Andersgläubige  aber  nicht.  Zur  Vergröfserung  des  Ein- 
flusses der  Priester  ist  für  den  Gottesdienst  möglichst  grofser 
Pomp  vorgeschrieben  und  die  Tempel  sollen  mit  den  kostbarsten 
> Erzeugnissen  der  Natur  und  der  Kunst  ausgeschmückt  werden. 

Vorläufig  will  sich  keine  der  beiden  Sekten  des  Moham- 
medanismus  mit  den  Lehren  der  Babisten  befreunden.  Die  in 
Persien  vorherrschenden  Schiiten  wollen  besonders  davon  nichts 
wissen,  dafs  der  Bab  der  vcrheifsene  Mahdi  sein  solle.  Des 
letzteren  Kommen  sollte  nach  der  Offenbarung  von  Wunder-Er- 
scheinungen begleitet  sein,  während  beim  Auftreten  Ali  Mohammeds 
solche  selbstverständlich  nicht  wahrnehmbar  waren.  Auch  die 
neue  Scheich-Schule  ist  dem  Babismus  ungünstig  gesinnt.  Im 
Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  verkündete  der  Scheich 
Achmed  von  Ahsa  einen  neuen  Glauben,  der,  obgleich  von  den 
Rechtgläubigen  für  ketzerisch  gehalten , viele  Anhänger  fand. 
Achmed  starb  1827  und  hatte  seinen  Jünger  Hadschi  Seid  Kasim 
zum  Nachfolger.  Dieser  prophezeite  bei  seinem  Tode  (1844) 

das  Erscheinen  eines  Mannes,  der  ihn  an  Bedeutung  übertreffen 
werde.  Diese  Gelegenheit  ergriff  Ali  Mohammed,  um  sich  als 
jenen  Mann,  den  Bab,  auszugeben  und  er  wurde  von  der  alten 
Scheich-Partei  kräftig  unterstützt,  während  ein  Teil  der  Anhänger 
Seid  Kasims  sich  als  neue  Scheich-Schule  lostrennte  und  ihn 
heftig  befehdete.  Der  Bab  nannte  den  Anführer  der  neuen 

Partei  »Quintessenz  des  Höllenfeuers“  und  wurde  von  ihm 


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Der  Babismus. 


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seinerseits  in  einer  Abhandlung,  die  sich  »Die  Vernichtung  der 
Falschheit“  betitelte,  gründlich  abgeführt,  worauf  noch  andere 
gegenseitige  Angriffe  folgten. 

Die  schändlichen  Babistenverfolgungen  des  Schahs  Nasr- 
ed-din  im  Jahre  1852  hatten  das  Ergebnis,  dafs  die  Sekte  sich 
44  Jahre  lang  äufserlich  ruhig  verhielt , obgleich  die  Anzahl 
ihrer  Mitglieder  allmählich  aufs  Doppelte  anwuchs.  Trotz  der 
langen  Ruhe  kam  es  in  neuerer  Zeit  wieder  zu  Verfolgungen. 

Im  Jahre  1863  schlug  ein  Perser,  der  eine  Europareise  gemacht 
hatte,  dem  Schah  vor,  eine  Freimaurerloge  zu  gründen  und  selber 
deren  Grofsmeister  zu  werden,  wodurch  er  eine  moralische  Bürg- 
schaft für  die  Treue  seiner  Unterthanen  hätte,  da  zweifellos  alle 
angesehenen  und  hervorragenden  Persönlichkeiten  beitreten  und 
maurerische  Eide  nie  gebrochen  würden.  Der  Schah  erteilte  die 
Erlaubnis  zur  Errichtung,  liefs  sich  aber  nicht  einweihen.  Die 
Loge  Feramusch-chanek  (=  »Haus  der  Vergessenheit“,  weil  man 
beim  Verlassen  der  Loge  alles  dort  Gesehene  und  Gehörte  ver- 
gessen sollte),  trat  alsbald  ins  Leben  und  der  Monarch  veran- 
lafste  alle  Höflinge  zum  Anschlufs  an  dieselbe.  Auf  seine  Fragen 
nach  den  Vorgängen  daselbst  erhielt  er  unklare  Antworten ; die 
Mitglieder  hatten  einen  moralischen  Vortrag  angehört , Thee 
getrunken  und  Tabak  geraucht.  Da  es  dem  Herrscher  unglaublich 
vorkam,  dafs  hinter  den  ihm  als  so  schrecklich  geschilderten  Ge- 
heimnissen der  Freimaurerei  nicht  mehr  stecken  sollte,  vermutete 
er,  dafs  man  ihm  das  meiste  vorenthalte.  Seinen  Mifsmut  hierüber  * 
benutzten  die  Gegner  der  Neuerung  unter  seinen  Ratgebern  zur 
Andeutung,  die  Loge  diene  wahrscheinlich  den  ärgsten  Aus-  • 
Schweifungen  und  sei  vielleicht  sogar  ein  Versammlungsort  von 
Babisten.  Die  vermeintlichen  Ausschweifungen  mochten  noch 
hingehen , aber  der  Gedanke  an  den  Babismus  führte  zur 
schleunigsten  Schliefsung  der  Loge  und  zur  Verbannung  jenes 
europäisch  gesinnten  Persers,  der  die  Anregung  zu  ihrer  Er- 
öffnung gegeben  hatte.  Und  bald  begannen  wieder  die  direkten 
Babistenverfolgungen,  glücklicherweise  in  viel  kleinerem  Mafse 
als  früher.  1888  wurden  Seid  Hassan  und  Seid  Hussein  auf 
Anordnung  des  damaligen  Kronprinzen  hingerichtet,  weil  sie  sich 
weigerten,  den  Babismus  abzuschwören.  Ihre  Leichname  schleppte 
man  bei  den  Füfsen  durch  die  Strafsen  und  Bazare  von  Ispahan 
und  warf  sie  dann  durch  das  Festungsthor  zur  Stadt  hinaus. 

Im  Oktober  desselben  Jahres  liefs  die  Geistlichkeit  den  Babisten 
Aga  Mirza  Aschraf  umbringen  und  die  Leiche  in  der  schreck- 
lichsten Weise  verstümmeln.  1890  griff  eine  Pöbelrotte  die 
Babisten  des  Bezirkes  Seh-deh  an  und  tötete  ihrer  sieben  bis 
acht,  die  Leichen  nachher  verbrennend.  Der  Schah  soll  die 
grundlosen  fanatischen  Überfälle  auf  Babisten  wiederholt  mifs- 


« 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


billigt  haben;  allein  das  schützte  ihn  nicht  vor  der  Rache  für 
seine  eigenen  früheren  Verfolgungen,  und  am  1.  Mai  18%  wurde 
er  bekanntlich  erschossen.  Der  Mörder  war  Mirza  Mohammed 
Risa  aus  Kirman,  ein  Anhänger  des  1 891  wegen  eines  Versuches 
zur  Entthronung  Nasr-ed-dins  verbannten  Dschemal-ed-din;  er 
war  auserwählt  worden,  den  Schah  zu  töten  — ob  seine  Hin- 
richtung die  Babisten  wohl  von  anderen  Attentaten  abschrecken 
wird?  Hierüber  wie  überhaupt  über  die  Zukunft  der  Sekte  sich 
eine  Meinung  zu  bilden,  ist  ungemein  schwer.  Da  die  Babisten 
aber  mäfsig,  keusch,  fromm  und  opferwillig  sind,  dürften  sie, 
falls  sie  jemals  die  herrschende  Sekte  werden  sollten,  Persien 
gründlich  umgestalten.  Nach  den  Erfahrungen  der  Ent- 
wickelungslehre ist  es  nicht  einmal  unwahrscheinlich,  dafs  es  so 
kommen  wird.  Und  Persien  bedarf  gar  sehr  der  Umgestaltung 
seiner  Zustände. 


Die  Nihilisten. 

Bedeutung  des  Wortes  »Nihilist“.  — Die  Pioniere  des  Nihilismus:  Baku- 
nin,  Herzen,  Tschemischewski,  Netschajew.  — »Unters  Volk  gehen“.  — 
Der  Nihilismus  wird  aggressiv.  — „Land  und  Freiheit".  — Grofse  Pro- 
zesse. - Sophia  Bardina.  — Die  Schreckenspartei.  — Wjera  Sassulitsch.  — 
Attentate  gegen  hohe  Beamte.  — Goldenberg  und  Solowjew.  — Attentate 
auf  Alexander  II.  — Verfolgungen  und  Hinrichtungen.  — Die  Explosion 
im  Winterpalast.  — Die  Ermordung  des  Zars.  — Die  Mine  in  der  Garten- 
strafse.  — Die  angeblichen  Verfassungspläne  Alexanders  II.  — Die  Prokla- 
mation an  Alexander  111.  - Neuerliche  Verfolgungen.  - Ignatiews  Po- 
litik. - Nihilisten  und  Juden.  - Vorsichtsmalsregeln  zum  Schutz  des 
neuen  Zars.  — Attentat  auf  Tscherewin.  - Niederlagen  der  Nihilisten 
1882.  — Die  Krönung  Alexanders  III.  und  der  Nihilismus.  — Attentat 
auf  Sudeikin.  Das  Attentat  von  Gatschina.  Die  Odessaer  Attentate.  — 
Prozess  der  Vierzehn.  — Neugestaltung  der  Partei.  — Wiedererscheinen 
des  ..Volkswille“.  - Niedergang  des  Nihilismus.  — Lauter  Mifserfolge 
und  Niederlagen.  - Neueste  Geschichte.  — Einnahmequellen.  — Geheime 
Druckereien.  Sicherheitsmafsregeln. 

Der  Ausdruck  »Nihilist“  kommt  zu  allererst  bei  Iwan  Tur- 
genjew vor.  ln  seinem  Roman  »Väter  und  Söhne»  bezeichnet 
Arkadi  seinen  Freund  Bazarow  als  einen  »Nihilisten».  — »Ni- 
hilist? Ich  glaube,  das  ist  jemand,  der  nichts  zugiebt»  --  »Oder 
vielmehr  jemand,  der  vor  nichts  Respekt  hat,  sich  keiner  Autorität 
beugt  und  keinen  Grundsatz  — und  möge  derselbe  noch  so 
allgemein  hochgehalten  werden  - ohne  Prüfung  hinnimmt.“ 
Diese  ursprüngliche  Definition  trifft  längst  nicht  mehr  zu.  Lange 
Zeit  in  verächtlichem  Sinn  gebraucht,  wurde  das  Wort  von  denen, 
gegen  die  es  sich  wenden  sollte,  in  ähnlicher  Weise  mit  Stolz 


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Die  Nihilisten. 


319 


aufgegriffen,  wie  einst  die  Bezeichnung  „Geusen“  vom  nieder- 
ländischen Adel. 

Die  ersten  Nihilisten  waren  keineswegs  Verschwörer,  sondern 
lediglich  Mitglieder  eines  litterarisch-philosophischen  Vereins,  der 
zwischen  1860  und  1870  bestand.  Erst  die  Pariser  Kommune 
und  die  Internationale  brachten  die  russische  Jugend  auf  den 
Gedanken,  geheime  Verbindungen  ins  Leben  zu  rufen  behufs 
Verbreitung  der  freisinnigen  Ideen,  welche  von  Michael  Bakunin 
und  Alexander  Herzen  schon  seit  längerer  Zeit  gepredigt  worden 
waren.  Diese  zwei  Männer  und  der  Verfasser  des  1863  er- 
schienenen Romans  „Was  soll  geschehen?“,  Tschernisehewski, 
können  als  die  eigentlichen  Väter  des  wirklichen  Nihilismus  an- 
gesehen werden.  Tschernisehewski,  dessen  Roman  die  Geister 
mächtig  erregte,  wurde  nach  Sibirien  verbannt  Herzen,  der 
1869  starb,  strebte  eine  friedliche  Umgestaltung  der  russischen 
Verhältnisse  an,  während  Bakunin  (f  1878)  für  deren  gewaltsame 
Umwälzung  mittels  einer  Erhebung  in  Gemeinschaft  mit  mehreren 
anderen  zu  revolutionierenden  Ländern  Europas  schwärmte.  Das 
Programm  der  1874  gegründeten  bakuninischen  ultraradikalen 
Partei  lief  darauf  hinaus,  „die  Thatkraft  nicht  an  Zukunftsorgani- 
sationen zu  verschwenden,  sondern  unverzüglich  ans  Zerstörungs- 
werk zu  schreiten.“ 

Ein  andrer  hervorragender  Pionier  war  der  unermüdlich 
thätige  und  hochbegabte  Autodidakt  Sergei  Netschajew,  ein  Peters- 
burger Schulmeister.  Im  Jahre  1869  setzte  er  eine  Verschwörung 
ins  Werk,  die  zwar  nicht  den  Tod,  wohl  aber  die  Thronent- 
se^ung  des  Zars  bezweckte.  Doch  wurde  nichts  daraus.  Net- 
schajew hatte  nämlich  einen  intimen  Freund , den  Studenten 
Iwanow,  der  nicht  so  weit  gehen  wollte  wie  er,  sich  daher  mit 
ihm  zerschlug  und  mit  seinem  Austritt  aus  der  geheimen  Ver- 
bindung drohte.  Da  die  letztere  Verrat  befürchtete,  ermordete 
Netschajew  am  21.  November  1869  Iwanow.  Die  Entdeckung 
dieses  'Verbrechens  führte  zur  Aufdeckung  dieser  Verschwörung 
und  wegen  Teilnahme  an  ihr  wurden  87  Personen  vor  Gericht 
gestellt  (1871),  darunter  Fürst  Tscherkesow,  der  den  Bund  mit 
gröfseren  Geldsummen  unterstützt  hatte.  Ober  den  Fürsten  ver- 
hängte das  Gericht  den  Verlust  aller  Rechte  und  Vorrechte  sowie 
fünfjährige  Verbannung  nach  Sibirien.  Netschajew  selbst  entkam 
nach  der  Schweiz,  wurde  jedoch,  nachdem  die  russische  Regierung 
auf  seinen  Kopf  einen  hohen  Preis  ausgesetzt  hatte,  mit  Hilfe 
des  Züricher  Polizeileiters,  der  dafür  20000  Francs  erhielt,  an 
Rufsland  ausgeliefert,  obgleich  der  Stadtrat  sich  gegen  die  Aus- 
lieferung kräftig  verwahrte.  Zu  zwanzigjähriger  Zwangsarbeit  in 
Sibirien  verurteilt,  wurde  er,  weil  man  ihn  wegen  seiner  grofsen 
organisatorischen  und  agitatorischen  Fähigkeiten  nicht  aus  dem 


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320 


Politische  Geheimgesellsehaften. 


Auge  lassen  wollte,  nicht  nach  Sibirien  geschickt,  sondern  in  den 
fluchtsichersten  Teil  der  Festung  Petropawlowsk  gesperrt  und 
überdies  anfänglich  derart  an  eine  Metallstange  gekettet,  dafs  er 
nur  sehr  unbequem  liegen,  stehen  oder  sitzen  konnte.  Aber 
selbst  im  Kerker  gelang  es  ihm,  Anhänger  zu  gewinnen.  Der 
Kaiser  und  mehrere  hohe  Staatsbeamte  besuchten  ihn,  um  ihn 
über  Wesen  und  Aussichten  der  Umsturzpartei  auszufragen;  er 
besafs  jedoch  so  viel  Selbstverleugnung,  dafs  er  lieber  im  Ge- 
fängnis blieb,  als  etwas  zu  verraten.  Sein  weiteres  Schicksal  ist 
nicht  bekannt.  Er  soll  an  den  Folgen  einer  grausamen  Züch- 
tigung gestorben  sein , die  er  wegen  eines  Streites  mit  dem 
Kerkeraufseher  erlitt.  Die  Nihilisten  betrauerten  gar  sehr  den 
Verlust  dieses  ebenso  mutigen  wie  selbstlosen  Mannes. 

Zu  den  frühesten  Ergebnissen  der  erwachten  Begeisterung 
für  soziale  und  politische  Freiheit  gehörte  der  Eifer,  mit  welchem 
viele  junge  Leute  »unters  Volk  gingen".  Jünglinge  und  Mädchen 
aus  angesehenen  oder  reichen,  sogar  auch  adeligen  Familien  ent- 
sagten der  Annehmlichkeit  und  Sicherheit  des  häuslichen  Lebens, 
der  Liebe  und  Achtung  ihrer  Verwandten,  den  Vorteilen  von 
Rang  und  Stellung,  um  sich  unter  die  Bauern  und  Arbeiter  zu 
mischen,  deren  Kleidung,  Kost  und  Arbeit  teilend.  Sie  thaten 
dies,  um  sie  über  die  Menschenrechte  zu  belehren  und  ihnen 
radikale  Grundsätze  beizubringen.  Im  Winter  1872  scharte  Fürst 
Peter  Krapotkin  in  einer  Hütte  bei  St.  Petersburg  eine  Anzahl 
von  Arbeitern  um  sich.  Am  Don-Ufer  that  der  reiche  Kosak 
Obrutschow  dasselbe.  Der  Offizier  Leonidas  Schiseko  wurde, 
um  agitieren  zu  können,  in  einer  Petersburger  Fabrik  Handweber. 
Der  Offizier  Demetrius  Rogatschew  ging  mit  einem  Freund  ins 
Gouvernement  Twer,  wo  sie  als  Holzsäger  für  den  Nihilismus 
Propaganda  machten.  Die  Aristokratin  Sophia  Perowskaja,  die 
Tochter  des  Generalgouverneurs  von  Petersburg,  verlegte  sich 
auf  das  Impfen  von  Bauernkindern.  Unter  den  jugendlichen 
Schwärmerinnen  befanden  sich  auch  die  Töchter  dreier  Wirklicher 
Staatsräte  und  eines  Generals.  Aus  einem  geheimen  amtlichen 
Bericht  vom  Jahre  1875  geht  hervor,  dafs  es  bereits  1870  — 
71  in  37  Gouvernements  revolutionäre  Vereine  gab,  die  zumeist 
Schulen , Fabriken , Werkstätten  und  Niederlagen  verbotener 
Schriften  unterhielten  — lauter  Propagandamittel,  zu  denen  noch 
die  Verbreitung  von  Flugblättern  trat.  Gröfsere  Erfolge  wurden 
aber  nur  in  den  gebildeteren  Kreisen  erzielt;  so  z.  B.  opferten  der 
Agitation  der  Student  Germolow  sein  ganzes  Vermögen,  der  einstige 
Friedensrichter  Woinaralski  vierzigtausend  Rubel.  Die  bei  den 
Bauern  erzielten  Ergebnisse  hingegen  entsprachen  keineswegs  der 
aufgewendeten  Mühe.  Der  russische  Bauernstand  ist  eben  zu  un- 
wissend und  furchtsam;  auch  fehlte  es  vielen  der  eifrigen  Apostel 


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Die  Nihilisten. 


321 


an  der  nötigen  Vorsicht  und  das  bewirkte,  dafs  sie  die  Auf- 
merksamkeit der  Behörden  erregten  und  verhaftet  wurden.  Mittels 
Kerkers,  Galgens,  Verbannung  und  grausamer  Behandlung  rottete 
die  Regierung  die  ganze  Bewegung  aus. 

Das  Scheitern  des  theoretischen  Nihilismus  zeitigte  den 
praktischen,  kämpfenden.  Die  davongekommenen  Nihilisten  setzten 
an  die  Stelle  der  friedlichen  Propaganda  die  aggressive.  Zunächst 
bildeten  sie  in  verschiedenen  Bezirken  Gruppen,  denen  die  Auf- 
gabe zufiel,  nur  unter  solchen  Bauern  zu  agitieren,  die  ihnen 
als  vorsichtig  und  intelligent  bekannt  waren.  Anfänglich  (1876 
bis  1878)  wurde  die  hauptstädtische  Gruppe  »Die  Troglodyten" 
genannt,  später  jedoch  »Land  und  Freiheit"  — nach  dem  Titel 
des  von  ihr  herausgegebenen  geheimen  Organs.  Besonders  grofs 
war  die  Moskauer  Gruppe,  die  zumeist  aus  ehemaligen  Züricher 
Universitätsstudenten  — darunter  mehreren  Mädchen  — bestand, 
die  teilweise  Scheinheiraten  eingingen,  welche  in  Wirklichkeit  fast 
nie  vollzogen  wurden  und  nur  den  Zweck  hatten,  die  Genossinnen 
unabhängig  und  pafsfähig  zu  machen.  Sie  selbst  nannten  diese 
Ehen  in  ihren  Briefen  »Possen“  und  vor  Gericht  stellte  sich  oft 
heraus,  dafs  die  betreffenden  Mädchen  trotz  ihrer  abenteuerlichen 
Lebensweise  und  ihres  vertrauten  Umganges  mit  Männern  fast 
durchweg  tugendhaft  blieben. 

Die  »Gruppen"  erzielten  keine  sonderlichen  Erfolge.  Die 
Riesigkeit  des  Reiches,  die  Trägheit  und  Gleichgültigkeit  des 
Volkes,  die  Notwendigkeit  gröfster  Vorsicht  — all  dies  vereitelte 
die  Anstrengungen  der  Agitatoren  erheblich.  Die  leitenden  Per- 
sonen schrieben  verzweifelte  Briefe;  einer  lautete:  »Die  Nach- 
richten aus  dem  Süden  sind  unbefriedigend.  . . Wir  senden 
euch  Bücher  und  Revolver.  . . Tötet,  schiefset,  thuet  etwas,  rufet 
Unruhen  hervor!“  An  Büchern  und  Geld  fehlte  es  durchaus 
nicht  Im  März  1875  erfolgten  viele  Verhaftungen,  die  zur 
Folge  hatten,  dafs  in  Moskau  eine  Zentralstelle  errichtet  wurde, 
welche  die  Agitatoren  mit  Geld,  Schriften,  falschen  Pässen  u.  s.  w. 
versorgte,  vor  drohenden  Gefahren  warnte,  in  Geheimschrift 
korrespondierte  und  mit  den  Häftlingen  Verbindungen  unterhielt. 
Doch  wurde  diese  Zentralstelle  schon  nach  wenigen  Monaten 
von  den  Behörden  entdeckt  und  vollständig  beseitigt. 

Aber  die  Nihilisten  arbeiteten  unentwegt  weiter.  Trotz  der 
Verurteilung  von  Alexis  Ossipow  zu  neun  und  Alexander  Butows- 
kaja  zu  vier  Jahren  Zwangsarbeit  wegen  Verbreitung  verbotener 
Bücher  (1876)  entstand  in  Moskau  eine  neue  geheime  Vereinigung. 
Als  man  ihr  im  März  1877  auf  die  Spur  kam  und  den  Prozefs  machte, 
wurden  von  den  fünfzig  Angeklagten,  deren  Alter  sich  zwischen 
15  und  25  Jahren  bewegte,  zehn  — darunter  mehrere  junge 
Mädchen  — zu  fünf  bis  zehn  Jahren  Zwangsarbeit,  die  übrigen 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  21 


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522 


Politische  Geheimgesellschaften. 


zu  Kerker  oder  Verbannung  verurteilt  Zu  den  Angeklagten 
gehörte  die  dreiundzwanzigjährige  Sophia  ßardina,  die  ihre  Studien 
mit  Auszeichnung  beendet  hatte,  aber  dennoch  eine  gewöhnliche 
Fabrikarbeiterin  wurde,  um  agitieren  zu  können.  Wegen  Ver- 
teilung freisinniger  Flugschriften  unter  die  Arbeiter  verhaftet, 
blieb  sie  zwei  Jahre  ohne  Prozefs  in  strengem  Gewahrsam ; in 
der  soeben  erwähnten  Verhandlung  gegen  die  Fünfzig  bekam 
sie  neun  Jahre  Zwangsarbeit  in  Sibirien.  Sie  hielt  damals  vor 
Gericht  eine  glänzende,  berühmt  gewordene  Rede,  in  der  u.  a.  die 
folgenden  Stellen  vorkamen: 

»Ich  bin  überzeugt,  dafs  unser  jetzt  noch  schlafendes  Land 
erwachen  und  dafs  dieses  Erwachen  ein  schreckliches  sein  wird. 
Es  wird  dann  nicht  länger  gestatten,  dafs  seine  Rechte  mit  Füfsen 
getreten  und  seine  Kinder  in  den  sibirischen  Bergwerken  lebendig 
begraben  werden.  . . . Die  Gesellschaft  wird  ihr  schmachvolles 
Joch  abschütteln  und  uns  rächen.  Diese  Rache  wird  furchtbar 
sein.  . . . Richter  mögen  uns  verfolgen,  Henker  uns  töten;  so- 
lange ihr  über  physische  Gewalt  verfüget,  werden  wir  euch  mit 
sittlicher  Kraft  entgegentreten,  denn  wir  verfügen  über  die  Gleich- 
heits-  und  Freiheits-Ideen  und  diese  sind  vor  euren  Bajonetten 
gefeit !“ 

Bald  folgte  ein  Prozefs  gegen  193  Angeschuldigte  - nach 
vierjähriger  Untersuchungshaft,  die  sich  ursprünglich  auf  770 
Personen  erstreckt  hatte.  Bei  diesem  und  den  übrigen  Prozessen, 
die  man  den  Nihilisten  in  verschiedenen  Teilen  Rufslands  machte, 
legten  die  Angeklagten  bezw.  Verurteilten  eine  so  mutige  und 
entschlossene  Haltung  an  den  Tag,  dafs  sie  selbst  von  vielen 
Leuten,  die  mit  ihren  Bestrebungen  nicht  einverstanden  waren, 
»Heilige"  genannt  wurden.  Und  die  Gesinnungsgenossen ? Die 
liefsen  sich  durch  nichts  abschrecken  und  fuhren  fort,  Kund- 
gebungen zu  erlassen,  in  denen  sie  mit  ihren  fortschrittlichen 
Forderungen  nicht  hinter  dem  Berg  hielten.  Vor  allem  ver- 
langten sie  die  Beseitigung  der  korrupten  und  grausamen  Hof- 
kamarilla sowie  die  Abschaffung  der  berüchtigten  »Dritten  Ab- 
teilung“. Freilich  gab  es  auch  Nihilisten,  die  weit  radikalere 
Mafsregeln  forderten;  diese  Gruppe  trennte  sich  von  der  milder 
gesinnten  und  bildete  die  »Volkspartei"  mit  dem  Prefs-Organ 
»Land  und  Freiheit“.  Bereits  1 87 S trat  eine  weitere  Absonderung 
ein,  deren  Ergebnis  die  »Schreckenspartei“  war,  die  ihr  Blatt 
»Volkswille“  betitelte.  Die  Ultras  schienen  anfangs  keinen  festen 
Plan  zu  haben,  aber  die  Regierung  spielte  ihnen  durch  mafslose 
Willkür  geradezu  in  die  Hände.  Das  mifsbräuchliche  Spionier- 
und  Verdächtigungssystem  der  Behörden,  die  unnötig  grausame 
Strenge-der  Verurteilungen  wegen  geringfügiger  »Vergehen“,  das 
Fehlen  jeder  Neigung  zu  Reformen  - kurz,  alles  war  geeignet, 


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Die  Nihilisten. 


323 


die  Radikalen  aufs  höchste  zu  erbittern.  Was  Wunder,  wenn 
mehr  als  ein  Verräter  von  ihnen  umgebracht  wurde?!  So  über- 
mäfsig  roher  Gewalt  gegenüber  findet  auch  der  friedlichst  ge- 
sinnte Menschenfreund  Repressalien  begreiflich. 

Nicht  nur  an  den  Spionen  übte  die  »Schreckenspartei* 
Rache,  sondern  auch  an  hohen  Würdenträgern  und  Beamten, 
schliefslich  sogar  am  Kaiser.  Den  Anfang  der  Reihe  von  Atten- 
taten bildete  das  der  Wjera  Sassulitsch  auf  den  berüchtigten 
Petersburger  Polizeichef  Trepow  im  Januar  1878.  Dieser  General 
hatte  den  politischen  Häftling  Bogolinbow  wegen  eines  kleinen 
Disziplinarvergehens  peitschen  lassen  und  Wjera  übernahm  es, 
ihn  zu  rächen,  obgleich  sie  ihn  gar  nicht  kannte.  Dieses  damals 
26jährige  Mädchen  war  im  17.  Lebensjahr  verhaftet  und  zwei 
Jahre  lang  eingesperrt  gehalten  worden,  weil  sie  für  einen  Nihi- 
listen Briefe  entgegengenommen  hatte;  dann  schickte  man  sie 
von  Ort  zu  Ort,  bis  man  sie  schliefslich  zwei  Jahre  lang  unter 
Polizeiaufsicht  in  Charkow  liefs.  Ende  1875  kehrte  sie  nach 
Petersburg  zurück.  Der  allgemeine  Unwille  gegen  Trepow,  den 
auch  das  nichtrevolutionäre  Publikum  den  »Baschibosuk  von 
Petersburg"  nannte,  veranlafste  sie  gelegentlich  jener  Peitschung 
zu  einem  Revolverattentat  auf  den  Polizeichef.  Dieser  erlitt  eine 
schwere  Verwundung,  allein  Wjera  wurde  von  den  Geschworenen 
freigesprochen  — ein  Urteil,  welches  allgemeine  Billigung  fand. 
Trotz  der  Freisprechung  wollte  die  Polizei  sich  ihrer,  als  sie 
davonfuhr,  bemächtigen,  doch  widersetzte  sich  dem  das  Publikum 
und  in  der  Verwirrung  konnte  die  Sassulitsch  flüchten;  Trepow 
aber  erhielt  vom  Zar  eine  Auszeichnung. 

Sieben  Monate  später  erfolgte  die  Ermordung  des  Generals 
Mesentzow,  Leiters  der  dritten  Abteilung.  Dieses  Scheusal,  das 
in  einen  Wechsel-  und  Testamentsfälschungsprozefs  verwickelt 
war,  mifsbrauchte  seine  verantwortungslose  Machtstellung  dazu, 
alle  Zeugen,  von  denen  es  ungünstige  Aussagen  befürchtete,  aus 
der  Welt  schaffen  zu  lassen.  Auch  pflegte  Mesentzow  Sträflinge 
verhungern  oder  sonstwie  mit  ausgesuchter  Grausamkeit  behandeln 
zu  lassen.  Am  16.  August  1878  wurde  er  von  zwei  Nihilisten, 
die  dann  sofort  in  einer  bereitstehenden  Droschke  entkamen,  er- 
schossen. Unmittelbar  nachher  drohten  die  Terroristen  mit  der 
Fortsetzung  ihrer  blutigen  Thätigkeit  für  den  Fall,  dafs  die 
politischen  Verfolgungen  nicht  aufhören  und  die  eingekerkerten 
politischen  Verbrecher  nicht  begnadigt  werden  sollten.  Die  Re- 
gierung antwortete  mit  einer  Verschärfung  der  Verfolgungen,  mit 
der  Abschaffung  der  Geschworenengerichte  für  politische  Ver- 
brechen und  ihrer  Ersetzung  durch  »sichere"  Sondergerichte. 
Im  September  (1878)  wurde  die  aus  etwa  sechzig  Mitgliedern 
bestehende  St.  Petersburger  Gruppe  »Land  und  Freiheit“  unter 

21* 


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324 


Politische  Geheimgesellschaften. 


vielen  Verhaftungen  aufgelöst;  allein  die  Entwischten  riefen  die 
Verbindung  aufs  neue  ins  Leben  und  richteten  für  den  Druck 
ihres  Prefs-Organs  eine  eigene  Druckerei  ein. 

Die  Attentats-Chronik  des  Jahres  1879  begann  am  9.  Februar 
mit  der  Erschiefsung  des  Fürsten  Alexis  Krapotkin  — eines 
Vetters  Peters  — durch  Goldenberg,  dem  es  glückte,  zu  entkommen. 

Der  Fürst  hatte  sich  als  Gouverneur  von  Charkow  durch  un- 
menschliche Behandlung  der  Sträflinge  mifsliebig  gemacht  und 
die  letzteren  durch  seine  Grausamkeit  so  sehr  erbittert,  dafs  sie 
einen  jener  Hungerstreiks  veranstalteten,  deren  nähere  Kenntnis 
uns  der  wackere  Sibirienreisende  George  Kennan  vermittelt  hat. 

Bereits  am  12.  März  schofs  Mirski,  der  dann  ebenfalls  entwischte, 
auf  den  Leiter  der  Geheimpolizei,  General  Drenteln,  der  einen 
Gefangenen  wegen  Fluchtversuchs  hatte  henken  lassen  und  über- 
haupt ein  sehr  grausamer  Mensch  war,  der  ebenfalls  einen 
Hungerstreik  hervorrief.  Nun  sollte  die  Reihe  an  den  Zar 
kommen.  Nach  dem  Mifslingen  des  Versuchs,  ihn  im  Herbst 
1878  zu  Nikolajew  mittels  einer  Mine  in  die  Luft  zu  sprengen, 
kam  der  Lehrer  A.  Solowjew  — der,  um  mit  den  Arbeiterkreisen 
in  nähere  Berührung  zu  kommen,  ein  Grobschmied  geworden 
war  - nach  Petersburg,  verständigte  sich  mit  Goldenberg  und 
der  Gruppe  «Land  und  Freiheit",  gab  am  2.  April  1879  auf  den 
spazieren  gehenden  Kaiser  vier  Schüsse  ab,  die  nicht  trafen,  und 
erlitt  zwei  Monate  später  den  Henkertod. 

Nunmehr  traten  behördlicherseits  Zustände  ein,  die  für 
ganz  Rufsland  dem  Belagerungszustand  gleichkamen.  In  der 
Hauptstadt  mufste  jeder  Hausbesitzer  Tag  und  Nacht  einen 
Wächter  halten,  der  die  Kommenden  und  Gehenden  zu  beo- 
bachten und  das  Ankleben  von  Plakaten  zu  verhüten  hatte.  Im 
Mai  gab  es  in  der  Peterpaulsfestung  4700  politische  Gefangene, 
die  eines  Nachts  nach  Gefängnissen  in  den  östlichen  Provinzen  , 

geschafft  werden  mufsten,  damit  für  neue  Häftlinge  Raum  werde. 

Von  Odessa  wurden  800  Sträflinge  nach  Sibirien  gebracht.  In 
Kiew  erfolgte  die  Verurteilung  der  ein  Jahr  vorher  im  Besitze 
einer  geheimen  Druckerei  betroffenen  Personen  teils  zum  Tode 
durch  Erschiefsen  (doch  liefs  der  Generalgouvemeur  sie  henken), 
teils  zu  fünfzehn  Jahren  Zwangsarbeit;  darunter  befanden  sich 
Töchter  eines  Stadtrats,  eines  Edelmannes  und  eines  Staats- 
beamten. 

Die  erhöhte  Strenge  der  Regierung  rief  eine  verstärkte 
Erbitterung  hervor,  deren  nächste  Folge  mehrere  Attentatsversuche 
gegen  den  Zar  waren.  Auf  der  Lipecker  Nihilistenkonferenz  im 
Juni  erklärte  Scheljabow,  dafs  die  Gouverneure  und  die  anderen 
Regierungsvertreter  nur  Werkzeuge  des  Kaisers  seien  und  daher 
dieser  selbst  bestraft  werden  müsse.  Man  stimmte  dem  zu  und 


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Die  Nihilisten. 


325 


einigte  sich  auf  eine  Sprengung  des  Eisenbahnzuges,  der 
Alexander  II.  von  der  Krim  nach  Petersburg  bringen  sollte.  In 
der  Nähe  der  Städte  Odessa,  Alexandrowsk  und  Moskau  wurden 
Minen  gelegt;  doch  mifslang  die  Sache  an  den  zwei  erstgenannten 
Punkten  und  blofs  bei  Moskau  erfolgte  am  1.  Dezember  eine 
Explosion;  da  aber  der  kaiserliche  Zug  nicht,  wie  gewöhnlich, 
dem  Gepäckzug  folgte,  sondern  ihm  ausnahmsweise  voranging, 
litt  nur  der  Gepäckzug  und  dem  Zar  geschah  nichts.  Sophia 
Perowskaja,  der  Elektriker  Leo  Hartmann  und  andere  Gesinnungs- 
genossen hatten  ein  dicht  an  der  Bahnlinie  liegendes  Häuschen 
gekauft  und  ihre  unterirdische  Minierarbeit  nächtlicherweile  mit 
der  Hand  gethan,  dabei  bis  zum  Knie  in  eisigem  Wasser  stehend. 
Sie  entflohen  allesamt  rechtzeitig  und  wurden  nicht  erwischt,  ob- 
gleich man  nach  dem  Attentat  Hunderte  von  Nihilisten  einsperrte. 

Weder  der  Prozefs  der  »Achtundzwanzig"  in  Odessa  im 
August  (Verurteilung  teils  zum  Galgentod,  teils  zu  fünfzehn-  bis 
zwanzigjähriger  Zwangsarbeit  in  den  sibirischen  Bergwerken), 
noch  der  Odessaer  Dezemberprozefs  gegen  Viktor  Malinka  und 
Genossen,  noch  das  Scheitern  des  Eisenbahnattentats  vermochte 
die  Nihilisten  zu  entmutigen,  ebensowenig  die  Wegnahme  zweier 
geheimer  Pressen  in  Verbindung  mit  zahlreichen  neuen  Ver- 
haftungen im  Januar  1880.  Noch  vor  dem  Ende  dieses  Monats 
veröffentlichten  sie  ein  »Programm«,  in  welchem  sie  erklärten, 
dafs  der  Zar  sterben  müsse,  falls  er  sich  fortgesetzt  weigere,  dem 
Volk  verfassungsmäfsige  Rechte  zu  gewähren.  Die  Antwort  der 
Machthaber  bestand  abermals  in  Verhaftungen  und  noch  gröfserer 
Strenge.  Der  Bauernsohn  Chalturin,  ein  gewandter  Agitator  und 
erfahrener  Vereinsorganisator,  übernahm  es,  den  Kaiser  in  dessen 
Winterpalast  in  die  Luft  zu  sprengen.  Da  er  ein  sehr  tüchtiger 
Schreiner  war,  fiel  es  ihm  leicht,  unter  einem  angenommenen 
Namen  im  Winterpalast  Arbeit  zu  bekommen  (schon  im  Oktober 
1879),  und  bald  hatte  er  heraus,  dafs  der  kaiserliche  Speisesaal, 
blofs  durch  die  Wachtstube  getrennt,  über  der  Zinimermanns- 
Werkstätte  lag.  Danach  richtete  er  sich,  und  die  Polizei  war  so 
blind,  dafs  sie  von  seinen  Vorbereitungen  nichts  ahnte,  obgleich 
er  allabendlich  ein  Packet  Dynamit  einschmuggelte,  das  er  als 
Kopfkissen  benutzte,  und  obgleich  gegen  Jahresschlufs  bei  einem 
verhafteten  Mitglied  des  nihilistischen  Vollzugsausschusses  ein 
Plan  des  Palastes  gefunden  wurde,  auf  dem  der  Speisesaal  an- 
gekreuzt war  — ein  Fund,  der  die  Polizei  zur  unerwarteten 
Untersuchung  der  Zimmermanns-Werkstätte  und  ihrer  Neben- 
räume veranlagte.  Das  Dynamit  entdeckte  man  nicht,  wohl  aber 
stellte  man  einen  Gendarmen  als  Wächter  auf,  der  die  Kommen- 
den und  Gehenden  überwachen  sollte,  wodurch  die  Fortsetzung 
der  Dynamiteinschmuggelung  sehr  erschwert  - freilich  nicht 


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326 


Politische  Geheimgesellschaften. 


unmöglich  gemacht  - und  die  Durchführung  des  Planes  be- 
deutend verzögert  wurde. 

Bis  dahin  war  das  Einschmuggeln  des  Dynamits  leicht  ge- 
wesen, denn  der  Winterpalast  diente  vielen  Arbeitern,  Freunden 
der  Dienerschaft,  Vagabunden  und  allerlei  Gesindel,  das  sich 
anderwärts  nicht  hätte  straflos  aufhalten  dürfen,  als  Aufenthalts- 
ort Ein  altes  Gesetz  machte  nämlich  die  kaiserlichen  Paläste 
zu  Freistätten  von  Verbrechern  gegenüber  der  Polizei.  Als 
General  Gurko  den  Winterpalast  einer  genauen  Durchsuchung 
unterzog,  fand  er,  dafs  derselbe  von  fünftausend  Personen  be- 
wohnt war,  ohne  dafs  irgend  jemand  die  Pflichten  oder  Aufgaben 
auch  nur  der  Hälfte  gekannt  hätte.  Chalturin  selbst  machte  ver- 
blüffende Mitteilungen  über  die  im  Palast  herrschende  Unord- 
nung, die  Diebswirtschaft  und  Verschwendungssucht  der  Diener- 
schaft u.  s.  w. 

Trotzdem  ihm  die  giftigen  Ausdünstungen  des  Nitro- 
glycerins, auf  dem  er  schlief,  allnächtlich  arge  Kopfschmerzen 
verursachten,  arbeitete  Chalturin  unentwegt  und  unauffällig  weiter. 
Der  erwähnte  Gendarm  merkte  so  wenig,  dafs  er  sich  bemühte, 
den  geschickten  Arbeiter,  der  ein  Neujahrsgeschenk  von  hundert 
Rubeln  erhalten  hatte,  zum  Schwiegersohn  zu  bekommen.  Als 
fünfzig  Kilogramm  Dynamit  beisammen  waren,  liefs  der  Schreiner 
die  Explosion  erfolgen  (Febntar  1880);  sich  selbst  konnte  er 
rechtzeitig  in  Sicherheit  bringen.  Als  Gelegenheit  benutzte  er 
ein  Galadiner  zu  Ehren  des  Fürsten  von  Bulgarien.  Allein  in- 
folge eines  Zufalls  verzögerte  sich  das  Erscheinen  der  Tisch- 
gesellschaft und  so  kam  diese  mit  dem  Leben  davon,  während 
fünf  Gardisten  getötet  und  fünfunddreifsig  Personen  verwundet 
wurden.  Einige  der  Schuldigen  kamen  im  November  vor  Ge- 
richt, Chalturin  selbst  erst  anfangs  1882,  da  man  seiner  nicht 
früher  habhaft  werden  konnte.  Erst  bei  seiner  Hinrichtung 

wurde  er  als  jener  Schreiner  Batyschkow  erkannt.  Der  nihi- 
listische Vollzugsausschufs  drückte  in  einem  Aufruf  sein  Bedauern 
über  den  Tod  der  Gardisten  aus,  fügte  aber  den  Entschlufs  hinzu, 
auch  fürder  auf  die  Ermordung  des  Zars  bedacht  zu  sein,  falls 
er  keine  Reformen  einführe.  Die  Antwort  war,  dafs  der  Kaiser 
einen  unumschränkten  Diktator  in  der  Person  des  Grafen  Loris 
Melikow  ernannte.  Das  am  3.  März  (1880)  auf  diesen  ver- 
übte mifslungene  Attentat  Kaladetzkis  wurde  vom  Vollzugsaus- 
schufs nicht  nur  nicht  gebilligt,  sondern  geradezu  getadelt,  weil 
der  Graf  bewiesen  hatte,  dafs  er  sich  den  fortschrittlichen  Ideen 
nicht  gänzlich  verschliefse. 

Im  Laufe  des  Jahres  1880  wurden  zahllose  „Verdächtige“ 
verhaftet  und  in  geheimen  Gerichtsverhandlungen  zum  Tode  oder 
zur  Verschickung  nach  Sibirien  verurteilt.  Im  Frühling  erwarteten 


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Die  Nihilisten. 


327 


in  den  Moskauer  Gefängnissen  fast  dreitausend  »Politische"  - 
wie  man  sie  kurz  nannte  — ihre  Verschickung.  1879  waren 
ca.  11  500  »Politische"  nach  Sibirien  gebracht  worden.  In  seiner 
immer  höher  steigenden  Erbitterung  beschlofs  der  nihilistische 
Vollzugsausschufs,  den  Tod  des  Zaren  möglichst  zu  beschleunigen. 
Nicht  weniger  als  47  Gesinnungsgenossen  meldeten  sich  freiwillig 
zur  Ausführung  dieses  Beschlusses,  und  es  wird  wohl  noch  den 
meisten  Lesern  erinnerlich  sein,  dafs  Alexander  II.  bereits  am 
13.  März  1881  durch  die  von  Ryssakow  und  Grinewitzki  ge- 
worfenen Bomben  getötet  wurde.  Die  Zeichen  zum  Werfen 
hatten  Sophia  Perowskaja  und  Jessy  Helfmann  gegeben.  Die 
Perowskaja  sowie  Ryssakow  und  die  anderen  erwischten  Verschwörer 
wurden  — mit  Ausnahme  der  schwängern  Helfmann  - gehenkt, 
während  Grinewitzki  durch  seine  eigene  Bombe  ums  Leben  kam. 

Der  bei  den  Attentätern  gefundene  Parteibriefwechsel  führte 
zur  Entdeckung  des  Hauptquartiers  der  Verschwörer  in  der 
Telejewskaja.  Bei  dem  daselbst  verhafteten  Michailow  fand  man 
Bleistiftaufzeichnungen,  welche  drei  Örtlichkeiten  der  Hauptstadt 
betrafen,  neben  deren  Namen  gewisse  Tage  und  Stunden  an- 
gegeben waren,  darunter  ein  Zuckerbäckerladen  in  der  Garten- 
strafse.  Neben  diesem  Laden,  gerade  um  die  Ecke,  befand  sich 
eine  Käsehandlung,  deren  Besitzer  - das  Ehepaar  Kobisoto  - 
am  Tage  der  Ermordung  des  Kaisers  in  geheimnisvoller  Weise 
verschwanden.  Die  wegen  dieses  Verschwindens  eingeleitete 
Untersuchung  führte  zur  Entdeckung  einer  Mine  unter  der  Strafse. 
Dieselbe  hatte  nicht  die  Bestimmung,  den  Kaiser  in  die  Luft  zu 
sprengen,  sondern  die,  seinen  Wagen  aufzuhalten,  um  zu  seiner 
Ermordung  Zeit  zu  gewähren  — in  ähnlicher  Weise  wie  der 
Heuwagen,  der  1870  in  Madrid  die  Kutsche  Prims  aufge- 
halten hatte. 

Nach  dem  Tode  Alexanders  II.  wurde  mehrfach  behauptet 
und  geglaubt»  dieser  Zar  habe  einen  Tag  vor  dem  Attentat  eine 
Verfassung  unterschrieben,  welche  sein  Sohn  infolge  der  Missethat 
zurückgezogen  habe.  Das  entspricht  aber  nicht  der  Wahrheit. 
Die  Unterschrift  des  Kaisers  bezog  sich  lediglich  einesteils  auf 
die  Ernennung  eines  Ausschusses  behufs  Prüfung  der  Frage,  ob 
die  provinzialen  Vertretungskörper  nicht  erweitert  werden  könnten, 
andernteils  auf  die  Einberufung  von  Semskij  sobors,  einer  Art 
Gemeindevertretungen.  Zu  diesen  Mafsregeln  hatte  Loris  Melikow 
geraten,  weil  er  in  ihnen  ein  Mittel  sah,  das  Volk  zur  Nieder- 
werfung des  Nihilismus  heranzuziehen;  überdies  war  den  be- 
treffenden Körperschaften  blofs  beschliefsende  Gewalt  zugedacht, 
die  endgültigen  Entscheidungen  wären  der  Krone  Vorbehalten 
geblieben.  Der  ganze  Plan  war  nur  darauf  berechnet,  den  un- 
zufriedenen Klassen  Sand  in  die  Augen  zu.  streuen;  von  einer 


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32S 


Politische  Geheimgesellschaften. 


noch  so  geringfügigen  Abtretung  irgendwelcher  kaiserlichen  V 
rechte  an  das  Volk  war  nicht  die  Rede.  njhj. 

Zehn  Tage  nach  dem  Tode  Alexanders  11.  »der  mm 
listische  Vollzugsausschufs  eine  in  edlem  Ton  ge  > den 
neuen  Selbstherrscher  gerichtete  Proklamation,  welc  und 

Fall  der  Gewährung  von  Rede-,  Versammlung-, 

Wahlfreiheit  und  einer  Amnestie  für  a,\*  Elemente 

dingungslose  Unterwerfung  der  foi^hnttlich-i^italen  E ■ 
unter  die  Beschlüsse  der  zu  wählenden  Volksvertretu  g )je 
ln  den  Strafsen  von  Moskau  fand  man  zahlreiche  glaubte 

deren  Inneres  diese  Kundgebung  barg  ln  Peterebu  g g ^ ^ 
man  allgemein,  ein  Abgesandter  der  Nihilisten  sei  mündlich 

empfangen  worden,  habe  ihm  die  Wunsche  des  Peterpauls- 

• mitgeteilt  und  sei  dann  auf  dessen  Befrfil  in  . jc£t  er. 

festung  gesperrt  worden;  wer  er  war,  habe  die 
mittein  können.  Obgleich  vielleicht  nicht  * kann  d^ese  U 
schichte  angesichts  der  aufopferungsvollen  Unerchwtenh 
Nihilisten  doch  auch  nicht  unwahrscheinhc  ge  geinäfsigt- 

Die  erwähnte  Osterproklamat.on  enthielt  nur  gemäis.p 

liberale  Forderungen,  die  in  fast  allen  ubngen  Undern  P 
längst  erfüllt  sind.  Aber  der  verblendete  und  übelberaten  ju_ng 
Kaiser  antwortete  mit  einem  Manifest  in  welchem  j 

seine  autokratischen  Vorrechte  ungeschmälert  ^JJhren> 

wollen.  Weit  entfernt,  irgend  welche  Reformen  «" 
zog  er  sogar  frühere  Reformen  zuruck  wie  z.  B.  die  ™‘SlgHing. 
der  Leibeigenen -Ablösungsgelder.  Dazu  kamen  erne 
fkh,Ung™  die  Verschickung  r.hliose,  .Verd?eh.£- 
Sihirien  die  Verschärfung  der  Zensur,  die  willkürlichste  Unter 
drückung  jeder  freisinnigen  Regung  in  Volk  und  Presb^  gna  ' - 

der  als  Minister  des  Innern  an  alledem  die  Hauptschuld  trug 
suchte  durch  Hervorrufung  von  Judenheben  die  A«*"6*“™  die 

der  Bevölkerung  von  seiner  Gewaltpolitik  abzulenken 

Entrüstung  des  Publikums  über  sein  eigenes  Thun  zu  o 
schichtigen,  schob  er  die  Urheberschaft  der  antisemitischen  Un- 
ruhen^den  Nihilisten  in  die  Schuhe.  Das  war  geradezu  lächerlich, 
denn  da  die  Juden  die  radikale  Bewegung  kräftig  förderten 
wozu  sie  bekanntlich  auch  alle  Ursache  hatten  -.  konnten  die 
Nihilisten  nicht  daran  denken,  sie  schädigen  zu  wollen,  ga 
gesehen  davon,  dafs  keine  freiheitlich-fortschrittliche  Partei  sich 
g it  RoSsen-  oder  Konfessionshetzen  zu  befassen  pflegt. 

Alexander  111.  hegte  für  sein  Leben  so  schwere  Befurch- 
t en  dafs  er  sich  nach  Gatschina  zurückzog,  wie  ein  Einsiedler 
4 wlilofs  und  mit  zahlreichen  Wachen  umgab,  wo  immer  er 
e’nth  •,  mochte  Als  er  von  Petersburg  nach  Gatschina 
X,  Ä rn»  um  das  Publikum  im  „ führen,  gleicht 


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Die  Nihilisten. 


329 


in  vier  Bahnhöfen  kaiserliche  Extrazüge  und  das  ganze  amtliche 
Gefolge  etc.  bereit;  in  Wirklichkeit  aber  entfloh  der  Zar  von 
einem  fünften  Bahnhof  aus  in  einem  Zug  ohne  alles  Gefolge. 
Und  als  er  drei  Monate  später  nach  Peterhof  übersiedelte  — 
wie  auch  auf  seinen  nachmaligen  Reisen  — wurde  die  ganze 
Bahnstrecke  militärisch  besetzt  und  die  Photographien  sämtlicher 
Eiahnbeamten  mufsten  dem  Verkehrsministerium  eingeschickt 
werden,  damit  etwaige  als  Bahnbeamte  verkleidete  Nihilisten  un- 
schwer zu  entdecken  wären. 

Die  ganze  Geschichte  des  Nihilismus  und  des  Verhaltens 
der  Regierung  zu  demselben  war  ein  circulus  vitiosus.  Jeder 
Rückschlag  auf  der  einen  Seite  erzeugte  einen  solchen  auf  der 
andern.  Das  wiederholte  sich  immer  wieder.  Noch  im  Jahre  1881 
gab  es  abermals  ein  politisches  Attentat:  Sankowsky  schofs  — 
ohne  zu  treffen  - auf  General  Tcherewin,  den  Leiter  der  Maß- 
regeln für  die  Sicherheit  des  Kaisers.  Er  erklärte,  das  Werkzeug 
anderer  zu  sein,  denen  das  Wohl  Rufslands  am  Herzen  liege, 
doch  nannte  er  keine  Namen.  Infolgedessen  war  das  Jahr  1882 
von  Verhaftungen  erfüllt,  ebenso  auch  von  Gerichtsverhandlungen 
gegen  längst  eingesperrte  „Politische"  oder  „Verdächtige". 
Ignatiew,  der  sich  beim  Publikum  wegen  seiner  judenfeindlichen 
Pläne,  beim  Zar  wegen  seiner  Unfähigkeit  und  wegen  undurch- 
führbarer Ratschläge  mifsliebig  machte,  trat  im  Juni  zurück  und 
Graf  D.  Tolstoj  wurde  sein  Nachfolger. 

Wenige  Tage  später  traf  die  Nihilisten  ein  schwerer  Schlag. 
In  einem  von  ihnen  bewohnten  Hause  auf  einer  Newa-Insel 
entdeckte  die  Polizei  nicht  nur  viele  Bomben  und  eine  beträcht- 
liche Menge  Dynamit,  sondern  auch  in  den  Taschen  der  bei 
dieser  Gelegenheit  verhafteten  „Genossen“  Schriftstücke,  aus 
denen  hervorging,  dafs  der  Vollzugsausschufs  des  Bundes  auf 
dem  Laufenden  erhalten  wurde  über  den  chiffrierten  Noten- 
wechsel der  russischen  mit  den  anderen  Regierungen  hinsichtlich 
des  Nihilismus.  Die  betreffenden  Mitteilungen  hatte  der  frei- 
sinnige Wolkow  geliefert,  ein  höherer  Beamter  des  Ministeriums 
des  Äufsern.  Einige  Wochen  darauf  entdeckte  die  Polizei  im 
Marineministerium  eine  geheime  Druckerei ; ihr  Leiter  nahm  sich 
das  Leben.  Diese  Niederlagen  der  Umstürzler  heiterten  den  Zar 
ein  wenig  auf ; er  wagte  es,  nach  Petersburg  zurückzukehren  und 
im  September  einer  öffentlichen  Feier  beizuwohnen.  Im  Oktober 
„begnadigte“  er  zwei  von  einem  Geheimgericht  zum  Tode  ver- 
urteilte Nihilisten,  die  einen  Polizeispion  umgebracht  hatten,  zu 
lebenslänglicher  Zwangsarbeit.  Wie  wenig  man  darauf  rechnete, 
mit  dieser  „Grofsherzigkeit“  die  Unzufriedenen  vollkommen  zu 
befriedigen,  geht  daraus  hervor,  dafs  alle  öffentlichen  Bewegungen 
des  Selbstherrschers  auch  ferner  mit  den  umfassendsten  Vor- 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


sichtsmalsregeln  verknüpft  wurden.  Immerhin  jedoch  begann 
Alexander,  an  seine  Krönung  zu  denken;  freilich  wagte  man 
nicht,  diese  vor  Ende  Mai  1883  — also  erst  weit  über  zwei 
Jahre  nach  der  Thronbesteigung  — ins  Werk  zu  setzen. 

Die  Terroristen  hatten  grofse  Vorbereitungen  zur  Ermordung 
des  Zars  anläßlich  der  Krönung  getroffen;  allein  ihre  Absicht 
war  teils  durch  Spione,  teils  durch  die  verstärkte  Wachsamkeit 
der  Obrigkeit  lange  vor  dem  Ereignis  vereitelt  worden,  abge- 
sehen davon,  dafs  viele  von  ihnen  gerade  einen  solchen  Anlafs 
nicht  als  für  eine  solche  That  passend  betrachteten,  da  das 
Krönungspublikum  seiner  Mehrheit  nach  vermutlich  nicht  aus 
Freunden  der  radikalen  Richtung  bestehen  würde,  sodafs  ein 
Attentat  den  Zielen  der  Nihilisten  weit  eher  schaden  als  nützen 
könnte.  Doch  zog  die  Bewegung  aus  der  Krönung  wenigstens 
mittelbaren  Gewinn,  indem  die  meisten  und  besten  Polizisten 
wie  die  intelligentesten  Spione  des  Landes  in  Moskau  ange- 
sammelt waren,  sodafs  der  Propaganda  anderwärts  besonders 
in  der  Hauptstadt  - geringere  Hindernisse  im  Wege  standen 
als  sonst.  Dieser  Thatsache  und  der  zweiten,  dafs  die  bei  Ge- 
legenheit der  Krönung  erwarteten  politischen  Reformen  gänzlich 
ausblieben,  ist  es  wahrscheinlich  zuzuschreiben,  dafs  in  Peters- 
burg alsbald  erhebliche  Unruhen  ausbrachen.  Die  Enttäuschung 
des  Volkes  begünstigte  die  Ausbreitung  des  Nihilismus.  Der 
Bund  agitierte  denn  auch  nach  Kräften  weiter. 

Vier  Monate  nach  der  Krönung  verhaftete  die  Charkower 
Obrigkeit  eine  Anzahl  von  Offizieren  und  bemächtigte  sich  einer 
grofsen  Geheimniederlage  von  Schiefspulver,  Dynamit,  Bomben 
und  Druckvorrichtungen.  In  der  nächsten  Nähe  von  Petersburg 
entdeckte  man  eine  nihilistische  Dynamitfabrik;  aus  diesem  An- 
lafs wurden  1 7 Artillerie-  und  1 38  Marine-Offiziere  eingekerkert. 
In  Simbirsk  wanderte  ein  Artillerie-Oberst  ins  Gefängnis,  der 
sich  als  revolutionärer  Agitator  bei  den  Bauern  einer  aufser- 
ordentlichen  Beliebtheit  erfreute.  Ende  Dezember  nahmen  die 
Nihilisten  Rache,  indem  sie  Oberst  Sudejkin,  den  Leiter  der  ge- 
heimen Polizei,  erschossen.  Am  Thatort  hinterliefsen  sie  einen 
Brief  mit  der  Ankündigung,  dafs  die  nächsten  Opfer  der  Minister 
des  Innern  und  der  Petersburger  Polizeidirektor  sein  werden. 
Auch  an  Alexander  III.  machten  sie  sich  zu  derselben  Zeit  wieder 
heran.  Die  Sache  wurde  amtlich  für  einen  Jagdunfall  ausgegeben, 
in  Wirklichkeit  handelte  es  sich  um  ein  Attentat,  bei  dem 
dem  Kaiser  die  rechte  Schulter  schwer  verletzt  wurde.  Zwei 
Wochen  vor  der  Ermordung  Sudeikins  erschien  dessen  nach- 
maliger Mörder  Degajew  (der  eigentlich  Jabionski  hiefs)  in  Be- 
gleitung eines  Weibes  bei  dem  Gatschinaer  Oberwildheger  des 
Kaisers  mit  einem  angeblichen  Brief  Sudeikins,  worin  dem  Manne 


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Die  Nihilisten. 


331 


befohlen  wurde,  das  Weib  bei  sich  aufzunehmen,  damit  es  an- 
geblich den  in  Gatschina  bereits  anwesenden  Geheimpolizisten 
an  die  Hand  gehe.  Als  Bauernjunge  verkleidet,  begleitete  diese 
Frau  den  Zar  auf  allen  Jagdausflügen.  Eines  Tages  kam  sie 
mit  der  Nachricht  zurück,  dem  „Väterchen“  sei  ein  Unfall  zu- 
gestofsen  dadurch,  dafs  einer  der  Wildhüter  so  unachtsam  ge- 
wesen sei,  seine  Flinte  in  nächster  Nähe  des  kaiserlichen  Schlittens 
abzufeuern  und  damit  die  Pferde  des  letzteren  zu  erschrecken.  Am 
Tage  nach  dem  Tode  Sudeikins  kamen  drei  Detektivs  nach  Gatschina 
und  verhafteten  die  von  Degajew  dahingebrachte  Person ; es  heilst, 
dafs  sie  wegen  Teilnahme  an  dem  Gatschinaer  Attentat  insgeheim 
in  den  Kasematten  der  Petropawlowsk-Festung  gehenkt  worden  sei. 

Im  Sommer  188-1  töteten  Nihilisten  viele  Odessaer  Gen- 
darmerie-Offiziere, darunter  einen  Hauptmann  und  einen  Oberst. 
Einen  zweiten  Hauptmann  umzubringen,  versuchte  die  kaum 
neunzehnjährige  Kaufmannstochter  Maria  Kaljuschnja,  die  sich 
für  die  Verurteilung  ihres  Bruders  zu  lebenslänglicher  Zwangs- 
arbeit rächen  wollte  und  von  den  Behörden  wegen  ihrer  Ver- 
wandtschaft mit  diesem  „Politischen“  längst  schlimm  chikaniert 
worden  war.  Ein  geheimes  Kriegsgericht  verhängte  über  sie 
zwanzig  Jahre  Zwangsarbeit.  Damals  wurden  viele  Verhaftungen 
wegen  wirklicher  oder  vermeintlicher  politischer  Vergehen  vor- 
genommen. Im  Oktober  fand  in  der  Hauptsladt  ein  grofser  ge- 
heimer Prozefs  gegen  vierzehn  Nihilisten  statt,  darunter  sechs 
Offiziere  und  zwei  Frauen,  welche  acht  Personen  zum  Tode  ver- 
urteilt wurden,  während  die  übrigen  sechs  in  die  sibirischen 
Bergwerke  wandern  mufsten.  Eine  der  Frauen  war  die  berühmte 
Figner  (auch  Wjera  Filipawa  genannt),  die  die  mehrerwähnte 
Sophia  Perowskaja  bei  sich  beherbergt  hatte. 

Am  12.  Oktober  188-4  erschien  das  Nihilistenorgan  „Volks- 
wille" („Narodnaja  Wolja“)  nach  einjähriger  Pause  wieder.  Es 
gab  die  von  der  Partei  erlittenen  Verluste  zu  und  schrieb  die- 
selben den  Angebereien  Degajew-Jablonskis  zu,  der,  anfänglich 
ein  eifriger  Nihilist,  zum  Verräter  wurde,  aber  infolge  der  Un- 
zulänglichkeit des  empfangenen  Lohnes  und  aus  Furcht  vor  der 
Rache  seiner  ehemaligen  Gesinnungsgenossen  in  das  Lager  der 
letzteren  zurückkehrte  und  seinen  Eifer  durch  die  Ermordung  Sudei- 
kins an  den  Tag  legte.  Da  Sudeikin  tot  und  Degajew  unschädlich 
gemacht  war,  konnte  der  Vollzugsausschufs  an  die  Neugestaltung 
der  Partei  schreiten.  Der  „Volkswille“  brachte  auch  interessante 
Mitteilungen  — von  der  Regierung  waren  sie  planmäfsig  unter- 
drückt und  geheimgehalten  worden  über  die  gewaltigen  Fort- 
schritte, die  der  Agrarsozialismus  im  Süden  Rufslands  gemacht 
hatte.  Das  Blatt  enthielt  ferner  einen  Nekrolog  über  Professor 
Neustrajew,  der  erschossen  worden  war,  weil  er  den  General- 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


gouverneur  von  Irkutsk  geschlagen  hatte,  endlich  ein  langes  Ver- 
zeichnis von  Verhafteten.  Die  Unruhe  der  Regierung  wuchs. 
Der  Minister  des  Innern,  Graf  D.  Tolstoj,  der  die  Nihilisten- 
riecherei in  grofsem  Mafse  betrieb,  erhielt  so  viele  Drohbriefe, 
dafs  er  nur  sehr  selten  auszugehen  oder  auszufahren  wagte;  that 
er  es  aber,  so  kosteten  die  Vorsichtsmafsregeln  jedesmal  fünfhundert 
Rubel.  Auch  unter  den  höheren  Militärs  nahm  der  Nihilismus  zu  - 
das  ging  aus  den  zahlreichen  politischen  Prozessen  hervor,  welche 
die  Regierung  dem  Geheimbund  an  den  Hals  hetzte. 

Nichtsdestoweniger  trug  der  Nihilismus,  der  nichts  aus- 
richtete, den  Keim  des  Verfalls  in  sich.  Eine  Parteikundgebung 
vom  August  1885  besagte:  .Wir  müssen  gestehen,  dafs  unser 
heftiger  Kampf  mit  der  Regierung  und  die  nationale  Unzu- 
friedenheit, welche  unsrer  Partei  Kraft  und  Daseinsberechtigung 
verlieh,  den  Triumph  der  Willkürherrschaft  nicht  verhindert  hat.“ 
Vom  Dezember  1885  bis  in  den  Dezember  1886  hinein  er- 
litten die  Nihilisten  Niederlage  auf  Niederlage;  eine  Entdeckung 
und  Verfolgung  folgte  der  andern.  Dadurch  neuerdings  aufge- 
stachelt, entfalteten  sie  1 887  eine  lebhaftere  Thätigkeit  als  in  den 
zwei  vorhergegangenen.  Jahren.  Eine  im  Februar  angezettelte 
Verschwörung  wurde  bald  entdeckt  und  vereitelt.  Nicht  besser 
erging  es  mit  einer  Verschwörung,  den  Zar  am  vierten  Jahres- 
tag seiner  Krönung  umzubringen.  Von  Berlin,  London  und 
Bukarest  her  rechtzeitig  gewarnt,  liefs  die  Petersburger  Polizei 
die  Leute  ruhig  gewähren,  um  sie  desto  sicherer  beisammen  zu 
haben ; so  fing  sie  denn  mit  Leichtigkeit  fünfzehn  männliche  und 
weibliche  Verschworne  ein,  nachdem  dieselben,  mit  Bomben  in 
Gestalt  von  Büchern,  Operngläsern,  Notenrollen  u.  dgl.  versehen, 
sich  bereits  auf  dem  vom  Kaiser  zurückzulegenden  Wege  in  an- 
gemessenen Zwischenräumen  aufgestellt  hatten.  Alle  Verhafteten 
wurden  zum  Tode  oder  zu  vieljährigem  Zuchthaus  verurteilt. 
Man  erzählte  sich,  dafs  bei  jedem  Gefangenen  ein  Fläschchen 
mit  sehr  starkem  Gift  gefunden  wurde,  welches  er  oder  sie  an 
einem  Halsschnürchen  auf  der  blofsen  Brust  trug,  und  dafs  ge- 
heime Agenten  des  Bundes  beauftragt  waren,  den  etwa  erfolg- 
losen oder  im  letzten  Augenblick  hasenherzig  werdenden  Ver- 
schwörern auf  die  Brust  zu  schlagen,  damit  das  Fläschchen 
zerbreche  und  das  Gift  in  die  durch  die  Glassplitter  erzeugte 
Wunde  dringe. 

Trotz  des  andauernden  Ungemachs  unentwegt,  veranlafste 
die  Schreckenspartei  schon  nach  wenigen  Wochen  wieder  ein 
Attentat  auf  Alexander  III.  Näheres  hierüber  durfte  die  Presse 
nicht  veröffentlichen;  doch  weifs  man,  dafs  kurz  darauf  482 
Heeresoffiziere  unter  der  Anschuldigung,  an  diesem  Attentat  teil- 
genommen zu  haben,  nach  Odessa  gebracht  wurden,  um  von 


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Die  Nihilisten. 


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dort  nach  Sibirien  verschickt  zu  werden.  Im  Juni  standen  in 
Petersburg  21  Nihilisten  wegen  revolutionärer  Umtriebe  vor 
Gericht  (über  15  wurde  die  Todesstrafe  verhängt),  darunter  die 
Tochter  eines  Stabshauptmannes,  die  Söhne  von  Kollegienräten, 
höheren  Offizieren,  Priestern  etc.  Ein  anderes  Mifsgeschick  traf 
die  radikale  Bewegung  im  November:  die  Entdeckung  dreier 
geheimen  Dynamitherstellungslaboratorien  in  der  Haupt-  und 
Residenzstadt  Jetzt  bemächtigte  sich  der  Parteileitung  eine  solche 
Entmutigung,  dafs  sie  sich  während  der  zwei  nächsten  Jahre 
jeder  aggressiven  Thätigkeit  enthielt.  In  einer  ihrer  Veröffent- 
lichungen (Dezember  1887)  sagte  sie:  »Die  freiheitliche  Gesinnung 
hat  in  der  Gesellschaft,  die  Kaisertreue  nicht  auszurotten  vermocht 
Selbst  die  »intelligenten  Liberalen“  haben  die  Aufforderung,  freie 
Druckereien  zu  errichten,  unbeachtet  gelassen;  sie  wollen  nicht 
einmal  so  weit  gehen,  der  ausländischen  revolutionären  Presse 
Artikel  zu  liefern.“  Der  »Volkswille“  mufste  »wegen  mangels 
an  geistiger  und  pekuniärer  Unterstützung“  abermals  eingehen. 
»Von  der  jetzigen  Generation  der  Russen  ist  wenig  zu  hoffen,“ 
heilst  es  in  einer  nihilistischen  Schrift.  »Die  Schuld  liegt  an 
der  russischen  Gesellschaft  mit  ihrer  Unwissenheit,  Seichtigkeit 
und  Gleichgültigkeit  ....  Die  russische  Gesellschaft  ist  eine 
Schafherde  geworden,  welche  sich  von  der  Peitsche  und  den 
Hunden  des  Schäfers  lenken  läfst.“ 

Das  nihige  Verhalten  der  Nihilisten  in  den  Jahren  1888 
und  1889  (von  dem  Eisenbahnunglück,  das  den  Zug  des  Zars 
bei  Borki  traf,  weifs  man  nicht  bestimmt,  ob  es  den  Terroristen 
oder  einem  Zufall  zuzuschreiben  war)  hinderte  die  Regierung  nicht 
an  neuerlichen  Judenaustreibungen  (weil  die  Juden,  wie  schon 
einmal  bemerkt,  den  Nihilisten  günstig  gesinnt  waren),  an  der 
massenhaften  Verschickung  unverurteilter  »Verdächtiger“  auf  »ad- 
ministrativem" Wege  nach  Sibirien  und  an  der  unmenschlich 
grausamen  Behandlung  unschuldiger  wie  schuldiger  »Politischer". 
Wegen  nichts  und  wieder  nichts  wurden  harmlose  Menschen  er- 
stochen, erschossen,  zu  Tode  geprügelt,  die  schamloseste  Willkür 
feierte  unerhörte  Triumphe,  die  Etappengefängnisse  verbreiteten 
durch  ihre  entsetzliche  Überfüllung  Tod,  Verderben  und  unsäg- 
liche Leiden,  die  Grausamkeit  führte  zu  Hungerstreiks  u.  s.  w. 
Wer  erinnert  sich  nicht  der  denkwürdigen  Enthüllungen  dieser 
höllischen  Zustände  durch  George  Kennan  ? Frau  Tschebrikowa, 
eine  gesellschaftlich  hochstehende  Dame,  die  mit  dem  Nihilismus 
in  keinerlei  Zusammenhang  stand,  lenkte  in  einem  berühmt  ge- 
wordenen Schreiben  die  Aufmerksamkeit  Alexanders  III.  auf  die 
Mißbräuche  im  Verbannungswesen;  und  was  war  ihr  Lohn  für 
diese  hochpatriotische  That?  Verhaftung,  Verbannung  nach  dem 
Kaukasus,  Stellung  unter  Polizeiaufsicht! 


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334 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Kein  Wunder,  dafs  die  Nihilisten  sich  1890  in  ihrer  Ent- 
rüstung wieder  zu  regen  begannen.  Aber  sie  hatten  auch  jetzt 
wenig  Glück,  ln  Paris,  wo  ihrer  viele  als  Flüchtlinge  lebten  — 
darunter  Fürst  Peter  Krapotkin  und  Oberst  Sokolow  - wurden 
im  Mai  vierzehn  Russen  im  Besitze  von  in  der  Schweiz  erzeugten 
Bomben  betroffen,  verhaftet  und  verurteilt.  Sechs  Monate  später 
töteten  Nihilisten  in  Paris  den  dort  als  Nihilistenspion  ansässigen 
russischen  General  Seliwerskow.  Um  dieselbe  Zeit  fand  in 
Petersburg  ein  Prozefs  statt  gegen  fünf  Nihilisten  — darunter 
die  bekannte  Sofie  Günzburg,  die  ira  Besitz  von  Bomben  und 
aufrührerischen  Schriften  ertappt  worden  war.  Vier  der  Ange- 
klagten endeten  an  dem  Galgen,  ln  einer  anderen  Gerichts- 
verhandlung, die  kurz  darauf  vor  sich  ging,  spielte  die  Haupt- 
rolle ein  junges  Mädchen  namens  Olga  Iwanowsky,  die  Nichte 
eines  Geheimrates,  der  einer  Abteilung  der  Heiligen  Synode  Vor- 
stand ; das  Endergebnis  wurde  aus  Schonung  für  diesen  hohen 
Würdenträger  geheimgehalten.  Im  Mai  1891  beschlagnahmte  die 
Petersburger  Polizei  eine  geheime  Druckerei  und  ein  halbes  Jahr 
darauf  entdeckte  man  in  Moskau  eine  weitverzweigte  Ver- 
schwörung. Infolge  der  letzteren  Entdeckung  wurden  sechzig 
Angehörige  des  Adels,  der  Schriftstellerwelt  und  des  höheren 
Mittelstandes  verhaftet.  Im  Dezember  erfolgten  viele  weitere  * 

Verhaftungen;  bei  mehreren  der  Angeklagten  fand  man  Detail- 
pläne der  kaiserlichen  Paläste.  1892  wanderten,  ebenfalls  zu 
Moskau,  nicht  wenige  Nihilisten  wegen  einer  neuerlichen  Ver- 
schwörung gegen  das  Leben  des  Kaisers  ins  Gefängnis.  Das 

Attentat  hätte  während  einer  Krimreise  auf  einer  kleinen  Bahn- 
station stattfinden  sollen,  kam  jedoch  nicht  zustande,  weil  ein 
anonymer  Brief  den  Behörden  den  Plan  rechtzeitig  verriet;  in 
der  That  fanden  sich  bei  Untersuchung  der  Linie  mehrere  Bomben 
unterhalb  der  Schienen. 

Wie  wir  sehen,  wollte  es  den  Umstürzlern  trotz  elfjähriger 
Anstrengung  durchaus  nicht  gelingen,  dem  Zar  etwas  anzuhaben. 

Ihre  Ausdauer  war  aber  so  grofs,  dafs  sie  ihre  Bemühungen 
dennoch  nicht  einstellten.  Zunächst  beförderten  sie  in  Taschkend 
den  Generalmajor  Droszgowski  vom  Leben  zum  Tode,  weil  er 
einem  Kriegsgerichte  vorgesessen  hatte,  welches  eine  Anzahl  von 
Nihilisten  zu  Kerkerstrafen  verurteilte.  Sodann  heckten  sie  einen 
neuen  Attentatsplan  gegen  Alexander  III.  aus,  doch  kam  die  « 

Polizei  im  September  (1893)  dieser  weitverzweigten  Verschwörung  ■ 
auf  die  Spur  und  die  Folge  war  die  Verhaftung  von  85  Uni- 
versitätshörern, 8 Professoren  und  5 Aristokratinnen  in  Moskau. 

Trotzdem  regten  die  Unermüdlichen  sich  1894  wieder  kräftig  — 
diesmal  in  gerechter  Empörung  über  die  wahrhaft  haarsträuben- 
den (wohlgemerkt:  amtlichen)  Berichte  über  das  furchtbare 


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Die  Nihilisten. 


33S 


Schicksal  der  herdenweise  nach  Sibirien  verschickten  »Politischen,“ 
von  denen  die  meisten  lediglich  »Verdächtige"  waren.  Allein 
auch  diesmal  hatten  die  Nihilisten  Unglück,  denn  im  November 
fielen  ihre  Geheimpressen  und  Propagandaschriftenvorräte  in 
Kiew,  Charkow  und  Nikolajew  den  Behörden  in  die  Hände  und 
über  80  Personen  wurden  verhaftet.  Zehn  Monate  später  gab 
in  Moskau  eine  abermalige  Verschwörung  gegen  den  Zar  und 
die  kaiserliche  Familie  wieder  Anlafs  zu  Einkerkerungen  sowie 
zur  Beschlagnahme  von  Waffen,  Bomben,  Dynamit  und  Agitations- 
broschüren. In  Kiew  erfolgte  im  März  1896  die  Verhaftung  von 
6 Offizieren  — darunter  ein  Oberst  — wegen  »Teilnahme  an 
einer  nihilistischen  Verschwörung“  und  im  Oktober  konfiszierten 
die  russischen  Zollbeamten  an  der  schlesischen  Grenze  eine 
große  Sendung  leichter,  für  die  bessere  Gesellschaft  bestimmter 
Spazierstöcke,  in  deren  hohlem  Innern  auf  Seidenpapier  gedruckte 
nihilistische  Kundgebungen  verborgen  waren. 

Seit  einigen  Jahren  scheint  die  revolutionäre  Bewegung  zu 
ruhen.  Ganz  erstorben  dürfte  sie  jedoch  kaum  sein.  Vielleicht 
wartet  sie  nur  ab,  wie  sich  die  Dinge  unter  Nikolaus  II.  ent- 
wickeln werden,  der  bereits  manche  kleine  Reform  eingeführt 
hat  und  allmählich  vielleicht  zu  gröfseren  übergehen  wird.  In 
London  besteht  gegenwärtig  ein  russisch-israelitischer  Nihilisten- 
klub, der  ein  in  hebräischen  Lettern  gedrucktes  jüdisch-deutsches 
Blatt  herausgiebt. 

Die  Zahl  der  wirklich  aktiven  Nihilisten  hat  sich  seit  dem 
Bestand  der  Partei  stets  nur  auf  wenige  Dutzende  belaufen,  die 
der  Helfer  — welche  Agitationsschriften  verteilen,  verfolgte  oder 
sonstwie  gefährdete  Gesinnungsgenossen  verstecken,  Eingesperrten 
zur  Flucht  verhelfen,  sie  mit  Geld  versehen  u.  s.  w.  — wahrschein- 
lich auf  zwölf-  bis  dreizehnhundert,  die  der  geheimen,  sich  in 
keiner  Weise  kundgebenden  Anhänger  wohl  auf  hunderttausend. 
Viele  Leser  werden  wissen  wollen,  woher  der  Geheimbund  die 
Mittel  genommen  hat  für  seine  Propaganda,  seine  Druckereien, 
seine  Attentatsvorbereitungen,  die  Reisen  und  den  Unterhalt  seiner 
aktiv  thätigen  Mitglieder  etc.  etc.  Was  hierüber  bekannt  geworden, 
sei  nachstehend  mitgeteilt 

1869  empfing  Netschajew  von  Herzen  den  in  der  Schweiz 
gesammelten  Revolutionsfond  von  mehr  als  25000  Francs.  Das 
später  hingerichtete  Mitglied  Lisogub  opferte  der  Sache  etwa 
200000  Rubel,  der  Friedensrichter  Wojnaralski  40000  Rubel. 
Die  Bundesmitglieder  entrichteten  regelmäfsige  Jahresbeiträge. 
Ein  Dr.  Weimar  gab  große  Beträge  her.  Andere  reiche  Leute, 
die  mit  dem  Nihilismus  sympathisierten , sich  aber  nicht  blofs- 
stellen  wollten,  machten  anonyme  Spenden.  Von  noch  anderen 
bemittelten  Personen  erpreßte  der  Vollzugsausschuß  Geld  durch 


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336 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Todesdrohungen.  Im  Jahre  1879  beraubten  Nihilisten  die  Char- 
kower  Staatsbank  um  anderthalb  Millionen  Rubel.  Aber  die 
Ausgaben  der  Partei  waren  so  bedeutend,  dafs  sie  oft  in  Geld- 
verlegenheit kam.  1882  half  sie  sich  durch  die  Gründung  des 
Roten  Kreuzes,  für  welches  sie  durch  den  »Volkswillen"  und 
den  Pariser  »Intransigeant»  um  Beiträge  bat;  es  sollen  51000 
Rubel  eingekommen  sein.  Auch  aus  Deutschland,  England,  Italien, 
Österreich  etc.  liefen  Spenden  ein. 

Die  Nihilisten  empfanden  frühzeitig  die  Notwendigkeit,  zur 
Erleichterung  der  Propaganda  eigene  Pressen  zu  besitzen.  Daher 
errichteten  sie  schon  i.  J.  1 860  geheime  Druckereien  und  später 
deren  immer  mehr.  Selbstverständlich  bestand  die  Haupt- 
schwierigkeit in  der  andauernden  Geheimhaltung  — eine  Druckerei 
nach  der  anderen  wurde  entdeckt  und  konfisziert.  Einem  der 
Leiter  der  Bewegung  in  Kiew,  Stephano  witsch,  der  1876  eine 
Geheimpresse  errichtet  hatte,  gelang  es  mit  grofser  Schlauheit, 
dieselbe  trotz  und  nach  seiner  Verhaftung  zu  retten  und  nach 
Odessa  überführen  zu  lassen,  so  dafs  die  Polizei  trotz  ihrer 
eifrigen  Forschungen  das  Nachsehen  hatte.  1877  brachte  es  ein 
gewandter  Nihilist,  Aron  Zundelewitsch  aus  Wilna,  zuwege,  alle 
nötigen  Vorrichtungen  und  Vorbereitungen  für  eine  gröfsere 
Geheimdruckerei  nach  Petersburg  einzuschmuggeln.  Er  selbst 
erlernte  die  Setzerei  und  brachte  sie  vier  Gesinnungsgenossen 
bei.  Weder  die  Mitglieder  der  Gruppe  »Land  und  Freiheit," 
der  das  Unternehmen  gehörte,  noch  die  Redakteure  und  Mit- 
arbeiter des  daselbst  gedruckten  Bundesorgans  ahnten,  wo  sich 
die  Druckerei  befand.  In  dieser  arbeiteten  vier  Personen.  Die 
■45jährige  Marie  Krilow,  die  an  mehreren  Verschwörungen  teil- 
genommen hatte,  galt  als  die  Hausfrau  und  ein  schönes  junges 
Mädchen  als  ihre  Dienstmagd.  Ein  junger  Mann  von  aristo- 
kratischem Gehaben , Sohn  eines  Generals  und  Neffe  eines 
Senators,  vermittelte  den  Verkehr  mit  der  Aufsenwelt;  man  hielt 
ihn  für  einen  Regierungsbeamten,  aber  seine  Mappe  enthielt 
lediglich  Handschriften  und  Bürstenabzüge  für  das  Bundesorgan. 
Der  Setzer  Lubkin  war  nur  unter  dem  Spitznamen  »Vogel»  be- 
kannt, den  er  wegen  seiner  Stimme  erhalten  hatte;  da  er  keinen 
Pafs  besafs,  ging  er  nie  aus.  Als  nach  vier  Jahren  die  Druckerei 
durch  einen  Verrat  den  Behörden  in  die  Hände  fiel,  ersehofs 
sich  der  schwindsüchtige  Lubkin. 

Die  meisten  nihilistischen  Druckereien  waren  selbstverständ- 
lich klein  und  derart  eingerichtet,  dafs  bei  Gefahr  alles  binnen 
einer  Viertelstunde  in  einem  Kasten  versteckt  werden  konnte. 
Um  jeden  Verdacht  des  Hausmeisters  oder  Pförtners  abzulenken, 
liefs  man  ihn  von  Zeit  zu  Zeit  unter  allerlei  Vorwänden  das 
Zimmer  betreten  — freilich  nicht  ohne  vorherige  Beseitigung 


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Die  Nihilisten. 


337 


jeder  Spur  der  Druckerei.  Nach  der  grofsen  Zahl  der  ent- 
deckten und  beschlagnahmten  Pressen  zu  urteilen,  muls  die 
Gesamtzahl  der  im  ganzen  Lande  vorhandenen  sehr  beträchtlich 
gewesen  sein.  Dies  läfst  sich  auch  aus  der  Massen haftigkeit  der 
nihilistischen  Propagandaschriften  schliefsen.  Broschüren,  Flug- 
blätter, Plakate  schienen  nur  so  aus  dem  Erdboden  emporzu- 
wachsen. Das  Heer  wurde  damit  überschwemmt,  der  Arbeiter 
und  der  Bauer  fanden  sie  in  ihren  Taschen,  der  Kaiser  entdeckte 
sie  auf  seinem  Schreibtisch.  Einzelne  Nihilisten  bereisten  ganz 
Rufsland  und  streuten  die  Drucksachen  überall  mit  vollen 
Händen  aus. 

Je  gröfser  die  Wachsamkeit  der  Polizei  und  die  Zahl  der 
Verhaftungen  wurde,  desto  mehr  mufsten  die  Nihilisten  darauf 
bedacht  sein,  Mafsregeln  zum  Schutz  ihrer  persönlichen  Sicherheit 
zu  treffen.  Die  erste  Vorbedingung  des  Selbstschutzes  war  der 
Besitz  eines  Passes,  denn  in  Rufsland  mufs  sich  jeder  Nichtbauer 
eintragen  lassen  und  einen  Pafs  haben.  Um  einen  solchen  ohne 
Umstände  zu  erlangen,  liefsen  sich  viele  junge  Leute,  die  gar 
nicht  an  den  Besuch  der  Vorträge  dachten,  als  Universitäts- 
studente’n  einschreiben.  Nichtstudenten  bezahlten  anfangs  hohe 
Preise  für  Pässe,  verlegten  sich  aber  später  häufig  auf  deren 
Fälschung.  Jede  nihilistische  Zweigverbindung  richtete  ein  eigenes 
Pafsbureau  ein,  das  mit  falschen  Siegeln  und  Unterschriften 
arbeitete.  Ein  solches  „Amt"  wurde  1882  von  der  Moskauer 
Obrigkeit  entdeckt.  Die  Inhaber  falscher  oder  erborgter  Pässe 
führten  natürlich  auch  falsche  Namen  und  liefsen  sich  ihre  Post 
durch  Freunde  vermitteln.  Eine  zweite  Vorsiehtsmafsregel  war, 
eine  möglichst  regelmäfsige  Lebensweise  zu  führen,  um  nicht 
den  Verdacht  des  Pförtners  zu  erregen.  Eine  dritte  bestand  in 
der  gröfsten  Sorgfalt  bei  der  Wahl  der  Zusammenkunftsorte. 
Die  Fenster  der  betr.  „Verschwörungsquartiere"  mufsten  so  liegen, 
dafs  Signale  leicht  angebracht  und  geändert  werden  konnten;  die 
Wände  durften  nicht  zu  dünn  sein  und  die  Thüren  mufsten  fest 
schliefsen,  da  unberufene  Lauscher  nichts  hören  sollten.  Auch 
war  eine  derartige  Lage  notwendig,  dafs  im  Falle  einer  unan- 
genehmen Überraschung  einige  Genossen  die  Gendarmen  auf 
der  Treppe  zurückzuhalten  vermochten,  bis  die  Papiere  und 
sonstigen  kompromittierenden  Gegenstände  beseitigt  waren.  Selbst- 
verständlich durfte  es  nicht  an  einem  Waffenvorrat  fehlen;  bei 
der  Erstürmung  des  Bureaus  des  „Volkswille"  war  jeder  der 
fünf  anwesenden  Nihilisten  mit  zwei  Revolvern  bewaffnet  und 
sie  gaben  insgesamt  80-100  Schüsse  ab. 

War  ein  Nihilist  kurzsichtig,  so  mufste  er  auf  der  Strarse, 
um  drohende  Gefahren  rechtzeitig  wahrnehmen  zu  können,  Augen- 
gläser tragen.  Den  Genossen  wurde  eingeschärft,  recht  fein 

H ecke  tho  r n-K  a tsch  er,  Geheimbunde  u.  Geheimlehren.  22 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


33S 


gekleidet  zu  gehen,  um  möglichst  unverdächtig  zu  scheinen. 
Von  Wichtigkeit  war  auch  - wenigstens  in  den  Grofsstädten 
die  genaue  Kenntnis  der  Durchhäuser  und  der  anderen  Verstecke. 
Von  Nutzen  erwies  sich  ferner  ein  häufiger  Wohnungswechsel 
ohne  Angabe  der  neuen  Adresse.  Endlich  wurden  die  Nihilisten 
in  zahlreichen  Fällen  von  den  Ukriwaheli  (=  Hehler)  durch  Ver- 
bergung beschützt,  die  sich  aus  allen  Klassen  der  Bevölkerung, 
vom  Adel  abw'ärts,  rekrutierten  und  zu  denen  sogar  freiheitlich 
gesinnte  Polizeibeamte  und  Polizisten  gehörten.  Grofses  leistete 
in  diesem  Punkte  eine  dänische  Dame,  namens  Horn,  die  als 
Gattin  eines  russischen  Polizeibeamten  in  ihrem  70.  Lebensjahr 
„Hehlerin“  wurde  und  in  ausgedehntem  Mafse  nihilistische 
Schriftenvorräte,  die  Post  vieler  Terroristen  und  schliefslich  die 
letzteren  selbst  in  ihrer  Wohnung  versteckte. 


Allerlei  italienische  Gesellschaften. 

Welfische  Ritter.  — Latiner.  — Die  Mittelpunkte.  — ..Italienische  Litteraten.“ 

— „Europäische  Patrioten.“  — Philadelphier.  — Decisi.  — Giro  Anni- 
chiarico.  — Calderari.  — Die  Unabhängigen.  — Die  Delphische  Priester- 
schaft. — Ägyptische  Logen.  — „Amerikanische  Jäger.“  — Italienische 
Geheimbündelei  in  London  und  Paris.  — Mazzini  und  das  Junge  Italien. 

— Sizilianische  Gesellschaften.  — Die  „Konsistorialen."  — Die  römisch- 

katholische  apostolische  Kongregation.  — Die  Sanfedisten. 

Zu  den  wichtigsten  Ablegern  des  Carbonarismus  gehörte 
der  um  1816  entstandene  Orden  der  Welfischen  Ritter, 
den  ein  österreichischer  Polizeibericht  „wegen  des  undurchdring- 
lichen Geheimnisses,  das  ihn  umgiebt,“  als  „äufserst  gefährlich“ 
bezeichnete.  Jeder  Ausschuß  bestand  aus  sechs  Mitgliedern,  die 
einander  jedoch  nicht  kannten;  den  Verkehr  zwischen  ihnen  ver- 
mittelte der  sogen.  „Sichtbare.“  Zu  jedem  Ausschufs  gehörte 
auch  ein  vertrauenswürdiger  junger  Mann,  „Beamter“  genannt, 
der  mit  den  Universitätsstudenten  zu  verkehren  hatte,  und  ein 
„Freund,"  dem  die  Beeinflussung  des  Volkes  oblag.  Aber  weder 
der  „Beamte"  noch  der  „Freund"  war  in  die  eigentlichen  Ordens- 
geheimnisse eingeweiht.  Jeder  Ausschufs  führte  einen  besonderen 
Namen  — z.  B.  „Ehre,"  „Tugend,“  „Treue"  etc.  — und  hielt 
seine  Zusammenkünfte  ohne  Schreiberei  oder  sonstige  Vor- 
kehrungen ab.  Die  hauptsächlichsten  Ausschüsse  hatten  ihre 
Sitze  in  Florenz,  Venedig,  Mailand  und  Neapel;  der  Oberste 
Rat  tagte  zu  Bologna.  Der  Bund  bemühte  sich,  für  seine  Grund- 
sätze Anhänger  zu  gewinnen , die  seine  Ziele  fördern  helfen 
sollten,  ohne  von  dem  Vorhandensein  des  Bundes  eine  Ahnung 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften.  339 

zu  haben.  In  der  Bundesleitung  soll  Lucian  Bonaparte  eine 
erste  Geige  gespielt  haben. 

Der  Welfische  Ritterorden  bezweckte,  unter  seiner  eigenen 
Führung  alle  politischen  Geheinigesellsehaften  Italiens  behufs  Er- 
reichung der  Unabhängigkeit  dieses  Landes  zu  vereinigen.  Er 
war,  genau  genommen,  nur  eine  der  Hauptlogen  der  Carbonari. 
Die  Häupter  der  letzteren  waren  auch  die  der  Welfen;  doch 
nahmen  diese  nur  solche  Carbonari  auf,  die  in  ihrem  Bunde 
bestimmte  Funktionen  bekleideten.  Zweifellos  verhielt  sich  die 
Sache  so,  dafs,  als  die  Carbonari  iibermäfsig  zahlreich  geworden 
waren,  viele  von  ihnen  sich  andersnamigen  aber  gleichgesinnten 
Vereinigungen  anschlossen  (den  »Philadelphiern,»  den  »Unab- 
hängigen» etc.),  darunter  auch  dem  Orden  der  Welfischen  Ritter. 

Um  1817  entstand  die  Gesellschaft  der  »Latiner,"  welche 
blofs  Inhaber  der  höheren  Grade  des  Carbonarismus  aufnahin. 
In  dem  Mitgliedseid  hiefs  es:  »Ich  schwöre,  das  Glück  Italiens 
mit  allen  mir  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  fördern  zu  wollen. 
Ich  schwöre  dem  Bunde  strengste  Verschwiegenheit  und  Pflicht- 
treue. Ich  werde  nichts  thun,  was  dessen  Sicherheit  beein- 
trächtigen könnte.  Ich  werde  allen  seinen  Befehlen  Gehorsam 
leisten.  Sollte  ich  meinen  Eid  je  verletzen,  so  werde  ich  mich 
jeder  Strafe  fügen,  die  der  Bund  über  mich  verhängen  mag, 
auch  der  Todesstrafe." 

Ein  andrer  Ableger  des  Carbonarismus  war  die  lombardische 
Gesellschaft  der  »Mittelpunkte,“  welche  jede  Schreiberei  ver- 
mied und  Besprechungen  von  Bundesangelegenheiten  stets  auf 
zwei  Personen  beschränkte.  Das  Losungswort  war  »Hilf  den 
Unglücklichen,“  das  Erkennungszeichen  dreimaliges  Erheben  der 
Hand  zur  Stirne.  Diese  Vereinigung  belebte  die  Hoffnungen 
Murats  aufs  neue,  denn  sie  plante  unter  seinen  Auspizien  eine 
Erhebung  gegen  die  Österreicher.  General  Fontanelli  hätte  durch 
das  Läuten  der  Domglocken  das  Signal  zum  Aufstand  und 
zur  Ermordung  aller  Österreicher  geben  sollen;  aber  er  unter- 
liefs  es  - ob  aus  Furcht  oder  aus  Mitleid,  weifs  man  nicht  — 
das  verabredete  Zeichen  zu  geben  und  die  durch  sein  Zögern 
entstandene  Verwirrung  führte  zur  Entdeckung  der  Verschwörung. 
Hierzu  trug  auch  die  Angeberei  des  Vicomte  von  Saint-Aignan 
viel  bei,  von  dem  man  seither  nie  wieder  etwas  gehört  hat  — 
vielleicht  wurde  er  umgebracht.  Die  Rädelsführer  verbrachten 
drei  Jahre  in  Untersuchungshaft,  kamen  aber  sehliefslich  wahr- 
scheinlich infolge  Geltendmachung  carbonaristischen  Einflusses  — 
mit  sehr  milden  Strafen  davon. 

In  Palermo  entstand  1823  ein  Orden,  der  sich  »Italienische 
Litteraten"  nannte  und  weder  Zeichen  noch  sonstige  Unter- 
scheidungsmerkmale hatte.  Er  besafs  in  jeder  Stadt  einen  Vertreter 

22* 


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340  Politische  Geheimgesellschaften. 

— genannt  »der  Radikale“  - der  Mitglieder  anwerben  und  in  ,De- 
kurien“  oder  „Centurien"  gruppieren  konnte.  Die  Eingeweihten 
hiefsen  „Söhne“  oder  auch  „Brüder  Barabbas."  Bei  ihnen  ver- 
trat seltsamerweise  Christus  den  Tyrannen  und  Barabbas  das 
Volk.  Hinter  diesem  scheinbar  verkehrten  Symbolismus  verbargen 
sich  Ideen  von  gerechter  und  wahrheitsliebender  Richtung.  Als 
Erkennungszeichen  diente  im  Verkehr  ein  Ring  von  bestimmter 
Art,  im  Briefwechsel  das  Wort  INRI.  Dieser  Geheimbund  erregte 
grofse  Furcht,  wurde  streng  überwacht  und  viele  seiner  Mitglieder 
wanderten  ins  Gefängnis. 

Kalabrien  und  die  Abruzzen  waren  von  jeher  Lieblings- 
gegenden für  Verschwörer.  Dort  begegnen  wir  auch  den  ge- 
heimen politischen  Orden  der  „europäischen  Patrioten“ 
(auch  „Weifse  Pilger“  genannt),  der  „Philadelphier“  und 
der  „Decisi,“  die  allmählich  auch  in  anderen  Provinzen  Italiens 
Verbreitung  fanden.  Die  zwei  erstgenannten  waren  französischen, 
der  dritte  italienischen  Ursprungs.  Die  Logen  der  „Weifsen 
Pilger“  hiefsen  „Schwadronen,"  die  der  Philadelphier  „Feld- 
lager,“ die  der  »Decisi“  (=  „Entschiedene")  „Entscheidungen.“ 
Die  Decisi,  etwa  40000  an  Zahl,  hielten  ihre  Versammlungen 
nachts  unter  starker  Schildwachenbedeckung,  ihre  militärischen 
Übungen  in  abgelegenen  Häusern  oder  aufgehobenen  Klöstern. 
Ihre  ganze  Organisation  war  militärischer  Natur.  Der  Bund  be- 
zweckte einen  Einfall  in  Neapel  und  die  Einführung  der  republi- 
kanischen Staatsform,  aber  die  Verhältnisse  waren  der  Verwirk- 
lichung dieses  Planes  nicht  günstig.  Gestiftet  und  geleitet  wurde 
die  geheime  Gesellschaft  von  dem  Priester  Ciro  Annichiarico. 
einem  Mann  von  grofsen  Geistesgaben  und  ungeheurem  Einflufs. 
Über  den  sehr  interessanten  Lebenslauf  dieses  merkwürdigen 
Menschen  sei  nachstehend  Näheres  mitgeteilt 

Während  seiner  Amtsführung  als  Priester  wurde  er  be- 
schuldigt, aus  Eifersucht  einen  Mord  begangen  zu  haben;  ob- 
gleich er  höchst  wahrscheinlich  unschuldig  war,  lautete  das  Ur- 
teil auf  fünfzehnjährige  Verbannung.  Statt  ihn  jedoch  aufser 
Landes  gehen  zu  lassen,  behielt  man  ihn  im  Kerker,  bis  er  nach 
vier  Jahren  in  die  Wälder  entfloh.  Nun  stellte  er  sich  an  die 
Spitze  einer  Missethäterbande  und  seine  Feinde  behaupteten,  dafs 
er  allerlei  Schändlichkeiten  beging.  So  z.  B.  soll  er  zu  Martano 
in  das  Haus  einer  vornehmen  Familie  eingedrungen  sein  und 
dort  nach  Vergewaltigung  der  Hausfrau  und  Ermordung  der-, 
selben  sowie  der  ganzen  Dienerschaft  96  000  Dukaten  gestohlen 
> haben.  Er  habe,  so  hiefs  es,  mit  allen  Räuberhauptleuten  im 
Briefwechsel  gestanden.  Wer  einen  Feind  loswerden  wollte, 
brauchte  sich  nur  an  ihn  zu  wenden.  Nach  seiner  Verhaftung 
befragt,  wie  viele  Menschen  er  eigenhändig  getötet  habe,  ant- 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften. 


34  t 


wortete  er:  »Wie  soll  ich  das  wissen?  Vielleicht  sechzig  bis 
siebenzig." 

Annichiarico  entfaltete  erstaunliche  Thatkraft,  Schlauheit  und 
Unerschrockenheit.  Er  war  ein  ausgezeichneter  Schütze  und 
Reiter.  Die  Gewandtheit  und  das  Glück,  mit  deren  Hilfe  er 
unversehrt  aus  den  gröfsten  Gefahren  hervorging,  verschafften 
ihm  den  Ruf  eines  unüberwindlichen  Zauberers.  Trotz  seiner 
Priestereigenschaft  war  er  ein  Freigeist  Er  erklärte  seine  Amts- 
brüder für  glaubenslose  Betrüger  und  schrieb  gegen  die  Missionäre, 
denen  er  die  Verbreitung  rückschrittlicher  Anschauungen  vorwarf 
und  das  Predigen  in  den  Dörfern  bei  Todesstrafe  verbot,  denn 
»statt  des  wahren  Evangeliums  verbreiten  sie  betrügerische  Fabeln.“ 
Er  konnte  auch  grofsmütig  sein.  Eines  Tages  begegnete  er  in 
einem  Garten  dem  allein  spazierenden,  im  Dienst  Murats  stehen- 
den General  d’Octavio,  der  ihn  an  der  Spitze  von  tausend  Mann 
seit  längerer  Zeit  verfolgte.  Er  stellte  sich  dem  unbewaffneten 
General  vor,  sagte,  dafs  sein  Leben  in  seiner  (Ciros)  Hand  sei 
und  fügte  hinzu:  »Aber  ich  will  Sie  diesmal  schonen;  wenn  Sie 
mich  jedoch  noch  länger  verfolgen  sollten,  würde  ich  nicht  mehr 
so  rücksichtsvoll  sein.“  Sprach’s,  sprang  über  die  Gartenmauer 
und  verschwand. 

Seine  Gesichtszüge  waren  einnehmend,  sein  Körperbau 
schön  und  sehr  kräftig,  seine  Beredsamkeit  sprudelnd  und  seine 
Vergnügungssucht  so  grofs,  dafs  er  sich  zur  Zeit  seiner  Macht 
in  zahlreichen  Städten  Maitressen  hielt.  Nach  der  neuerlichen 
Thronbesteigung  Ferdinands  wurde  gegen  ihn  abermals  ein  Haft- 
befehl erlassen.  Nunmehr  gründete  er  den  Geheimbund  der 
Decisi,  denen  man  viele  Ausschreitungen  zur  Last  legte,  ln 
Gruppen  von  zwanzig  bis  dreifsig  trieben  sie  sich  umher,  als 
Hanswürste  verkleidet.  Hatte  die  Bundesleitung  irgend  ein  ge- 
heimes Todesurteil  ausgesprochen,  das  sich  nicht  mit  offener 
Gewalt  vollziehen  liefs,  so  mufsten  einige  besonders  kühne  Decisi 
einen  geeigneten  Moment  auskundschaften  und  abwarten.  Die 
Zahl  der  Missethaten  wurde  schliefslich  so  grofs,  dafs  die  Re- 
gierung den  General  Church  mit  einer  beträchtlichen  Truppen- 
zahl zur  Bekämpfung  der  Banden  aussandte.  Mit  zahlreichen 
Genossen  gefangen  genommen,  wurde  Annichiarico  zum  Tode 
durch  Erschiefsen  verurteilt.  Als  ein  Missionär  ihm  die  »Tröstungen 
der  Religion"  anbot,  antwortete  er  lächelnd:  »Lassen  Sie  mich 
mit  diesem  Gewäsch  zufrieden!  Wir  gehören  dem  gleichen 
Handwerk  an  und  wollen  einander  nicht  auslachen.“  Einund- 
zwanzig Schüsse  trafen  ihn,  vier  davon  in  den  Kopf,  aber  erst 
der  zweiundzwanzigste  tötete  ihn.  Einer  der  dienstthuenden  Sol- 
daten sagte  sehr  ernsthaft:  „Da  wir  sahen,  dafs  er  behext  sein 
müsse,  luden  wir  seine  eigene  Muskete  mit  einer  Silberkugel, 


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342 


Politische  Geheimgesellschaften. 


und  diese  brach  den  Zauber.“  Nach  dem  Tode  des  Anführers 
wurden  230  Decisi  vor  Gericht  gestellt  und  fast  die  Hälfte  davon 
wegen  Raubmordes  hingeriehtet;  die  Köpfe  gelangten  warnungs- 
halber teils  an  den  Wohnorten  der  Verbrecher,  teils  auf  den 
Schauplätzen  ihrer  Übelthaten  zur  Ausstellung. 

Die  Mitgliedsdiplome  der  Decisi  sahen  ungefähr  so  aus: 


T ristezza.  ''X  J/orte. 

(Totenkoi>r.)  S(alentina).  D(ecisione).  ' (Toienkopf  > 

(-Valute.)  . *' 

Na.  K Crandi  .l/uratori. 

I.  D.  D.  G.  T.  — E.  D.  T.  D.  U.  ") 

| 11  .l/ortale  Gaetano  Caffieri  c un  /.  D.  A'umero  <?uinto 

, appartenente  alla  Dt.  del  Z'onante  G iove,  sparsa  sulla  superficie 

della  7'crra , per  la  sua  Di  avuto  il  piacere  di  far  parte  in 
questa  R.S.D.  A’oi  dunque  invitiamo  tutte  le  -Societa  /•'ilan- 
tropichc  a prestar  ii  loro  braccio  forte  al  medesimo  ed  a 
soccorrerlo  ne'  suoi  bisogni,  essendo  egli  giunto  alla  Di  di 
acquistare  la  iiberta  o -t/orte. 

Oggi  li  29  Ottobre  1817. 

II  G.  M.  D.  No.  1 . 

Pietro  Gargaro. 

V 2 . de  Serio  2.2.  Deciso 

Gaetano  Caffieri  isiesei.) 
Registratore  de'Morti.  \ '**)  j 

(Toicnknochen.)  (Tocenknochen.) 

-Schrecken.  . A'ampf. 


Die  deutsche  Übersetzung  würde  etwa  so  lauten:  »Traurig- 
keit; Tod!  Salentinische  Decision.  Heil!  Nr.  5;  Grofsmaurer. 
— Decision  (Loge)  zum  Jupiter  Tonans,  Ausrotterin  der  Ty- 
rannen des  Weltalls.  — Der  Decisionsbruder  Gaetano  Caffieri 
gehört  als  Nr.  5 der  Loge  zum  Donnernden  Jupiter  an,  die  über 
die  ganze  Erde  verbreitet  ist.  Da  er  das  Vergnügen  hat,  der 
salentinischen  republikanischen  Decision  anzugehören,  laden  wir 
alle  philanthropischen  Vereinigungen  ein,  ihm  nach  Kräften  bei- 


*)  Rutenbündel  auf  einem  Totcnschädel,  überragt  von  der  phry- 
gischen  Mütze  und  von  Beilen  umgeben. 

**)  Diese  Anfangsbuchstaben  bedeuten : La  Decisione  di  Giove 
Tonante  - Esterminatore  dei  Tiranni  dell’  Universo. 

*•*)  Donnerkeile,  welche  königliche  und  kaiserliche  Kronen  sowie 
die  Tiara  zum  Sturz  bringen. 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften.  34  3 

zustehen,  denn  er  hat  sich  der  Decision  gegenüber  verpflichtet, 
entweder  die  Freiheit  oder  den  Tod  zu  erringen.  - Heute,  ant 
29.  Okt.  1817.  P.  G.,  erster  Großmeister  der  Decision;  Vido 
de  Serio,  zweiter  Entschiedener;  G.  C.,  Totenlistenführer.“ 

Die  oben  in  Kursivschrift  gedruckten  Buchstaben  waren 
mit  Blut  geschrieben.  Die  vier  Punkte  nach  der  ersten  Unter- 
schrift deuten  die  Macht  des  »ersten  Großmeisters»  an,  Todes- 
urteile zu  fällen.  Wenn  ein  Brandschatzungs-  oder  Erpressungs- 
schreiben des  Bundes  diese  vier  Punkte  enthielt,  so  wußte  der 
Empfänger,  daß  er  im  Weigerungsfall  den  Tod  zu  gewärtigen 
habe.  Fehlten  die  vier  Punkte,  so  stand  eine  mildere  Strafe  in 
Aussicht.  Die  Bezeichnung  »Totenlistenführer“  will  besagen, 
dafs  der  Betreffende  das  Verzeichnis  der  von  den  Decisi  um- 
gebrachten Personen  führte.  Das  Diplom  war  von  den  Bundes- 
farben (gelb-rot-blau)  eingesäumt. 

Von  unsicherem  Ursprung  ist  die  Verbindung  der  Calderari 
(Kupferschmiede),  deren  wir  übrigens  nebenher  schon  im  Ab- 
schnitt »Die  Carbonari»  Erwähnung  gethan  haben.  Graf  Orlow 
behauptet  in  seinem  Werk  über  das  Königreich  Neapel,  der  Bund 
sei  1813  in  Neapel  entstanden,  als  der  Carbonarismus  neugestaltet 
wurde;  dagegen  schreibt  Canosa,  derselbe  stamme  nicht  aus 
Neapel,  sondern  aus  Palermo.  Dort  habe  es  mehrere  Handwerks- 
körperschaften gegeben  mit  grofsen  Vorrechten,  welche  sie  durch 
die  auf  Betreiben  Englands  erlassene  Verfassung  verloren.  Am 
empfindlichsten  sei  von  den  Verlusten  die  Kupferschmiedezunft 
betroffen  worden,  was  diese  veranlaßt  habe,  der  Königin  von 
Neapel  das  Anerbieten  zu  machen,  sich  zu  ihren  Gunsten  er- 
heben zu  wollen.  Der  Aufstand  sei  auch  in  den  Reihen  der 
Gerber  und  der  neapolitanischen  Auswanderer  auf  Sizilien  aus- 
gebrochen. Lord  William  Bentinck  schiffte  die  Emigranten  unter 
einer  neutralen  Flagge  nach  Neapel  ein,  wo  Murat  sie  sehr 
freundlich  empfing.  Sie  wußten  ihm  das  nicht  Dank,  verbanden 
sich  vielmehr  mit  den  damals  gegen  die  Franzosenherrschaft  ver- 
schworenen Geheimgesellschaften,  die,  bislang  »Trinitarii»  genannt, 
von  jenen  die  Bezeichnung  »Calderari"  übernahmen.  Canosa 
nannte  sie  »Calderari  zum  Gegengift,“  weil  er  sie  als  solches 
gegen  den  Carbonarismus  zu  verwenden  gedachte,  wie  wir  be- 
reits aus  dem  Kapitel  »Die  Carbonari“  wissen,  in  welchem  wir 
auch  über  das  Schicksal  Canosas  und  der  Calderari  berichtet  haben. 

Auch  die  »Unabhängigen“  erstrebten  die  Unabhängig- 
keit Italiens;  doch  scheinen  sie  nicht  abgeneigt  gewesen  zu  sein, 
das  Ziel  mit  ausländischer  Hilfe  zu  erreichen.  Sie  sollen  sogar 
die  Absicht  gehabt  haben,  die  italienische  Krone  dem  Herzog 
von  Wellington  anzubieten;  das  klingt  jedoch  sehr  unwahrschein- 
lich, da  der  Herzog  in  Italien  durchaus  nicht  beliebt  war.  Viel 


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344 


Politische  Gehcimgesellschaften. 


näher  liegt  die  Annahme,  dafs  sie  sich  um  die  Mitwirkung 
Rufslands  bemühten,  welches  seit  1815  in  Italien  zahlreiche 
Agenten  unterhielt  (angeblich  zur  Vornahme  volkswirtschaftlicher 
und  statistischer  Studien,  nach  Ansicht  Österreichs  aber  zu  poli- 
tischen Zwecken).  Die  »Unabhängigen“  standen  in  regen  Be- 
ziehungen zu  diesen  Agenten  --  vermutlich  um  sich  für  den  Fall 
eines  Aufstandes  gegen  Österreich  die  Hilfe  Rufslands  zu  sichern. 

Den  gleichen  politischen  Zweck  wie  die  »Unabhängigen“ 
verfolgte  die  „Delphische  Priesterschaft".  Das  kampf- 
bereite  patriotische  Bundesmitglied  sprach:  „Meiner  Mutter  dient 
das  Meer  als  Mantel,  das  Hochgebirge  als  Scepter."  Die  Frage, 
wer  seine  Mutter  sei,  beantwortete  es  so:  „Die  Frau  mit  den 
dunkeln  Locken  und  den  Gaben  der  Schönheit  und  Weisheit, 
früher  auch  der  Kraft;  ihre  Mitgift  ist  ein  blühender  Garten  voll 
duftender  Blumen,  voll  Weinreben  und  Olivenbäume;  jetzt  stöhnt 
sie,  weil  zu  Tode  getroffen."  Die  Delphier  setzten  ihre  Hoff- 
nungen seltsamerweise  auf  „das  Heilmittel  des  Oceans“  (d.  h. 
Hilfstruppen  aus  Amerika)  und  „die  Zeit  der  Heilung,"  worunter 
sie  einen  allgemeinen  europäischen  Krieg  verstanden.  Sie  nannten 
die  Anhänger  Frankreichs  „Heiden,“  jene  Österreichs  „Ungeheuer“ 
und  die  Deutschen  „Wilde.“  Ihr  Öberhaupt  hiefs  der  „Lootse“ 
und  ihr  Versammlungsort  „das  Schiff,"  womit  sie  auf  die 
künftige  Seemacht  Italiens  und  auf  den  von  jenseits  des  Meeres 
erwarteten  Beistand  anspielen  wollten. 

Nach  dem  Sturz  Napoleons  I.  entstanden  auch  im  Ausland 
geheime  Gesellschaften  behufs  Förderung  der  Unabhängigkeit 
Italiens.  Die  Gründer  waren  in  der  Regel  Flüchtlinge  oder  Ver- 
bannte. Selbst  Ägypten  wurde  zum  Herd  einer  solchen  Agitation 
gemacht,  indem  Italiener  mit  Unterstützung  Mehemet  Alis,  der 
sich  seinerseits  gern  von  der  Pforte  unabhängig  gemacht  hätte, 
unter  dem  Namen  „Geheimer  ägyptischer  Bund“  eine 
Abart  des  ägyptischen  Cagliostro-Ritus  einführten.  Unter  dem 
Deckmantel  freimaurerischer  Formen  wollte  der  Pascha  seine 
eigenen  Pläne  fördern.  Um  in  Italien  und  auf  den  Ionischen 
Inseln  politische  Änderungen  hervorzurufen,  liefs  er  die  ganze 
Mittelmeerküste  von  Emissären  bereisen.  Die  Gesellschaft  nahm 
Anhänger  jeder  Religion  auf,  auch  weibliche  Mitglieder;  den 
Logen  von  Kairo  und  Alexandrien  gehörten  über  dreihundert 
Griechinnen  und  Araberinnen  an.  Die  Riten  waren  der  Haupt- 
sache nach  die  der  alten  und  anerkannten  „Schotten.“  ln  den 
Logen  wurde  ein  Bildnis  Napoleons  verehrt  und  dem  gefangenen 
Kaiser  war  ein  jährlicher  Festtag  geweiht.  Türken  konnten 
naturgemäfs  keine  Aufnahme  finden.  Über  die  Wirksamkeit 
des  Bundes  ist  nichts  Verlässliches  in  die  Öffentlichkeit  ge- 
drungen. 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften. 


3-15 


Kurz  nach  den  Verfolgungen  zu  Macerata  und  den  i.  J.  1818 
von  der  österreichischen  Regierung  gegen  die  Carbonari  er- 
griffenen Mafsregeln  trat  in  Ravenna  die  Vereinigung  der 
»Amerikanischen  Jäger«  ins  Leben.  Byron,  der  durch 
den  Umgang  mit  der  schönen  Gräfin  Guiccioli  ein  italienischer 
Patriot  geworden  sei,  soll  an  der  Spitze  dieses  Geheimbundes 
gestanden  haben,  welcher  hinsichtlich  der  Zeremonien  den 
spanischen  Comuneros  (vgl.  »Die  Comuneros«)  und  hinsichtlich 
der  politischen  Bestrebungen  der  »Delphischen  Priesterschaft" 
ähnelte.  Die  Rettung  wurde  aus  Amerika  erwartet  — daher  der 
Name  der  Vereinigung.  Angeblich  gehörte  ihr  Joseph  Bonaparte, 
der  Ex-König  von  Spanien,  als  Mitglied  an.  Dafs  die  Bona- 
partisten  neue  Hoffnungen  hegten,  ist  nicht  unwahrscheinlich; 
das  läfst  sich  auch  aus  einem  damals  in  Mittel-Italien  sehr  volks- 
tümlichen Sonett  schliefsen,  dessen  erste  Strophe  besagte:  »Empört 
darüber,  dafs  wir  im  Joch  so  grausamer  Könige  seufzen  müssen, 
die  ganz  Europa  mit  Entsetzen  erfüllen,  müssen  wir  Bonaparte 
bitten,  zurückzukehren  — sei’s  von  St  Helena,  sei’s  aus  der 
Hölle." 

Aus  dem  Schofs  der  „Amerikanischen  Jäger"  gingen  viele 
kleinere  Gesellschaften  hervor:  z.  B.  die  „Marssöhne,“  zumeist 
aus  Militärs  bestehend;  die  „Kunstbrüder,“  die  „Landes- 
verteidiger," die  „Freunde  der  Pflicht"  und  viele  andere, 
deren  Namen  kaum  bekannt  sind.  Bei  den  „Marssöhnen“  hiefs 
der  Lehrling  „Freiwilliger,"  eine  Carbonariloge  „Feldlager,"  der 
„gute  Vetter“  „Korporal,“  der  Meister  „Sergeant,"  der  Grofs- 
nieister  „Befehlshaber."  Dieser  Orden  wurde  aber  eigentlich, 
wenngleich  indirekt,  von  den  höchsten  Würdenträgern  der  Car- 
bonari geleitet. 

1 822  bildete  sich  in  London  ein  Geheimbund  zur  Befreiung 
von  der  Herrschaft  Österreichs.  Ihm  traten  viele  hervorragende 
italienische  Patrioten  bei.  Die  ängstliche  österreichische  Regierung 
schickte  Spione  aus  und  diese  schilderten  die  Pläne  des  Bundes 
als  sehr  umfassend,  deren  Ausführung  als  unmittelbar  bevor- 
stehend. Eine  Expedition  hätte  sich  in  England  nach  Spanien 
einschiffen  sollen,  um  zahlreiche  Anhänger  aufzunehmen  und 
nach  Italien  zu  bringen,  wo  sie  einen  Aufstand  hervorrufen  sollten. 
Angeblich  stand  der  britische  General  Wilson  an  der  Spitze 
jener  geplanten  Expedition,  doch  hat  man  von  dieser  in  Wirklich- 
keit nie  etwas  gehört. 

Auch  in  Paris  gab  es  italienische  politische  Geheimgesell- 
schaften. Die  erste  entstand  1829.  Ein  Jahr  darauf  gründeten 
französische  Liberale  den  „Bund  der  Kosmopoliten“  zum 
Zweck  der  Revolutionierung  aller  lateinischen  Völker  und  ihrer 
nachherigen  Vereinigung  zu  einer  grofsen  Föderativ-Republik. 


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340 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Offiziell  stand  La  Fayette  an  der  Spitze,  die  eigentliche  Seele 
jedoch  war  der  Modenese  Heinrich  Misley,  zuerst  Salpeter-  und 
Weizen- Exporteur,  später  Eisenbahn  - Bauunternehmer.  Dieser 
ganz  unauffällig  thätige  Mann,  ein  vertrauter  Freund  Menottis, 
bildete  das  Bindeglied  zwischen  dem  italienischen  Carbonarismus 
und  der  französischen  Umsturzbewegung.  Auch  unterstützte  er 
Palmerston  1850—  52  in  dessen  Bestreben,  Louis  Napoleon  zum 
Kaiserthron  zu  verhelfen.  Der  doppelzüngige  Palmerston  war  den 
europäischen  Revolutionären  sehr  wohl  gesinnt;  das  hinderte  ihn 
jedoch  nicht,  dort,  wo  es  ihm  in  den  politischen  Kram  pafste, 
dem  Staatsstreieh-Empereur  beizuspringen. 

Giuseppe  Mazzini,  vor  etwa  sechzig  Jahren  wegen  revolu- 
tionärer Reden  und  Schriften  in  Fort  Savona  eingesperrt,  kann 
als  die  Haupttriebfeder  derjenigen  neueren  italienischen  Geheim- 
bündelei betrachtet  werden,  welche  radikale  Tendenzen  hatte. 
Die  Hauptrolle  spielte  das  »Junge  Italien,"  das  die  Unab- 
hängigkeit und  Einigung  des  Landes  und  die  Erhebung  Roms 
zur  Hauptstadt  anstrebte.  Hier  einige  Stellen  aus  den  von 
Mazzini  verfafsten  Satzungen  dieser  Gesellschaft: 

»Artikel  1.  Der  Bund  bezweckt  die  unerläfslich  notwendige 
Beseitigung  aller  Regierungen  der  Halbinsel  und  die  Gründung 
eines  Gesamtstaates  mit  republikanischer  Regierungsform.  — 2.  ln 
voller  Kenntnis  der  furchtbaren  Mifsstände  des  Absolutismus  und 
der  noch  schlimmeren  Folgeübel  des  verfassungsmäfsigen  Monar- 
chismus müssen  wir  die  Errichtung  einer  einheitlichen,  unteil- 
baren Republik  anstreben.  30.  Wer  den  Befehlen  dieser  ge- 
heimen Gesellschaft  den  Gehorsam  versagt  oder  ihre  Geheimnisse 
verrät,  stirbt  unfehlbar  durch  den  Dolch.  31.  Das  geheime 
Gericht  fällt  die  Urteile  und  bezeichnet  die  zu  deren  Vollziehung 
bestimmten  Mitglieder.  - 32.  Weigert  sich  ein  Mitglied,  ein 
Urteil  zu  vollstrecken,  so  wird  es  auf  der  Stelle  erdolcht. 

33.  Entrinnt  das  Opfer,  so  wird  es  verfolgt  und  schliefslich  von 
der  rächenden  Hand  getroffen,  und  versteckte  es  sich  in  den 
Armen  der  Mutter  oder  im  Tempel  Christi.  34.  Jedes  geheime 
Gericht  ist  berechtigt,  nicht  nur  schuldige  Mitglieder,  sondern 
auch  jede  andere  Person,  deren  Beseitigung  es  für  nötig  hält, 
zum  Tode  zu  verurteilen  • 

Schon  in  dem  Kapitel  über  die  Mafia  (vgl.  „Gesellschafts- 
feindliche Geheimbünde")  haben  wir  die  Vorliebe  Mazzinis  für 
den  Dolch  kennen  gelernt.  Hier  begegnen  wir  ihr  wieder. 
Obgleich  er  stets  darauf  bedacht  war,  jede  Gefährdung  der 
eignen  Person  zu  vermeiden,  liefs  er  den  Dolch  ohne  Bedenken 
durch  andere  anwenden;  am  bekanntesten  ist  in  dieser  Beziehung 
sein  schriftlicher  Auftrag,  einen  gewissen  Emiliani  zu  erdolchen, 
der  angeklagt  war,  sich  den  Plänen  der  Mazzinianer  widersetzt 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften. 


U 7 


zu  haben.  1833  stiftete  Mazzini  einen  gewissen  Louis  Mariotti 
an,  ein  Attentat  auf  Karl  Albert  zu  begehen.  Bald  nachher  wurde 
der  Attentatsversuch  von  einem  anderen  Verschwörer  wiederholt, 
und  zwar  mit  einem  Dolch,  der  nachgewiesenermafsen  das  Eigen- 
tum Mazzinis  bildete. 

Das  Junge  Italien  hatte  in  allen  Gegenden  des  Landes 
Zweigausschüsse  und  agitierte  in  der  in-  wie  in  der  ausländischen 
Presse  eifrig  für  seine  Ziele.  Die  Polizei  erwies  sich  als  so 
unfähig,  dafs  Livio  Zambeccari,  einer  der  Hauptverschwörer,  von 
Bologna  nach  Neapel  und  Sizilien  gehen,  mit  den  dortigen  Ge- 
nossen Unterredungen  haben,  Versammlungen  abhalten  und  nach 
Bologna  zurückkehren  konnte,  ohne  dafs  sie  (die  Polizei)  von 
alledem  etwas  geahnt  hätte.  General  Antonini  besuchte  als  ein 
angeblicher  Daguerreotypist  unter  falschem  Namen  die  Insel 
Sizilien  und  verkehrte  sehr  vertraut  mit  der  dortigen  Beamten- 
welt, ohne  den  Verdacht  der  Behörden  zu  erregen.  Ein  piemon- 
tesischer  Offizier  konnte  mit  Hilfe  des  Empfehlungsbriefes  eines 
neapolitanischen  Generals  unter  einem  spanischen  Namen  die 
Citadelle  von  Messina  eingehend  besichtigen.  Die  Polizei  fing 
an  die  Verschwörer  gerichtete  Briefe  aus  Malta  auf,  liefs  sich 
dieselben  aber  von  einigen  ebenso  schlauen  wie  kühnen  Mit- 
gliedern des  Jungen  Italien  ungelesen  entlocken!!  Tausend  Exem- 
plare einer  in  Marseille  gedruckten  aufrührerischen  Kundgebung 
wurden  in  einer  an  den  Minister  Delcaretto  gerichteten  diplo- 
matischen » Note  “ in  Italien  eingeschmuggelt.  Wiederholt 
schmuggelte  man  den  Briefwechsel  der  Umstürzler  durch  die 
amtliche  Korrespondenz  des  Ministers  Santangelo  ein.  Ein  zu 
den  Verschwörern  gehörender  wohlbekannter  spanischer  General 
begab  sich  von  Marseille  nach  Neapel  und  die  französischen 
Zeitungen  berichteten  über  seine  Abreise  und  deren  Zweck; 
dennoch  konnte  die  neapolitanische  Polizei  seiner  nicht  habhaft 
werden.  Damals  unterstützte  Lord  Palmerston  die  italienischen 
Revolutionäre  moralisch  kräftig,  weshalb  in  den  Kreisen  der 
österreichischen  Konservativen  der  Knittelvers  im  Umlauf  war: 

»Hat  der  Teufel  einen  Sohn, 

lst's  gewifs  Lord  Palmerston.“ 

Auf  Sizilien  wurde  1827  eine  Vereinigung  gegründet,  die 
sich  »Freunde  Griechenlands“  nannte,  aber  nicht  nur 
Griechenlands,  sondern  auch  Italiens  Unabhängigkeit  anstrebte. 
Zehn  Jahre  vorher  war  ebendort  der  »Geheimbund  der  Fünf“ 
entstanden,  der  für  die  Erhebung  der  Griechen  eintrat.  In 
Messina  gab  es  eine  Loge,  genannt  »Patriotische  Reformer“; 
sie  beruhte  auf  den  Grundsätzen  der  Carbonari,  unterhielt  mittels 
musikalischer  Notenschrift  Beziehungen  zu  Logen  in  Florenz, 


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34S 


, Politische  Geheimgesellschaften. 


Mailand  und  Turin,  beschränkte  sich  aber  nicht  auf  Politik, 
sorgte  vielmehr  auch  mit  grofsem  Erfolg  für  die  Verbesserung 
der  ehedem  geradezu  fürchterlichen  Sicherheitszustände. 

Wie  in  Spanien,  traten  begreiflicherweise  auch  in  Italien 
den  radikalen  Verschwörungsverbindungen,  die  sich  gegen  Thron 
und  Kirche  richteten,  konservativ-geistliche  Geheimgesellschaften 
gegenüber.  So  z.  B.  arbeiteten  die  „ Konsistorialen * an  der 
Erhaltung  der  feudal-klerikalen  Herrschaft.  Zu  ihnen  gehörten 
die  reichen  Patrizier  Roms  und  anderer  italienischen  Staaten. 
Der  leitende  Geist  war  der  Ex-Jesuit  Tabot,  Beichtvater  des 
Papstes.  Dieser  Geheimbund  soll  beabsichtigt  haben,  die  einzelnen 
Provinzen  folgendermafsen  zu  verteilen:  Toskana  dem  Papst; 
Elba  und  die  Marken  dem  König  von  Neapel;  Parma,  Piacenza 
und  einen  Teil  der  Lombardei  nebst  dem  Königstitel  dem  Herzog 
von  Modena;  Massa  Carrara,  Lucca  und  den  Rest  der  Lombardei 
dem  König  von  Sardinien;  Ancona  oder  Genua  oder  Civita 
Vecchia  den  Russen  als  Belohnung  für  ihre  moralische  Unter- 
stützung der  Bestrebungen  der  » Konsistorialen."  Aus  Urkunden 
geht  hervor,  dafs  Österreich  das  Vorhandensein  und  die  Ziele 
der  Gesellschaft  kannte  und  dafs  der  Herzog  von  Modena  1818 
in  einer  Vollversammlung  derselben  den  Vorsitz  führte. 

ZurZeit  der  Gefangenschaft  Pius'  IX.  entstand  die  »Römisch- 
katholische  Apostolische  Kongregation,“  deren  Mitglieder 
einander  an  einer  gelben  Schnur  mit  fünf  Knoten  erkannten, 
ln  den  unteren  Graden  war  nur  von  Frömmigkeit  und  Wohl- 
thätigkeit  die  Rede;  erst  die  Inhaber  der  höheren  lernten  die 
eigentlichen  Bundesgeheimnisse  kennen,  die  übrigens  nur  von 
je  zwei  Personen  besprochen  werden  durften.  Jede  Loge  zählte 
blofs  fünf  Mitglieder.  Die  Losungs-  und  Kennworte  waren 
„Eleutheria“  (Freiheit)  und  »Ode"  (Unabhängigkeit).  Dieser 
Orden  verpflanzte  sich  von  Frankreich,  wo  er  aus  der  Mitte  der 
Laniennaisschen  Neu- Katholiken  hervorgegangen  war,  nach  der 
Lombardei,  fand  dort  aber  wenig  Anklang.  Obgleich  auf  die 
Befreiung  Italiens  abzielend,  war  er  nicht  revolutionär,  denn  er 
verknüpfte  die  Geschicke  der  Völker  mit  dem  vollständigen  Sieg 
des  römischen  Katholizismus.  Es  gelang  den  Österreichern,  sich 
in  den  Besitz  der  Satzungen,  der  Eingeweihten-Diplome  etc.  zu 
setzen;  die  letzteren  enthielten  zwei  lateinische  Texte,  welche 
durch  das  Zeichen 

C C 

A | R 

(=  Congregazione  Cattolica  Apostolica  Romana)  getrennt  waren. 

Zur  Zeit  des  Verbots  des  Jesuitenordens  trat  der  Bund  der 
„ Sanfedisten  * ins  Leben.  Im  Kirchenstaat  hatte  längst  die 


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Allerlei  italienische  Gesellschaften. 


3-19 


»Heilige  Union«  (auch  »Gesellschaft  der  Friedlichen“ 
genannt)  bestanden,  welche  die  Verteidigung  des  Katholizismus, 
der  weltlichen  Macht  des  Papstes  und  dergleichen  bezweckte. 
Aus  dieser  Vereinigung  gingen  die  Sanfedisten  (=  Gesellschaft 
des  heiligen  Glaubens)  hervor.  Die  Entdeckung  des  Bundes  ge- 
schah durch  einen  merkwürdigen  Zufall.  Im  Karneval  1821  be- 
trat ein  Freund  Jean  de  Witts  (vgl.  »Carbona^i“)  in  einer  Strafse 
Turins  einen  Laden,  um  ein  Kostüm  zu  kaufen.  Bei  der  Be- 
sichtigung einer  Soutane  erspähte  er  in  einer  Tasche  derselben 
Papiere.  Nach  Ankauf  des  Kleidungsstückes  entpuppten  sich  die 
Schriftstücke  als  die  Satzungen,  Erkennungszeichen,  Losungsworte 
u.  s.  w.  der  Sanfedisten.  Der  gewesene  Besitzer  der  Soutane, 
einer  der  höchsten  Eingeweihten,  war  vom  Schlage  gerührt  worden 
und  man  hatte  seine  Habseligkeiten  verkauft,  ohne  die  nötige 
Sorgfalt  walten  zu  lassen.  Nach  den  Enthüllungen  des  Käufers 
der  Soutane  änderten  die  Sanfedisten  Zeichen  und  Kennwort; 
das  erstere  bestand  seither  in  einem  mit  der  linken  Hand  auf 
die  linke  Brust  gemachten  Kreuzzeichen. 

ln  Frankreich  hatten  die  Sanfedisten  lange  vorher  gegen 
Napoleon  1.  agitiert,  der  ihrer  etwa  zwanzig  in  Modena  einsperren 
liefs;  Franz  IV.  befreite  sie  aus  dem  Gefängnis.  Nach  1815 
sollen  der  Herzog  von  Modena  und  Kardinal  Consalvi  die  Leiter 
des  Bundes  gewesen  sein;  auch  der  König  von  Sardinien  war 
angeblich  in  die  Verschwörung  mit  verwickelt.  Von  manchen 
Seiten  ist  der  »Gesellschaft  des  heiligen  Glaubens"  die  Absicht 
zugeschrieben  worden,  die  Österreicher  und  den  König  von 
Neapel  zu  vertreiben  und  Italien  in  drei  Königreiche  zu  teilen; 
nach  anderen  Quellen  plante  sie  die  Zerlegung  des  Landes  in  fünf 
Staaten : Sardinien,  Modena,  Lucca,  Rom,  Neapel ; noch  andere 
glaubten  — und  sie  allein  dürften  das  Richtige  getroffen  haben  — 
dafs  die  Sanfedisten  die  Erhaltung  des  Status  quo  und  die  Wieder- 
einführung der  ärgsten  Knechtschaft  anstrebten.  Einmal  intri- 
guierten  sie  mit  und  für  Österreich,  ein  andermal  mit  und  für 
Rufsland.  Ihre  Ränke  zogen  im  Inland  viel  Zwist  und  Blut- 
vergiefsen  nach  sich.  Ihre  Hauptgegner  waren  die  Carbonari. 
Ihre  Satzungen  und  ihr  Treiben  waren  ebenso  blutrünstig  und 
unheilvoll  wie  das  Unwesen  der  Räuberbanden,  die  Italien  un- 
sicher machten.  Sie  schworen  schreckliche  Eide,  die  »gottlosen“ 
Freisinnigen  und  deren  Kinder  ohne  Ansehen  des  Geschlechts 
oder  Alters  zu  verfolgen  und  umzubringen.  Unter  dem  Deck- 
mantel des  Glaubensschutzes  erlaubten  sie  sich  die  ärgste  Zügel- 
losigkeit und  die  empörendsten  Grausamkeiten.  Im  päpstlichen 
Staatsgebiet  standen  sie  unter  der  Leitung  der  Inquisitoren  und 
Bischöfe,  von  denen  sie  gar  sehr  ermutigt  wurden,  besonders 
unter  Leo  XII.  Im  Königreich  Neapel  gehorchte  der  Bund  un- 


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350 


Politische  Geheimgesellschaften. 


mittelbar  den  Befehlen  der  Polizei.  In  Deutschland  erfreute  er 
sich  des  Schutzes  des  Bischofs  Fürst  Hohenlohe-Schillingsfürst. 
An  der  Spitze  der  französischen  Mitglieder  stand  Fürst  Jules 
de  Polignac. 


Irische  Gesellschaften. 

Weifse  Bursche.  — Rechtsbursche.  — Eichenbursche.  — Stahlherzen.  — 
Drescher.  — Tagesanbruchbursche.  — Verteidiger.  — Vereinigte  Iren. 
Bandmänner.  — Patricljsbursche.  — Orangisten.  — Molly  Maguires.  — 
Söhne  des  Heiligen  Georg.  — Der  Alte  Hibernierorden.  — Die  Fenier.  — 
Ihre  Entstehung  und  Organisation.  — Schwindelhafte  »Haupt-Mittelpunkte.* 
Finanzielles.  — Ursprung  des  Namens.  — Litanei.  — Geschichte  des 
Feniertums  von  1Sb5  bis  1871.  Der  sogen.  General  Cluseret.  — Mord- 
thaten  und  Dynamit-Attentate.  — Der  Klan-na-gael.  — Die  National-Ljga. 

— Neueste  Geschichte  des  Feniertums. 

In  ihrem  Elend  und  tiefen  Aberglauben  hilflos,  vom  Hals 
gegen  ihre  Eroberer,  die  Beherrscher  Englands,  irregeführt, 
gründeten  die  Irländer  ihre  geheime  Verbindungen  nicht  so  sehr 
zur  Bekämpfung  der  Übelstände  als  zur  Bekämpfung  der  — 
oft  nur  vermeintlichen  Urheber  der  Übelstände.  Die  erste 
irische  Geheimgesellschaft,  von  der  in  öffentlichen  Urkunden  die 
Rede  ist,  datiert  aus  dem  Jahre  1761,  einer  Zeit,  in-  welcher  die 
ohnehin  stets  jämmerlichen  Verhältnisse  des  Bauernstandes  völlig 
unerträglich  geworden  waren.  Das  Recht  der  freien  Weide  wurde 
aufgehoben  und  die  Grundherren,  in  der  Regel  nicht  Irländer, 
sondern  Engländer  — begannen  die  Gemeindeweiden  einzu- 
friedigen. Auch  die  Anforderungen  des  Fiskus  stiegen  immer 
höher.  In  ihrer  Verzweiflung  griffen  die  Bauern  zu  Repressalien, 
und  um  diese  mit  gröfserer  persönlicher  Sicherheit  begehen  zu 
können,  riefen  sie  den  Geheimbund  der  „Weifsen  Bursche* 
ins  Leben.  Der  Name  rührt  daher,  dafs  die  Mitglieder  zu  Ver- 
kleidungszwecken über  ihrer  Kleidung  ein  weifses  Hemd  anzogen. 
Sie  nannten  sich  auch  » Niederreifser,“  weil  sie  darauf  aus- 
gingen, die  verhafsten  Einzäunungen  niederzureifsen.  1761  breitete 
sich  der  Bund  in  der  Provinz  Munster  aus,  wo  er  jahrzehntelang 
allerlei  Ausschreitungen  beging,  ehe  er  sich  auflöste,  um  dem 
der  »Rechtsbursche“  Platz  zu  machen  (1887). 

Die  »Rechtsbursche“  arbeiteten  mit  gesetzlichen  Mitteln 
an  der  Erzielung  von  Steuerermäfsigungen  und  Lohnerhöhungen, 
an  der  Abschaffung  aller  entwürdigenden  persönlichen  Dienst- 
leistungen und  an  der  Errichtung  möglichst  vieler  katholischen 
Kirchen.  Sie  begingen  zwar  zuweilen  verwerfliche  Ausschreitungen 
gegen  protestantische  Pastoren,  bewegten  sich  im  allgemeinen 


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Irische  Gesellschaften. 


351 


jedoch  innerhalb  der  gesetzlichen  Grenzen.  Als  Gegengift  grün- 
deten die  Protestanten  eine  Verteidigungsgesellschaft,  «Die  Eichen- 
bursche" — so  genannt,  weil  das  Abzeichen  in  einem  Eichen- 
blatt bestand.  Sie  kämpften  hauptsächlich  für  die  Verringerung 
der  Macht  und  der  Gebühren  der  Geistlichkeit.  Am  verbreitetsten 
waren  sie  in  der  Provinz  Ulster.  Als  sie  mit  gesetzlichen  Mitteln 
nichts  erreichten,  griffen  sie  zu  den  Waffen,  wurden  aber  von 
den  englischen  Regierungstruppen  besiegt  und  aufgelöst. 

In  den  sechziger  Jahren  mufsten  viele  Pächter  des  Marquis 
von  Donegal  ihre  Farmen  verlassen,  weil  der  Grundbesitzer  wegen 
eines  pekuniären  Vorteils  dieselben  an  Belfaster  Kaufleute  ver- 
mietete. Die  Bedauernswerten  vereinigten  sich  zu  dem  Geheim- 
bund der  »Stahlherzen.“  Dieser  Name  sollte  die  Strenge  und 
Ausdauer  andeuten,  mit  welcher  sie  an  den  neuen  Pächtern  ihrer 
Farmen  Rache  zu  üben  gedachten.  Sie  töteten  möglichst  viele 
derselben,  brannten  ihre  Gehöfte  nieder  und  vernichteten  ihre 
ErnteH  nach  Thunlichkeit.  Infolge  Auflösung  der  Gesellschaft 
durch  die  Behörden  (1773)  flüchteten  zahlreiche  Mitglieder  nach 
den  Vereinigten  Staaten,  wo  sie  sich  den  im  Aufstand  gegen 
England  begriffenen  Ansiedlern  anschlossen. 

Nach  der  Verschmelzung  des  irischen  Parlaments  mit  dem 
englischen  (1800)  trieb  die  Geheimbündelei  neue  Blüten.  Die 
bemerkenswerteste  der  betr.  Gesellschaften  war  die  der  »Drescher,“ 
die  in  erster  Reihe  die  Ermäfsigung  der  überaus  hohen  Funktions- 
gebühren der  Geistlichkeit  der  protestantischen  wie  der  katho- 
lischen - bezweckten.  Zuweilen  benahmen  sie  sich  zugleich 
grofsmütig  und  humoristisch.  Anno  1807  z.  B.,  als  ein  Priester 
einem  sehr  armen  Weib  doppelte  Taufgebühren  aufrechnete,  weil 
es  sich  um  Zwillinge  handelte,  zwangen  ihn  die  »Drescher“  bald 
nachher  zur  Entrichtung  einer  gröfseren  Summe,  für  die  sie  eine 
Kuh  kauften,  welche  sie  der  armen  Frau  schenkten. 

Zur  Bekämpfung  der  neuen  Vereinigungen  sandte  die  Re- 
gierung vergeblich  die  ganze  berittene  Freiwilligentruppc  aus. 
Um  1785  entstand  die  protestantische  Verbindung  der  »Tages- 
anbruchbursche,“ die  in  der  Morgendämmerung  Ausschrei- 
tungen gegen  Katholiken  zu  begehen  pflegten,  deren  Flütten, 
Getreidevorräte  und  landwirtschaftliche  Maschinen  sie  verbrannten 
oder  sonstwie  vernichteten.  Die  Katholiken  riefen  einen  Schutz- 
bund ins  Leben:  die  »Verteidiger,“  die  übrigens  bald  zur 
Offensive  übergingen  und  sich  während  des  Aufstandes  von  1 798 
mit  den  »Vereinigten  Irländern*  verschmolzen.  Diese  er- 
litten eine  Niederlage  und  ihr  Anführer,  Lord  Edward  Fitzgerald, 
wurde  zum  Tode  verurteilt,  starb  jedoch  an  seinen  Wunden, 
ehe  seine  Hinrichtung  stattfinden  konnte.  Die  »Vereinigten  Ir- 
länder* setzten  ihre  geheime  politische  Thätigkeit  als  »Bund  der 


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352 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Bandmänner“  fort;  so  hiefsen  sie,  weil  sie  einander  an  be- 
stimmten Bändern  erkannten.  Ihr  Eid,  der  erst  i.  J.  1 895  bekannt 
wurde,  lautete  wie  folgt: 

..In  Gegenwart  des  allmächtigen  Gottes  und  dieses  meines 
Bruders  schwöre  ich,  dafs  ich  mir  eher  die  rechte  Hand  ab- 
hauen  und  vor  die  Kerkerthür  legen  lassen  will,  als  einem  Bruder 
auflauern  oder  ihn  verraten.  Ich  schwöre,  ausdauernd  zu  sein 
und  zwischen  Wiege  und  Krücke  oder  zwischen  Krücke  und 
Wiege  niemand  verschonen  zu  wollen.  Ich  werde  weder  das 
Ächzen  der  Kindheit  noch  die  Seufzer  des  Alters  beachten, 
sondern  bis  zum  Knie  in  Orangistenblut  waten  und  so  verfahren 
wie  König  Jakob  verfuhr.“ 

Aus  den  Reihen  der  „Bandmänner"  gingen  die  .,St.  Patricks- 
bursche" hervor,  deren  Satzungen  i.  J.  1833  entdeckt  und  ver- 
öffentlicht wurden.  Ihr  Eid  lautete:  »Ich  schwöre,  mir  eher  die 
rechte  Hand  abschneiden  und  ans  Thor  des  Armagher  Gefäng- 
nisses nageln  zu  lassen  als  einen  Bruder  zu  betrügen  oder  zu 
verraten;  der  Sache,  welcher  ich  mich  mit  Vorbedacht  widme, 
treu  zu  bleiben;  weder  auf  Geschlecht  noch  auf  Alter  Rücksicht 
zu  üben,  wenn  irgend  jemand  meiner  Rache  an  den  Orangisten 
im  Wege  stehen  sollte.“  Die  Genossen  erkannten  einander  durch 
gewisse  Gespräche;  z.  B. : »Der  heutige  Tag  ist  schön."  - »Ein 
schönerer  wird  erscheinen."  Oder:  »Die  Strafse  ist  sehr  schlecht.“ 

- »Sie  wird  ausgebessert  werden."  - „Womit?"  — „Mit 
Protestantenknochen.“  Oder:  „Was  ist  Ihr  Glaubensbekenntnis?“ 

— „Die  Überwindung  der  Philister.“  Oder:  „Wie  lang  ist  Ihr 
Stock?"  - „Lang  genug,  um  meine  Feinde  zu  erreichen.“ 
Oder:  »Welchem  Stamm  gehört  das  Holz  an?"  — »Einem 
französischen  Stamm,  der  in  Amerika  blüht  und  dessen  Blätter 
die  Söhne  Erins  beschatten  werden.“  Der  Bund  verfolgte  in 
erster  Reihe  den  Zweck,  den  agrarsozialen  Mifsständen  zu  steuern. 

Mit  den  Orangisten,  denen  die  Bandmänner  und  die  Patricks- 
bursche so  wilde  Rache  schworen,  waren  die  Mitglieder  eines 
noch  heute  bestehenden  protestantischen  Geheimbundes  gemeint 
Da  viele  Farmen  aus  katholischen  Händen  in  die  von  Protestanten 
übergegangen  waren,  sahen  sich  die  letzteren  den  Angriffen  der 
ersteren  ausgesetzt.  Zum  Selbstschutz  bildeten  sie  die  „Gesell- 
schaft der  Orangisten,“  die  ihre  erste  Vollversammlung  im 
September  1 795  in  einem  entlegenen  Dörfchen  abhielt.  Diese 
Versammlung,  welcher  auch  eine  Abordnung  der  „Tagesanbruch- 
bursche" beiwohnte,  errichtete  eine  Grofsloge  und  verlieh  ihr 
das  Recht  der  Gründung  von  Logen.  Anfänglich  gab  es  nur  Einen 
Grad:  den  des  „Orangisten“;  aber  schon  nach  einem  Jahr  kam 
der  „Purpurgrad“  hinzu.  Nachträglich  wurden  noch  zwei  Grade 
eingeführt,  später  jedoch  wieder  abgeschafft  Der  Eid  unterscheidet 


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Irische  Gesellschaften. 


353 


sich  nur  wenig  von  dem  der  Freimaurerlehrlinge,  denn  der 
Gründer  des  Ordens,  Thomas  Wilson,  war  Freimaurer.  Das 
Losungswort  ist  „Migdol"  (=  der  Name  des  Ortes,  an  dem  die 
Israeliten  vor  dem  Zuge  durchs  Rote  Meer  lagerten),  das  Haupt- 
losungswort „Schibboleth."  Früheres  Erkennungszeichen:  Lüften 
des  Hutes  mit  der  rechten  Hand,  drei  Finger  auf  dem  Rand; 
sodann  Legen  derselben  drei  Finger  auf  die  Krone  und  Nieder- 
drücken des  Hutes;  endlich  schnelle  Handbewegung  nach  vorn, 
wobei  der  Daumen  und  der  kleine  Finger  neben  einander  ge- 
halten werden.  Nach  der  Entdeckung  dieses  Zeichens  durch 
Unberufene  wurden  andere  angenommen.  Als  »halbes“  Zeichen 
hielt  man  die  Rechte  so,  dafs  drei  Finger  auf  dem  Schenkel  oder 
dem  Knie  lagen;  das  »volle"  Zeichen  bestand  darin,  dafs  man 
die  drei  ersten  Finger  jeder  Hand  auf  die  Hutkrone  legte,  die 
Ellbogen  möglichst  hoch  hinaufzog  und  schliefslich  beide  Hände 
senkrecht  seitwärts  hinabfallen  liefs.  Dieses  Hauptzeichen  soll 
die  Oberbalken  und  Seitenpfosten  der  mit  dem  Blute  des  Oster- 
lamms besprengten  Thüren  versinnbildlichen.  Der  aus  der  Bibel 
entlehnte  Hilferuf  der  Orangisten  lautet:  »Wer  ist  auf  meiner 
Seite,  wer?“  Das  »grofse"  Begrüfsungszeichen  ist  das  Gerade- 
stehen mit  den  Händen  auf  den  Hüften.  Im  Purpurgrad  fragt 
ein  Mitglied  das  andere:  »Welches  ist  deine  Ziffer?"  Und  die 
Antwort  des  befragten  Eingeweihten  lautet:  »Dritthalb."  In  diesem 
Grad  ist  das  Kennwort  „Gi-de-on“,  das  Haupt- Kennwort  „Rote 
Mauern",  worunter  das  Rote  Meer  verstanden  wird. 

Der  Orangistenbund  breitete  sich  in  ganz  Irland  aus  und 
drang  auch  nach  England,  namentlich  in  die  grofsen  Industrie- 
bezirke. Eine  in  Manchester  gegründete,  später  nach  London 
verlegte  Grofsloge  hatte  keinen  Geringeren  als  den  Herzog  von 
York  zum  Grofsmeister  und  sein  Nachfolger  war  der  Herzog 
von  Cumberland,  nachmals  König  von  Hannover.  1835  wurden 
die  irischen  Satzungen  abgeändert  und  veröffentlicht.  Dieselben 
verpflichteten  die  Mitglieder,  die  Königsfamilie  zu  verteidigen, 
solange  sie  den  Grundsätzen  des  Protestantismus  treubleibe.  Der 
Bund  stellte  es  als  seine  Aufgabe  hin,  die  Staatskirche  zu  be- 
schirmen, die  protestantische  Thronfolge  zu  sichern  und  Leben 
wie  Eigentum  der  Genossen  zu  schützen.  Er  erklärte  sich  in 
der  Theorie  für  die  religiöse  Duldsamkeit,  hielt  sich  aber  in  der 
Praxis  keineswegs  an  dieses  Prinzip.  Auch  in  Schottland  und 
den  britischen  Kolonien  fand  der  Bund  allmählich  Eingang  und 
etwa  zwölftausend  Mitglieder;  ebenso  in  der  Armee,  wo  er  es  auf  rund 
fünfzig  Logen  brachte.  In  den  Vereinigten  Staaten  mit  ihrer  starken 
irischen  Bevölkerung  zählt  er  noch  jetzt  zahlreiche  Mitglieder. 

Die  Orangisten  treiben  auch  Politik,  indem  sie  die  Parla- 
mentswahlen im  Sinne  der  Liberalen  beeinflussen.  Die  Be- 

Hcckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Gcheimlchrcn.  23 


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3S4 


Politische  Geheimgesellschaften. 


mühungen  des  Hauses  der  Gemeinen,  die  Gesellschaft  zu  unter- 
drücken, waren  bisher  vergeblich.  Dafs  der  Brauch,  bei  den 
Einweihungsfeierlichkeiten  unwürdige  Scherze  zu  treiben,  noch 
nicht  ausgestorben  ist,  geht  aus  einer  Gerichtsverhandlung  hervor, 
welche  im  Januar  1897  im  Staate  Massachusetts  stattfand.  Ein 
gewisser  Preble  verklagte  nämlich  die  Funktionäre  einer  Orangisten- 
ioge,  weil  sie  ihn  anläßlich  seiner  Einweihung,  während  er  eine 
Binde  um  die  Augen  hatte,  wiederholt  mit  einem  spanischen 
Rohr  geschlagen,  der  Stehleiterfolter  unterzogen,  in  ein  Leintuch 
geworfen,  mehrmals  in  die  Luft  geschleudert  und  ihm  schliefslich 
auf  der  Brust  mit  einem  glühenden  Eisen  schwere  Brandwunden 
beigebracht  hatten. 

Es  gab  noch  eine  ganze  Reihe  von  irischen  Geheimbünden 
mit  religiösen  und  agrarsozialen  Tendenzen,  wie  z.  B.  die  »Schnur- 
Annäher"  in  Meath,  die  »Shanavests"  und  »Caravats«  in 
Tipperary,  Kilkenny,  Cork  und  Limerick,  die  »Weifsfüfse“,  die 
»Schwarzfüfse“  und  andere,  über  die  wir  nichts  Genaues 
wissen.  Bekannter  sind  die  »Molly  Maguires“,  die  haupt- 
sächlich in  West-Irland  thätig  waren,  sich  aber  auch  in  die  Ver- 
einigten Staaten  verpflanzten,  wo  sie  namentlich  im  fernen  Westen 
grofse  Ausschreitungen  begingen.  1870  waren  sie  besonders  im 
Mormonenstaat  Utah  sehr  gefürchtet,  weil  kein  Engländer  sich 
vor  ihren  mörderischen  Überfällen  sicher  fühlte  und  die  Polizei 
unfähig  (oder  abgeneigt?)  war,  die  Verbrecher  zu  ermitteln.  Da 
bildeten  die  Engländer  zu  ihrer  Verteidigung  einen  Gegen- 
bund, den  »Orden  der  Söhne  des  Heiligen  Georg",  dem 
es  gelang,  viele  der  Mörder  vor  Gericht  zu  bringen ; sie  wurden 
hingerichtet  und  bald  konnte  die  gefährliche  Geheimgesellschaft 
gänzlich  ausgerottet  werden,  während  die  »Söhne  des  Heiligen 
Georg“  als  ein  blühender  Wohlthätigkeitsverein,  der  in  mehreren 
Städten  Utahs  Logen  hat,  noch  jetzt  fortbestehen.  Später  ging  die 
Bezeichnung  »Molly  Maguires“  auf  einen  Bergarbeiter-Geheim- 
bund in  den  pennsylvanischen  Anthrazitbezirken  über;  auch  seine 
Mitglieder  verlegten  sich  auf  Mord  und  Totschlag;  1890  kamen 
ihrer  etwa  ein  Dutzend  an  den  Galgen  und  die  Verbindung 
wurde  von  der  Regierung  gänzlich  unterdrückt 

Ein  andrer  irischer  Bund,  der  in  den  Vereinigten  Staaten 
eine  sehr  grofse  Verbreitung  hat  (ca.  6000  Logen),  ist  der  »Alte 
Orden  der  Hibernier",  Der  erste  seiner  zwei  Grade  zählt 
die  weitaus  meisten  Mitglieder,  aber  ihnen  werden  keine  Geheim- 
nisse anvertraut  und  keine  Eide  auferlegt.  Dem  zweiten  Grad 
gehören  die  Eingeweihten  an  und  diese  müssen  furchtbare 
Schwüre  leisten.  Sie  empfangen  die  Losungsworte  von  einem 
Zentralausschufs,  dem  »Komitee  von  Erin“,  das  entweder  in  Eng- 
land oder  in  Schottland  oder  in  Irland  tagt  und  allvierteljährlich 


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Irische  Gesellschaften. 


355 


Emissäre  mit  einem  neuen  Pafswort  nach  New-York  schickt.  Nur 
Katholiken  können  Mitglieder  werden.  Der  Orden  bezweckt 
angeblich  nur  den  Schutz  der  in  Amerika  lebenden  Irländer; 
doch  soll  er  auch  den  Molly  Maguires  Hilfe  gewährt  und  den 
Feniern  von  Nutzen  gewesen  sein.  Seine  Leitung  stiftet  viel 
Unheil;  da  jedoch  die  Mehrheit  der  Genossen  von  den  Ver- 
brechen der  Oberhäupter  nichts  weifs,  erfreut  er  sich  der  gröfsten 
Duldung  der  Behörden.  Im  November  1896  spendete  er  50000 
Dollars  zum  Zweck  der  Gründung  einer  Professur  der  keltischen 
Sprache  und  Litteraturan  der  katholischen  Universität  zu  New-York. 

Die  dem  gröfseren  Publikum  des  Festlandes  bekannteste 
irische  Geheimgesellschaft  ist  zweifellos  die  der  Fenier,  ge- 
gründet von  zwei  irischen  Emigranten  von  1848,  Michael 
Doheny  und  John  O'Mahoney.  Doheny  war  eines  der  begab- 
testen und  gefährlichsten  Mitglieder  der  Jung- Irland- Partei. 
O'Mahoney  gehörte  einer  der  ältesten  Familien  der  Provinz 
Munster  an;  in  Smith  O’Briens  mifsglückte  Ränke  verwickelt, 
entfloh  er  nach  Frankreich  und  von  dort  nach  den  Vereinigten 
Staaten,  wo  er  mit  Doheny  und  dem  General  Corcoran  den 
Bund  der  Fenier  (»Irische  Republikanische  Brüderschaft") 
ins  Leben  rief.  Die  Hauptfunktionäre  desselben  waren  der 
Öffentlichkeit  als  solche  bekannt,  aber  seine  Versammlungen  und 
seine  Thätigkeit  blieben  geheim.  Er  breitete  sich  rasch  aus  und 
gewann  in  der  Union,  in  Kanada  und  Britisch-Nordamerika  bald 
zahlreiche  Mitglieder.  Im  November  1863  tagte  in  Chicago  eine 
grofse  Delegiertenkonvention,  die  als  Ziele  der  Gesellschaft  die 
Lostrennung  Irlands  von  England  und  die  Errichtung  einer 
irischen  Republik  hinstellte.  Auf  der  nächsten  Konvention,  welche 
1864  in  Cincinnati  stattfand,  waren  rund  250000  Mitglieder  ver- 
treten. Die  Versammlung  schrieb  für  jedes  Mitglied  einen  Beitrag 
von  fünf  Dollars  aus  und  beschlofs,  »die  nächste  Konvention 
auf  irischem  Boden  abzuhalten."  Die  Mitglieder  sollen  ihre  fünf 
Dollars  fast  durchweg  prompt  eingezahlt  haben;  wie  wir  alsbald 
sehen  werden,  fehlte  es  den  Führern  der  Bewegung  überhaupt 
nie  an  Geld  - fanden  sich  doch  immer  opferwillige  Thoren ! 
Damals  entstand  auch  eine  Fenische  Schwesternverbindung, 
die  so  eifrig  Parteigelder  sammelte,  dafs  sie  schon  nach  zwei 
Monaten  eine  ganze  Million  Dollars  in  den  Bundesschatz  ein- 
zahlen  konnte. 

Um  jene  Zeit  rechneten  die  Fenier  zuversichtlich  auf  die 
Unterstützung  der  Unionsregierung  und  die  New-Yorker  Presse 
ermunterte  sie  dabei,  ln  Irland  selbst  hat  die  Brüderschaft  nie 
eine  so  grofse  Ausdehnung  erlangt  wie  in  Amerika.  Gleich  den 
amerikanischen  hatten  auch  die  irländischen  Fenier  eigene  Führer, 
Beamte,  geheime  Eide,  Bundeskassen,  Finanzagenten,  Losungs- 

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Politische  Geheimgesellschaften. 


worte,  Sinnbilder,  Satzungen,  Waffenvorräte,  Exerzier-Übungen 
Abzeichen  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Auch  an  eigenen  Zeitungen,  Balladen 
und  populären  Kouplets  fehlte  es  ihnen  nicht  Aber  bald  be- 
gannen Verräter  im  Schofse  der  Organisation  an  deren  Zer- 
störung zu  arbeiten,  darunter  O'Mahoney  selbst,  der  als  »Haupt- 
Mittelpunkt“  ein  Jahresgehalt  von  zweitausend  Dollars  bezog. 
Bereits  1866  schrieb  ein  »Untersuchungsausschufs"  der  amerika- 
nischen Fenier  in  seinem  amtlichen  Bericht  das  Folgende  über 
diesen  eigentlichen  Urheber  des  Feniertums: 

»Nach  sorgfältiger  Prüfung  der  Angelegenheiten  der  Brüder- 
schaft findet  der  Ausschufs  in  fast  sämtlichen  Fällen,  dafs  die 
Sache  Irlands  dem  Erreichen  persönlicher  Vorteile  unterordnet 
worden  ist.  Als  Patrioten  hochgepriesene  Männer,  benutzten  sie 
jede  Gelegenheit  zur  Plünderung  der  Bundeskasse,  wobei  sie 
sich  dadurch  sicherstellten,  dafs  sie  die  Zustimmung  O'Mahoneys 
erlangten  ....  Das  Vertrauen  der  Brüderschaft  in  die  Recht- 
schaffenheit John  O’Mahoneys  war  unbegrenzt,  aber  er  hat  sich 
desselben  unwürdig  erwiesen  — ob  aus  Unfähigkeit  oder  mit 
Absicht,  bleibe  dahingestellt  ....  Noch  nie  hat  das  irische 
Volk  seinen  Führern  solches  Vertrauen  geschenkt  und  noch  nie 
ist  es  so  schmählich  getäuscht,  so  verräterisch  behandelt  worden. 
Moffat  Mansion  (das  Hauptquartier  der  amerikanischen  Fenier) 
war  nicht  nur  ein  Heim  armer  Beamten  und  hungriger  Aben- 
teurer, sondern  auch  ein  von  den  kanadischen  Behörden  und 
dem  britischen  Gesandten  in  Washington  benutztes  Telegraphen- 
amt. Die  bezahlten  Patrioten  und  berufsmäfsigen  Märtyrer  liefsen 
sich's  nicht  an  der  Leerung  unserer  Kasse  genügen  - sie  ver- 
hinderten auch  nicht,  dafs  die  englischen  Machthaber  von 
unseren  Plänen  im  voraus  verständigt  wurden." 

Demselben  Bericht  zufolge  hatte  der  Bund  1 866  in  Amerika 
ein  Barvermögen  von  185  000  Dollars.  Moffat  Mansion  verschlang 
mit  seinen  Schmarotzern  in  drei  Monaten  104  (XX)  Dollars.  In  der 
gleichen  Zeit  empfing  Stephens,  der  irische  »Haupt-Mittelpunkt“,  aus 
Amerika  über  106000  Dollars,  obgleich  O'Mahoney  wiederholt  vor 
ihm  gewarnt  hatte.  Diese  Warnungen  rührten  zweifellos  daher,  dafs 
O'Mahoney  in  Stephens  einen  noch  geschickteren  und  kühneren 
Gauner  sah,  der  ihm  einen  beträchtlichen  Teil  der  Beute  weg- 
schnappte. Allerdings  wäre  Stephens  gegenüber  Mifstrauen  am 
Platze  gewesen,  denn  er  half  nicht  blofs  den  Bund  finanziell 
zu  Grunde  richten,  sondern  verriet  ihn  überdies  - gewifs  um 
doppelt  »zu  verdienen“  -•  an  den  Feind.  Nur  Einverständnis 
mit  den  englischen  Behörden  kann  die  Thatsache  erklären,  dafs 
er  in  der  Nähe  von  Dublin,  ohne  sich  irgendwie  zu  verbergen, 
zwei  Monate  lang  in  einem  eleganten  Hause  lebte  und  dennoch 
nicht  in  die  Hände  der  Polizei  fiel.  Sein  Benehmen  nach  seiner 


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Irische  Gesellschaften. 


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Verhaftung,  seine  Flucht  aus  dem  Gefängnis,  sein  Gang  durch 
Dublin,  seine  Reise  nach  Schottland,  London  und  Frankreich 
ohne  jede  Belästigung  — all  dies  macht  den  Verdacht,  dafs  er 
ein  Spion  und  Verräter  war,  zur  Gewifsheit. 

Auch  in  England  brachte  die  Brüderschaft  ziemlich  viel 
Geld  auf.  Namentlich  in  Liverpool  fand  sie  viele  Anhänger  und 
Unterstützer;  einmal  wurden  dort  in  einer  fenischen  Versammlung 
binnen  wenigen  Minuten  200  Pfd.  Sterl.  gesammelt.  Aber  der 
Liverpooler  Schatzmeister  unterschlug  viel  von  den  Fonds  des 
dortigen  Zweigvereins;  als  man  ihn  zur  Rechenschaft  ziehen 
wollte,  drohte  er,  den  ganzen  Ausschufs  an  den  Galgen  zu 
bringen,  falls  man  ihn  nicht  in  Ruhe  lasse!  Zu  den  Mitteln, 
durch  die  der  Bund  sich  Geld  zu  verschaffen  pflegte,  gehörte 
auch  die  Ausgabe  von  Kassenscheinen,  deren  Einlösung  der  ge- 
planten irischen  Republik  aufgebürdet  wurde.  Hier  ein  Beispiel 
in  deutscher  Übersetzung: 


(Harfe  ) £ 1.  (Göttin  der  Freiheit.)  £ 1.  (Kleeblatt.) 


Neunzig  Tage  nach  Errichtung  der 

IRISCHEN  REPUBLIK 


einzulösen  durch 

( Altiriiche« 
Kunigibanner.j 


( Finanz- 
1 ausschuss. 


Nach  der  irischen  Überlieferung  waren  die  Fenier  der- 
einst eine  zur  Küstenverteidigung  bestimmte  Miliz.  Jede  der  vier 
Provinzen  soll  eine  solche  Truppe  gehabt  und  des  Vorranges 
soll  sich  die  von  Leinster  erfreut  haben,  weil  ihr  angeblich  Fionn 
und  seine  Familie  angehörten.  Da  Fionn  mit  Macphersons 
Fingal  identisch  ist,  dürften  die  Führer  des  Feniertums  es  für 
vorteilhaft  gehalten  haben,  dieses  mit  einem  geschichtlichen 
Glorienschein  zu  umgeben.  In  Wirklichkeit  nahmen  die  irischen 
Fenier  nie  die  Bezeichnung  »Fenier“  an;  sie  nannten  sich  viel- 
mehr »Irische  Republikanische  Brüderschaft".  Das  Wort  »Fenier“ 
war  eine  Erfindung  O'Mahoneys. 

Die  Fenier  haben  ein  Gebetbuch,  das  sich  »Patriotische 
Litanei  des  Heiligen  Lorenz  O'Toole«  betitelt  und  aus  dem  wir 
das  folgende  interessante  Gebet  anführen  wollen: 

»Rufe  zu  deinem  Beistand  auf,  o du  höchst  freiheits- 
liebender O’Toole,  jene  christlichen  Hilfstruppen  der  Macht  und 
des  Ruhmes:  die  begeisternde  Kanone,  die  sanfte  und  treue 
Muskete,  die  fromme  Flinte,  die  das  Gewissen  erforschende  Pike. 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


Durch  Märtyrerglauben,  Fenierhoffnung  und  Rebellenbarmherzigkeit 
unterstützt,  werden  sie  den  Teufel  überwinden  und  uns  in  unsrem 
Lande  auf  immer  zu  unsrem  Eigentum  verhelfen.  Amen!  O'Toole, 
erhöre  uns!  Von  englischer  Kultur,  britischem  Gesetz,  britischer 
Ordnung,  angelsächsischer  Heuchelei  und  Freiheit  erlöse  uns! 
Von  der  Herrschaft  der  englischen  Königin,  von  Rule  Britannia, 
vom  Teufel,  von  der  Notwendigkeit  alljährlicher  Aufstände,  von 
Truppen-Einquartierungen,  von  einer  frommen  Staatskirche  erlöse 
uns,  O'Toole!  Sie  wollen  das  Feniertum  gleich  einer  Rinderpest 
ausrotten ! O'Toole,  wir  werden  ihnen  beweisen,  dafs  sie  falsche 
Propheten  sind.  Dafs  Irland  unterworfen  und  gehorsam  ist,  dafs 
Irland  der  Krone  treu  ist,  dafs  Irland  durch  Zugeständnisse  be- 
schwichtigt werden  kann,  dafs  Irland  zur  britischen  Armee  Sol- 
daten stellen  wird,  dafs  Irland  nicht  zum  äufsersten  entschlossen 
sei  - all  dies  ist  falsch,  O’Toole!  Dafs  Irland  sich  nie  wieder  an 
den  Schweif  einer  andern  Nation  binden  lassen  wird  — das  ver- 
künde allerwärts,  O'Toole!“ 

Aufser  Stephens  gaben  sich  noch  andere  Fenier  dazu  her,  den 
Bund  an  England  zu  verraten.  Dadurch  kam  die  Polizei  schon 
1865  in  die  Lage,  das  Bureau  der  fenisch  gesinnten  Dubliner 
Zeitung  »The  Irish  People“  (=  »Das  irische  Volk“)  zu  er- 
stürmen und  mehrere  hervorragende  »Brüder"  dingfest  zu  machen. 
Bald  folgten  Verhaftungen  in  anderen  Teilen  Irlands  sowie  in 
Manchester,  Liverpool  und  einigen  anderen  englischen  Städten; 
die  Betreffenden  wurden  wegen  Hochverrats  verhaftet.  Nachdem 
einige  fenische  Überfälle  mifslungen  waren,  glückten  1867  mehrere. 
Im  September  wurde  ein  Polizeiwagen,  welcher  zwei  Erzfenier 
ins  Gefängnis  brachte,  so  heftig  angegriffen,  dafs  die  Häftlinge 
entfliehen  konnten.  Bei  diesem  Attentat  erschofs  William  O’Meara 
Allen,  der  dafür  an  den  Galgen  kam,  einen  Polizeikommissär. 
Noch  schlimmer  war  der  Versuch,  behufs  Befreiung  zweier  Fenier 
das  Gefängnis  des  Londoner  Stadtteils  Clerkenwell  in  die  Luft 
zu  sprengen.  Ein  großes  Stück  der  äufsern  Kerkermauer  und 
mehrere  benachbarte  Häuser  wurden  zerstört,  mehrere  Personen 
getötet  und  viele  verwundet  oder  verstümmelt.  Gegen  Jahres- 
schlufs  griffen  Fenier  den  Martello-Turm  zu  Fota  (bei  Queens- 
town)  an  und  raubten  Waffen  nebst  Munition.  1871  überfielen 
zahlreiche  »Brüder"  eine  grofse  kanadische  Grenz- Poststation, 
wurden  jedoch  von  Unionstruppen  zurückgeschlagen  und  zerstreut. 

Zu  den  bedeutendsten  Persönlichkeiten  des  Bundes  gehörte 
John  Mitchel,  der  Abgott  Dohenys.  Er  war  in  die  irischen  Un- 
ruhen von  18-48  verwickelt  gewesen  und  deportiert  worden,  hatte 
jedoch  die  Flucht  ergriffen  und  in  den  Vereinigten  Staaten  den 
Bürgerkrieg  als  Anhänger  des  Südens  mitgemacht.  Gefangen 
genommen,  wurde  er  vom  Präsidenten  auf  Wunsch  des  ameri- 


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Irische  Gesellschaften. 


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kanischen  Fenierbundes  freigelassen.  Dem  grofsen  Publikum  ist 
sein  Name  übrigens  lange  nicht  so  bekannt  wie  der  des  sogen. 
„Generals“  Cluseret.  Dieser  diente  zuerst  im  französischen 
Heer,  mufste  jedoch  als  Kapitän  quittieren,  weil  er  sich  bei  der 
Verwaltung  der  ihm  anvertrauten  Regimentskasse  Unregelmäfsig- 
keiten  zu  schulden  kommen  liefs.  Später  diente  er  unter  Garibaldi 
in  Sizilien  und  unter  Fremont  in  den  Vereinigten  Staaten.  Dann 
schmückte  er  sich  selber  mit  dem  Generalstitel  und  kehrte  nach 
Europa  zurück,  um  im  Auftrag  der  New-Yorker  Fenier  Berichte 
über  englische  Arsenale,  Häfen  u.  dgl.  abzufassen.  Er  behauptete 
nachträglich,  sich  den  Feniern  zum  Oberbefehl  über  10000  Mann 
erboten  zu  haben,  falls  es  gelänge,  sie  zusammenzubringen ; doch 
sei  das  nötige  Geld  nicht  aufzubringen  gewesen.  Auch  behauptete 
er,  dafs  die  Reformliga  seine  Pläne  begünstigt  habe,  und  diese 
seien  nur  darum  gescheitert,  weil  er  es  mit  zu  vielen  selbst- 
süchtigen und  unwissenden  Ränkeschmieden  zu  thun  hatte.  Nach 
dem  Mifslingen  eines  von  ihm  in  Irland  ins  Werk  gesetzten 
Aufstandsversuchs  entfloh  er  nach  Frankreich,  wo  er  sich  an  der 
Kommune  beteiligte. 

Jahrelang  verhielten  sich  die  Fenier  vollkommen  ruhig,  bis 
sie  1880  die  „Landliga"  gründeten,  deren  Vertreter,  die 
„Mondscheinmänner“,  nächtlicherweile  zahlreiche  Missethaten  be- 
gingen ; mit  Vorliebe  überfielen  sie  Farmpächter,  die  es  trotz  des 
betr.  Befehls  der  Liga  nicht  unterliefsen , ihre  Pachtbeträge  zu 
bezahlen.  Im  Frühling  1882  erfolgten  in  Dublin  die  wohl  noch 
den  meisten  Lesern  erinnerlichen  „Phönixparkmorde“,  denen  die 
Staatssekretäre  für  Irland,  Lord  Frederick  Cavendish  und  Thomas 
Burke,  zum  Opfer  fielen.  Die  Verbrecher  wurden  erst  im 
Januar  1883  ergriffen,  und  zwar  infolge  der  Angeberei  eines 
derselben,  James  Carey’s.  Dieser  wurde  zur  Belohnung  begnadigt 
und  aufser  Landes  geschickt,  aber  kurz  darauf  von  dem  Fenier 
O'Donnell  erschossen.  Das  gerichtliche  Verfahren  gegen  die 
Phönixpark-Mörder  führte  zur  Entdeckung  einer  geheimen  Ver- 
bindung, die  sich  „Die  irischen  Unüberwindlichen“  nannte 
und  von  „Nr.  1"  geleitet  wurde  — ein  Pseudonym,  hinter  welchem 
P.  J.  Tynan  sich  viele  Jahre  lang  verbarg,  ehe  man  ihn  zu  identi- 
fizieren vermochte.  Die  „Unüberwindlichen“  vollbrachten  viele 
Schandthaten  und  stifteten  auch  die  Phönixpark-Morde  an. 

Im  Jahre  1882  begann  das  Feniertum  sich  des  Dynamits 
zu  bedienen.  In  einem  Kellergewölbe  zu  Cork  wurden  grofse  Mengen 
Dynamit  und  Waffen  versteckt  gefunden.  Auch  in  London  und 
anderen  englischen  Städten  häufte  man  Sprengmittel,  Waffen  und 
Munition  auf.  Da  die  Einfuhr  von  Dynamit  aus  Amerika  sich 
als  sehr  schwierig  erwies,  versuchte  die  Brüderschaft,  es  im  In- 
land zu  erzeugen.  Im  April  1 883  entdeckte  die  Polizei  in  der 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


Nähe  von  Birmingham  ein  Dynamitlaboratorium  mit  viel  halb 
und  ganz  fertiger  Ware.  Mit  Hilfe  von  Dynamit  und  ein- 
geschmuggelten Höllenmaschinen  die  letzteren  machten  zu- 
weilen grofses  Aufsehen  durch  vorzeitiges  Losgehen  am  Unrechten 
Platz  — unternahm  der  Bund  1 883  — 84  eine  Anzahl  von 
glücklicherweise  zumeist  mifslungenen  Versuchen,  öffentliche  Ge- 
bäude in  die  Luft  zu  sprengen,  und  zwar  in  London,  Glasgow 
und  anderwärts.  Zwischenein  (April  1884)  erliefs  die  Fenische 
Brüderschaft  ein  Manifest,  des  Inhalts,  dafs  sie  mit  der  „ wissen- 
schaftlichen Kriegsführung"  — so  nannte  der  Bundessekretär 
Patrick  Joyce  die  Anwendung  von  Sprengmitteln  — fortzufahren 
gedenke,  bis  Irland  endlich  befreit  sein  werde.  Bei  den  in  Rede 
stehenden  Attentaten  spielten  zwei  amerikanische  Feniergruppen 
die  Hauptrolle.  Die  Macht  der  einen,  an  deren  Spitze  der  welt- 
berüchtigte O'Donovan  Rossa  stand,  war  bald  gebrochen,  da 
ihre  beiden  wichtigsten  Vertreter  in  Grofsbritannien  und  Irland 
der  Polizei  in  die  Hände  fielen  und  zu  lebenslänglichem  Zucht- 
haus verurteilt  wurden.  Ernster  zu  nehmen  ist  die  andre  Gruppe, 
der  „ Klan-na-gael.“ 

Der  „Klan-na-gael"  war  ursprünglich  eine  gewaltlose,  rein 
patriotische  Verbindung  behufs  Förderung  der  Unabhängigkeit 
Irlands  von  England.  Erst  später  gewann  die  Partei  der  Gewalt- 
thätigen  die  Oberhand.  Diese  Kerle  rissen  die  Fonds  der  Gesell- 
schaft an  sich  und  liefsen  sie  gröfstenteils  in  die  eigenen  Taschen 
fliefsen.  Das  Mitglied  Dr.  Cronin,  von  dem  man  Enthüllungen 
hierüber  befürchtete,  wurde  ermordet.  Der  noch  immer  be- 
stehende Klan-na-gael  hat  in  allen  Gegenden  der  Vereinigten 
Staaten  Zweigvereine  und  wird  von  drei  Oberhäuptern  geleitet, 
von  denen  eines  in  Chicago,  zwei  in  New-York  wohnen.  Seine 
europäischen  Vertreter  versuchten  zweimal  das  englische  Parlaments- 
gebäude in  die  Luft  zu  sprengen.  Die  von  ihnen  im  Tower 
und  auf  einem  grofsen  Londoner  Bahnhof  bewirkten  Explosionen 
verursachten  beträchtlichen  Schaden  und  kosteten  auch  mehrere 
Menschenleben.  Als  die  englischen  Gerichte  25  Agenten  und 
Mitglieder  des  Klan-na-gael  zu  schweren  Zuchthausstrafen  ver- 
urteilten, mälsigten  die  Dynamithelden  ihren  Übereifer  und  be- 
gingen nur  noch  ab  und  zu  kleine  Attentate. 

Wir  müssen  auch  der  „ National  liga " Erwähnung  thun, 
die  im  Ausland  gegründet  worden  ist  und  von  ausländischen 
Agenten,  deren  Absichten  unbekannt  sind,  geleitet  wird.  Wenn 
ihr  viele  Irländer  beigetreten  sind,  so  liegt  dies  an  der  Furcht, 
die  sie  erregte  und  daran,  dafs  sie  auf  die  Habgier  der  Leute 
spekulierte.  Die  Nationailiga  ist  keine  Geheimgesellschaft,  würde 
aber  ohne  den  Beistand  der  geheimen  Verbindungen  macht- 
los sein.  Die  Führer  der  Liga  halten  sich,  um  jeder  persön- 


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Irische  Gesellschaften. 


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liehen  Gefahr  zu  entgehen,  wohlweislich  im  Hintergrund.  Sie 
sind,  gleich  den  Lenkern  der  ganzen  fenischen  Bewegung,  durch- 
aus nicht  so  ehrliche,  für  eine  wirkliche  Überzeugung  opferbereite 
Patrioten  wie  z.  B.  die  Nihilistenhäupter  waren,  sondern  einfach 
selbstsüchtige  Demagogen  ohne  Vertrauen  in  die  eigne  Sache. 

Auf  der  amerikanischen  Fenierkonvention  in  New-Jersey 
wurde  beschlossen,  den  Bund  seines  geheimen  Charakters  zu 
entkleiden  (das  hatten  übrigens  schon  die  Enthüllungen  vor  dem 
1888  bis  1890  tagenden  Sonder-Untersuchungsausschufs  des 
britischen  Parlaments  gründlich  besorgt)  und  zu  einem  öffent- 
lichen zu  machen  mit  dem  Zweck,  eine  kleine  freiwillige 
See-  und  Landmacht  zu  schaffen,  die  den  Vereinigten  Staaten  in 
etwaigen  Kriegen  mit  auswärtigen  Mächten  beizustehen  hätte. 
Auch  die  drei  Vierteljahre  später  in  New-York  abgehaltene  Kon- 
vention erklärte  eine  militärische  Organisation  für  die  einzige 
rätliche.  Bald  (seit  1892)  galt  Irland  für  »pazifiziert" ; aber  im 
September  1895  fand  in  Chicago  die  Irische  Konvention  (als 
»Konvention  der  physischen  Gewalt“  bekannt  geworden)  statt, 
welche  den  Beschlufs  fafste,  die  eingetretene  Beruhigung  der 
Gemüter  zu  stören  und  an  die  Bildung  einer  militärischen  Or- 
ganisation zu  schreiten,  die  die  gewaltsame  Befreiung  Irlands  er- 
ringen sollte.  Doch  scheint  die  Sache  entweder  gescheitert  oder 
noch  nicht  genügend  vorbereitet  zu  sein,  denn  bislang  verlautet 
nichts  mehr  darüber.  1 897  hat  die  englische  Regierung  einigen 
der  schlimmsten  Dynamithelden,  die  zu  lebenslänglichem  Zucht- 
haus verurteilt  waren,  den  Rest  der  Strafe  nachgesehen  und  sie 
in  Freiheit  gesetzt  Auch  wurde  in  demselben  Jahre  der  ameri- 
kanische Dynamitheld  Edward  Ivory-Bell,  der  auf  britischem 
Boden  verhaftet  worden  war,  vom  Londoner  Hauptstrafgerichtshof 
(Old  Bailey)  wegen  eines  blofsen  technischen  Formfehlers  im  Ver- 
fahren freigesprochen.  Nach  diesen  beiden  Thatsachen  zu  schliefsen, 
scheinen  die  Londoner  mafsgebenden  Kreise  von  der  fenischen 
Bewegung  nichts  mehr  zu  fürchten  und  Irland  für  endgültig  be- 
ruhigt zu  halten.  Die  Fenier  lassen  denn  auch  seit  mehreren 
Jahren  wirklich  nichts  von  sich  hören. 


Napoleonische  und  antinapoleonische  Gesellschaften. 

Die  Philadelphier.  — Die  Strahlen.  — Ein  Tiroler  Geheimbund.  — Die 
»Schwarze  Nadel“.  — Die  Sonnenritter.  — Die  »Allgemeine  Wiedergeburt". 
— Die  »italienischen  Verbündeten“.  — Allerlei  napoleonfreundlicne  Ver- 
einigungen. — Die  Illuminaten.  — Die  Wilden.  — Die  Unitä  Italiana  und 
andere  mörderische  Gesellschaften. 

1780  bildeten  in  Besangon  etwa  sechzig  junge  Leute  eine 
Maurerloge,  die  der  »Philadelphier“.  Der  Oberst  J.  J.  Oudet 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


hafste  Napoleon,  unter  dem  er  diente,  arbeitete  an  der  Wieder- 
herstellung der  Bourbonendynastie  und  verfiel  auf  den  Gedanken, 
die  ebenso  begeisterten  wie  unerfahrenen  Jünglinge  für  seine  Zwecke 
auszunützen.  Der  Umstand,  dafs  er  den  meisten  gröfseren  Geheim- 
bünden Europas  als  Eingeweihter  angehörte,  versetzte  ihn  in  die 
Lage,  die  Philadelphierloge  mit  einem  umfangreichen  Apparat 
von  Geheimthuerei  etc.  zu  versehen.  Vor  allem  mufste  jedes 
Mitglied  ein  Pseudonym  annehmen ; Oudet  selbst  nannte  sich 
Philopoemen;  sein  Nachfolger,  General  Moreau,  legte  sich  den 
Namen  Fabius  bei.  Sodann  wurde  ein  Oberhaupt  — selbstver- 
ständlich Oudet  - mit  unumschränkter  selbstherrlicher  Gewalt 
eingesetzt.  Das  Oberhaupt  herrschte  über  zwei  Grade,  deren 
erster  „Freier  Verbündeter"  hiefs,  während  man  den  zweiten 
„Freien  Richter"  nannte.  Die  „freien  Richter“  waren  im  Besitz 
aller  Geheimnisse  bis  auf  die  wichtigsten,  welche  dem  Oberhaupt 
Vorbehalten  blieben.  Um  den  jungen  Leuten  Sand  in  die  Augen 
zu  streuen,  redete  Oudet  ihnen  ein,  dafs  er  die  Errichtung  einer 
„Seine-Republik"  anstrebe.  Es  gelang  ihm,  den  Riten  der  Phila- 
delphier  auch  in  der  Armee  Eingang  zu  verschaffen.  Als  Napoleon 
von  dem  Bunde  hörte  und  gegen  Oudet  Verdacht  schöpfte,  ver- 
setzte er  ihn  weit  weg.  Moreau  wurde  Oudets  Nachfolger,  aber 
nur  auf  kurze  Zeit,  da  er  sich  an  der  Pichegrusehen  Verschwörung 
beteiligte.  Oudet,  der  inzwischen  das  antinapoleonische  Buch 
„Die  Türkei  und  die  französischen  Soldaten“  geschrieben  hatte, 
trat  wieder  an  die  Spitze  der  Loge.  Nach  der  vorzeitigen  Ent- 
deckung der  Arenaschen  Verschwörung  gegen  das  Leben  Napoleons 
versuchten  die  Philadelphier,  ihm  während  des  Marsches  über 
den  Jura  beizukommen;  aber  einer  von  ihnen  verriet  den  Plan 
noch  zu  rechter  Zeit.  Nach  dem  Tod  Oudets  in  der  Schlacht 
von  Wagram  (1809)  löste  sich  der  Bund  auf. 

Auch  in  Italien  arbeiteten  Geheimgesellschaften  gegen  den 
Kaiser.  Da  jedoch  sein  Sturz,  welcher  vielen  ein  Wiederaufleben 
der  Freiheit  dünkte,  von  anderen  als  der  Ruin  Italiens  betrachtet 
wurde,  entstanden  napoleonfreundliche  Logen  behufs  Wieder- 
herstellung der  kaiserlichen  Herrschaft.  Aber  die  antinapoleonischen 
Gesellschaften  überwogen.  Besonders  zahlreich  war  die  der 
„Strahlen"  (mit  Logen  in  Mailand  und  Bologna),  welcher  Beamte 
aus  allen  Gegenden  angehörten,  zusammengeführt  durch  gemein- 
same Gefahren  und  durch  Feldzugsabenteuer.  Eine  sehr  mächtige 
antinapoleonische  Verbindung,  deren  Name  unbekannt  ist,  kam 
1809  in  Tirol  nach  der  Schlacht  von  Wagram  zustande,  und 
zwar  mit  dem  Ziel,  Tirol  aus  den  Händen  der  Franzosen  bezw. 
Bayern  zu  befreien  und  an  Österreich  zurückzubringen.  Um  zu 
zeigen,  wie  die  in  Rede  stehende  Gesellschaft  arbeitete  und  in 
welcher  Weise  sie  die  Bundestreue  der  Mitglieder  zu  erproben 


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Napoleonische  und  antinapoleonische  Gesellschaften. 


363 


pflegte,  sei  hier  auf  Grund  der  Mitteilungen  eines  Eingeweihten 
ein  interessantes  Abenteuer  desselben  erzählt.  Der  Betreffende 
hatte  sich  des  Vertrauens  Napoleons  erfreut,  fiel  aber  später  in 
Ungnade,  wurde  verdächtigt  und  mufste  nach  Tirol  flüchten,  wo 
er  alsbald  jener  Geheimgesellschaft  beitrat.  Nach  seiner  Ein- 
weihung hörte  er  zwei  Monate  lang  nichts  von  derselben,  aber 
endlich  erhielt  er  von  ihr  die  briefliche  Aufforderung,  sich  an 
einen  entlegenen  Ort  zu  begeben,  um  dort  einer  Versammlung 
von  ..Brüdern"  beizuwohnen.  Er  gehorchte,  fand  aber  niemand 
vor  und  kehrte  zurück.  Dieses  Spiel  wiederholte  sich  noch  drei- 
mal. Dennoch  leistete  er  auch  einer  fünften  Einladung  Folge; 
auch  diesmal  sah  er  niemand  und  wollte  gerade,  ob  der  neuer- 
lichen Enttäuschung  erbittert,  fortgehen,  als  er  ein  fürchterliches 
Notgeschrei  vernahm.  An  die  betr.  Stelle  eilend,  erblickte  er 
einen  blutenden  Mann  auf  der  Erde  liegen  und  sah  in  der  ent- 
gegengesetzten  Richtung  drei  Berittene  davonsprengen,  deren 
jeder  einen  Schufs  auf  ihn  abgab,  ohne  ihn  jedoch  zu  treffen. 
Während  er  sich  über  den  Verwundeten  beugte,  um  ihm  Hilfe 
zu  leisten,  sprengte  ein  Fähnlein  Bewaffneter,  offenbar  durch 
das  Geschrei  angelockt,  vom  Walde  herbei.  Der  Blutende  er- 
klärte den  Unschuldigen  für  seinen  Angreifer  und  der  arme 
Teufel  wurde  deshalb  verhaftet  Falsche  Zeugen  erklärten  vor 
Gericht,  dafs  sie  ihn  den  Mord  (der  Schwerverletzte  war  nämlich 
inzwischen  angeblich  gestorben)  begehen  gesehen  und  so  erfolgte 
denn  seine  Verurteilung  zur  Hinrichtung  bei  Fackelbeleuchtung. 
Noch  in  derselben  Nacht  führte  man  ihn  in  einen  von  Ruinen 
umgebenen  Hof  voll  Zuschauer.  Er  hatte  bereits  das  Blutgerüst 
bestiegen,  als  ein  — nach  seinen  Amtsabzeichen  zu  urteilen  — 
hoher  Gerichtsbeamter  zu  Pferde  herangaloppiert  kam  und  ver- 
kündete, dafs  das  Gericht  jeden  Verbrecher,  der  über  die  Losungs- 
worte und  Erkennungszeichen  eines  gewissen  Geheimbundes  - 
desselben,  dem  unser  Held  angehörte  — Auskunft  geben  könne 
und  wolle,  auf  Grund  einer  neuen  kaiserlichen  Verordnung  be- 
gnadigen würde.  Befragt,  ob  er  etwas  darüber  wisse,  verneinte 
er;  weiteres  Drängen  hatte  nur  das  Ergebnis,  dafs  er  zornig 
wurde  und  seine  Hinrichtung  verlangte.  Jetzt  wurde  er  von  den 
Versammelten  als  ein  wackerer,  treuer  und  tapferer  „Bruder" 
begriifst  Die  Anwesenden  waren  nämlich  lauter  „Genossen“. 
Die  ganze  Geschichte  war  fingiert  und  nur  in  Scene  gesetzt  worden, 
um  die  Zuverlässigkeit  des  neuen  Eingeweihten  zu  erproben. 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  zu  den  napoleonischen 
Verbindungen  zurück,  die  dahin  wirkten,  den  gestürzten  Kaiser 
wieder  auf  den  Thron  zu  bringen.  Hierher  gehören  u.  a.  die 
Schwarze  Nadel,  die  Sonnenritter,  die  Allgemeine  Wieder- 
geburt. Die  meisten  setzten  sich  aus  kaiserlichen  Soldaten  zu- 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


sammen,  die  zur  Unthätigkeit  verurteilt  waren  und  daher  an  der 
Herrschaft  des  Korsen  ein  Interesse  hatten.  Zunächst  wollten  sie 
ihn  als  »Kaiser  von  Rom“  an  die  Spitze  des  verbündeten  Italien 
stellen  und  er  ging  auf  den  betreffenden  Vorschlag,  der  ihm 
anfangs  1815  gemacht  wurde,  ein,  wie  ein  Ertrinkender  einen 
Strohhalm  ergreift.  Die  Flucht  von  Elba  und  die  »hundert  Tage“ 
können  als  Ergebnisse  der  einschlägigen  Ränke  betrachtet  werden. 
Wenn  wir  gewissen  geheimen  Dokumenten  Glauben  schenken 
dürfen,  dauerten  die  bonapartistischen  Machenschaften  unter  Peter 
Bonaparte,  Marquise  Pepoli,  Graf  Rasponi  und  Lady  Christina 
Stuart  bis  1842;  ihnen  dienten  um  jene  Zeit  viele  kleine  Geheim- 
gesellschaften, wie  »Platonica"  (später  »Italienische  Ver- 
bündete“ genannt),  „ llluminaten,  Rächer  des  Volkes “ (im 
Kirchenstaat),  » Italienische  Unabhängigkeit",  »Ausrotter“ 
etc.;  speziell  in  Toskana:  »Die  Einunddreifsig“,  »Die 

Nationalritter“,  der  »Revolutionäre  Klub"  u.  s.  w.  In 
Mailand  gab  es  eine  »Kommunistische  Gesellschaft*.  Über 
all  diese  Vereinigungen  ist  wenig  oder  nichts  Näheres  bekannt 
und  keine  bestand  längere  Zeit. 

In  Frankreich  wurde  ein  napoleonischer  Illuminatenbund 
gegründet  (nicht  mit  den  vielen  anderen  Illuminatenverbindungen 
zu  verwechseln),  der  jedoch  im  Inland  so  grofsen  Schwierigkeiten 
begegnete,  dafs  er  sich  nach  Italien  verpflanzte.  Er  wollte  vor- 
erst — bis  zur  geplanten  Thronbesteigung  des  Herzogs  von 
Reichstadt  - Marie  Louise  zur  Regentin  machen  und  den  ge- 
fangenen Kaiser  von  St.  Helena  zurückbringen,  um  ihm  den 
Oberbefehl  über  das  französische  Heer  anzuvertrauen.  Man  lud 
Las  Casas  ein,  behufs  genauer  Abmachungen  nach  Bologna  zu 
zu  kommen,  wo  der  Illuminatenbund  seine  Grofsloge  hatte. 
Selbstverständlich  scheiterte  der  Plan. 

Eine  hierher  gehörige  Paduaner  Geheimgesellschaft  nannte 
sich  »Die  Wilden“  (Selvaggi),  weil  sie  nach  dem  Manschen 
Satz  handelten  (oder  zu  handeln  glaubten),  dafs  die  Menschen, 
wenn  sie  etwas  Grofses  erreichen  wollen , zum  Zustand  der 
Wildheit  zurückkehren  müssen.  Sie  liefsen  sich  das  Haar  und 
die  Nägel  wachsen  und  reinigten  weder  Kleider  noch  Schuhe. 
Die  dem  Bund  angehörenden  Medizinstudenten  brachten  aus  den 
Seziersälen  insgeheim  menschliche  Leichenteile  in  die  Versamm- 
lungen der  Eingeweihten,  die  damit  allerlei  wilden  und  scheufs- 
lichen  Hokuspokus  trieben.  Mit  Stierblut  stiefsen  sie  auf  den 
Tod  des  Tyrannen  an.  Als  eines  Tages  ein  Mitglied,  das  sich 
überladen  hatte,  in  der  Strafse  tot  aufgefunden  wurde  und  die 
ärztliche  Untersuchung  der  Leiche  die  Todesursache  ermittelte, 
stellte  die  Polizei  Nachforschungen  an,  welche  zur  Entdeckung 
des  Bundes,  seiner  Satzungen,  Eidschwüre  u.  s.  w.  führten. 


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Napoleonische  und  antinapoleonische  Gesellschaften. 


36S 


1850  wurde  in  Neapel  das  Vorhandensein  der  Gesellschaft 
» Unitä  Italiana“  (=  Italienische  Einigkeit)  entdeckt,  deren 
Mitglieder  sich  daran  erkannten,  dafs  sie  ihre  Nasen  an  einander 
rieben.  Sie  schworen  über  einem  dreieckigen  Dolch  mit  der 
Inschrift  »Brüderlichkeit!  Tod  den  Verrätern!  Tod  den  Tyrannen!“, 
die  Satzungen  getreu  zu  befolgen  und  sich  andernfalls  das  Herz 
mit  dem  Dolch  durchbohren  zu  lassen.  Die  Rache  übenden 
Mitglieder  bildeten  den  „Hinrichtungs- Ausschuß".  Im  Jahre 
1849  rief  der  Grofsrat  einen  „Meuchelmörder-Ausschufs“  ins 
Leben.  „ Ex-Jesuiten , Diebe,  Falschmünzer  und  andere  ehrlose 
Personen  sind  von  der  Aufnahme  ausgeschlossen“,  hiefs  es  in 
den  Satzungen.  Es  gab  in  Italien  noch  mehrere  andere  napo- 
leonische und  antinapoleonische  Geheimbünde  mörderischen  Ge- 
präges. Ein  solcher  wurde  1849  in  Ancona  entdeckt:  die 
»Gesellschaft  des  Todes",  deren  Mitglieder  nicht  wenige 
Morde  — teilweise  bei  helllichtem  Tage  auf  offener  StTafse  — 
begingen.  Ähnlich  verhielt  es  sich  in  Livorno  mit  den 
»Ammazzatori«  (=  Totschläger),  in  Sinigaglia  mit  der 
»Höllischen  Gesellschaft",  in  Faenza  mit  den  »Siccarii“ 
(=  Mörder),  in  Bologna  mit  den  »Terroristen"  und  der 
»Italienischen  Verschwörung  der  Söhne  des  Todes“. 
Die  römischen  »Mazzini-Barbiere"  hatten  die  »Spezialität", 
solche  Priester  zu  beseitigen,  die  sich  politisch  »ganz  besonders 
lästig“  machten. 


Allerlei  französische  Gesellschaften.  (19.  Jahrhundert.) 

Vereinigte  Patrioten.  — Wahrheitsfreunde.  — Die  Hemdlosen.  — Die  Grab- 
gespenster. — Die  Neue  Reform  Frankreichs.  — Die  »Provinzen-,  — »Neue 
französische  Liberale".  — „Ordnung  und  Fortschritt".  - Schulgesellschaft. 
— Konstitutioneller  Bund.  — Volksfreunde.  — Die  „Menschenrechte".  — 
Die  Handelnde  Gesellschaft.  — Das  Fieschische  Attentat.  — Die  „Familien". 
Die  „Jahreszeiten".  — Delahodde  („Pierre“).  — Die  „revolutionären 
Kommunisten".  — Die  „gleichheitsfreundlichen  Arbeiter".  — Die  Roten 
vom  Berge.  — Daseinsgründe  der  französischen  Geheimbündelei. 

Nach  dem  Sturz  des  korsischen  Abenteurers  und  der 
Wiederherstellung  des  Königtums  von  Gottes  Gnaden  nahmen 
die  willfährigen  französischen  Kammern  allerlei  drakonische  Gesetze 
an.  Die  Erbitterung  der  freisinnigen  Elemente  führte  zur  Grün- 
dung von  geheimen  Gesellschaften.  Zunächst  entstand  die  der 
„vereinigten  Patrioten",  die  namentlich  in  Südfrankreich 
eine  rege  Thätigkeit  entfaltete.  Doch  führte  das  ausgedehnte 
Spürwesen  der  Regierung  bald  zur  Verhaftung  und  Verurteilung 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


vieler  Mitglieder.  Drei  der  Führer  der  Bewegung  wurden  zum 
Tod  verurteilt  und  mit  schwarzverschleiertem  Gesicht  zur  Richt- 
stätte geführt,  wo  man  ihnen  vor  der  Hinrichtung  die  rechte 
Hand  abhaute.  Es  war  dies  dieselbe  Behandlung,  welche  Vater- 
mörder zu  erleiden  pflegten;  damit  sollte  angedeutet  werden,  dafs 
die  Geheimbündler  sich  gegen  ihren  Vater  - den  König  - zu 
vergehen  gedachten.  Die  Vereinigten  Patrioten  lösten  sich  auf, 
doch  entstand  1820  der  Bund  der  »Wahrheitsfreunde", 
welchem  hauptsächlich  Pariser  Krämer  und  Mediziner  angehörten. 
Die  Regierung  unterdrückte  ihn  schon  nach  kurzer  Zeit  und  die 
mafsgebendsten  Mitglieder  entflohen  nach  Italien,  um  nach  ihrer 
Rückkehr  eine  carbonaristische  Verbindung  zu  stiften,  deren 
Leitung  La  Fayette  übernahm  und  die  nach  zwei  mifslungenen 
Versuchen,  die  Regierung  zu  stürzen  - unternommen  zu  Beifort 
und  La  Rochelle  — aufgelöst  wurde.  Auch  die  von  dem  Franzosen 
Manuel  ins  Leben  gerufene  Vereinigung  »Die  Hemdlosen" 
konnte  sich  nicht  lange  halten ; man  weifs  von  ihr  übrigens  nicht 
viel  mehr  als  dafs  sie  Simson  als  Sinnbild  der  Kraft  verehrte. 
Ebenfalls  ein  sehr  kurzes  Dasein  hatten  i.  J.  1822  die  auf  den 
Sturz  der  Bourbonendynastie  abzielenden  »Grabgespenster". 

Die  wahrscheinlich  1820  entstandenen  Gesellschaften  »Neue 
Reform  Frankreichs"  und  »Die  Provinzen“  nahmen  nur 
Personen  auf,  die  bereits  Carbonari  oder  Freimaurer  oder  »Euro- 
päische Patrioten“  (vgl.  »Italienische  Gesellschaften“)  oder 
»Griechen  in  Einsamkeit“  waren.  Sie  verkörperten  den  ver- 
dichteten Hafs  all  dieser  Orden  und  Vereinigungen  gegen  die 
Willkür  und  schrieben  ihren  Mitgliedern  den  folgenden  Eid  vor: 
»Ich  verspreche  und  schwöre,  auf  ewig  ein  Feind  der  Tyrannen 
zu  sein,  sie  tötlich  zu  hassen  und  sie  bei  guter  Gelegenheit  um- 
zubringen." Hier  eine  bezeichnende  Stelle  aus  ihrem  bündig 
gehaltenen  Katechismus: 

Wer  bist  du?  — Dein  Freund. 

Woran  erkennst  du  mich?  — An  dem  Gewicht,  das  deine  Stirn 
drückt,  auf  der  ich  in  blutigen  Buchstaben  geschrieben  lese:  »Sieg  oder  Tod !" 

Was  willst  du  thun?  — Throne  stürzen  und  Galgen  errichten. 

Mit  welchem  Recht?  — Auf  Grund  des  natürlichen  Rechts. 

Zu  welchem  Zweck?  — Um  den  ruhmreichen  Namen  „Bürger"  zu 
erlangen. 

Und  willst  du  dein  Leben  aufs  Spiel  setzen?  — Ich  halte  das  Leben 
nicht  so  hoch  wie  die  Freiheit. 

Der  Bund  der  »Neuen  Französischen  Liberalen“, 
der  blofs  kurze  Zeit  bestand,  zählte  nur  wenige  Mitglieder,  doch 
waren  es  meist  hervorragende  Personen,  namentlich  solche,  die 
unter  Napoleon  Bonaparte  hohe  Stellungen  bekleidet  hatten.  Sic 
rechneten  darauf,  dafs  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
ihnen  zu  Hilfe  kommen  werden.  Sie  trugen  ihre  Uhren  an 


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Allerlei  französische  Gesellschaften.  (19.  Jahrhundert.) 


367 


einem  schwarzen  Bändchen  mit  einem  goldnen  Petschaft,  einem 
Korallenstückchen  und  einem  eisernen  Ring.  Das  Band  bedeutete 
den  ewigen  Hafs  gegen  alle  Unterdrücker,  die  Koralle  die  auf 
Amerika  gesetzten  Hoffnungen,  das  Siegel  die  zum  Gelingen  der 
freisinnigen  Pläne  nötige  Fülle  von  Geldmitteln  und  der  Ring 
die  zur  Vernichtung  der  Feinde  bestimmte  Waffe. 

Nach  der  Juli-Revolution  von  1830  bildeten  die  Studenten 
des  Quartier  latin  eine  Verbindung,  welche  sie  »Ordnung  und 
Fortschritt“  nannten.  Jedes  Mitglied  versah  sich  mit  einer 
Flinte  und  fünfzig  Patronen,  doch  scheint  dabei  nichts  heraus- 
gekommen zu  sein  als  die  Inbrandsetzung  eines  Turmes  der 
Notre  Dame-Kathedrale.  Am  Nachmittag  des  4.  Januar  1831 
ertönte  die  Hauptglocke  dieser  Kirche  und  man  sah  einen  der 
Türme  in  Flammen.  Die  Polizei  hatte,  obgleich  sie  von  der 
geplanten  Brandstiftung  vorher  in  Kenntnis  gesetzt  worden  war, 
keine  Vorsichtsmaßregeln  getroffen ; jetzt  aber  eilte  sie  an  Ort 
und  Stelle,  löschte  das  Feuer  und  verhaftete  einen  gewissen 

Considere  und  sechs  junge  Leute  im  Alter  von  19  — 20  Jahren. 
Mit  der  Verurteilung  Consideres  zu  fünfjährigem  Gefängnis  und 
der  Freisprechung  der  Burschen  endete  das  Dasein  dieser 

kindischen  Verbindung. 

Die  »Schulgesellschaft“  befürwortete  die  Aufhebung 

der  Universitäten  und  die  Unentgeltlichkeit  des  ganzen  öffent- 
lichen Unterrichts.  Der  »Konstitutionelle  Bund"  forderte 

die  Abschaffung  der  Monopole,  eine  gröfsere  Gleichmäfsigkeit 
der  Besteuerung,  die  Einführung  einer  Wahlreform  und  die  Be- 
seitigung der  Pairswürde;  sein  Oberhaupt  war  derselbe  Cauchois- 
Lemaire,  der  die  Kandidatur  des  Herzogs  von  Orleans  mit  solchem 
Eifer  unterstützt  hatte.  Eine  andere  politische  Geheimgesellschaft, 
» Die  Volksfreunde“,  hatte  eine  Abteilung,  » Die  Menschen- 
rechte" genannt  (weil  sie  auf  der  »Erklärung  der  Menschen- 
rechte“ beruhte),  welche  den  erfolglosen  Lyoner  Aufstand  vom 
April  1834  herbeiführte.  Eine  Abzweigung  der  »Menschenrechte“, 
die  militärisch  organisierte  »handelnde  Gesellschaft",  stand 
unter  dem  »Oberbefehl"  des  Kapitäns  Kersausie,  eines  reichen 
Edelmannes  mit  demokratischen  Neigungen,  der  von  Zeit  zu  Zeit 
mit  Genehmigung  der  Polizei  auf  den  Pariser  Boulevards  über 
seine  »Streitkräfte“  Revue  abhielt  — ein  Schauspiel,  das  den 
Pflastertretern  Zerstreuung  zu  bieten  pflegte.  Nach  jeder  solchen 
»Revue"  bestieg  er  unter  polizeilicher  Aufsicht  seinen  wartenden 
Wagen  und  fuhr  davon,  um  sich  dann  drei  bis  vier  Tage  lang 
in  einer  der  Wohnungen,  die  er  in  Paris  hatte,  eingeschlossen 
zu  halten. 

Am  28.  Juli  1835  setzten  die  „Menschenrechte"  das 
Fieschische  Attentat  auf  Ludwig  Philipp  ins  Werk.  Der  Polizei- 


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Politische  Geheimgesellschaften. 


Spitzel  Lucian  Delahodde  erzählt  in  seinen  »Denkwürdigkeiten“, 
dafs  die  Polizei  durch  die  »Unvorsichtigkeit“  eines  der  Ver- 
schwörer, namens  Boireau,  einen  »Wink"  empfangen  habe;  doch 
sei  derselbe  zu  »unbestimmt"  gewesen,  um  beachtet  werden  zu 
können.  Das  soll  offenbar  nur  eine  Bemäntelung  der  Kurz- 
sichtigkeit oder  Unthätigkeit  der  Polizei  sein;  der  Prozefs  ergab 
einen  ganz  anderen  Sachverhalt.  Weit  entfernt,  blofs  »un- 
vorsichtig" gewesen  zu  sein,  schrieb  Boireau  erwiesenermafsen 
dem  Polizeipräfekten  rechtzeitig  einen  ausführlichen  Brief,  und 
dieser  enthielt  keineswegs  einen  »unbestimmten  Wink",  sondern 
die  genauesten  Aufschlüsse  über  das  geplante  Attentat;  er  gab 
die  Namen  der  betr.  Personen  ebenso  an  wie  die  anzuwendenden 
Mittel  und  das  Haus,  in  welchem  sich  die  historische  Höllen- 
maschine befand.  Aber  der  Präfekt  hielt  es  nicht  für  der  Mühe 
wert,  das  Schreiben  zu  lesen ! ! Das  Scheitern  des  Attentats  führte 
zur  Unterdrückung  der  »Menschenrechte»,  doch  gründeten  mehrere 
Ex-Mitglieder  noch  in  demselben  Jahre  einen  neuen  Bund,  »Die 
Familien",  an  dessen  Spitze  Blanqui  und  Barbes  traten.  Die 
Aufnahme  von  Genossen  war  mit  all  dem  Mummenschanz  der 
einstigen  »Einweihungen“  verknüpft.  »Die  Familien"  strebten 
die  Beseitigung  des  Königtums  und  die  Einführung  der  Republik 
an,  wurden  aber  1836  entdeckt  und  verboten.  Viele  Mitglieder 
wanderten  ins  Gefängnis  und  die  übrigen  bildeten  die  Gesell- 
schaft »Jahreszeiten“.  Wer  dieser  beitreten  wollte,  wurde 
mit  verbundenen  Augen  an  den  Versammlungsort  gebracht,  wo 
er  dann  »allen  Königen,  Aristokraten  und  anderen  Unterdrückern" 
den  Tod  schwören  und  seine  Bereitwilligkeit,  der  »guten  Sache" 
nötigenfalls  sein  eignes  Leben  zu  opfern,  beeiden  mufste.  Ein 
von  Blanqui  und  Barbes  angeführter  Aufstandsversuch  der 
»Jahreszeiten»  endete  mit  einer  Niederlage  und  mit  der  Verur- 
teilung Blanquis  zur  Deportation,  Barbes  zum  Tode  bezw.  im 
Begnadigungsweg  zu  langjährigem  Kerker.  Die  »Jahreszeiten“ 
wurden  bald  neugestaltet. 

Um  1840  begann  der  Kommunismus  in  Paris  aufzutreten 
und  das  Leben  des  Königs  war  wiederholt  Angriffen  ausgesetzt 
Angesichts  des  Umstandes,  dafs  die  Regierung  ein  ganzes  Heer 
von  Spitzeln  besoldete,  ist  es  wirklich  erstaunlich,  dafs  Geheim- 
bünde bestehen  bleiben  und  ihr  Ziel  — die  Entthronung  Lud- 
wig Philipps  — erreichen  konnten.  Die  Lockspitzel  traten  ihnen 
bei,  um  sie  an  die  Polizei  zu  verraten.  Einer  der  bekanntesten 
dieser  Spione  war  der  erwähnte  Delahodde,  der  seine  Berichte 
mit  dem  Pseudonym  »Pierre»  Unterzeichnete.  Als  nach  dem 
Gelingen  der  Julirevolution  (1848)  »Bürger"  Caussidiere  Polizei- 
präfekt wurde,  studierte  er  das  Geheimarchiv  und  fand  ein  Bündel 
mit  über  tausend  Berichten  von  »Pierre“,  der,  wie  aus  ihnen 


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Allerlei  französische  Gesellschaften.  (19.  Jahrhundert.) 


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hervorging,  in  alle  Geheimnisse  der  „Menschenrechte",  der 
„Familien“  und  der  „Jahreszeiten“  eingeweiht  gewesen  war. 
Der  republikanische  Präfekt  hätte  sehr  gern  gewufst,  wer  dieser 
„Pierre“  sei,  um  ihn  fassen  zu  können.  Grade  damals  nun 
hatte  der  ahnungslose  Delahodde  den  Einfall,  an  Caussidiere  zu 
schreiben,  um  sich  eine  Anstellung  bei  der  Polizei  zu  erbitten. 
Seine  Handschrift  verriet  ihn.  Der  Präfekt  liefs  ihn  kommen 
und  als  er  schriftlich  eingestand,  „Pierre"  zu  sein,  wurde  er  ver- 
haftet. Obgleich  mehrere  Minister  ihn  erschiefsen  lassen  wollten, 
kam  er  mit  einigen  Monaten  Gefängnis  davon.  Nach  seiner  Frei- 
lassung gab  er  in  London  eine  kleine  Zeitschrift  heraus,  in  der  er 
unablässig  die  französische  Republik  und  deren  Träger  angriff. 

Die  kommunistischen  Vereine  „Travailleurs  Egalitaires“ 
(=  Gleichheitsfreundliche  Arbeiter)  und  „Communistes  Revo- 
lution nai  res " waren  in  der  Provisorischen  Regierung  durch 
einige  Mitglieder  vertreten.  Zu  den  Geheimbünden,  welche 
die  Ereignisse  von  1848  herbeiführten,  gehörten  „Die  Berg- 
männer“, auch  „Rote  vom  Berge“  genannt.  Wie  das  be- 
kannte klerikale  Blatt  „L’Univers“  i.  J.  1852  mitteilte,  lautete  der 
Mitgliedseid  folgendermafsen : „Ich  schwöre  bei  diesem  Dolch, 
dem  Sinnbild  der  Ehre,  dafs  ich  jede  politische,  religiöse  und 
soziale  Tyrannei  bekämpfen  und  vernichten  will“.  Auch  noch 
nach  der  Thronbesteigung  Napoleons  III.  spielten  einige  Geheim- 
bünde Verstecken  und  es  dauerte  jahrelang,  bis  alle  gänzlich 
unterdrückt  werden  konnten,  obgleich  sie  strengstens  verboten 
waren  und  jedes  ertappte  Mitglied  zur  Deportation  nach  Cayenne 
oder  Algerien  verurteilt  wurde. 

Dafs  so  viele  gegen  Ludwig  Philipp  gerichtete  geheime 
Gesellschaften  entstanden,  ist  nicht  verwunderlich.  Dieser  König 
trieb  eine  äufserst  selbstsüchtige,  nur  auf  die  eigne  Gröfse  und 
auf  die  Bereicherung  wie  Machtvergröfserung  seiner  Angehörigen 
abzielende  Politik.  Die  Prinzen  feierten  Orgien.  Der  Hof,  die 
Minister,  der  Adel  und  die  Beamten  beuteten  die  öffentlichen 
Ämter  und  die  nationalen  Einrichtungen  in  der  schmählichsten 
Weise  aus.  Die  Volksvertreter  schacherten  mit  ihrer  politischen 
Stellung.  Häufig  wurden  Minister,  Gesandte  und  andere  hohe 
Würdenträger  wegen  Betruges,  Fälschung,  Entführung  oder 
Mordes  verurteilt.  Pairs  begünstigten  schwindelhafte  Börsen- 
spekulationen. Handel  und  Industrie  litten  furchtbar.  Was 
Wunder,  wenn  sich  Arbeiter  und  freisinnige  Bürger  gegen  eine 
so  korrupte  Wirtschaft  auflehnten  und  insgeheim  zu  erreichen 
trachteten,  was  offen  nicht  zu  erreichen  war  ? ! 


Heckethor  n -Katsch  er,  Geheimbünde  u.  Geheinilehrcn. 


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370 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Die  Internationale. 

Einleitende  Bemerkungen.  — Geschichte  lind  Ziele  der  Internationale.  — 
Die  Londoner  Ausstellung  1862.  — Die  Internationale  in  England  und 
anderwärts.  — Die  Internationale  und  das  Kaisertum.  — Die  Internationale 
und  die  Kommune.  — Finanzielles.  — Wiederbelebungsversuch. 

Von  Plato  bis  Louis  Blanc  haben  viele  Geister  sozialistische 
Weltverbesserungspläne  ausgeheckt  Namentlich  das  sechzehnte 
Jahrhundert  kannte  zahlreiche  kommunistische  Bewegungen.  Die 
kurze  Geschichte  des  Münstersehen  Wiedertäuferkönigtums  ähnelt 
auffallend  derjenigen  der  Pariser  Kommune.  Babeuf  und  die 
Verschwörung  der  »Gleichen“  erinnern  lebhaft  an  die  Demagogen, 
die  Paris  mit  Blut  und  Feuer  füllten.  Die  römischen  collegia 
opificum,  die  französischen  und  deutschen  Zünfte,  die  Gewerbe- 
körperschaften, die  compagnonnage  (vgl.  »Französische  Gesellen- 
verbindungen“) — sie  alle  waren  Vorläufer  der  modernen 
Gewerkvereine  und  der  Internationale.  Gegenwärtig  gedeihen  die 
Gewerkvereine,  weil  nicht  durch  Gesetze  eingeschränkt,  am  besten 
in  England,  wo  sie  freilich  leider  manchmal  auch  beklagenswerte 
Ausschreitungen  begehen,  wie  z.  B.  den  Aufruhr  von  Sheffield, 
welcher  sich  an  teuflischer  Wut  getrost  mit  der  Pariser  Kommune 
messen  kann.  Damals  wurden  Arbeiter,  weil  sie  aus  den  Gewerk- 
vereinen ausgetreten  waren,  teils  ermordet  und  ihre  Fläuser  in 
die  Luft  gesprengt,  teils  fünfzehn  Jahre  lang  in  jeder  Weise  ver- 
folgt und  geschädigt.  Die  Internationale  war  eine  Verbindung 
von  Gewerkvereinen,  und  zu  dem  Krebsschaden  der  letzteren  — 
den  meist  erfolglosen  Riesenstreiks,  welche  den  Arbeitern  weit 
mehr  Abbruch  thun  als  den  Unternehmern  — trat  bei  jener 
noch  der  Krebsschaden  »Kommunismus“  hinzu. 

Den  ersten  Versuch  der  Gründung  einer  internationalen 
Arbeitervereinigung  unternahmen  in  London  einige  deutsche  Ar- 
beiter, die  wegen  Aufwiegelei  1839  aus  Paris  vertrieben  worden 
waren.  Dieser  Bund  bestand  aus  Deutschen,  Ungarn,  Polen, 
Dänen  und  Schweden;  nur  wenige  Engländer  gehörten  ihm  an. 
Er  unterhielt  gute  Beziehungen  zu  den  englischen  Sozialisten, 
den  Chartisten  und  der  Londoner  »Französischen  Demokratischen 
Gesellschaft".  Aus  diesen  Beziehungen  ging  bald  die  »Gesell- 
schaft der  brüderlichen  Demokraten"  hervor,  die  mit 
mehreren  demokratischen  Vereinen  Belgiens  in  Verbindung  stand. 
Die  Pariser  Februarrevolution  (18-48)  machte  ihren  radikalen  Be- 
strebungen und  ihrem  Dasein  ein  Ende.  Erst  1859  wurden 
wieder  Versuche  begonnen,  Arbeiterverbände  ins  Leben  zu  rufen 
und  1860  kam  ein  grofser  »Verband  für  Gewerkvereins- 
wesen, allgemeines  Wahlrecht  und  geheime  Abstimmung" 


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Die  Internationale. 


37t 


zu  Stande.  Derselbe  begnügte  sich  aber  nicht  mit  diesen  seinen 
umfassenden  Aufgaben,  sondern  nahm  auch  noch  die  politische 
Agitation  zu  Gunsten  Polens  auf  sich  und  lieh  der  Nationalliga 
für  die  Unabhängigkeit  Polens“  seine  Mitwirkung.  Zwei  Jahre 
später  wurden  viele  jener  Pariser  Arbeiter  herangezogen,  die  auf 
Kosten  der  französischen  Regierung  nach  London  gekommen 
waren,  um  die  damalige  grofse  Weltausstellung  zu  studieren. 
Am  5.  August  (1862)  wurden  sie  von  dem  in  Rede  stehenden 
»Verband"  glänzend  bewirtet  und  bei  dem  betr.  Bankett  gelangte 
eine  »Adresse“  zur  Verlesung,  die  als  der  Grundstein  der 
»Internationale"  betrachtet  werden  kann. 

Diejenigen  Pariser  Delegierten,  die,  weil  man  ihnen  lohnende 
Beschäftigung  verschaffte,  an  der  Themse  blieben,  bildeten  den 
Kitt  zwischen  den  Arbeitern  der  beiden  Länder.  1863,  wo  es 
keine  Ausstellung  und  daher  auch  keine  amtliche  Reisevergütung 
gab,  kamen  sechs  französische  Arbeiter  auf  Kosten  ihrer  Ge- 
nossen als  Delegierte  nach  London,  um  an  Beratungen  im  Inter- 
esse der  Befreiung  Polens  teilzunehmen  und  nebenher  die 
Gründung  einer  Internationale  fördern  zu  helfen.  Das  Ergebnis 
mehrerer  Versammlungen  war  die  Bildung  eines  aus  Arbeitern 
vieler  Länder  zusammengesetzten  Zentral- Ausschusses  mit  dem 
Sitz  in  London.  Im  nächsten  Jahr  trat  dieser  Ausschufs  zu- 
sammen, erklärte  die  Internationale  Arbeitervereinigung“ 
als  ins  Leben  getreten  und  beschlofs  die  regelmäfsige  Abhaltung 
von  Kongressen.  Anfänglich  traten  dem  neuen  Bunde  sehr  viele 
örtliche  Vereine  bei;  als  sich  jedoch  — und  dies  war  bald  der 
Fall  — Meinungsverschiedenheiten  einstellten,  zogen  sich  nicht 
wenige  zurück,  darunter  auch  die  Italienische  Arbeitergesellschaft. 

Der  erste  Kongrefs  der  Internationale  fand  1866  in  Genf 
statt  und  beschlofs  u.  a.  die  Anstellung  einer  grofsen  Unter- 
suchung der  Lage  der  arbeitenden  Klassen,  der  Lohnverhältnisse 
u.  s.  w.  Auf  Grund  dieser  Untersuchung  wollte  man  dann 
praktisch  Vorgehen ; da  dieselbe  jedoch  nie  zu  stände  kam,  blieben 
auch  die  praktischen  Mafsregeln  aus.  Der  Kongrefs  stellte  noch 
folgende  Forderungen  auf:  Ausschliefslich  direkte  Besteuerung; 
Verstaatlichung  der  Verkehrsmittel;  Aufhebung  der  Vorrechte  der 
grofsen  Aktiengesellschaften,  »die  die  arbeitenden  Klassen  will- 
kürlichen Vorschriften  unterwerfen,  welche  der  Menschenwürde 
und  der  persönlichen  Freiheit  zuwiderlaufen";  Abschaffung  der 
stehenden  Heere;  Wiederherstellung  Polens.  Was  die  Beschlüsse 
der  späteren  Kongresse  betrifft,  so  bezogen  sie  sich  auf  die  nach- 
stehenden Dinge:  Sozialisierung  der  Bergwerke  und  Kohlengruben; 
Verpachtung  derselben  an  Arbeitergenossenschaften,  nicht  ans 
Grofskapitai ; Überlassung  des  Bodens  an  landwirtschaftliche 
Genossenschaften;  Verstaatlichung  der  Kanäle,  Landstrafsen,  Forste 

24* 


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372 


Politische  Geheimgesellschafteu. 


und  Telegraphenlinien;  Beseitigung  des  Kapitalzinses.  1870  tagte 
wegen  des  deutsch -französischen  Krieges  kein  Kongrefs,  doch 
wurde  die  Tagesordnung  des  geplant  gewesenen  veröffentlicht. 
Von  den  Punkten,  die  auf  ihr  standen,  verdienen  die  folgenden 
Erwähnung:  Abschaffung  der  Staatsschulden;  Sozialisierung  von 
Grund  und  Boden;  nationale  Organisierung  der  genossenschaft- 
lichen Produktionsweise;  Bildung  landwirtschaftlicher  Gruppen 
innerhalb  der  Internationale;  die  Unabhängigkeit  Polens  (immer 
wieder !). 

In  England  war  der  Erfolg  der  Internationale  sehr  be- 
schränkt; obgleich  sie  dort  ihren  Sitz  hatte,  zählte  sie  nach  der 
Mitteilung  ihres  Schriftführers  selbst  in  ihren  besten  Zeiten 
höchstens  8000  englische  Mitglieder,  wie  denn  bekanntlich  die 
britische  Arbeiterwelt  dem  Sozialismus  überhaupt  ziemlich  ab- 
geneigt ist.  Zwar  veranstaltete  die  Internationale  in  London 
öffentliche  Versammlungen  und  Demonstrationen,  sogar  auch 
einige  bedeutungslose  Unruhen;  allein  die  grofse  Angst,  die  man 
auf  mancher  Seite  vor  ihr  hegte  oder  zu  hegen  vorgab,  war 
gänzlich  unbegründet,  denn  ihre  Thätigkeit  im  Nebellande  blieb 
verhältnismäfsig  harmlos  und  erfolglos.  Auf  dem  Festlande 
dagegen  entfaltete  sie  eine  weit  regere  und  inhaitreichere  Thätig- 
keit. Sie  rief  in  Belgien,  Holland  und  Frankreich  ernste  Auf- 
stände hervor  und  förderte  in  dem  letztgenannten  Lande  die 
Sache  des  Kommunismus  beträchtlich;  namentlich  die  Pariser 
Kommune  wurde  von  ihr  lebhaft  unterstützt.  Doch  entdeckten 
auch  die  festländischen  Arbeiterkreise  wiederholt,  dafs  es  mit  der 
Internationale  nicht  weit  her  sei;  z.  B.  die  Brüsseler  Maschinen- 
arbeiter, die  einmal  von  ihr  mit  dem  Versprechen  von  fünfzehn 
Frank  wöchentlicher  Unterstützung  zu  einem  Streik  wegen  eines 
gänzlich  unhaltbaren  Anspruchs  verleitet  wurden,  aber  nur  sechs 
Frank  erhielten  und  überdies  gar  nichts  ausrichteten.  Sie  nahmen 
die  Arbeit  wieder  auf,  meldeten  ihren  Austritt  aus  dem  Verband 
an  und  bezeichneten  diesen  als  den  »Aussatz  Europas“. 

In  den  ersten  Jahren  des  Bestandes  der  Internationale  war 
das  zweite  französische  Kaisertum  noch  so  stark,  dafs  keine  der 
Parteien,  die  es  insgeheim  bekämpften,  irgend  welche  Aussichten 
auf  Erfolg  zu  haben  schien.  Da  die  Internationale  es  ablehnte, 
sich  mit  diesen  Parteien  oder  einer  derselben  zu  verbünden,  weil 
die  Politik  ja  eigentlich  nicht  ihre  Sache  war,  wurde  sie  ihrer- 
seits von  der  Regierung  nicht  belästigt.  Die  Minister  liefsen  sie 
in  Frankreich  nihig  gewähren  und  hofften  sogar,  sie  zur  passen- 
den Zeit  für  die  Interessen  der  Monarchie  gewinnen  zu  können. 
Es  waren  dies  dieselben  weisen  Staatsmänner,  die  den  Zwist 
zwischen  Österreich  und  Preufsen  hervorriefen  oder  schürten, 
um  die  erwartete  gegenseitige  Aufreibung  dieser  zwei  Mächte  zur 


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Die  Internationale. 


373 


Ergreifung  der  Rheinlande  zu  benutzen!  Das  Pariser  Bureau 
der  Internationale  wurde  von  der  Regierung  und  der  Polizei  weder 
verboten  noch  genehmigt  - man  drückte  einfach  beide  Augen 
zu.  Als  jedoch  der  Bund  den  Behörden  über  den  Kopf  zu 
wachsen  anfing  und  sich  durch  die  Veranstaltung  vieler  grofsen 
Streiks  unangenehm  machte,  sahen  sich  die  Staatslenker  genötigt, 
die  Krallen  zu  zeigen.  Dies  geschah  zunächst  dadurch,  dafs  das 
auf  dem  Genfer  Kongrefs  verlesene  »Pariser  Manifest“  nicht  über 
die  Grenze  gelassen  wurde;  für  die  Zulassung  stellte  Rouher  die 
Bedingung,  dafs  in  den  Text  einige  Zeilen  des  Dankes  für  die 
»Wohlthaten“  eingeschoben  würden,  die  der  Kaiser  dem  Arbeiter- 
stand habe  angedeihen  lassen.  Selbstverständlich  wies  die  Inter- 
nationale diese  Zumutung  zurück.  1867  liefs  der  Bund  sich 
verleiten,  an  zwei  gegen  die  Regierung  gerichteten  revolutionären 
Kundgebungen  des  radikalen  Flügels  der  Bourgeoisie  teilzunehmen. 
Jetzt  schritten  die  Behörden  schärfer  ein,  indem  sie  die  Inter- 
nationale für  aufgelöst  erklärten  und  fünfzehn  ihrer  führenden 
Mitglieder  zu  je  100  Frank  Geldstrafe  verurteilten. 

Da  die  Vereinigung  sich  um  das  Auflösungsdekret  nicht 
kümmerte,  wurde  eine  zweite  Verfolgung  gegen  sie  eingeleitet 
und  neun  Angeklagte  zu  je  drei  Monaten  Gefängnis  verurteilt. 
Nunmehr  versteckte  sie  sich  so  lange  hinter  anderen  geduldeten 
oder  genehmigten  Arbeiterverbindungen,  bis  sie  wieder  stark 
genug  war,  auf  eigenen  Füfsen  zu  stehen.  Ihr  Wiener  Organ 
war  die  »Volksstimme“,  ihr  französisches  die  von  Rochefort  ge- 
leitete »Marseillaise".  Nur  der  Name  Rocheforts,  der  damals 
ebenso  erzradikal  war  wie  er  gegenwärtig  erzreaktionär  ist,  bewog 
Geldmänner  zur  Hergabe  des  Kapitals  für  die  »Marseillaise". 
Zu  den  bekannteren  Persönlichkeiten,  die  mit  der  Internationale 
in  Verbindung  standen,  gehörte  auch  der  von  uns  im  Abschnitt 
»Irische  Gesellschaften“  erwähnte  »General"  Cluseret,  der  — wie 
aus  einem  Brief  hervorging,  den  er  im  Februar  1870  aus  New- 
York  schrieb  — entschlossen  war,  nicht  unterzugehen,  ohne  Paris 
mitzuziehen.  »Am  Tage  des  Sturzes  Napoleons  III."  schrieb 
dieser  Abenteurer,  »wir  oder  nichts!  An  jenem  Tage  mufs  Paris 
uns  zufallen,  oder  es  mufs  zu  bestehen  aufhören!“  Dafs  diese 
Ansicht  von  anderen  Mitgliedern  des  Bundes  geteilt  wurde,  er- 
giebt  sich  aus  der  Thatsache,  dafs  man  in  der  Wohnung 
eines  derselben  ein  Wörterbuch  des  Schlüssels  des  geheimen 
Briefwechsels  der  Internationale  entdeckte  und  dafs  es  auch 
Worte  wie  »Nitroglycerin",  »pikrinsaures  Kali“  etc.  enthielt. 
Bei  einem  andern  Genossen  wurden  Rezepte  für  die  Er- 
zeugung verschiedener  Sprengstoffe  gefunden ; diese  Rezepte 
trugen  Vermerke  wie  »Zu  Fenstern  hineinwerfen!“,  »In  Kloaken 
zu  werfen!"  u.  dgl.  m. 


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374 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Anläfslich  des  Orsinischen  Bonibenattentats  verwahrte  sich 
die  Internationale  gegen  den  Vorwurf,  an  demselben  beteiligt  ge- 
wesen zu  sein.  Hierbei  erklärte  sie,  es  nicht  auf  einzelne  Personen 
abgesehen  zu  haben,  sondern  auf  das  ganze  System  der  »Unter- 
drückung des  Volkes  durch  den  Kapitalismus,  das  Priestertum  i 

und  die  politischen  Abenteurer".  Daraufhin  wurden  38  „Genossen" 
angeklagt  und  zum  Teil  freigesprochen,  zum  Teil  zu  einjährigem 
Kerker  verurteilt  Die  meisten  dieser  Verurteilten  spielten  sehr 
bald  bei  der  „Kommune“  hervorragende  Rollen  und  kamen, 
nachdem  sie  sich  an  der  Schreckensherrschaft  beteiligt  hatten, 
vor  ein  Kriegsgericht.  Dem  Krieg  gegen  das  Kapital  und  das 
gesamte  Parasitentum  war  die  Internationale  also  nicht  abhold, 
wohl  aber  dem  Völkerkrieg  und  dem  Militarismus.  Daher  legte 
sie  gegen  die  Anzettelung  des  deutsch-französischen  Krieges  Ver- 
wahrung ein,  was  die  Verhaftung  der  heftigsten  Kriegsgegner 
zur  Folge  hatte. 

Am  4.  September  1870  wurde  in  Paris,  Lyon,  Marseille 
und  Toulouse  die  Republik  verkündet.  Dieses  gleichzeitige  Vor- 
gehen wrar  das  Ergebnis  einer  Abmachung  zwischen  den  Führern 
der  Internationale  in  verschiedenen  Landesteilen.  In  Lyon  und 
Marseille  rifs  der  Pöbel  die  Herrschaft  an  sich.  Die  zu  Lyon 
ins  Leben  gerufene  Kommune  begann  ihre  Thätigkeit  mit  der 
Entfaltung  des  roten  Banners  der  Internationale.  In  Paris  gab 
die  letztere  anfänglich  vor,  die  Preufsen  bekämpfen  zu  wollen, 
doch  erklärte  sie,  als  einige  deutsche  Regimenter  ihren  Einzug 
hielten,  „den  Augenblick  zum  Handeln  für  gekommen“;  darauf- 
hin bemächtigten  sich  ihre  Mitglieder  aller  in  der  Hauptstadt 
vorhandenen  Kanonen  und  begannen  die  dritthalbmonatliche 
Gewaltherrschaft  der  berüchtigten  „Kommune".  Und  die  meisten 
Zweige  der  Internationale  — der  belgische,  der  schweizer,  der 
italienische,  der  englische  - sprachen  ihre  Zustimmung  zu  den 
Thaten  der  Kommune  aus  und  legten  Verwahrung  ein  gegen  die 
gerichtliche  Verfolgung  der  Pariser  Mörder,  Plünderer  und 
Brandstifter. 

Von  Interesse  sind  die  Finanzverhältnisse  der  Internationale. 

Von  einer  amtlichen  Rechnungslegung  war  keine  Rede,  doch 
werden  die  nachstehenden  Einzelheiten,  die  sich  auf  Frankreich 
und  Belgien  beziehen,  einen  Begriff  davon  geben,  wie  die  Gelder 
aufgebracht  und  verwendet  wurden.  Die  Einschreibgebühr  betrug  « 

einen  halben  Frank,  wofür  man  eine  Mitgliedskarte  erhielt,  für 
deren  alljährliche  Erneuerung  nichts  nachzuzahlen  w'ar.  Der 
niedrigste  Jahresbeitrag  zur  Bundeskasse  belief  sich  auf  10  Cen- 
times. Der  jährliche  Mitgliedbeitrag  zu  den  Zweigvereinskassen 
schwankte.  Während  der  schweizer  Zweig  nur  10  Cent,  forderte, 
mufsten  in  Lyon  und  Paris  Fr.  1 20  bis  Fr.  1-30  eingezahlt 


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Die  Internationale. 


37S 


werden;  obwohl  auch  noch  niedrig  genug,  waren  diese  Gebühren 
sehr  schwer  hereinzubringen.  Rechnen  wir  die  Sektionsbeiträge 
dazu,  so  hatte  jedes  Mitglied  jährlich  7 — 8 Fr.  zu  leisten.  Es 
gab  ferner  eine,  nirgends  näher  erläuterte  „Caisse  föderative  du 
sou“  (Groschen-Bundeskasse),  aus  der  die  Kosten  der  Verteidigung 
etc.  der  in  den  verschiedenen  Prozessen  Angeklagten  bestritten 
wurden  und  in  welche  Nichtmitglieder,  die  mit  der  Internationale 
sympathisierten,  freiwillige  Wochenbeiträge  zu  einem  Sou  fliefsen 
liefsen.  Der  Pariser  Zweig  ermächtigte  seinen  leitenden  Ausschufs 
satzungsmäfsig,  nötigenfalls  gröfsere  Summen  zu  verwenden  als  im 
Budget  vorgesehen  waren  und  zu  ihrer  Deckung  die  Mitglied- 
beiträge zu  erhöhen.  Bei  besonderen  Gelegenheiten,  wie  grofse 
Arbeitseinstellungen  etc.,  wurde  aufserdem  zu  zeitweiligen  Samm- 
lungen gegriffen.  So  z.  B.  unterstützte  der  Pariser  Zweig  1 868  die 
streikenden  Genfer  Bauarbeiter  mit  10000  Frank.  Angesichts 
der  hohen  Mitgliederzahl  der  Internationale  müssen  diese  Extra- 
sammlungen alljährlich  recht  ansehnliche  Summen  ergeben  haben  ; 
dennoch  konnten  sie  bei  der  grofsen  Zahl  bedeutender  Arbeits- 
einstellungen dem  Bedarf  nicht  genügen. 

1888  wurde  in  London  ein  internationaler  Gewerkvereins- 
kongrefs  abgehalten,  der  den  Zweck  hatte,  die  1871  aufgelöste 
Internationale  Wiederaufleben  zu  lassen.  Doch  scheiterte  der 
Plan  an  der  Gleichgültigkeit  der  Arbeitermassen.  Immerhin 
vegetieren  noch  jetzt  mehrere  Ableger  der  alten  Internationale, 
z.  B.  der  Jurassische  Arbeiterbund,  die  Internationale 
Brüderschaft  u.  s.  w. 


Nachschrift  des  Herausgebers: 

Ich  glaube  im  Interesse  der  Leser  und  der  Objektivität  zu 
handeln,  wenn  ich  aus  einem  Aufsatz,  den  ich  1871  in  einer 
deutschen  Monatsschrift  über  die  Internationale  veröffentlichte,  die 
nachstehenden  Stellen  anführe: 

Die  eklatanteste  Verkörperung  der  Bestrebungen  und  Hoff- 
nungen der  Arbeiter  ist  die  Internationale  Arbeiter-Association. 
Vor  kaum  einem  Jahrzehnt  in  aller  Stille  entstanden,  hat  sie  sich 
bis  vor  einem  Jahre  nur  durch  ihre  lärmenden  Kongresse  in 
Belgien  und  der  Schweiz  hervorgethan.  Sie  mag  nun  grofse  Be- 
deutung und  Verbreitung  haben  oder  nicht,  keinesfalls  ist  sie, 
was  Thornton  in  seinem  Buche  über  die  englischen  Gewerkvereine 
alseine  internationale  Arbeiterliga  folgendermafsen  darstellt:  „Die 
verschiedenen  Arbeitervereine  eines  Landes  sollen  unter  sich  einen 
nationalen  Bund  stiften,  dann  mit  den  analogen  Föderationen 


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Politische  üeheimgesellschaften. 


der  anderen  Länder  in  Fusion  treten,  um  endlich  eine  ungeheure 

internationale  Arbeiterassociation  zu  bilden."  Hierfür  nimmt 

Thornton  einen  Zeitraum  von  ungefähr  einem  Jahrhundert  in 

Aussicht.  Das  ist  allerdings  ein  bischen  lange,  allein  die  Frage, 

ob  eine  solche  „Internationale“  Aussicht  habe,  sich  in  nächster  ^ 

Zeit  zu  entwickeln,  scheint  heute  nicht  mit  Ja  beantwortet  werden 

zu  dürfen;  siehe  die  Mafsregeln,  welche  man  allenthalben  gegen 

die  „Internationale“  ergreift,  besonders  in  ihrem  Mutterlande, 

dessen  Nationalversammlung  soeben  ein  speziell  gegen  sie  ge-  i 

richtetes  drakonisches  Gesetz  votiert  hat. 

Interessant  ist  es,  die  französische  Schöpfung  „Internationale" 
mit  den  englischen  Gewerkvereinen  (Trade-unions)  zu  vergleichen. 

Die  letzteren  sind  aus  dem  Instinkt  der  Massen  hervorgegangen, 
haben  sich  zuerst  einzeln  an  allen  industriellen  Mittelpunkten  ge- 
bildet, sind  allmählich  gewachsen  und  erstarkt,  haben  sich  einander 
allmählich  genähert  und  sind  in  50  Jahren  bedeutende  Mächte  ge- 
worden. Die  „Internationale“  dagegen  ist  im  Gehirn  einiger 
Pariser  Arbeiter  entstanden ; sie  war  anfangs  ein  Generalstab  ohne 
Armee,  eine  Schule  ohne  Schüler,  eine  Regierung  ohne  Unterthanen. 

Sie  hatte  nur  eine  Anzahl  von  Agitatoren.  Sie  glich  einer  Stadt, 
welche  Spekulanten  erbaut  haben,  um  Bewohner  anzulocken. 

Ein  weiterer  Unterschied  zwischen  der  „Internationale“  und  den  * 

„Trade-unions“  besteht  darin,  dafs  die  letzteren  kein  philo- 
sophisches oder  ökonomisches  Programm  aufgestellt  haben;  sie 
kämpfen  gegen  das  Kapital  nicht,  um  es  zu  vernichten,  sondern, 
um  ihre  Stellung  zu  einer  möglichst  günstigen  zu  machen.  Die 
„Internationale“  dagegen  hat  eine  Doktrin,  eine  soziale  Philo- 
sophie und  ergeht  sich  in  einer  sybillinischen  Sprache.  Die 
Trade-unions  sind  furchtbare  Instrumente  praktischen  materiellen 
Handelns,  die  „Internationale"  war  bis  vor  kurzem  wenigstens 
— wenn  nicht  noch  heute  — nur  ein  Element  moralischer 
(oder  unmoralischer)  Agitation.  Die  Trade-unions  verfügen  über 
Truppenkörper,  die  an  allen  Punkten  Englands  wirksam  operieren; 
die  „Internationale“  hat  nur  Cadres,  welche  Manifeste  erlassen 
und  Feldzugspläne  ausklügeln,  ohne  dafs  viel  dabei  herauskommt. 

Es  ist  keineswegs  erwiesen,  dafs  die  „Internationale“  wirklich  so 
viele  Anhänger  oder  Mitglieder  in  aller  Herren  Länder  zählt,  als 
man  oft  annimmt. 

Seit  wenigen  Jahren  hat  aber  die  „Internationale"  getrachtet,  ^ 

sich  auch  zu  kräftigen  Operationen  zu  qualifizieren,  und  die 
neueste  Zeit  hat  gezeigt,  dafs  ihr  dies  einigermafsen  gelungen  ist. 

Sie  hat  eine  Anzahl  von  „Widerstandsgesellschaften"  gegründet, 
deren  es  im  Jahre  1870  bereits  sechzig  gegeben  haben  soll. 

Über  die  Organisation  derselben  weifs  man  jedoch  nichts,  alle 
näheren  Umstände  sind  unbekannt.  Vielleicht  kann  man  mit 


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Die  Internationale. 


377 

ihnen  in  Verbindung  bringen  ein  Manifest,  das  zur  Zeit  des 
ersten,  Aufsehen  erregenden  Streiks  in  Creuzot  in  die  Welt  ge- 
schleudert wurde.  Sicher  ist,  dafs  es  aus  Pariser  Arbeiterkreisen 
stammte  und  wir  lassen  hier  die  charakteristischsten  Stellen  folgen : 

»Alle  Arbeiter  von  Paris  trachten  eine  grofse  Arbeiter- 
association zu  bilden,  hierarchisch  organisiert,  an  der  Spitze  ein 
verantwortliches  Ministerium,  welches  die  Aufgabe  hätte,  dem 
Kapital  Widerstand  zu  leisten  und  Konkurrenz  zu  machen,  ln 
der  Überzeugung,  dafs  das  Recht  die  Stärke  und  dafs  die  Stärke  die 
Ordnung  ist,  haben  sie  sich  vorzüglich  damit  beschäftigt,  in  den 
Massen  die  Ordnung  zu  organisieren,  und  man  kann  sagen,  dafs 
sie  ihren  Zweck  beinahe  erreicht  haben."  ....  »Sie  wollen 
eine  ausgedehnte  Arbeiterverbindung,  die  durch  ein  eigenes 

Parlament  vertreten  werden  soll,  ins  Leben  rufen.“ »Ihr 

Plan  ist,  das  Kapital  auszuschliefsen  und  an  seine  Stelle  das 
Kollektivkapital  des  Arbeiterbundes  zu  setzen."  ....  »Der  Ar- 
beiterbund sammelt  sich,  spart,  organisiert  sich.  Für  ihn,  wie 
für  jede  grofse  streitbare  Körperschaft  kann  die  Freiheit  nur  in 

der  Disziplin  bestehen." »Er  sucht  alle  Gewinne,  welche 

eine  Menge  habgieriger  Spekulanten  aus  dem  hilflosen  Arbeiter 

zieht,  an  sich  zu  reifsen.“ .Sobald  das,  was  sie  durch 

ihre  Sparsamkeit  reformiert  haben,  ihnen  genügend  erscheinen 
wird,  wird  man  zwischen  Arbeit  und  Kapital  einen  Kampf  ent- 
stehen sehen,  von  dem  alle  bisherigen  Strikes  keine  blasse  Idee 
geben  können;  der  Kampf  organisierter  und  disziplinierter  Massen 
gegen  die  auf  den  Feudalismus  des  Mittelalters  gefolgte  finanzielle 
Oligarchie;  der  Kampf  von  Intelligenz  gegen  Intelligenz,  von 
anders  geartetem  Kapital  gegen  anders  geartetes  Kapital ; ein 
männlicher,  ernster  Kampf,  der  den  Grundstein  zur  modernen 
Demokratie  legen  mufs." 

Rührt  dieses  so  viel  von  einer  »Arbeiterassociation“ 
sprechende  Dokument  von  der  »Internationale“  her?  Damals 
glaubte  man  es  nicht,  aber  das  seither  Geschehene  läfst  uns  daran 
glauben. 

Wir  haben  oben  gesagt,  dafs  wir  nicht  glauben,  die  »Inter- 
nationale“ habe  allzuviel  Verbreitung.  Wir  begründen  dies  damit, 
dafs  die  »Internationale"  ein  echt  französisches  Gepräge  trägt 
mit  ihren  revolutionären,  destruktiven  Tendenzen.  Wenn  gleich- 
wohl der  Hauptsitz  dieser  Gesellschaft  in  London  ist,  so  rührt 
dies,  wie  Hepworth  Dixon  in  seinem  Buch  »Die  geheime  Ge- 
schichte der  Internationale“  (unter  dem  Pseudonym  »York")  ganz 
richtig  bemerkt,  nur  daher,  dafs  die  Polizei  den  Hauptsitz  in 
Paris  nicht  leiden  wollte.  Für  unsere  Ansicht  spricht  auch  der 
Umstand,  dafs,  als  die  »Internationale“  in  Frankreich  es  im 
vorigen  Jahr  gar  zu  toll  machte,  gerade  die  besten  Stützen  und 


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37S 


Politische  Geheimgesellschaften. 


Mitglieder  des  Londoner  .Generalrates"  aus  der  Gesellschaft 

schieden. 

Da  wir  eben  von  letzterer  Thatsache  sprechen,  wollen  wir 
die  Bemerkung  daran  knüpfen,  dafs  die  «Internationale",  hiernach 
zu  urteilen,  nicht  eben  sehr  diszipliniert  sein  inuTs;  wie  könnte 
sonst  das  Londoner  Komitee  anderer  Meinung  sein  und  das 
Pariser  so  eigenmächtig  handeln?  Übrigens  halten  wir  dafür, 
dafs  eine  internationale  Arbeiterassociation  infolge  des  ver- 
schiedenen Bildungsgrades  und  Volkscharakters  in  den  verschie- 
denen Ländern  gar  nicht  ordentlich  diszipliniert  sein 
kann,  während  dies  bei  nationalen  Verbindungen  eher  angeht. 
Aus  denselben  Gründen  wird  es  der  »Internationale"  unmöglich 
sein,  in  Bezug  auf  ihre  Widerstandspolitik  dem  Kapital  gegenüber 
viel  auszurichten.  Sie  wird  z.  B.  nicht  im  stände  sein,  eine 
gleichzeitige  Arbeitseinstellung  aller  ihrer  Mitglieder  durchzuführen 
oder  auch  nur  zu  inscenieren.  Sie  kann  sich  nur  darauf  be- 
schränken, Strikes  gegenseitig  zu  unterstützen.  Aber  selbst  da 
reicht  ihr  Arm  nicht  weit,  denn  sie  hat  zu  wenig  Geld.  Man 
spricht  und  schreibt  sehr  viel  von  dem  Zusammenhang  dieser 
und  jener  Ereignisse  mit  von  der  „Internationale*  ausgehen 
sollendem  Gelde,  thut  daran  aber  Unrecht.  Bis  vor  dem  Krieg 
war  sie  arm,  und  dafs  sie  seither  reicher  geworden  sein  sollte  - 
davon  möchte  uns  vielmehr  das  Gegenteil  bedünken.  Wir  citieren 
einige  Zahlen.  Im  Dezember  1 869  erhielten  die  Weifsgerber  von 
der  Pariser  „Internationale"  13  500  Frank.  1867  liefsen  die  Lon- 
doner Schneider  ihren  Pariser  Kollegen  1 0 (K)0  Frank  zukommen, 
ln  demselben  Jahre  wurden  die  französischen  Bronzearbeiter  aus 
England  mit  20000  Frank  unterstützt.  Die  Arbeiter  in  chirurgischen 
Instrumenten  hatten  1869  im  ganzen  Vereinsbeiträge  von  1500 
Frank.  Vor  einigen  Jahren  sandte  Paris  12000  Frank  nach  Genf.  - 
Wie  verschwinden  solche  „Bettelsuppen"  gegen  die  Summen,  die 
nötig  wären,  um  dem  Kampf  zwischen  Arbeit  und  Kapital  einen 
erfolgreichen  Nachdruck  zu  verleihen!  Die  Trade-unions  z.  B. 
können  da  schon  bedeutend  mehr  ausrichten,  weil  sie  stets  eine 
gefüllte  Kasse  haben,  indem  jedes  Mitglied  regelmäfsig  seinen 
nicht  kleinen  Beitrag  einzahlt.  Die  französischen  Arbeitervereine 
und  hierher  gehört  ja  die  „Internationale“  — beruhen  aber 
auf  solchen  Grundlagen,  dafs  die  Kasse  des  Arbeiters  nicht  ge- 
nügend in  Anspruch  genommen  wird. 

Aber  selbst  wenn  die  „Internationale"  reich  wird,  so  tragen 
doch  ihre  weitgehenden  Projekte  zu  sehr  den  Stempel  der  Utopie 
auf  der  Stirne,  als  dafs  an  ein  Gelingen  derselben  zu  denken 
wäre.  Was  ist  aus  der  „Kontinentalsperre“,  die  Napoleon  I. 
auch  für  recht  genial  hielt,  geworden?  Dasselbe  wird  aus  der 
„Kapitalsperre"  werden,  weiche  die  „Internationale“  durchführen 


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Slawische  Gesellschaften. 


379 


will.  Eine  besondere  Höhe  der  Löhne  wird  man  auf  diese 
Weise  nicht  erreichen,  so  wünschenswert  eine  solche  auch 
sein  möge. 


Slawische  Gesellschaften. 

Die  Befreiung  Polens.  --  Polnische  Geheimbünde : Treue  Polen;  Nationale 
Freimaurer;  Sensenmänner;  Patriotische  Gesellschaft;  Moderne  Tempel- 
ritter; das  Junge  Polen.  — Konarski.  — Die  Aufstände  von  1830  und 
1S63.  — Die  Haltung  Europas.  — Der  Panslawismus.  — Die  Omladina. 
Das  Unterirdische  Prag.  — Der  Sicherheitsbund.  — Die  russischen  Ritter. 

— Bund  der  öffentlichen  Wohlfahrt.  — Bund  der  Bojaren.  — Der  »Norden". 

— Verschmelzung  der  „Bojaren"  mit  den  „Vereinigten  Slawen".  — Pestei. 

— Der  Tod  Alexanders  I.  — Trubetzkoj. 

Die  polnische  politische  Geheimbündelei  dreht  sich  selbst- 
verständlich um  die  Wiederherstellung  der  Selbständigkeit  Polens. 
Da  die  Bevölkerung  des  einstigen  Königreichs  von  der  Aristo- 
kratie in  rechtloser  Knechtschaft  gehalten  wurde,  kann  es  sich 
den  Kämpen  der  Unabhängigkeit  nicht  gut  um  die  Wiederkehr 
der  alten  sozialen  Mifswirtschaft  handeln,  die  das  Reich  zu 
Grunde  gerichtet  hat;  wohl  aber  streben  sie  die  nationale  Be- 
freiung an.  Zwar  haben  Adolf  Beer  und  Max  Duncker  an  der 
Hand  geschichtlicher  Urkunden  nachgewiesen,  dafs  die  Behauptung 
Friedrichs  des  Grofsen,  die  Teilung  Polens  sei  das  einzige  Mittel 
zur  Vermeidung  eines  grofsen  europäischen  Krieges  gewesen, 
auf  Wahrheit  beruhte;  immerhin  jedoch  ist  die  Sehnsucht  der 
polnischen  Patrioten  nach  Wiederherstellung  ihres  weiteren  Vater- 
landes begreiflich  und  ihre  von  jeher  völlig  aussichtslosen  ge- 
heimen Bestrebungen  zur  Erreichung  ihres  Zieles  sind  verzeihlich. 

Eine  der  ersten  geheimen  Verbindungen  zur  Organisierung 
der  polnischen  Revolutionäre  hiefs  „Treue  Polen*;  sie  zählte 
nur  wenige  Mitglieder  und  dauerte  nicht  lange.  1818  entstand 
ein  Verein,  der  sich  „Nationale  Freimaurerei“  nannte, 
weil  er  die  maurerischen  Riten,  Grade  und  Ausdrücke  nachahmte. 
Er  nahm  Angehörige  aller  Bevölkerungsklassen  auf,  mit  Vorliebe 
jedoch  Soldaten  und  Staatsbeamte  — wegen  der  im  Kampf  nütz- 
lichen Fachkenntnisse.  Die  Zahl  der  Mitglieder  war  grofs,  allein 
schon  nach  wenigen  Jahren  erhoben  sich  unter  ihnen  Zwistig- 
keiten und  der  Bund  konnte  sich  nur  durch  Umgestaltung  er- 
halten. Er  änderte  seine  Zeremonien  etc.  und  nannte  sich 
„Sensenmänner"  — in  Erinnerung  an  den  Aufstand  von 
1 794,  in  welchem  ganze  Regimenter  mit  Sensen  bewaffnet  in  die 
Schlacht  zogen.  1821  tagten  sie  in  Warschau,  um  über  eine 
neue  Erhebung  zu  beraten;  bei  dieser  Gelegenheit  gaben  sie 


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3S0 


Politische  Geheimgesellschaften. 


sich  abermals  einen  andern  Namen:  »Patriotische  Gesell- 
schaft“. Mittlerweile  hatten  auch  die  Studenten  der  Wilnaer 
Universität  eine  geheime  Verbindung  gebildet,  doch  wurde  sie 
von  der  Regierung  entdeckt  und  aufgelöst 

1822  verschmelzte  sich  die  Patriotische  Gesellschaft  mit 
der  vom  Hauptmann  Majewski  gegründeten  maurerischen  Ver- 
bindung »Moderne  Tempelrittter»,  zu  deren  drei  symbo- 
lischen Maurergraden  nun  ein  vierter  trat,  in  welchem  die  Ein- 
geweihten schworen,  die  Befreiung  Polens  nach  Kräften  fördern 
zu  wollen.  Diese  Verschmelzung  führte  zum  Aufstand  von  1 830. 
Im  Jahre  1834  entstand  das  »Junge  Polen",  zu  dessen  Führern 
der  hervorragende  Patriot  Simon  Konarski  gehörte,  der  sich 
schon  während  der  Ereignisse  von  1830  ausgezeichnet  hatte. 
Damals  entkam  er  und  erlernte,  uin  sich  besser  verbergen  zu 
können,  die  Uhrmacherei.  Nach  seiner  Rückkehr  trat  er  dem 
Jungen  Polen  bei,  wurde  jedoch  von  der  Polizei  ausfindig  gemacht, 
die  ihn  der  Folter  unterwarf,  um  ihn  zur  Nennung  seiner 
Bundesgenossen  zu  bewegen.  Aber  er  verriet  nichts,  trug  seine 
Leiden  vielmehr  mit  so  hohem  Mut,  dafs  der  Militärgouverneur 
von  Wilna  ausrief:  »Das  ist  ein  eiserner  Mann!“  Als  Konarski 
1839  hingerichtet  wurde,  zerrifs  das  Volk  seine  Kleider  in  kleine 
Stücke,  um  ein  Andenken  an  ihn  zu  haben;  auch  liefsen  sich 
seine  Bewunderer  aus  seinen  Kerkerketten  Ringe  machen. 

Einige  Zeit  vor  dem  Ausbruch  des  Krimkrieges  bildete  sich 
in  Russisch-Polen  eine  geheime  Nationalregierung,  die  den  Zweck 
verfolgte,  eine  Erhebung  ins  Leben  zu  rufen.  Über  ihre  Thätig- 
keit,  die  man  nicht  genau  kannte,  waren  allerlei  seltsame  Ge- 
schichten im  Umlauf  von  mitternächtlichen  Versammlungen  in 
unterirdischen  Gängen,  von  durch  maskierte  Geheimrichter  ohne 
Berufungsmöglichkeit  zum  Tode  verurteilten  Verrätern,  von  Über- 
fällen in  Palast  und  Hütte,  von  Leichnamen,  die  nachts  in  be- 
lebten Stadtstrafsen  oder  auf  freiem  Felde  gefunden  worden  seien 
und  von  Dolchen,  die  das  Abzeichen  der  geheimen  Regierung 
aufwiesen.  Jedenfalls  wufste  die  letztere  sich  so  sehr  verborgen 
zu  halten,  dafs  es  der  Polizei  durchaus  nicht  glücken  wollte, 
ihrer  oder  auch  nur  einzelner  Mitglieder  habhaft  zu  werden. 
Damals  zerfielen  die  polnischen  Patrioten  in  zwei  Gruppen:  die 
»Weifsen“,  welche  das  aristokratische,  und  die  »Roten",  welche  das 
demokratische  Element  vertraten.  Jede  Gruppe  hatte  ihre  eigene 
Organisation.  Während  die  »Weifsen«  für  einen  rein  gesetz- 
lichen Widerstand  waren,  erklärten  sich  die  »Roten»  für  eine 
revolutionäre  Erhebung  mit  Waffengewalt.  Die  Einführung  der 
Konskription  in  Polen  (1863)  veranlafste  die  beiden  Gruppen, 
sich  zu  vereinigen  und  den  Aufstand  unter  Langiewicz  alsbald 
ins  Werk  zu  setzen.  Obgleich  die  Polen  unterlagen,  setzten  sie 


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Slawische  Gesellschaften. 


38  t 


die  Rebellion  noch  eine  Zeit  lang  guerillamäfsig  fort  — in  der 
Hoffnung,  dafs  die  Westmächte  sich  zu  ihren  Gunsten  verwenden 
werden.  Da  jedoch  einerseits  der  polnische  Bauernstand  an  der 
Erhebung  fast  unbeteiligt  geblieben  war  und  anderseits  Alexander  II. 
kurz  vorher  die  Lage  seiner  polnischen  Unterthanen  durch  Ein- 
führung von  Reformen  verbessert  hatte,  glaubten  die  Westmächte 
keine  Ursache  zur  Einmischung  zu  haben.  Und  was  die  späteren 
Aufstandsversuche  betrifft,  so  scheiterten  sie  zumeist  an  der 
Gegnerschaft  einiger  radikalen  italienischen  Geheimgesellschaften, 
welche  sich  an  der  Frömmigkeit  der  Polen  stiefsen  und  befürch- 
teten, ein  unabhängiges  polnisches  Reich  würde  sich  mit  Haut 
und  Haaren  dem  Papsttum  verschreiben. 

Die  panslawistischen  Neigungen  eines  Teiles  der  Tschechen, 
Kroaten,  Serben  u.  s.  w.  sind  schon  recht  alt.  Die  betr.  Be- 
strebungen, einen  grofsslawischen  Staatenbund  zu  schaffen,  wurden 
von  Rufsland  bereits  unter  Katharina  II..  und  Alexander.  I.  er- 
mutigt, weil  es  in  einem  solchen  Bunde  die  Oberhoheit  zu  er- 
langen hoffte.  Da  jedoch  die  kleineren  slawischen  Völker  diese 
Oberhoheit  fürchteten,  drückten  die  österreichisch  - slawischen 
Schriftsteller  der  panslawischen  Bewegung  einen  mehr  geistigen 
und  litterarischen  als  politischen  und  sozialen  Stempel  auf.  Aber 
die  Revolution,  welche  1848  in  halb  Europa  auftrat,  gab  dem 
Panslawismus  ein  rein  politisches  Gepräge.  Bereits  im  Juni 
des  genannten  Jahres  erlebte  Prag  einen  demokratischen  Auf- 
stand, welcher  jedoch  von  Windischgrätz,  der  die  Stadt  beschofs, 
schleunig  unterdrückt  wurde.  Allmählich  ging  aus  der  pan- 
slawischen Bewegung  ein  Geheimbund  hervor:  die  Omladina, 
die  sich  auf  beide  Teile  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie 
erstreckte.  Das  genaue  Datum  ihrer  Entstehung  kennen  wir 
nicht;  wahrscheinlich  fällt  diese  in  die  Zeit  um  1863,  als  Mazzini 
und  seine  Anhänger  den  Versuch  machten,  durch  die  Unter- 
stützung der  sogen.  Nationalpartei  in  Serbien,  Montenegro  und 
Rumänien  die  Österreicher  in  Italien  zu  schwächen,  um  die 
Wiedererlangung  Venetiens  zu  erleichtern. 

Der  Umstürzler  Simon  Deutsch,  wegen  seiner  agitatorischen 
Thätigkeit  zuerst  aus  Österreich  und  nachher  aus  Konstantinopel 
verbannt,  später  ein  Freund  Gambettas  und  ein  Förderer  oder 
Vertreter  der  Internationale  und  der  Jungtürken,  war  auch  eines 
der  eifrigsten  Mitglieder  der  Omladina.  In  Ungarn  stand  an  ihrer 
Spitze  der  serbische  Reichstagsabgeordnete  Miletich,  der  so  heftig 
auftrat,  dafs  er  1876  verhaftet  wurde.  1882  hegte  die  Omladina 
die  — unausgeführt  gebliebene  — Absicht,  den  Fürsten  von 
Montenegro  zu  entthronen  und  Menotti  Garibaldi  zum  lebens- 
länglichen Vorsitzenden  eines  geplanten  westlichen  Balkanbundes 
zu  machen.  In  Prag  wurden  anfangs  1894  77  Omladinisten  — 


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382 


Politische  Geheimgesellschaften. 


zumeist  sehr  junge  Journalisten,  Setzer,  Handwerker,  Beamte  u. 
s.  w.  — wegen  Oeheimbündelei  und  Hochverrats  angeklagt. 
Als  die  Verhaftungen  begannen,  wurde  ein  gewisser  Mrva  - 
alias  Rigoletto  di  Toscana  — von  dem  „Genossen“  Dolezal  er- 
mordet, weil  er,  obgleich  Omladinist,  bei  den  Verschwörern  im 
Verdacht  stand,  ein  Polizeispitzel  zu  sein.  Thatsächlich  hatte  er 
in  den  Versammlungen  des  Bundes  eifrig  Notizen  gemacht; 
ebenso  in  denen  einer  andern  Geheimgesellschaft,  der  er  an- 
gehörte. Diese  nannte  sich  „das  unterirdische  Prag"  und 
hatte  den  Zweck,  die  Häuser  reicher  Bürger  zu  unterminieren, 
um  sie  plündern  zu  können.  Mrvas  Papiere  und  Notizbücher 
fielen  nach  seinem  Tode  der  Polizei  in  die  Hände  und  lieferten 
der  Staatsanwaltschaft  ein  reiches  Material  gegen  die  Angeklagten, 
die  denn  auch  bis  auf  zwei  verurteilt  wurden,  und  zwar  zu 
Gefängnis  zwischen  sieben  Monaten  und  acht  Jahren.  Ob  die 
Omladina,  die  in  Ungarn  längst  erloschen  ist,  in  Österreich  eben- 
falls gänzlich  zu  bestehen  aufgehört  hat  oder  etwa  noch  in 
latentem  Zustand  weiterbesteht,  läfst  sich  nicht  bestimmt  feststellen. 
Der  Panslawismus  selbst  ist  bislang  weder  in  der  einen  noch  in 
der  andern  Reichshälfte  ausgestorben. 

Während  die  russische  Geheimbündelei  in  früheren  Zeiten 
entweder  blofs  örtlicher  Natur  oder  aristokratische  Modesache 
und  durchweg  harmlos  war,  nahm  sie  nach  den  napoleonischen 
Kriegen  allmählich  eine  politische  Richtung  an.  Viele  russische 
Offiziere  empfanden  nach  ihrer  Rückkehr  in  die  Heimat  die  Un- 
würdigkeit ihrer  Lage  und  den  Druck  der  Verhältnisse  so  sehr, 
dafs  sie  nach  Besserung  strebten.  1822  untersagte  die  Regierung 
die  Gründung  neuer  und  den  Weiterbestand  der  alten  Geheim- 
gesellschaften. Dieses  Verbot  erstreckte  sich  auch  auf  die  Frei- 
maurerei. Jeder  Staatsbeamte  mufste  eidlich  erklären,  keiner  ge- 
heimen Verbindung  des  In-  oder  des  Auslandes  anzugehören ; war 
er  aber  bereits  Mitglied  einer  solchen,  so  mufste  er,  wenn  er 
nicht  entlassen  werden  wollte,  alle  Beziehungen  zu  ihr  sofort  ab- 
brechen. Das  Verbot  wurde  mit  so  grofser  Strenge  gehandhabt, 
dafs  die  Obrigkeit  die  Einrichtung  von  Freimaurerlogen  auf  der 
Strafse  verkaufen  liefs,  um  die  maurerischen  Geheimnisse  lächer- 
lich zu  machen. 

Selbstverständlich  reizte  die  feindselige  Haltung  des  Staates 
erst  rech  zur  Gründung  von  geheimen  Gesellschaften.  Alexander 
Murawjew  rief  den  „Sicherheitsbund“  ins  Leben,  in  dessen 
hauptsächlich  maurerischen  Riten  Dolche,  Gifte  und  furchtbare 
Eide  eine  grofse  Rolle  spielten.  Er  bestand  aus  „Brüdern“, 
„Männern"  und  „Bojaren“.  Aus  den  letzteren  gingen  die  Leiter 
hervor.  Der  Name  „Bojaren“  deutet  auf  das  Vorwiegen  des 
aristokratischen  Elements  hin.  Noch  aristokratischer  war  die  Ver- 


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Slawische  Gesellschaften. 


383 


einigung  »Russische  Ritter“,  welche  aber  eine  volkstümliche 
Verfassung  zu  erreichen  trachtete  und  den  Bestrebungen  der  auf 
die  Selbständigkeit  Polens  hinarbeitenden  polnischen  Geheim- 
bünde entgegenwirkte.  Später  verschmelzten  sich  die  beiden 
Gesellschaften  zu  einem  »Bund  für  die  öffentliche  Wohl- 
fahrt",  der  sich  jedoch  infolge  von  Meinungsverschiedenheiten 
zwischen  seinen  Führern  bald  auflöste,  um  dem  „Bund  der 
Bojaren“  Platz  zu  machen.  Dieser  plante  anfangs  die  Herab- 
minderung der  Macht  des  Zaren  auf  das  Niveau  des  Präsidenten 
der  Vereinigten  Staaten  und  die  Umwandlung  Rufslands  in  einen 
Staatenbund  nach  dem  Muster  der  letzteren;  später  wollte  er 
Alexander  I.  töten  und  eine  Republik  schaffen.  Als  wegen  dieser 
radikalen  Bestrebungen  die  gemäfsigteren  Mitglieder  austraten, 
löste  sich  die  Gesellschaft  auf  und  verbrannte  ihre  Papiere  sorgfältig. 

Die  Aufstände  in  Spanien,  Neapel  und  Oberitalien  ver- 
anlafsten  den  Obersten  Pestei,  der  mehreren  der  bisher  genannten 
russischen  Geheimbünde  angehört  hatte,  zur  Gründung  eines 
neuen,  auf  die  Errichtung  einer  Republik  abzielenden.  Auch  er 
plante  den  Tod  des  Zaren,  allein  die  Zeitumstände  waren  einer 
solchen  Verschwörung  ungünstig.  Pestei  war  auch  der  Urheber 
der  geheimen  Gesellschaft  „Der  Norden".  1824  schlug  der 
„Bund  der  Bojaren“,  als  er  von  dem  Vorhandensein  der  pol- 
nischen patriotischen  Gesellschaft  Kenntnis  erlangte,  dieser  Ver- 
einigung ein  Zusammenwirken  vor.  Man  einigte  sich  über  ge- 
wisse Punkte,  namentlich  über  die  Anerkennung  der  Unabhängig- 
keit Polens;  als  die  Polen  jedoch  die  Bedingung  stellten,  dafs 
beide  Länder  — Rufsland  und  Polen  - Republiken  werden  sollten, 
zogen  sich  die  „Bojaren“  zurück  und  näherten  sich  dem  von 
dem  kühnen  Artillerieleutnant  Borissow  ins  Leben  gerufenen 
panslawistischen  Bunde  der  „Vereinigten  Slawen“.  Zar 
Alexander  wurde  von  dem  in  seinen  Diensten  stehenden  und 
von  ihm  in  den  Adelstand  erhobenen  Engländer  Sherwood  vor 
der  Verschwörung  gewarnt,  scheint  aber  keine  Vorsichtsmafsregeln 
ergriffen  zu  haben.  Als  Graf  de  Witt  ihm  später  in  Taganrog 
über  die  Fortschritte  der  Umsturzbewegung  berichtete,  konnte  er 
nichts  mehr  thun,  denn  schon  wenige  Tage  nachher  starb  er  an 
dem  Typhus,  den  er  sich  in  der  Krim  geholt  hatte.  Es  ging 
zwar  das  Gerücht,  er  sei  vergiftet  worden;  in  Wirklichkeit  aber 
war  dem  nicht  so,  vielmehr  hatten  die  Verschwörer  ihre  Vor- 
bereitungen noch  lange  nicht  beendet.  Dennoch  wurden  Oberst 
Pestei,  der  Kiewer  Kommandant  General  Diebitsch  und  etwa 
ein  Dutzend  Offiziere  verhaftet.  Die  übrigen  Geheimbündler, 
die  nicht  wufsten,  dafs  Konstantin  längst  insgeheim  zu  Gunsten 
seines  jüngern  Bruders  Nikolaus  abgedankt  hatte,  erklärten  den 
letzteren  für  einen  Usurpator  und  Konstantin  für  den  recht- 


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384 


Politische  Gcheimgesellschaften. 


mäfsigen  Zar.  Obgleich  sie  weder  das  Heer  noch  die  Volks- 
massen hinter  sich  hatten,  kam  es  anläfslich  der  Leistung  des 
Huldigungseides  für  Nikolaus  in  Petersburg  zu  einer  Erhebung, 
welcher  aber  durch  die  unerbittliche  Niedermetzelung  der  auf- 
ständischen Soldaten  ein  rasches  Ende  bereitet  wurde.  Viele  der 
Verschwörer  wurden  hingerichtet,  auch  Pestei,  dem  man  durch 
Folterung  vergeblich  Näheres  über  die  Bewegung  zu  erpressen 
versuchte.  Fürst  Trubetzkoj,  den  die  Verschwörer  zum  Diktator 
ernannt  hatten,  verriet  sie,  im  letzten  Augenblick  kleinmütig  ge- 
worden, wurde  aber  dennoch  zu  lebenslänglicher  Verbannung 
nach  Sibirien  und  zu  vierzehnjähriger  Zwangsarbeit  daselbst 
verurteilt. 

All  diese  russischen  Geheimgesellschaften  - auch  eine  1 838 
in  Moskau  entdeckte,  deren  Mitglieder  dem  höchsten  Adel  an- 
gehörten (sie  wurden  zur  Strafe  als  gemeine  Soldaten  in  die 
Armee  gesteckt)  — können  als  Vorläufer  des  Nihilismus  (vgl. 
»Die  Nihilisten“)  betrachtet  werden. 


Türkische  und  armenische  Gesellschaften. 

Die  revolutionäre  Bewegung,  welche  sich  im  zweiten  Drittel 
des  19.  Jahrhunderts  in  West-  und  Mitteleuropa  geltend  machte, 
drang  auch  in  die  Türkei,  wo  nach  dem  Muster  des  Jungen 
Deutschland,  des  Jungen  Italien  etc.  eine  Vereinigung  von  »Jung- 
türken* entstand,  deren  Urheber  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
Mustafa  Fasil  Pascha  war,  den  David  Urquhart  den  »türkischen 
Catilina“  nennt.  Die  Jungtürken  wollten  die  Türkei  von  jeder 
religiösen  und  sozialen  Willkür  befreien,  insbesondere  den  Koran 
beseitigen  und  die  Macht  des  Sultans  brechen.  Da  sie  nichts 
ausrichteten,  wurde  1867  ein  neuer  Bund  unter  demselben  Namen 
mit  Sitzen  in  Konstantinopel,  Paris  und  London  ins  Leben  ge- 
rufen. Zu  den  früheren  Zwecken  trat  noch  der,  durch  die  Be- 
freiung der  christlichen  Unterthanen  der  Pforte  den  russischen 
Einflufs  im  Orient  zu  schwächen.  Auch  jetzt  stand  Mustafa 
Fasil  Pascha  an  der  Spitze  und  er  verpflichtete  sich,  der  Bundes- 
kasse jährlich  300000  Frank  zu  spenden.  Das  hervorragendste 
und  thätigste  Mitglied  war  Midhat  Pascha,  der  bekanntlich  seine 
Reformfreundlichkeit  mit  Verbannung  und  Erdrosselung  büfsen 
mufste.  Der  Stambuler  Ausschufs  wurde  von  Bonnal , einem 
französischen  Bankier  zu  Pera,  geleitet.  Im  London-Pariser  Aus- 
schuß safsen  Zia  Bey,  Simon  Deutsch,  Kemal  Bey,  Aghia  Efendi 
und  der  polnische  Graf  Plater.  Der  gegenwärtige  Führer  der 


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Türkische  und  armenische  Gesellschaften. 


3S5 


Junglürken  ist  der  Bruder  des  Sultans  Abdul  Hamid,  Murad 
Bey,  der  dem  Padischah  und  seiner  Palastkamarilla  alle  Mifs- 
stände  zuschreibt,  unter  denen  das  Land  leidet.  Der  Bund  hat 
bisher  trotz  aller  Sympathien,  deren  er  sich  in  Europa  erfreut, 
fast  nichts  ausgerichtet.  Dafs  in  neuester  Zeit  viele  seiner  teils 
flüchtigen  teils  verbannten  Mitglieder  sich  durch  gute  Versorgungen 
seitens  der  Pforte  zur  Rückkehr  in  die  Heimat  und  zum  Auf- 
geben ihrer  Bestrebungen  bewegen  liefsen,  konnte  seine  Macht 
selbstverständlich  nicht  stärken;  vielmehr  mufs  man  annehmen, 
dafs  er  in  der  Auflösung  begriffen  ist. 

1888  gründeten  die  in  Rufsland  lebenden  Armenier  eine 
antirussische  Geheimgesellschaft.  Dafs  es  auch  in  der  Türkei 
armenische  Geheimbünde  giebt,  geht  aus  den  Ereignissen  der 
letzten  Jahre  (seit  1895)  deutlich  hervor,  ihre  Organisation 
gleicht  der  der  alten  Venditas  der  Carbonari ; d.  h.  die  einzelnen 
Ausschüsse  kennen  weder  einander  noch  den  Hauptausschufs, 
von  dem  sie  die  Befehle  erhalten.  Es  sind  ihrer  fünf  mit  ins- 
gesamt rund  zweihundert  Mitgliedern:  1.  Huntschak  („Alarm“), 
2.  Frochak  („Flagge"),  3.  Abdag  („Blasebalg“),  4.  Gaisag 
(„Donnerschlag“),  5.  Wotschintschak  („Zerstörung").  Die  zwei 
letzteren  sind  am  spätesten  entstanden.  Der  geheime  Zentral- 
ausschufs  lenkt  in  unsichtbarer  Weise  die  Thätigkeit  dieser  fünf 
Komitees  und  behält  alle  Fäden  in  der  Hand.  Die  grofse  Demon- 
stration bei  der  Pforte  i.  J.  1895  ging  vom  Huntschak,  der  Über- 
fall auf  die  Ottomanische  Bank  (1896)  vom  Frochak  aus.  Bald 
nach  jenem  Überfall,  dessen  Rädelsführer  schwer  bestraft  wurden, 
empfing  die  französische  Botschaft  zu  Konstantinopel  ein  Schreiben, 
in  welchem  die  Armenier  mit  weiteren  Ausschreitungen  drohten. 
Bei  den  im  Dezember  (1896)  zu  Kara  Hissar  Charki  verhafteten 
armenischen  Verschwörern  fand  man  Schriftstücke,  die  das  ganze 
revolutionäre  Programm  des  Geheimbundes  enthüllten.  Den  31 
strengen  Bestimmungen  dieses  Programms  müssen  sich  alle 
Mitglieder  unterwerfen.  Jede  der  zahlreichen  „Banden"  der  Ver- 
einigung mufs  aus  mindestens  sieben  Mitgliedern  bestehen.  Der 
Mitgliedseid  besagt,  dafs  man  eher  die  Folter  oder  den  Tod  er- 
leiden als  die  Gesellschaftsgeheimnisse  verraten  soll.  Der  14. 
Artikel  verpflichtet  die  Banden,  jeden  ungerechten  oder  grausamen 
ottomanischen  Beamten,  wenn  irgend  möglich,  ins  Gebirge  zu 
entführen,  ihm  möglichst  viele  Staatsgeheimnisse  zu  erpressen 
und  ihn  gegebenenfalls  zu  töten.  Nach  Artikel  15  dürfen  die 
Banden  Postwagen  überfallen  und  ausrauben,  müssen  aber  Allein- 
reisende verschonen,  es  sei  denn,  dafs  deren  Belästigung  sich  als 
unerläfslich  erweise.  Legt  ein  Mitglied  im  Kampfe  Feigheit  an 
den  Tag,  so  soll  es  unverzüglich  erschossen  werden.  Das  Banden- 
haupt hat  das  Recht,  jedes  Mitglied,  mit  dem  es  unzufrieden  ist, 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbunde  u.  Gehcimlehrcn.  25 


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38b 


Politische  Geheimgesellschaften. 


in  beliebiger  Weise  zu  bestrafen.  Häfslich  ist  die  Vorschrift,  dafs 
die  Mitglieder  verpflichtet  sind,  einander  zu  überwachen  und  dem 
Haupt  die  Ergebnisse  der  gegenseitigen  Spionage  mitzuteilen. 
Zu  den  besonderen  Merkmalen  der  revolutionären  Bewegung  der 
Armenier  gehört  der  ausgedehnte  Gebrauch,  den  sie  von  Ver- 
kleidungen macht.  Diese  sind  so  verschiedenartig,  dafs  dadurch 
die  Verteilung  von  Waffen  oder  aufreizenden  Schriften  und 
Bildern  sehr  erleichtert  wird. 


Nachschrift  des  Herausgebers. 

Obiges  über  die  Jungtürken  war  bereits  geschrieben,  als 
ich  im  »Pester  Lloyd“  vom  7.  Dezember  1899  einen  Leitartikel 
fand,  dessen  folgende,  mit  dem  Gegenstand  zusammenhängende 
Stelle  die  Leser  interessieren  dürfte: 

„Augenblicklich  herrscht  ziemlich  grofse  Aufregung  im  Jildis-Kiosk 
über  die  Tnätigkeit  der  sogenannten  Jungtürken,  nämlich  jener  Ele- 
mente, welche  angeblich  den  Umsturz  des  bestehenden  Regimes  anstreben. 
Berechtigt  und  erklärlich  ist  diese  Bewegung  insofern,  als  das  Bedürfnis 
nach  einer  gründlichen  Reform  der  gesamten  Verwaltung  nicht  mehr  ab- 
zuweisen ist.  Das  Jungtürkentum  besteht  schon  seit  mehr  als  einem 
Vierteljahrhundert  als  eine  lose  Verbindung  von  Elementen,  die  in  der 
Regel  aus  irgend  einem  persönlichen  Grunde  den  Sultan  vertreiben,  eine 
Verfassung  und  eine  abendländische  Administration  einführen  möchten. 
Wo  sich  drei  Jungtürken  zusammenfinden,  dort  wird  ein  Elugblättehen 
ausgegeben,  und  ob  dies  in  Paris  oder  Genf,  in  London  oder  New-York, 
in  Kairo  oder  Rio  de  Janeiro  erscheint,  in  allen  Fällen  wird  darin  über 
die  Tyrannei  Abdul  Hamids  und  seiner  Ratgeber  oder  über  die  Unhalt- 
barkcft  des  korrupten  Systems  geklagt.  So  lange  das  Geld  vorhält,  werden 
diese  Blättchen  gedruckt  und  in  Tausenden  von  Exemplaren  nach  der 
Türkei  versendet.  Gehen  die  Mittel  aus  oder  gelingt  es  einem  türkischen 
Gesandten,  Konsul  oder  Geheimmissionär,  dem  betreffenden  Redakteur 
ein  ausgiebiges  Schweiggeld  zu  verabreichen,  dann  geht  das  revolutionäre 
Journal  ein,  bis  wieder  ein  hungriger  Jungtürke  auf  den  Einfall  kommt, 
dasselbe  einträgliche  Geschäft  an  einem  andern  Orte  zu  wiederholen. 
So  haben  denn  der  „Mizan“,  „Huriet“,  „Meschweret"  — um  nur  die 
hervorragendsten  solcher  Journale  seit  dem  Jahre  1 891  zu  nennen  — kein 
besonderes  Unglück  angerichtet,  es  wäre  denn,  dafs  man  in  Stambul  die 
Wirkung  dieser  Pamphlete  überschätzt  und  sich  mit  den  betreffenden 
Redakteuren  auf  irgend  eine  kostspielige  Weise  abgefunden  hat.  Neuestens 
heifst  es,  die  Jungtürken  hätten  die  Absicht,  in  Genf  eine  Organisation 
nach  dem  Muster  der  einstigen  Carbonarigesellschaften  zu  versuchen, 
doch  dürfte  dabei  schwerlich  viel  herauskommen." 


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ELFTES  BUCH. 

PIE  FREIMAUREREI. 


2S* 


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Die  Tempellegende. 

Nachdem  Salomo  sich  zum  Bau  des  Tempels  entschlossen 
hatte,  liefs  er  Baukünstler  kommen,  teilte  sie  in  Gruppen  und 
stellte  sie  unter  den  Befehl  des  ihm  von  dem  befreundeten  und 
verbündeten  König  von  Tyrus,  Hiram,  gesandten  Architekten 
Adoniram  oder  Hiram  Abiff.  Nach  der  Überlieferung  war  die 
Abstammung  der  Erbauer  des  mystischen  Tempels  die  folgende. 
Einer  der  Elohim  (Urgeister)  ehelichte  Eva,  die  ihm  einen  Sohn 
namens  Kain  gebar;  aber  Jehovah  oder  Adonai,  ebenfalls  einer 
der  Elohim,  schuf  Adam  und  verband  ihn  mit  Eva,  die  nun  Abel 
gebar.  Zur  Strafe  für  den  Ungehorsam  Evas  unterwarf  Adonai 
die  Söhne  Kains  der  Familie  Abels.  Während  Kain  trotz  seines 
eifrigen  Ackerbaus  wenig  Ertrag  erzielte,  hütete  Abel  in  Mufse 
seine  Herden.  Jehovah  verwarf  die  Opfergaben  Kains  und  erregte 
Zwietracht  zwischen  den  aus  dem  Feuer  entstandenen  Söhnen 
der  Elohim  und  den  blofs  aus  der  Erde  hervorgegangenen 
Menschen.  Die  Folge  war,  dafs  Kain  Abel  tötete.  Nun  ver- 
folgte Adonai  Kains  Söhne  und  machte  die  edle  Familie,  welche 
die  Künste  und  Wissenschaften  aufgebracht  hatte*),  den  Söhnen 
Abels  unterthan. 

Enoch,  ein  Sohn  Kains,  lehrte  die  Menschen  die  Kunst, 
Steine  zu  behauen,  Häuser  zu  bauen  und  bürgerliche  Gesell- 
schaften zu  bilden.  Enochs  Sohn  Irad  und  sein  Enkel  Mehujael 
errichteten  Dämme  und  machten  aus  Zederstämmen  Balken.  Ein 
andrer  Sprofs  Kains,  Methusael,  ersann  die  heiligen  Buchstaben, 
die  Tau -Bücher  und  das  sinnbildliche  T,  an  dem  die  vom  Feuer 
herstammenden  Arbeiter  einander  erkannten.  Lamech,  dessen 
Weissagungen  den  Profanen  unverständlich  sind,  hatte  vier  Kinder: 
Jabal,  der  als  Erster  die  Bearbeitung  der  Kameelhaut  lehrte;  Jubal, 
den  Erfinder  der  Harfe;  Naamah,  die  Mutter  der  Spinnerei  und 


*)  Die  Puränas  lobpreisen  begeistert  die  Intelligenz  der  Nach- 
kommen Kains  und  die  Vollkommenheit,  zu  der  sie  die  Künste  des  bürger- 
lichen Lebens  brachten. 


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390 


Die  Freimaurerei. 


Weberei;  Tubalkain,  der  den  ersten  Schmelzofen  errichtete,  der 
erste  Metallarbeiter  war  und  in  den  Bergen  unterirdische  Höhlen 
grub,  um  sein  Geschlecht  gegen  die  Sintflut  zu  schützen.  Trotz 
dieser  Höhlen  kamen  nur  Tubalkain  und  sein  Sohn  mit  dem 
Leben  davon.  Die  Gattin  Harns,  des  zweiten  Sohnes  Noäh,  ver- 
liebte sich  in  den  Sohn  Tubalkains  und  machte  ihn  zum  Vater 
Nimrods,  der  die  Jagd  erdachte  und  Babylon  gründete.  Adoniram, 
ein  Nachkomme  Tubalkains,  schien  von  Gott  berufen  zur  Führung 
der  Miliz  der  freien  Männer,  welche  die  Söhne  des  Feuers  mit 
den  Söhnen  des  Gedankens,  des  Fortschritts  und  der  Wahrheit 
verbinden  sollte. 

Hiram  erbaute  den  wunderbaren  Tempel  Salomonis,  er- 
richtete den  herrlichen  goldenen  Königsthron  und  führte  viele 
prachtvolle  Bauten  auf.  Aber  trotz  seiner  Gröfse  fühlte  er  sich 
vereinsamt  und  unverstanden.  Wenige  liebten,  viele  hafsten  ihn; 
auch  Salomo  war  ihm  gram,  denn  er  beneidete  ihn  um  sein 
Genie  und  seinen  Ruhm.  Der  König  seinerseits  war  auf  der 
ganzen  Erde  ob  seiner  hohen  Weisheit  berühmt  — so  sehr,  dafs 
eines  Tages  die  Königin  von  Saba,  Balkis,  nach  Jerusalem  kam 
um  ihn  zu  begrüfsen  und  die  Wunder  seiner  Herrschaft  kennen 
zu  lernen.  Sie  fand  ihn  auf  einem  vergoldeten  Zedernthron  in 
vergoldeter  Gewandung  sitzen  und  hielt  ihn  im  ersten  Augenblick 
für  eine  Goldstatue  mit  Elfenbeinhänden,  Er  bereitete  ihr  einen 
überaus  festlichen  Empfang  und  zeigte  ihr  seinen  Palast  und  den 
grofsartigen  Tempel.  Während  sie  alles  begeistert  bewunderte, 
nahm  ihre  eigene  Schönheit  das  Herz  des  Königs  so  sehr  gefangen, 
dafs  er  ihr  schon  nach  kurzer  Zeit  seine  Hand  anbot.  Erfreut, 
den  stolzen  Mann  erobert  zu  haben,  gab  sie  ihm  ihr  Jawort 
Bei  ihrem  zweiten  Besuch  des  Tempels  wiederholte  sie  den 
Wunsch,  den  geheimnisvollen  Baukünstler  zu  sehen,  der  so 
Herrliches  vollbracht.  Salomo  verzögerte  die  Erfüllung  dieses 
Wunsches  möglichst  lange,  mufste  sich  jedoch  schliefslich  dazu 
bequemen,  Hiram  Abiff  vorführen  zu  lassen.  Dieser  warf  der 
Königin  von  Saba  einen  Blick  zu,  welcher  ihr  Innerstes  erbeben 
liefs.  Alsbald  gewann  sie  ihre  Fassung  wieder  und  nahm  Hiram 
gegen  den  Unwillen  und  die  Eifersuchtsanwandlung  Salomos 
in  Schutz.  Als  sie  die  beim  Tempelbau  beschäftigten  Arbeiter- 
massen beisammen  zu  sehen  verlangte,  erklärte  der  König  dies 
für  unmöglich.  Da  stieg  Adoniram  auf  einen  Stein,  um  besser 
gesehen  zu  werden,  machte  in  der  Luft  mit  der  rechten  Hand 
das  symbolische  Tau-Zeichen  und  sofort  eilten  von  allen  Seiten 
die  sämtlichen  Arbeiter  herbei.  Die  hierüber  höchlich  erstaunte 
Balkis  bereute  insgeheim,  die  Werbung  des  Königs  angenommen 
zu  haben,  denn  sie  entbrannte  in  Liebe  zu  dem  mächtigen 
Architekten.  Der  eifersüchtige  Salomo  beschlofs  nun,  Hiram  zu 


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Die  Tempellegende. 


391 


demütigen  und  zu  Grunde  zu  richten,  weil  er  in  ihm  einen 
Nebenbuhler  erblickte. 

Unter  den  Tempelarbeitern  befanden  sich  drei  Gesellen, 
die  gegen  Hiram  eingenommen  waren,  weil  er  sich  wegen  ihrer 
Untüchtigkeit  und  Trägheit  geweigert  hatte,  sie  zu  Meistern  zu 
befördern:  der  syrische  Maurer  Fanor,  der  phönikische  Zimmer- 
mann Amru  und  der  hebräische  Grubenarbeiter  Metusael.  Dieses 
Kleeblattes  bediente  sich  Salomo  gegen  Hiram  und  die  Ver- 
schworenen fafsten  den  Plan , das  Gelingen  des  Gusses  des 
ehernen  Meeres  zu  verhindern  — einer  Leistung,  die  bestimmt 
war,  dem  Ruhm  Hirams  die  Krone  aufzusetzen.  Der  junge  Ar- 
beiter Benoni,  ein  besondrer  Verehrer  seines  Meisters,  kam  hinter 
die  böse  Absicht  jener  Drei  und  verriet  sie  an  den  König,  damit 
dieser  sie  vereitle.  Als  es  zum  Gufs  kam,  dem  auch  Balkis 
beiwohnte,  und  die  flüssigen  Erzmassen  nach  Öffnung  des 
Schmelzofens  sich  in  die  Riesenform  ergossen,  flössen  sie  über 
die  letztere  hinweg  und  strömten  auf  dem  Erdboden  fort,  sodafs 
die  versammelte  Menge  die  Flucht  ergreifen  mufste,  um  nicht 
verbrannt  zu  werden.  Vergeblich  versuchte  Hiram,  der  eine 
göttergleiche  Ruhe  bewahrte,  durch  Anwendung  grofser  Wasser- 
massen den  Feuerstrom  aufzuhalten.  Die  Mischung  des  Wassers 
mit  dem  Feuer  erzeugte  heifse  Dämpfe,  welche  aufstiegen,  um 
als  totbringender  Feuerregen  wieder  niederzufallen.  Der  unglück- 
liche Bauherr  wollte  bei  einem  treuen  Herzen  Trost  suchen  und 
daher  mit  Benoni  sprechen;  aber  er  konnte  ihn  nicht  finden, 
denn  der  edle  Jüngling  war  umgekommen,  als  er  die  Niederlage 
des  Meisters  zu  verhindern  trachtete,  weil  er  sah,  dafs  Salomo 
sie  trotz  der  Warnung  nicht  verhindert  hatte. 

Hiram  verblieb  auf  dem  Schauplatz  seines  Unglücks;  in 
seinen  Gram  versunken,  achtete  er  nicht  des  lebensgefährlichen 
Herannahens  des  Feuermeeres,  ln  erster  Reihe  dachte  er  an  die 
bittere  Enttäuschung  der  Königin  von  Saba,  die  gekommen  war, 
um  ihn  zu  dem  erwarteten  grofsen  Triumph  zu  beglückwünschen. 
Plötzlich  ertönte  von  oben  eine  seltsame  Stimme,  welche  ausrief: 
»Hiram!  Hiram!  Hiram!“  Aufblickend,  sah  er  hoch  in  der  Luft 
eine  Riesengestalt  schweben,  die  ihn  ansprach:  »Sei  ohne  Furcht, 
mein  Sohn,  denn  ich  habe  dich  unverbrennbar  gemacht;  stürze 
dich  in  die  Flammen!"  Er  betrat  den  Schmelzofen,  ohne  sich 
zu  verletzen;  ja,  er  empfand  ein  unbeschreibliches  Entzücken,  als 
er,  von  einer  unwiderstehlichen  Kraft  angetrieben,  immer  weiter 
vordrang.  »Wohin  führst  du  mich?"  fragte  er.  — »ln  den 
Mittelpunkt  der  Erde,  in  die  Seele  der  Welt,  ins  Reich  des 
grofsen  Kain,  wo  die  Freiheit  herrscht.  Dort  hört  der  tyrannische 
Neid  Adonais  auf;  dort  können  wir,  seines  Zornes  spottend,  die 
Frucht  vom  Baum  der  Erkenntnis  kosten;  dort  ist  das  Heim 


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I 


392  Die  Freimaurerei. 

deiner  Väter.“  — „Wer  bin  ich  und  wer  bist  du?“  - „Ich  bin 
der  Vater  deiner  Väter,  ich  bin  Tubalkain,  der  Sohn  Lamechs.“ 

Tubalkain  führte  Hiram  ins  Heiligtum  des  Feuers  ein,  wo 
er  ihm  die  Schwächen  und  niedrigen  Leidenschaften  Adonais 
darlegte,  der  seinem  eignen  Geschöpf  feindlich  gesinnt  sei  und 
es  unerbittlich  zum  Tod  verurteile,  um  sich  an  den  Feuergeistem 
zu  rächen,  die  es  — den  Menschen  --  mit  Wohlthaten  überhäuft 
haben.  Hiram  stand  bald  vor  seinem  Urvater  Kain,  in  dessen 
Schönheit  sein  Erzeuger,  der  Lichtengel,  sich  wiederspiegelte. 
Kain,  dessen  edle  Gesinnung  den  Neid  Adonais  erregt  hatte,  er- 
zählte Hiram  von  den  Leiden,  die  der  grausame  Jehovah  über 
ihn  verhängte.  Plötzlich  erscholl  die  Stimme  des  „Abkömmlings 
Tubalkains  und  seiner  Schwester  Naamah“:  „Dir  wird  ein  Sohn 
geboren  werden,  den  du  zwar  nicht  sehen  wirst,  dessen  zahl- 
reiche Nachkommen  jedoch  dein  Geschlecht  verewigen  werden. 
Dem  Geschlecht  Adams  überlegen,  wird  das  deinige  die  Herr- 
schaft der  Welt  erringen.  Viele  Jahrhunderte  lang  wird  es  seinen 
Mut  und  seine  hohen  Fähigkeiten  dem  Dienste  des  stets  undank- 
baren Geschlechtes  Adams  widmen,  bis  schliefslich  die  besten  die 
stärksten  werden  und  auf  Erden  die  Feueranbetung  wieder  einführen. 
Deine  unbesiegbaren  Abkömmlinge  werden  die  Macht  der  Könige, 
der  Helfer  Adonais  bei  seiner  Willkürherrschaft,  zerstören.  Gehe, 
mein  Sohn,  die  Feuergeister  sind  mit  dir!“  Tubalkain  übergab 
ihm  den  Hammer,  mit  dem  er  selbst  so  viel  Grofses  vollbracht 
hatte,  und  fügte  hinzu:  „Dieser  Hammer  und  die  Feuergeister 
sollen  dir  dazu  verhelfen,  das  durch  menschliche  Dummheit  und 
Bosheit  unvollendet  gebliebene  Werk  schleunig  zu  beenden.“ 
Kaum  wieder  auf  der  Erdoberfläche,  erprobte  Hiram  die  wunder- 
bare Kraft  des  kostbaren  Hammers  und  bei  Morgenanbruch  war 
der  Gufs  des  ehernen  Meeres  vollkommen  gelungen.  Der 
Künstler  und  Balkis  waren  entzückt  und  das  herbeieilende  Volk 
bestaunte  die  geheime  Macht,  durch  welche  das  gestrige  Unglück 
in  einer  Nacht  wettgemacht  worden  war. 

Bald  darauf  ging  Balkis  eines  Tages  in  Begleitung  ihres 
Gefolges  aufserhalb  Jerusalems  spazieren  und  begegnete  unterwegs 
Hiram,  der  allein  und  in  Gedanken  versunken  war.  Die  beiden 
gestanden  einander  ihre  Liebe.  Als  Had-had  (der  bei  der  Königin 
von  Saba  das  Amt  eines  Boten  der  Feuergeister  versehende  Vogel) 
Hiram  in  der  Luft  das  mystische  T-Zeichen  machen  sah,  umflog 
er  sein  Haupt  und  liefs  sich  dann  auf  seinem  Handgelenk  nieder. 
Da  rief  Sarahil,  die  einstige  Amme  der  Königin:  „Die  Weissagung 
ist  erfüllt!  Had-had  erkennt  den  Gatten,  den  die  Feuergeister 
für  Balkis  bestimmt  haben  und  dessen  Liebe  allein  sie  annehmen 
darf!"  Das  Paar  zögerte  nun  nicht  länger,  sich  zu  verloben 
und  beriet  dann  über  die  weiteren  Mafsregeln.  Hiram  sollte 


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Die  Tempellegende. 


393 


Jerusalem  zuerst  verlassen  und  sich  nach  Arabien  begeben,  wohin 
Balkis  ihm  folgen  wollte,  sobald  es  ihr  gelungen  sein  werde,  die 
Wachsamkeit  des  Königs  zu  täuschen  und  zugleich  ihre  Ver- 
lobung mit  ihm  rückgängig  zu  machen.  Beides  gelang  ihr,  als 
Salomo  sich  eines  Tages  berauschte;  sie  zog  ihm  den  Verlobungs- 
ring vom  Finger.  In  seiner  Eifersucht  gab  er  den  drei  Gesellen, 
die  den  Gufs  des  ehernen  Meeres  verdorben  hatten,  den  Wink, 
dafs  ihm  die  Beseitigung  des  Nebenbuhlers  erwünscht  wäre. 
Vor  der  geplanten  Abreise  erschien  Hiram  nochmals  im  Tempel 
und  hier  wurde  er  von  den  Dreien  erschlagen.  Doch  gelang 
es  ihm  vor  dem  Aushauchen  des  letzten  Seufzers,  das  goldne 
Dreieck,  das  er  um  den  Hals  trug  und  auf  dem  das  Meisterwort 
eingraviert  war,  in  einen  tiefen  Brunnen  zu  werfen.  Die  Mörder 
hüllten  den  Leichnam  ein,  begruben  ihn  auf  einem  einsamen 
Hügel  und  pflanzten  einen  Akazienzweig  aufs  Grab. 

Als  Hiram  sich  sieben  Tage  lang  nicht  zeigte,  muTste  Salomo, 
wenngleich  ungern,  dem  Wunsche  des  Volkes  nachgeben  und  ihn 
suchen  lassen.  Drei  Meister  entdeckten  die  Leiche,  und  da  sie 
jene  drei  Gesellen  des  Mordes  verdächtigten,  weil  sie  wufsten, 
dafs  Hiram  ihnen  den  Meistergrad  verweigert  hatte,  beschlossen 
sie  vorsichtshalber,  das  Meisterwort  abzuändern.  Das  erstbeste 
Wort,  welches  während  der  Emporhebung  des  Leichnams  zufällig 
fallen  würde,  sollte  das  künftige  Meisterwort  werden.  Als  nun 
einer  von  ihnen  sah,  dafs  sich  die  Haut  vom  Körper  loslöste, 
rief  er  aus:  „Makbenach!“  (etwa  „Bruder  erschlagen“  oder 
„Fleisch  vom  Knochen  getrennt“)  und  so  wurde  „Makbcnach“ 
zum  Kennwort  des  Meistergrades.  Man  erwischte  die  drei  Mörder 
und  sie  entleibten  sich,  um  nicht  in  die  Hände  der  Gerechtigkeit 
zu  fallen;  ihre  Köpfe  wurden  dem  König  überbracht.  Da  sich 
das  goldne  Dreieck  nicht  bei  der  Leiche  Hirains  vorfand,  forschte 
man  danach  und  fand  es  schliefslich  in  jenem  Brunnen.  Salomo 
liefs  es  auf  einen  dreieckigen  Altar  legen,  der  sich  in  einem  ge- 
heimen Gewölbe  unterhalb  des  entlegensten  Teiles  des  Tempels 
befand;  um  das  goldne  Dreieck  noch  besser  zu  verbergen,  stellte 
man  darauf  einen  kubischen  Stein,  der  die  zehn  Gebote  enthielt. 
Schliefslich  wurde  das  Gewölbe,  dessen  Vorhandensein  nur  27 
Erwählten  bekannt  war,  zugemauert. 


Überlieferte  und  wahre  Geschichte. 

Die  meisten  Völker,  Staaten  und  Körperschaften  messen 
sich  mit  Vorliebe  einen  sehr  alten  Ursprung  bei.  Der  Wunsch, 
sich  eines  hohen  Alters  zu  rühmen,  tnufs  ganz  besonders  lebhaft 


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394 


Die  Freimaurerei. 


sein  bei  einer  lediglich  ideal-sittliche  Zwecke  verfolgenden,  nur 
mit  und  nach  Grundsätzen  vorgehenden  Vereinigung  wie  die 
Freimaurerei.  Diese  möchte  älter  und  höher  erscheinen  als  alle 
anderen ; darum  behauptet  sie,  noch  vor  Erschaffung  des  Menschen 
bestanden  zu  haben.  Sie  erklärt  ihren  Ursprung  für  gleichzeitig 
mit  der  Entstehung  der  Welt,  denn  das  Licht  war  früher  vor- 
handen als  der  Mensch,  für  den  es  erst  eine  angemessene  Wohn- 
stätte vorbereiten  mufste;  das  Licht  aber  ist  Endzweck  und  Symbol 
der  Freimaurerei.  Edward  Spratt,  ein  irischer  Schriftsteller,  stellte 
in  seinem  »Konstitutionenbuch  für  irländische  Logen-  (1751) 
Adam  als  den  ersten  Freimaurer  hin,  der  »auch  nach  seiner 
Vertreibung  aus  dem  Paradiese  grofse  Kenntnisse  besafs,  nament- 
lich in  der  Geometrie."  Und  Dr.  J.  A.  Weifse  schreibt  in  seinem 
Buche  »Der  Obelisk  und  die  Freimaurerei*  (1880):  »Die  Frei- 
maurerei begann  mit  der  Schöpfung  und  wurde  von  der  Familie 
des  Seth  eingeführt;  das  Schurzfell  der  Maurer  hat  seinen  Ur- 
sprung in  der  Feigenblattschürze  Adams  und  Evas  nach  dem 
Sündenfall."  Diese  zwei  Citate  aus  der  Mitte  des  18.  und  dem 
Ende  des  19.  Jahrhunderts  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  wie 
weit  die  Freimaurerei  hinsichtlich  ihres  Alters  zu  gehen  vermag. 
Weiter  könnte  sie  wirklich  nicht  gehen! 

Nun  halten  wir  dafür,  dafs  es  vom  ersten  Erscheinen  des 
Menschen  auf  der  Erde  an  ein  sehr  bevorzugtes  und  hoch- 
gebildetes Geschlecht  gab,  das  mit  den  Naturgesetzen  und  Natur- 
kräften vollkommen  vertraut  war  und  seine  Kenntnis  in  mystischen 
Figuren  und  Schematen  niederlegte.  Diese  Sinnbilder  haben  sich 
in  der  Freimaurerei  erhalten,  aber  nicht  in  der  Pseudo-Mau rerei 
der  Mehrheit  der  Logenmaurer.  Heute  stehen  die  echtesten 
Maurer  aufserhalb  der  Logen,  und  wir  wollen  in  den  nach- 
folgenden Kapiteln  bemüht  sein,  den  Maurern  möglichst  viel  von 
den  wirklichen  Wahrheiten  beizubringen,  welche  sich  hinter  ihren 
Sinnbildern  und  rätselhaften  Formeln  verbergen,  die  ohne  Schlüssel 
lediglich  als  widersinnige,  unwürdige  Riten  und  Zeremonien  er- 
scheinen. Mit  Ausnahme  der  politischen  und  der  gesellschafts- 
feindlichen haben  und  hatten  die  geheimen  Gesellschaften  gewöhn- 
lich den  Zweck,  die  Überbleibsel  jener  Naturerkenntnis  zu  be- 
wahren oder  deren  in  Verlust  geratene  Teile  wieder  zu  erlangen. 
Und  da  die  Freimaurerei  gleichsam  den  Inbegriff  der  Lehren 
der  meisten  anderen  nichtpolitischen  und  nichtgesellschaftsfeind- 
lichen Geheimbünde  bildet,  enthält  sie  selbstverständlich  Lehren, 
die  mit  denen  der  alten  Mysterien  und  anderer,  modernerer  Ver- 
bindungen übereinstimmen.  Daher  läfst  sich  ihr  Ursprung  nicht 
von  dieser  oder  jener  bestimmten  Geheimgesellschaft  ableiten ; 
vielmehr  ist  sie  - oder  sollte  sie  sein  eine  Zusammenfassung 
aller  ursprünglichen  und  angehäuften  menschlichen  Kenntnisse. 


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Überlieferte  und  wahre  Geschichte. 


395 


Die  meisten  maurerischen  Autoren  teilen  die  Geschichte 
des  Bundes  in  zwei  Abschnitte.  Der  erste  umfafst  die  Zeit  von 
seiner  vermeintlichen  Gründung  bis  zum  Anfang  des  18.  Jahr- 
hunderts; in  dieser  Zeit  nahm  er  fast  nur  Maurer  und  andere 
Bauhandwerker  auf.  Die  zweite  Periode  - die  seitherige  und 
gegenwärtige,  von  ihnen  die  Zeit  der  spekulativen  Maurerei  ge- 
nannt — ist  besonders  dadurch  bemerkenswert,  dafs  der  Bund 
weit  entfernt  ist,  sich  auf  die  Aufnahme  von  Personen  zu  be- 
schränken, die  mit  der  wirklichen  Baukunst  Zusammenhängen, 
vielmehr  auch  — und  hauptsächlich  — den  Beitritt  allen  gestattet, 
die  an  dem  Bau  eines  geistigen  Tempels,  des  Tempels  der  all- 
gemeinen Eintracht  und  Bildung,  mitarbeiten  wollen.  Thatsächlich 
wurden  jedoch  auch  schon  in  der  ersten  Periode  zuweilen  einzelne 
Nicht-Bauleute  zugelassen  (in  England  z.  B.  Karl  1.,  Karl  II., 
Jakob  II.,  Oberst  Mainwaring,  der  Archäologe  Ashmole  u.  a.);  die 
wahre  Maurerei  war  eben  immer  spekulativer  Art.  Den  Bei- 
namen »maurerisch"  nahm  der  Bund  bei  seiner  Umgestaltung 
im  18.  Jahrhundert  wieder  an,  weil  die  Baubrüderschaft,  die  im 
Mittelalter  so  viele  prachtvolle  Dome  etc.  errichtete,  Logen, 
Grade,  Losungsworte,  Merk-  und  Kennzeichen  hatte,  was  ja 
übrigens  auch  schon  bei  den  Erbauern  des  Tempels  Salomonis 
der  Fall  gewesen  sein  soll. 

Häufig  ist  behauptet  worden,  der  Freimaurerbund  stamme 
vom  Templerorden  her  und  sei  staats-  und  kirchengefährlich,  weil 
er  darauf  ausgehe,  den  Untergang  der  Tempelritter  zu  rächen. 
Allein  schon  1535  wurde  diese  Behauptung  in  der  »Charta  von 
Köln“  zurückgewiesen,*)  in  welcher  die  Maurer  sich  »Johannis- 
brüder“ nannten,  weil  Johannis  der  Täufer  der  Vorläufer  des 
Lichtes  war.  Nach  derselben  Quelle  erhielten  die  »Brüder»  den 
Namen  »Freimaurer“  zuerst  in  Flandern,  weil  manche  von  ihnen 
in  der  Provinz  Hainault  Krankenhäuser  für  die  am  Veitstanz 
Leidenden  bauen  geholfen  hatten.  Auch  von  »maison“  hatte 
man  „maqon"  ableiten  wollen.  Ganz  unglaubwürdig  ist  die  Ab- 
leitung von  »massa“  = Keule,  d.  h.  die  Keule,  mit  der  der 
Thürsteher  uneingeweihte  Eindringlinge  verjagte.  Auch  Lessings 
Ansicht  (»Gespräche  für  Freimaurer"  zwischen  Ernst  und  Falk), 
»masonry“  sei  aus  „masony"  (=  Masoney)  verdorben,  wird  von 
der  neueren  Forschung  verworfen.  Lessing  führte  an,  das  Wort 
Masoney  stamme  von  dem  angelsächsischen  „mase“  (im  heutigen 
Englisch  „mess")  und  bedeute  »Tafelrunde“,  »Tischgesellschaft“, 
»Trinkgesellschaft";  eine  solche  altgermanische  »masony»  habe 
es  in  London  noch  im  1 7.  Jahrhundert  gegeben,  sie  habe  in  der 

*)  Diese  „Charta"  wird  übrigen»  von'  der  neueren  Forschung  zu- 
meist für  apokryph  gehalten. 


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3% 


Die  Freimaurerei. 


Nähe  des  Paulsdomes  gehaust  und  Wren,  der  Erbauer  des 
letzteren,  sei  eins  ihrer  Mitglieder  gewesen  und  so  habe  man 
gedacht,  eine  Gesellschaft,  die  in  der  Nähe  jener  herrlichen  Kirche 
zusammenkomme  und  Wren  zu  den  ihrigen  zähle,  müsse  eine 
»masonry"  sein,  d.  h.  eine  Verbindung  von  Bauverständigen.  c 

Da  die  Freimaurerei,  wie  gesagt,  ein  Baum  ist,  dessen  Wurzeln 
in  vielen  Boden  wucherten,  müssen  ihre  Früchte  vielgestaltig  sein. 

Daher  enthält  ihre  Ausdrucksweise  und  ihr  Ritual  allerlei  zusammen- 
gewürfelte Bestandteile:  indische,  ägyptische,  jüdische,  christliche 
und  andere  Ideen,  Worte  und  Sinnbilder.  Wir  lassen  nun  die 
wahre  Geschichte  der  Freimaurerei,  soweit  überhaupt  bekannt, 
ohne  den  sagenhaften  Aufputz  folgen,  mit  dem  die  Maurer- 
litteratur  sie  ausgestattet  hat. 

Im  Altertum  gab  es  Architekten-  und  Ingenieur-Verbindungen 
(z.  B.  die  »Dionysiacs“  in  Griechenland,  das  »Maurerkollegium" 
in  Rom),  die  den  Bau  von  Tempeln  und  Stadien  unternahmen. 

Diese  Körperschaften  waren  die  Vorbilder  der  Maurer-,  Steinmetz- 
und  Zimmermanns-Verbindungen , welche  im  Mittelalter  nament- 
lich in  England  und  Deutschland  blühten,  zuweilen  sechs-  bis 
achthundert  Mitglieder  zählten  und  mit  Klöstern,  Domkapiteln 
oder  anderen  Kirchenverwaltungen  über  den  Bau  von  Kathe- 
dralen oder  Kirchen  Verträge  schlossen.  Später  machten  sie  sich  » 

von  der  Kirche  unabhängig  und  im  13.  Jahrhundert  traten  sie 
in  Köln  zu  einer  ausgedehnten  Bauvereinigung  zusammen,  die 
in  Strafsburg,  Wien,  Zürich  und  anderwärts  Zweiglogen  besafs. 

Dieser  Bund  nannte  sich  »die  freien  Maurer"  und  hatte  Ein- 
weihungszeremonien. Gegen  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
begann  er,  auch  Nichtfachleute  aufzunehmen,  die  dann  »an- 
genommene Maurer"  hiefsen.  Da  es  sich  hierbei  zumeist  um 
gelehrte  und  hochstehende  Männer  handelte,  wurde  die  Logen- 
thätigkeit  allmählich  mehr  symbolisch  als  technisch.  Die  wirk- 
lichen Steinmetze  und  Bauarbeiter  zerstreuten  sich  im  Laufe  der 
Zeit,  während  die  »angenommenen"  Mitglieder  sich  zurückzogen, 
weil  ihre  Erwartung,  in  esoterische  Geheimnisse  eingeweiht  zu 
werden,  in  den  Logen  unerfüllt  blieb.  So  kam  es,  dafs  es  1717 
in  London  nur  noch  vier  Logen  gab.  Dieselben  wurden  damals 
von  Dr.  Desaguliers,  James  Anderson  und  George  Payne  zu 
einer  »Grofsloge“  vereinigt  — ein  Ereignis,  mit  dem  die  Ge- 
schichte der  modernen  Freimaurerei  beginnt,  welche  rein  sym-  t 

bolisch  ist,  aber  die  Fachsprache  der  Baukunst  beibehalten  hat. 

Seither  war  und  ist  der  Freimaurerbund  vielen  Verfolgungen 
ausgesetzt,  und  zwar  seitens  des  Staates  und  der  Kirche.  Welt- 
liche Herrscher  haben  oft  getrachtet,  ihn  zu  unterdrücken.  Alle 
Päpste  von  Klemens  XII.  bis  zu  Leo  XIII.  thaten  ihn  in  Acht 
und  Bann.  Ein  gut  Teil  der  Verfolgungen  war  verschuldet  durch 


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Riten  und  Grade. 


397 


die  Geheimniskrämerei,  mit  der  die  Freimaurer  ihre  Grundsätze 
und  ihre  Thätigkeit  umgaben,  sowie  durch  die  Einführung  der 
Hochgrade.  Die  drei  ursprünglichen  Grade,  welche  vom  Bau- 
handwerk übernommen  wurden  - Lehrling,  Gesell,  Meister  — 
genügten  weder  der  Eitelkeit  mancher  aristokratischen  »Brüder“, 
noch  dem  Ehrgeiz  jener,  die  den  Bund  zu  Parteizwecken  aus- 
nutzen wollten.  Ritter  Andreas  Ramsay,  ein  Anhänger  der  ver- 
bannten Stuarts,  behauptete,  dafs  die  Freimaurer  von  den  Kreuz- 
rittern abstammen  und  regte  deshalb  die  Einführung  von  Hoch- 
graden mit  politischem  Hintergrund  an.  Die  Hochgrade,  nach 
dem  Lande  der  Stuarts  »schottische“  genannt,  nahmen  an  Zahl 
immer  mehr  zu  und  hüllten  sich  aus  politischen  Ursachen,  aus 
persönlicher  Eitelkeit  und  wegen  ihrer  abergläubischen  Riten  in 
immer  tieferes  Geheimnis;  schliefslich  fielen  sie  Betrügern  und 
Abenteurern  ä la  Cagliostro  und  Casanova  in  die  Hände. 

In  Deutschland  wurde  die  Freimaurerei  von  drei  Parteien 
mifsbraucht:  den  Reaktionären,  den  Radikalen  und  den  ritter- 
lichen Fanatikern.  Die  ersteren  riefen  das  Rosenkreuzertum  ins 
Leben,  welches  durch  seinen  astrologisch-alchimistisch-magisch- 
spiritistischen  Schwindel  den  politischen,  wissenschaftlichen  und 
religiösen  Fortschritt  hemmte.  Die  Radikalen,  die  sich  mit  Hilfe 
der  llluminaten  in  den  Freimaurerbund  einschlichen,  wollten  in 
Politik  und  Religion  eine  neue  Zeit  herbeiführen.  Der  wohl- 
meinende Schwärmer  Freiherr  von  Hundt  verpflanzte  den  Ritter- 
fanatismus von  Frankreich  nach  Deutschland,  indem  er  um  die 
Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  die  Maurerei  von  der  »strikten  Obser- 
vanz" einführte,  welche  an  den  Templerorden  anknüpfte  und,  wie 
wir  weiter  unten  des  Näheren  darlegen  werden,  vom  Wilhelms- 
bader Konvent  wieder  beseitigt  wurde,  ln  Frankreich  verschaffte 
das  Geheimnisvolle  des  Rituals  und  der  Glanz  mancher  der 
Zeremonien  dem  Maurertum  viele  Anhänger;  schliefslich  erfolgte 
die  Vereinigung  der  französischen  Logen  zu  einer,  »Grofs-Orient“ 
genannten  Grofsloge,  deren  erster  Grofsmeister  der  Herzog  von 
Chartres  — nachmals  Philippe  £galitö  - war.  Napoleon  I.  er- 
nannte seinen  Bruder  Joseph  zum  Grofsmeister.  (Vgl.  weiter 
unten  »Napoleon  und  die  Freimaurerei.") 


Riten  und  Grade. 

Vor  der  Umgestaltung  des  Maurerwesens  im  Anfang  des 
1 8.  Jahrhunderts  gab  es  blofs  einen  Ritus:  den  der  »alten,  freien 
und  angenommenen  Maurer",  auch  »blaue“  oder  »symbolische" 
Maurerei  genannt.  Aber,  wie  schon  bemerkt,  Eitelkeit,  Laune 
oder  Partei-Interesse  führte  bald  nach  der  Einführung  der  moder- 


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39S 


Die  Freimaurerei. 


nen  Freimaurerei  zur  Vermehrung  der  Gradezahl  wie  auch  zu 
allerlei  Abänderungen  im  Wesen  der  drei  alten  Grade.  Gegenwärtig 
giebt  es  in  Europa  und  Amerika  die  folgenden  Riten  und  Grade: 

I.  Der  Yorkritus,  auf  den  wir  eingehender  zurück- 
kommen. In  England  und  Amerika  besteht  er  aus  sieben  Graden  : B 

I.  Lehrling;  2.  Geselle;  3.  Meister;  4.  Markmeister;  5.  Alt- 
meister; 6.  Hochwürdiger  Meister;  7.  Royal  Arch  (wörtlich  »vom 
königlichen  Gewölbe“).  Dem  letzteren  als  dem  wichtigsten  werden 
wir  ein  eignes  Kapitel  widmen. 

II.  Der  französische  oder  moderne  Ritus  hat 
sieben  Grade  durchweg  astronomischer  Natur: 

1.  Lehrling;  2.  Geselle;  3.  Meister;  4.  Elu  (Erwählter); 

5.  Schottischer  Meister;  6.  Ritter  des  Ostens;  7.  Rose-Croix 
(=  »Rosenkreuzer“). 

III.  Der  alte  und  angenommene  Schottenritus. 

Dieser  Name  rührt  daher,  dafs  die  Stifter  den  Ursprung  nach 
Schottland  verlegten;  die  jetzige  Organisation  jedoch  wurde  am 
Beginn  des  18.  Jahrhunderts  in  Frankreich  geschaffen.  Nach 
dem  York- Ritus  ist  der  schottische  heutzutage  der  verbreitetste. 

Die  Verwaltung  obliegt  »Obersten  Grofsräten"  („Konzilien“). 

Die  Zahl  der  Grade  beträgt  nicht  weniger  als  37 ! Das  meiste 

Interesse  bieten:  der  12.  (Grofsbaumeister),  der  18.  (Prinz  Rose-  « 

Croix)  und  der  30.  (Ritter  von  Kadosch),  weshalb  wir  sie  weiter 
unten  ausführlich  behandeln  werden. 

IV.  Philosophischer  Schottenritus. 

V.  Altschottischer  Ritus,  hauptsächlich  in  Belgien  zu 
Hause. 

VI.  Alter  reformierter  Ritus. 

VII.  Fefslerscher  Ritus. 

VIII.  Ritus  der  Grofsen  Nationalloge  zu  den 
drei  Weltkugeln  in  Berlin. 

IX.  Voll kom  m e n hei  ts- R i tus. 

X.  M israi  m - Ri  tu  s. 

XI.  Klerikal  der  Tempelherren. 

XII.  Schwedischer  Ritus. 

XIII.  Ref or m ie rte r R i tu s.  (Rektifiziertes  System.) 

XIV.  Schroedersches  oder  Hamburger  System. 

XV.  Swedenborgscher  Ritus.  I 

XVI.  Zi nzendor.fscher  Ritus.  Graf  Zinzendorf,  Leib-  « 

arzt  Kaiser  Karls  VI.,  änderte  das  Avignoner  Illuminatentum  *ab, 

pfropfte  darauf  Swedenborgsche  Mysterien  und  schuf  so  seinen 
»Ritus",  dessen  sieben  Grade  in  drei  Gruppen  zerfallen: 

1.  Blaue,  2.  Rote,  3.  Kapitel-Maurerei.  ' 

XVII.  DerEklektiseheBund,  1783  vom  Frhrn.  v.  Knigge 
in  Frankfurt  zu  dem  Zwecke  geschaffen,  der  starken  Zunahme 


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Gebräuche  und  Logen. 


399 


der  »philosophischen"  Hochgrade  zu  steuern.  Dieser  Ritus  er- 
kennt nur  die  drei  „symbolischen“  Grade  an  (Lehrling,  Geselle, 
Meister),  gestattet  aber  jeder  Loge  einen  der  Hochgrade,  insofern 
derselbe  die  Einheitlichkeit  der  „symbolischen“  nicht  beeinträchtigt. 
Knigges  Absicht,  die  Hochgrade  möglichst  zu  beseitigen,  ging 
nicht  in  Erfüllung  und  die  Zahl  der  eklektischen  Logen  ist  nie 
eine  erhebliche  gewesen. 

Im  Hinblick  auf  die  nachträglich  eingeführten  Hochgrade 
wird  die  moderne  Freimaurerei  in  eine  echte  und  eine  falsche 
geteilt.  Die  erstere  umfafst  lediglich  die  drei  „symbolischen“ 
Grade;  ihr  Beiname  „blaue  Maurerei"  rührt  von  der  Farbe  des 
Himmelszeltes  her  — einer  Farbe,  in  der  die  maurerischen 
Dekorationen  gehalten  sind.  „Falsch“  nennt  man  die  Hoch- 
grade; doch  mufs  die  blaue  Maurerei  ohne  den  Royal-Arch-Grad 
als  unvollständig  angesehen  werden,  denn  in  demselben  kommt 
das  von  Hiram  weggeworfene  ursprüngliche  Meisterwort  wieder 
zum  Vorschein,  während  der  Meistergrad  blofs  das  von  den 
Entdeckern  der  Leiche  Hirams  eingeführte  Ersatzwort  kennt. 
Man  kann  sagen,  dafs  die  „echte"  Maurerei,  die  sich  auf  Exoterik 
beschränkt,  den  „kleineren",  die  „falsche“  den  „gröfseren“ 
Mysterien  des  Altertums  entspricht.  Die  „falsche"  Maurerei  mit 
ihren  zahllosen  Graden  bildet  ein  unzusammenhängendes  Gemisch 
einander  widersprechender  Ideen  und  Grundsätze.  Ihre  Haupt- 
quellen waren  christliche  Einrichtungen  und  Überlieferungen, 
Ritterorden,  streitige  theologische  Meinungen,  geschichtliche  Er- 
eignisse. Diejenigen  Hochgrade  - die  anderen  nicht  - welche 
sich  entweder  durch  ihre  Lehren  oder  durch  Beeinflussung  des 
Fortschreitens  der  Menschheit  bemerkbar  gemacht  haben,  werden 
wir  eingehender  behandeln. 


Gebräuche  und  Logen. 

Nicht  selten  erscheinen  Freimaurer  in  dem  vollen  Ornat 
ihres  Grades  bei  der  Grundsteinlegung  öffentlicher  Gebäude  oder 
dem  Begräbnis  eines  „Meisters“.  Ihre  Zeitdatierung  geht  vom 
„Jahr  des  Lichts"  aus.  Die  „Sonnenritter"  (=  der  28.  Grad  des 
schottischen  Ritus)  haben  überhaupt  keine  Zeitrechnung;  sie 
datieren  stets  nur  mit  sieben  Nullen  (0,000.000).  Um  in  den 
Bund  aufgenommen  werden  zu  können,  mufs  man  grofsjährig 
sein;  ein  „Lufton"  jedoch  (=  Sohn  eines  Maurers)  kann  nötigen- 
falls schon  mit  18  Jahren  beitreten  (in  den  Vereinigten  Staaten 
nicht).  Das  französische  Wort  für  „Lufton“  ist  „louveteau“, 
d.  h.  ein  junger  Wolf,  ln  den  altägyptischen  Isismysterien  mufste 


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400 


Die  Freimaurerei. 


der  Aufnahmebewerber  eine  Wolfsmaske  fragen;  daher  waren  in 
diesen  Mysterien  Wolf  und  Kandidat  synonyme  Begriffe.  Macro- 
bius  bemerkt- in  seinen  „Saturnalien",  dafs  die  Alten  zwischen 
dem  Wolf  und  der  Sonne  — dem  grofsen  Sinnbild  jener 
Mysterien  — eine  Verwandtschaft  fanden ; wie  nämlich  die  Schaf- 
herde beim  Anblick  des  Wolfs  davonläuft,  so  verschwindet  die 
Schar  der  Sterne  beim  Herannahen  der  Sonne.  Die  sogen. 
„Söhne  Salomonis" , eine  Gruppe  der  französischen  Gesellen- 
verbindungen nennen  sich  noch  jetzt  „Wölfe".  Die  Aufnahme 
eines  Lufton  ist  mit  einer  Zeremonie  verknüpft,  welche  jener  der 
Taufe  ähnelt  Blumen  bedecken  den  Fufsboden  des  Tempels, 
Weihrauch  wird  verbrannt  und  dem  Paten  wird  eingeschärft, 
nicht  nur  für  das  leibliche  Wohl  des  „Neugeborenen“  zu  sorgen, 
sondern  ihn  auch  zur  Wahrheits-  und  Gerechtigkeitsliebe  zu  er- 
ziehen. Das  „Kind"  erhält  einen  neuen  Namen,  z.  B.  „Wohl- 
thätigkeit",  „Hingabe“,  „Wahrhaftigkeit“  oder  den  irgend  einer 
anderen  Tugend.  Den  Lehrlingseid  leistet  statt  seiner  der  Pate. 
Sollte  der  Lufton  verwaist  werden,  so  leistet  ihm  die  Loge  in 
jeder  Weise  Beistand. 

Das  Freimaurer-Alphabet  hat  die  eckige  Beschaffenheit  der 
ältesten  Alphabete  angenommen.  Es  besteht  aus  13  (9  + 4) 
Grundzeichen,  sodass  alle  Laute  nur  durch  Linien  und  Punkte 
darstellbar  sind,  wie  hier  ersichtlich: 


a=  J,  b = J,  u =>,  v=  >,  und  so  fort.  Die  maure- 
rischen Abkürzungen  sind  mit  drei  Punkten  in  Form  eines  Dreiecks 
verknüpft;  z.  B.  „ Bruder“  = B , Loge  = L.\  (auchE].\),  Logen 
= LL.\  (oder(jp.\)  etc.  etc.  Auch  das  gewöhnliche  lateinische 
Alphabet  und  die  arabischen  Ziffern  haben  einen  ähnlich  einfachen 
Ursprung,  indem  sie  alle  in  der  Figur 


enthalten  sind: 


A,  b oder B,  C,  tJ odtr D,  Ef  F , Cf  I,  — J»  K*  l—  * 

M,  N,  □,  P.4«rP\  «=|,  K,  X,T,  U,  V,  X,  Y,  Z. 
D,  I,  Z,  5£,ZI,  5,Zodfrb,7,  Z,^. 


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Gebräuche  und  Logen. 


401 


Was  die  innere  Einrichtung  der  Logen  betrifft,  so  war  sie 
zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden;  auch  wechselt  sie  je  nach 
Ritus  und  Grad  mehr  oder  minder  ab.  Doch  werden  jeder- 
zeit gewisse  allgemeine  Regeln  befolgt  In  einem  alten  franzö- 
sischen Katechismus  wird  die  Loge  folgendermafsen  geschildert. 
Sie  mufs  das  Himmelszelt  durch  eine  gewölbte,  blaue,  stemen- 
besäte  Decke  darstellen  und  einen  Mosaikboden  haben,  der  durch 
seine  Buntheit  an  die  nach  dem  Sinken  des  Nils  blumenbedeckte 
Erde  erinnern  soll.  Es  giebt  drei  Fenster:  je  eines  im  Osten, 
Westen  und  Süden ; ferner  zwei  bis  drei  Vorzimmer,  damit  kein 
Uneingeweihter  die  Vorgänge  im  Innern  belauschen  könne.  (Dringt 
dennoch  ein  Unberufener  ein,  so  sagt  der  Logenmeister:  »Es 
regnet"  und  hebt  die  Tagung  auf.)  Die  Loge  sollte  stets  schwarz 
verhängt  sein.  Im  Osten  sitzt  der  Grofsmeister,  im  Süden  der 
Meister  vom  Stuhl;  im  Norden  nehmen  die  Neulinge  Platz,  wo- 
mit angedeutet  wird,  dafs  sie  als  Uneingeweihte  die  Sonnenhitze 
noch  nicht  vertragen  können.  Soll  ein  Novize  (oder  mehrere 
Novizen)  als  Lehrling  aufgenommen  werden,  so  wird  die  Loge 
hell  erleuchtet.  Der  Grofsmeister  trägt  an  einem  Band  ein  kleines 
Winkelmafs  und  einen  kleinen  Kompafs  um  den  Hals.  Vor  ihm 
steht  ein  Tisch,  auf  dem  ein  Hämmerchen  und  das  Evangelium 
Johannis  liegen.  Neben  ihm  befinden  sich  die  beiden  Schaffner; 
der  eine  hält  ein  Richtscheit,  der  andere  ein  Senkblei  von  Gold 
oder  Silber  in  der  Hand.  Ringsum  stehen  die  Meister,  Gesellen 
und  Lehrlinge  in  weifsen,  lammsledemen  Schürzen  und  mit  ent- 
blöfsten  Schwertern.  Oben  sind  die  Sonne,  der  Mond  und  ein 
grofser  Stern  sichtbar.  Der  Boden  weist  Zeichnungen  auf,  und 
zwar  die  Stufen,  die  zum  Tempel  Salomonis  führten  und  die 
Säulen  »Jachin“  und  »Boaz°.  Diese  zwei  Säulen  versinnbild- 
lichen die  beiden  Sonnenwenden  oder  die  Säulen  des  Herkules. 
Inmitten  des  Saales  steht  ein  Sarg,  in  welchem  ein  anscheinend 
toter  Mann  mit  dem  Gesicht  nach  oben  liegt ; seine  weifse  Schürze 
ist  blutbefleckt  und  die  eine  Hand  ruht  auf  der  Brust,  die  andre 
auf  dem  Knie,  ln  den  Winkeln  des  Gemaches  befinden  sich 
leicht  brennbare  Stoffe,  wie  z.  B.  Schwefel,  zur  raschen  Entzün- 
dung eines  Feuers  geeignet.  Handelt  es  sich  um  die  Beförde- 
rung von  Lehrlingen  zu  Gesellen  oder  von  Gesellen  zu  Meistern, 
so  erfahren  die  vorstehend  beschriebenen  Anordnungen  einige 
Änderungen. 

Gehen  wir  nun  zu  den  bezeichnenden  allgemeinen  Merk- 
malen des  modernen  Logentempels  über.  Dieser  ist  ein  grofser 
quadratischer  Saal  und,  wenn  irgend  möglich,  genau  west-östlich 
gelegen.  Der  Logenmeister  sitzt  gegenüber  der  Eingangsthüre 
auf  einer  dreistufigen  Erhöhung,  ln  der  Mitte  ist  der  vierstufige 
Altar  angebracht.  Der  Meisterstuhl  steht  unter  einem  himmel- 

Hcckethorn. Kätscher,  Gchcimtumdc  und  Gehcimlehren.  26 


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402 


Die  Freimaurerei. 


blaue«,  stemenbesäten  Baldachin,  über  welchem  man  das  »leuch- 
tende Dreieck*  sieht,  auf  dem  der  »heilige  Name*  zu  lesen  ist 
Rechts  vom  Baldachin  erblickt  man  den  Mond,  links  die  Sonne. 
Zur  Ausschmückung  gehören  ferner:  der  Flammende  Stern;  der 
von  einem  Kreis  umgebene  Punkt,  der  die  Sonne  oder  das  Welt- 
all darstellt;  ein  Kasten,  welcher  an  die  in  den  altägyptischen 
Umzügen  getragene  Arche  erinnern  soll,  die  aufser  verschiedenen 
Pflanzen  eine  Futterschwinge  und  die  Schamteile  des  Osiris  ent- 
hielt. An  den  Seiten  der  Einlafsthüre  stehen  zwei  bronzene 
Säulen  mit  der  Inschrift  »J*  (=  Jachin)  bezw.  »B*  (=  Boaz); 
ihre  Kapitale  stellen  Granatäpfel  dar.  Der  erste  und  der  zweite 
Aufseher  sitzen  in  der  Nähe  dieser  Säulen  an  einem  mit  maure- 
rischen Sinnbildern  bedeckten  dreieckigen  Tisch.  Die  zwei  Säulen 
sind  durch  einen  Architrav  mit  zehn  anderen  verbunden,  die 
sich  ebenfalls  in  der  Loge  befinden.  Auf  dem  Altar  liegen 
Schwerter,  ein  Zirkel,  ein  Winkelmafs  und  eine  Bibel.  Im  Osten, 
Westen  und  Süden  des  Saales  ist  je  ein  Armleuchter  mit  grofsen 
Wachskerzen  bemerkbar  und  die  Wände  entlang  laufen  Sitzbänke. 
In  England  und  Amerika,  sowie  in  den  Logen  des  Schottenritus 
ist  der  Baldachin  aus  karmesinroter  Seide.  In  den  Logen  der 
Vereinigten  Staaten  trägt  der  Meister  vom  Stuhl  eine  mit  schwar- 
zen Federn  verzierte  Kappe  und  eine  schwarze  Kokarde; 
die  beiden  Aufseher  sitzen  in  Nischen  mit  befranster  Dra- 
perie und  halten  geschnitzte,  elfenbeinene  Heroldstäbe  in  der 
Hand. 

Der  Meister  vom  Stuhl  und  die  zwei  Aufseher  werden  bild- 
lich »die  drei  Lichter"  genannt  Die  übrigen  Logenbeamten 
heifsen:  Redner,  Sekretär,  Schatzmeister,  Zeremonienmeister,  Sie- 
gelbewahrer, Architekt,  Schaffner,  Heermeister,  Hauptgast,  innerer 
und  äufserer  Ziegeldecker  (Thürhüter,  Logenschliefser,  Wacht- 
habender), Archivar,  Bibliothekar,  Armenpfleger,  deputierter  oder 
zugeordneter  Meister  etc.  In  ihrer  Gesamtheit  bilden  sie  die 
»Beamtenloge“  oder  das  »Beamtenkollegium“.  Jeder  Beamte 
nimmt  in  den  Versammlungen  einen  bestimmten  Platz  ein  und 
hat,  wie  die  ägyptischen,  jüdischen  oder  griechischen  Priester, 
ein  eignes  Geschmeide  und  eigene  Abzeichen.  Einige  der  Ab- 
zeichen sind:  beim  Schatzmeister  sich  kreuzende  Schlüssel,  beim 
Schaffner  ein  Füllhorn,  beim  Sekretär  sich  kreuzende  Federn, 
beim  ersten  Aufseher  eine  Sonne  zwischen  Winkelmafs  und  Zirkel, 
beim  zweiten  ein  Mond  zwischen  Winkelmafs  und  Zirkel,  beim 
Logenschliefser  gekreuzte  Schwerter  etc. 

Die  Zusammenkünfte  finden  zumeist  abends  statt  Der 
Logenmeister  »eröffnet  die  Arbeit“  durch  einen  Hammerschlag 
auf  den  Altar  und  vergewissert  sich  sodann,  dafs  die  Loge  »ge- 
deckt“ sei,  d.  h.  dafs  keine  Unberufenen  anwesend  sind.  Nun 


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Einweihungszeremonien. 


403 


entwickelt  sich  zwischen  ihm  und  den  Aufsehern  ungefähr  das 
folgende  Gespräch: 

.Bruder  zweiter  Aufseher,  dein  ständiger  Sitz  in  der  Loge?“ 
»Im  Süden.« 

»Warum  bist  du  dort  untergebracht?“ 

»Um  die  Sonne  in  ihrem  Meridian  anzudeuten  und  um 
die  Brüder  von  der  Arbeit  zur  Erholung,  von  der  Erholung  zur 
Arbeit  zu  rufen,  auf  dafs  ihnen  Nutzen  und  Vergnügen  erwachse.* 
»Bruder  erster  Aufseher,  dein  ständiger  Platz  in  der  Loge?“ 
»Im  Westen.“ 

»Weshalb  hast  du  deinen  Sitz  dort?* 

»Um  den  Sonnenuntergang  anzudeuten  und  um  die  Loge 
auf  Befehl  des  verehrungswürdigen  Meisters  aufzuheben,  nachdem 
ich  darauf  gesehen,  dafs  jedermann  Gerechtigkeit  widerfahren  sei.“ 
»Warum  hat  der  Meister  seinen  Platz  im  Osten?“ 

»Wie  die  Sonne  im  Osten  aufgeht,  um  den  Tag  zu  eröff- 
nen und  zu  beleben,  so  sitzt  der  verehrungswürdige  Meister  im 
Osten,  um  die  Loge  zu  eröffnen  und  zu  erleuchten,  um  die 
Brüder  zu  beschäftigen  und  zu  belehren.“ 

»Um  welche  Zeit  pflegen  die  Maurer  ihre  Arbeit  zu  be- 
ginnen?" 

»Zur  Mittagszeit.“ 

»Wieviel  Uhr  haben  wir  jetzt,  Bruder  zweiter  Aufseher?« 
»Es  ist  Mittag.» 

»Da  dem  so  ist  und  alles  in  Ordnung  ist,  erkläre  ich  die 
Loge  für  eröffnet" 


Einweihungszeremonien. 

Da  es  ebenso  zwecklos  und  überflüssig  wie  ermüdend  sein 
würde,  wollten  wir  alle  Zeremonien  sämtlicher  Logengattungen 
der  Blauen  Maurerei  eingehend  schildern,  beschränken  wir  uns 
im  nachstehenden  auf  die  Beschreibung  der  üblichsten  und  be- 
zeichnendsten Einzelheiten. 

Der  Bewerber  um  den  Lehrlingsgrad  wird  von  einem  ihm 
unbekannten  »Bruder“  ins  Logengebäude  eingeführt  und  dort 
in  eine  entlegene  Stube  gebracht  in  welcher  er  einige  Minuten 
allein  bleibt  Dann  nimmt  man  ihm  alle  metallenen  Gegenstände 
ab,  die  er  etwa  bei  sich  hat  (Geld,  Uhr,  Ringe,  Nadeln  u.  s.  w.), 
entblöfst  ihm  das  rechte  Knie  oder  auch  die  linke  Brust  und 
tritt  die  Ferse  seines  linken  Schuhs  ab  — Vorgänge,  die  nach 
manchen  maurerischen  Schriftstellern  von  den  Jesuiten  herstammen. 

26* 


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404 


Die  Freimaurerei. 


Die  Wegnahme  allen  Metalls  soll  das  Gelübde  der  Armut  ersetzen, 
die  Entblöfsung  die  Fernhaltung  jeder  weiblichen  Person  an- 
deuten, während  das  Abtreten  der  Ferse  den  Kandidaten  daran 
erinnern  soll,  dafs  Ignatius  von  Loyola,  der  an  einem  Fufsübel 
litt,  seinen  Pilgerzug  in  dieser  Weise  begann.  Nun  wird  der 
Neuling  mit  verbundenen  Augen  in  die  »Kammer  des  Nach- 
denkens“ geführt,  wo  er  bleiben  mufs,  bis  er  ein  dreimaliges 
Klopfen  hört  Jetzt  nimmt  er  die  Binde  von  den  Augen  und 
erblickt  an  den  schwarz  verhängten  Wänden  Inschriften  wie  die 
folgenden: 

»Wenn  eitel  Neugier  dich  hierher  treibt,  geh'  von  hinnen!“ 
— »Falls  du  Angst  davor  hast,  über  deine  Irrtümer  belehrt  zu 
werden,  hat  es  keinen  Zweck,  dafs  du  hier  bleibest.“  - n Hältst 
du  auf  Unterschiede  zwischen  den  Menschen,  so  scheide  von 
hier,  denn  hier  sind  solche  Unterschiede  nicht  bekannt.“ 

Nach  einem  längeren  Gespräch  zwischen  dem  Meister  vom 
Stuhl  und  dem  Einführer  des  Kandidaten  wird  der  letztere  mit 
einer  Schnur  um  den  Hals  und  mit  neuerlich  verbundenen  Augen 
in  die  Versammlung  der  »Brüder“  geführt,  wobei  sein  Begleiter 
ein  Schwert  gegen  seine  Brust  zückt  Auf  die  Frage  nach  seinem 
Begehr  antwortet  er,  dafs  er  gekommen  sei,  um  in  die  Geheim- 
nisse der  Freimaurerei  eingeweiht  zu  werden.  Um  ihn  zu  ver- 
wirren, geleitet  man  ihn  hinaus  und  sofort  wieder  herein.  Jetzt 
wird  ein  grofser  eckiger,  mit  Papier  ausgefüllter  Rahmen,  wie 
ihn  die  Zirkusreiter  zu  benutzen  pflegen,  herbeigebracht  und  von 
zwei  »Brüdern“  emporgehalten.  Der  Einführer  fragt  den  Meister: 
»Was  sollen  wir  mit  dem  Profanen  machen?“  Die  Antwort 
lautet:  »ln  die  Hölle  sperren!“  Zwei  Brüder  ergreifen  den  Neu- 
ling und  werfen  ihn  durch  den  Rahmen  zwei  anderen  in  die 
Arme.  Die  bisher  offen  gelassene  Fallthüre  fällt  geräuschvoll 
zu  und  mittels  eines  Eisenringes  und  einer  Eisenstange  wird 
das  Schliefsen  eines  massiven  Schlosses  nachgeahmt,  sodafs  der 
Kandidat  sich  in  einem  unterirdischen  Kerker  wähnt.  Nachdem 
eine  Zeitlang  Grabesstille  geherrscht,  thut  der  Meister  einen  kräf- 
tigen Hammerschlag,  läfst  den  Neuling  neben  dem  zweiten  Auf- 
seher niederknien,  stellt  ihm  mehrere  Fragen  und  belehrt  ihn 
über  seine  Pflichten  gegen  den  Bund.  Ferner  bietet  er  ihm 
einen  Trank  an,  hinzufügend,  dafs  dieser  sich  in  Gift  verwandeln 
werde,  falls  er  - der  Kandidat  — irgendwelche  verräterische 
Absichten  hegen  sollte.  Der  Becher  enthält  zwei  Abteilungen ; die 
eine  ist  mit  Süfs-,  die  andere  mit  Bitterwasser  gefüllt.  Der  Novize 
mufs  nun  sagen:  »Ich  mache  mich  anheischig,  die  den  Freimau- 
rern vorgeschriebenen  Verpflichtungen  streng  und  gewissenhaft 
zu  erfüllen;  sollte  ich  meinen  Schwur  jemals  verletzen"  (bei 
diesen  Worten  wird  ihm  von  seinem  Begleiter  das  Süfswasser 


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Einweihungszeremonien. 


405 


an  die  Lippen  gesetzt  und  er  trinkt  • davon),  „so  willige  ich  ein, 
dafs  die  Süfsigkeit  dieses  Getränks  sich  in  Bitterkeit  und  die 
heilsame  Wirkung  in  eine  giftige  verwandle."  Nunmehr  läfst 
man  ihn  von  dem  Bitterwasser  trinken,  worauf  der  Meister 
ausruft : 

»Was  sehe  ich?  Was  bedeutet  die  plötzliche  Veränderung 
deiner  Gesichtszüge?  Straft  etwa  dein  Gewissen  deine  Worte 
Lügen?  Ist  der  süfse  Trank  bereits  bitter  geworden?  Fort  mit 
dem  Unberufenen!  Der  Eid  war  nur  eine  Erprobung,  der 
richtige  Schwur  kommt  erst  später.“ 

Der  Bewerber,  der  selbstverständlich  dabei  beharrt,  zu 
bleiben  und  eingeweiht  zu  werden,  wird  jetzt  dreimal  im  Tempel 
umhergeführt  und  dann  über  zerbrochene  Stühle,  Schemel  und 
Holzstücke  gehetzt  Demnächst  wird  ihm  befohlen,  die  »endlose 
Treppe«  hinanzusteigen  und  sich  von  dort  hinabzustürzen.  Er 
hat  zwar  den  Eindruck,  sehr  hoch  gestiegen  zu  sein,  fällt  aber 
in  Wirklichkeit  nur  wenige  Fufs  tief  und  kann  sich  nicht  weh 
thun.  Diese  Erprobung  ist  von  grofsem  Lärm  begleitet,  denn 
die  »Brüder“  erheben  ein  Jammergeschrei  und  klopfen  geräusch- 
voll auf  die  Ordensattribute,  die  sie  in  den  Händen  haben.  Ein 
weiterer  Prüfungspunkt  besteht  darin,  dafs  der  Neuling  durch 
Feuer  gehen  mufs,  das  jedoch  durch  Schwarzkünstlerkniffe  un- 
schädlich gemacht  ist.  Auch  erhält  er  einen  schwachen  Stich  in 
den  Arm,  wobei  er  viel  Blut  zu  verlieren  glaubt,  da  einer  der 
Anwesenden  einen  gurgelnden  Laut  nachahmt.  Schliefslich  um- 
stellen ihn  die  Eingeweihten  mit  entblöfsten  Schwertern,  auf  die 
er  den  endgültigen  Lehrlingseid  leisten  mufs.  Darauf  führt  man 
ihn  zwischen  die  zwei  Säulen  hindurch  und  die  Versammelten 
zücken  ihre  Degen  gegen  seine  Brust.  Jetzt  lockert  der  Stuhl- 
meister ihm  die  Augenbinde,  ohne  sie  jedoch  abzunehmen.  Ein 
»Bruder“  hält  ihm  eine  Lampe  vor,  die  ein  glänzendes  Licht 
verbreitet,  und  der  Meister  spricht : 

»Bruder  erster  Aufseher,  hältst  du  den  Bewerber  für  wür- 
dig, unsrer  Gesellschaft  anzugehören?“  — »Ja." 

»Was  verlangst  du  für  ihn?“  — „Licht“ 

»Es  werde  also  Licht!“ 

Nach  diesen  Worten  schlägt  der  Meister  mit  seinem  Hammer 
dreimal  auf  den  Tisch,  beim  dritten  Schlag  fällt  die  Augenbinde 
und  der  Novize  erblickt  das  Licht,  welches  die  geistige  Erleuch- 
tung andeuten  soll,  die  seiner  in  der  Freimaurerei  harrt  Die 
Schwerter  werden  gesenkt,  der  Aufgenommene  kniet  vor  dem 
Altar  nieder  und  der  Meister  sagt:  „Im  Namen  des  Grofsen 
Weltenbauherrn  und  kraft  der  mir  übertragenen  Gewalt  mache 
ich  dich  zum  Maurerlehrling  und  Mitglied  dieser  Loge.“  Nach 
drei  Hammerschlägen  auf  die  Degenklinge  hebt  der  Meister  den 


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406 


Die  Freimaurerei. 


neuen  »Bruder«  auf,  gürtet  ihm  eine  Schürze  aus  weifsem  Lamms- 
leder um  und  giebt  ihm  zwei  Paar  weifser  Handschuhe:  eines 
für  ihn  zum  Tragen  in  der  Loge,  das  andre  symbolisch  für  die 
von  ihm  am  meisten  verehrte  Dame.  Nach  abermaligem  Hin- 
durchschreiten zwischen  den  zwei  Säulen  wird  er  von  den  Ver- 
sammelten als  »Bruder«  begrüfst 

Zu  den  Gesprächen,  welche  der  Logenmeister  mit  dem  Be- 
werber während  der  Eiweihungsriten  führt,  gehört  das  folgende: 

»Hast  du  heute  deinen  Meister  gesehen?»  — »Ja.« 

»Wie  war  er  gekleidet?«  — »In  eine  gelbe  Jacke  und  in 
blaue  Hosen.« 

Hier  ist  unter  »Meister«  der  Zirkel,  unter  der  »gelben 
Jacke«  dessen  Messingteile  und  unter  »blaue  Hosen«  dessen  Stahl- 
teile verstanden.  Auf  die  fernere  Frage:  »Wie  alt  bist  du?« 
antwortet  der  Novize:  »Unter  sieben«,  womit  gemeint  ist,  dafs 
er  noch  kein  Geselle  geworden,  da  die  Lehrzeit  sieben  Jahre 
dauert.  Das  Losungswort  des  Lehrlingsgrades  ist  »Boaz«;  das 
Erkennungszeichen  besteht  im  Wagrechthalten  der  Hand  unter 
Aufwärtsrichtung  des  Daumens  zum  rechten  Ohr  und  soll  den 
Lehrling  an  seinen  Eid  erinnern,  an  dessen  Schlufs  es  heifst: 
»Ich  schwöre  feierlich,  all  diese  Punkte  ohne  Schwanken,  Zwei- 
deutigkeit oder  Doppelzüngigkeit  einzuhalten.  Sollte  ich  einen 
derselben  verletzen,  so  will  ich  gestatten,  dafs  mir  die  Kehle 
durchschnitten,  die  Zunge  samt  der  Wurzel  ausgerissen  und 
meine  Leiche  im  Meeressand  begraben  werde.«  Beim  Hände- 
druck drückt  der  rechte  Daumen  auf  das  dem  Handgelenk 
nächste  Glied  des  rechten  Zeigefingers,  der  mit  der  Hand  er- 
griffen wird. 

Sobald  es  an  der  Zeit  ist,  verlangt  der  Lehrling  Gehalts- 
erhöhung, d.  h.  er  will  zum  Oesellen  befördert  werden.  Auf 
dem  Weg  zur  Loge  hält  er  ein  Richtmafs  in  der  Hand,  dessen 
oberes  Ende  auf  der  Schulter  ruht.  Er  klopft  an  die  Thür, 
wird  eingelassen  und  bringt  sein  Anliegen  vor.  Er  mufs  den 
Saal  fünfmal  auf  und  ab  schreiten  und  wird  dann  vom  Stuhl- 
meister aufgefordert,  seine  letzte  Lehrlingsarbeit  zu  machen.  Nach- 
dem er  das  Behauen  eines  rohen  Bruchsteines  nachgeahmt,  hört 
er  eine  Anzahl  von  ebenso  unnützen  wie  überflüssigen  Beleh- 
rungen an  und  leistet  schliefslich  den  Geselleneid.  Das  Ende 
der  Feierlichkeit  bildet  ein  Vortrag  des  Meisters,  hauptsächlich 
über  Geometrie  - ein  Fach,  für  das  die  Freimaurer  eine  beson- 
dere Vorliebe  haben  und  auf  das  sich  der  Buchstabe  G beziehen 
soll,  welcher  in  der  Loge  innerhalb  eines  Sternes  oder  eines 
Strahlenglanzes  zu  sehen  ist 

Der  Geselleneid  ist  noch  furchtbarer  als  der  Lehrlingseid.  Er 
besagt,  dafs  die  Strafe  für  Verletzung  der  Pflichten  oder  derBundes- 


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Einwdhungszeremonien. 


407 


geheimnisse  im  Aufschneiden  der  linken  Brust,  im  Herausreifsen 
des  Herzens  und  im  Preisgeben  desselben  „an  die  Raubvögel 
der  Luft  und  die  wilden  Tiere  des  Feldes“  bestehen  soll.  Im 
Hinblick  auf  diesen  Eid  besteht  das  Erkennungszeichen  der  Oe- 
sellen darin,  dafs  sie  die  Hand  mit  dem  Daumen  aufwärts  auf 
die  Brust  legen.  Das  Losungswort  ist  entweder  „Jachin « oder 
„Schibboiet*.  Beim  Händedruck  drückt  der  rechte  Daumen  in 
bestimmter  Weise  auf  den  ersten  und  den  mittleren  Finger  der 
rechten  Hand. 

Handelt  es  sich  um  die  Verleihung  des  Meistergrades,  so 
ist  der  Tempel  schwarz  verhängt.  An  den  Wänden  sind  gemalte 
Skelette,  Totenschädel  und  gekreuzte  Totenknochen  sichtbar.  Im 
Osten  brennt  eine  gelbe  Wachskerze  und  auf  dem  Altar  des 
Stuhlmeisters  liegt  ein  Totenschädel,  in  welchem  ein  Licht  brennt 
Diese  trübe  Beleuchtung  genügt,  um  einen  Sarg  mit  einer  Leiche 
sehen  zu  lassen.  Die  letztere  wird  entweder  durch  eine  Glieder- 
puppe oder  einen  „dienenden  Bruder»  oder  den  allerjüngstens 
zum  Meister  aufgerückten  Bruder  dargestellt.  Auf  dem  Sarg  liegt 
ein  Akazienzweig,  zu  seinen  Füfsen  (im  Osten)  ein  offener  Zirkel, 
zu  Häupten  ein  Winkelmafs.  Die  anwesenden  Meister  tragen 
schwarze  Kleider  und  azurblaue  Schärpen  mit  Darstellungen  mau- 
rerischer Sinnbilder  sowie  der  Sonne  und  des  Mondes  nebst 
sieben  Sternen.  Als  Zweck  der  Versammlung  wird  die  Auffin- 
dung des  Wortes  des  erschlagenen  Meisters  angegeben.  Nach 
einigen  Vorbereitungsformalitäten  wird  der  Bewerber,  dessen 
Schuhfersen  beide  abgetreten  sein  müssen,  mit  entblöfsten  Armen 
und  Knien  und  offener  Brust  eingelassen.  Der  Stuhlmeister 
sagt  ihm,  dafs  die  Anwesenden  den  Tod  ihres  Grofsmeisters  be- 
trauern, deutet  auf  den  Sarg  und  fügt  die  Frage  hinzu,  ob  er 
— der  Kandidat  - etwa  einer  der  Mörder  sei.  Er  erklärt  sich 
unschuldig  und  erfährt  nun,  dafs  er  die  Rolle  Hirams  über- 
nehmen müsse.  Inzwischen  wird  der  Leichnam  aus  dem  Sarg 
entfernt,  sodafs  der  Bewerber,  als  er  wieder  hinblickt,  den  Sarg 
leer  findet.  Jetzt  wird  ihm  die  Geschichte  des  Mordes  erzählt, 
wobei  dieser  jedoch  nicht  der  Eifersucht  Salomos  zugeschrieben 
wird,  wie  in  der  Tempellegende  (vgl.  letztere  weiter  oben),  son- 
dern lediglich  der  Rachsucht  der  von  Hiram  nicht  zu  Meistern 
beförderten  drei  Gesellen.  Der  Logenmeister  teilt  dem  Kandidaten 
mit,  dafs  die  einzelnen  Vorfälle  an  ihm  werden  gezeigt  werden; 
er  möge  den  Mut  nicht  sinken  lassen,  wenn  er  auch  die  Hand 
des  Todes  fühlen  sollte.  Sodann  fährt  der  Vorsitzende  fort: 

„Als  Hiram  mittags  den  Tempel  betreten  hatte,  stellte  sich 
jeder  der  drei  Gesellen  an  einer  andern  Thür  auf:  im  Osten, 
Westen  und  Süden.  Als  Hiram  sich  abermals  weigerte,  ihnen 
das  Meisterwort  zu  enthüllen,  durchschnitt  der  an  der  östlichen 


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40S 


Die  Freimaurerei. 


Thür  stehende  Geselle  ihm  den  Hals  mit  einer  24  zölligen  Mefs- 
latte.  Er  wandte  sich  zur  südlichen  Thür,  wo  es  ihm  nicht 
besser  erging  und  dann  zur  westlichen,  wo  er  mit  einem  Maurer- 
hammer einen  seinen  Tod  verursachenden  Schlag  auf  den  Kopf 
erhielt.*  (Der  Kandidat  wird  hier  auf  die  Stirn  geschlagen  und 
fällt  wie  tot  um.)  »Die  Elenden  trugen  die  Leiche  zur  west- 
lichen Thür  hinaus  und  beerdigten  sie  auf  einem  Hügel.*  (Hier 
wird  der  Bewerber  in  den  Sarg  gelegt.)  »Um  den  Ort  zu  be- 
zeichnen, steckten  sie  über  dem  Grab  einen  Akazienzweig  ins 
Erdreich.  Da  Hiram  sich  nicht  blicken  liefs,  schickte  Salomo 

zwölf  vertrauenswürdige  Gesellen  auf  die  Suche  nach  ihm  aus  — 
je  drei  in  östlicher,  westlicher,  südlicher  und  nördlicher  Richtung. 
Als  einer  von  den  drei  gen  Osten  ausgezogenen  ermüdet  war, 
setzte  er  sich  auf  einem  Hügelabhang  nieder.  Beim  Aufstehen 
ergriff  er  zufällig  einen  Akazienzweig."  (Hier  wird  dem  Mann 
im  Sarg  ein  solcher  Zweig  in  die  Hand  gegeben.)  »Da  derselbe 
leicht  herauskam,  Schlots  man,  dafs  der  Boden  erst  kürzlich 
aufgewühlt  worden  sein  müsse;  man  grub  daher  nach  und  fand 
auch  wirklich  den  Leichnam  Hirams.*)  Da  derselbe  bereits  vier- 
zehn Tage  lang  beerdigt  war,  befand  er  sich  im  Zustande  der 
Verwesung,  was  einen  der  Anwesenden  zu  dem  Ruf  »Makbenach!* 
bewog,  welcher  besagt,  dafs  das  Fleisch  sich  von  den  Knochen 
losgelöst  hat  Dieses  Wort  wurde  zum  Meisterwort  gemacht,  da 
das  frühere  durch  Hiram  Abiffs  Tod  verloren  gegangen  war. 
Zwar  kannten  es  die  zwei  anderen  Grofsmeister,  die  Könige  Salomo 
und  Hiram  (von  Tyrus),  doch  konnte  es  nur  von  allen  drei 
Grofsmeistern  gemeinschaftlich  mitgeteilt  werden.* 

Da  Hiram  Abiffs  Leiche  weder  durch  den  Griff  des  Lehr- 
lings noch  durch  den  des  Gesellen,  sondern  nur  durch  den  des 
Meisters  — „Löwengriff"  genannt  — gehoben  werden  kann, 
hebt  der  Stuhlmeister  den  Bewerber  aus  dem  Sarg  und  weiht 
ihn  in  das  Losungswort,  die  Erkennungszeichen  und  den  Hände- 
druck des  Meistergrades  ein.  Nun  wird  der  Verschwiegenheitseid 
geleistet,  der  als  Strafe  für  seinen  Bruch  das  Entzweischneiden 
des  Körpers,  das  Ausreifsen  und  Verbrennen  der  Eingeweide  und 
das  Streuen  der  Asche  in  die  vier  Windrichtungen  androht  Der 
Händedruck  ist  ein  bestimmter  Druck  des  Daumens  zwischen 
den  Gliedern  des  Mittel-  und  des  Ringfingers.  Das  Losungs- 
wort ist  „Tubalkain".  Es  giebt  dreierlei  »Zeichen“;  das  wich- 
tigste besteht  darin,  dafs  man  mit  der  Hand  über  die  Mitte  des 
Körpers  fährt  und  sie  dann  fallen  läfst,  um  sie  sofort  wieder 

*)  In  Vergils  Aeneide  (III,  22-29)  wird  etwas  Ähnliches  erzählt, 
dafs  nämlich  Aeneas  am  Abhang  eines  Hügels  eine  Staude  aus  dem  Erd- 
boden rifs  und  dadurch  die  Ermordung  des  Polydorus  entdeckte. 


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Einweihungszeremonien. 


409 


zu  erheben  und  die  Daumenspitze  gegen  den  Nabel  zu  stemmen. 
Der  Gemeinschaftsgriff  (das  gegenseitige  Ergreifen  der  Handge- 
lenke mit  den  Fingerspitzen)  bildet  den  ersten  der  fünf  »Zu- 
sammengehörigkeitspunkte“; der  zweite  »Punkt"  ist  das  Parallel- 
stellen des  rechten  Fufses  mit  dem  rechten  Fufs  nach  innen;  im 
dritten  Punkt:  rechtes  Knie  parallel  mit  dem  rechten  Knie;  im 
vierten:  die  rechte  Brust  mit  der  rechten  Brust;  im  fünften:  die 
Hand  über  die  Schulter  und  Unterstützung  des  Rückens,  ln 
dieser  Stellung  und  nur  flüsternd  wird  das  Meisterwort  »Mak- 
benach“  (oder  auch  »Mahabone»  = »Tod  eines  Bruders")  ge- 
sprochen. 

Nimmt  man  die  Hiramsage  wörtlich,  so  bietet  sie  nicht 
genug  Aufsergewöhnliches,  um  zu  verdienen,  noch  nach  dreitausend 
Jahren  in  einem  grofsen  Teil  der  Welt  feierlich  verewigt  zu 
werden.  Der  gewaltsame  Tod  eines  noch  so  hervorragenden 
Bauherrn  wäre  nicht  wichtiger  als  der  Tod  all  der  Denker  und 
Gelehrten,  die  ihr  Leben  im  Dienste  des  Fortschritts  der  Mensch- 
heit verloren  haben.  Die  Sache  ist  aber  die,  dafs  es  sich  eben 
nur  um  eine  Sage  handelt,  die  nicht  buchstäblich  genommen 
werden  darf.  Die  Weltgeschichte  kennt  Hiram  Abiff  nicht  und 
in  der  Bibel,  wo  er  allerdings  erwähnt  wird,  erscheint  er  ledig- 
lich als  ein  geschickter  Kupferarbeiter.  Auch  die  Überlieferung 
weifs  nichts  von  ihm.  Blofs  der  Freimaurerei  ist  er  bekannt, 
aber  auch  bei  ihr  ist  die  Adoniramlegende  rein  allegorischer 
Natur.  Die  Allegorie  läfst  eine  doppelte  Auslegung  zu:  eine 
kosmologische  und  eine  astronomische. 

ln  kosmologischer  Hinsicht  finden  wir  hier  eine  Darstellung 
des  bei  allen  morgenländischen  Einweihungsmysterien  die  Haupt- 
rolle spielenden  Dualismus  der  beiden  gegensätzlichen  Natur- 
kräfte. Im  dramatischen  Teil  aller  Mysterien  des  Altertums  kommt 
eine  Gottheit  oder  ein  Mensch  vor,  der  als  Opfer  einer  bösen 
Macht  untergeht,  um  zu  einem  desto  ruhmvolleren  Dasein  wieder- 
zuerstehen. Überall  begegnen  wir  einem  traurigen  Ereignis,  wel- 
ches Völker  in  Kummer  stürzt,  dem  bald  Freude  und  Begeiste- 
rung folgen. 

Auch  in  astronomischer  Beziehung  stimmt  die  Parallele 
genau.  Es  handelt  sich  auch  hier  nur  um  eine  Lesart  der  Osiris- 
legende. Hiram  ist  Osiris,  d.  h.  die  Sonne.  Die  Mörder  stellen 
sich  im  Westen,  Osten  und  Süden  auf,  d.  h.  an  den  von  der 
Sonne  beschienenen  Seiten.  Hiram  wird  am  westlichen  Thor 
erschlagen,  d.  h.  die  Sonne  geht  im  Westen  unter.  Die  zwölf 
Personen,  die  in  dem  Trauerspiel  Hauptrollen  spielen  - drei 
Gesellen  und  neun  Meister  — bedeuten  klärlich  die  zwölf  Zeichen 
des  Tierkreises,  wobei  die  drei  mörderischen  Gesellen  die  drei 
untergeordneten  Winterzeichen  (Wage,  Skorpion  und  Schütze) 


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410 


Die  Freimaurerei. 


vorstellen.  Der  aufs  Grab  gepflanzte  Akazienzweig  entspricht 
der  in  sämtlichen  alten  Sonnen-Allegorien  vorkommenden  Pflanze, 
des  Sinnbildes  des  neuen  Wachstums,  welches  dem  Wiedererschei- 
nen der  Sonne  folgt.  Da  die  Alten  die  Akazie  für  unverderbbar 
hielten,  wurden  ihre  Zweige  für  die  Bedeckung  der  Leiche  des 
allegorischen  Helden  denen  der  Myrte,  des  Lorbeers  und  der 
sonstigen  in  den  Mysterien  des  Altertums  vorkommenden  Pflanzen 
vorgezogen.  Die  vierzehn  Tage,  welche  Hirams  Leiche  im  Grab 
lag,  entsprechen  den  vierzehn  Stücken,  in  die  Osiris'  Leichnam 
zerschnitten  wurde.  Nach  anderen  Behauptungen  soll  Hirams 
Leib  schon  am  siebenten  Tage  nach  der  Ermordung  entdeckt 
worden  sein;  damit  ist  darauf  angespielt,  dafs  die  Sonne  im 
siebenten  Monat  nach  ihrem  Durchgang  durch  die  untergeordneten 
Tierkreiszeichen  (d.  h.  nach  ihrem  .Abstieg  in  die  Hölle")  wieder- 
kehrt. Hiram  kann  nur  durch  den  Löwengriff  aus  dem  Sarge 
gehoben  werden;  auch  Osiris  wird  durch  den  Löwen  gehoben, 
d.  h.  die  Sonne  gewinnt  ihre  alte  Kraft  wieder,  wenn  sie  ins 
Zeichen  des  Löwen  eintritt.  Die  Träger  des  maurerischen  Meister- 
grades nennen  sich  »die  Kinder  der  Witwe",  weil  die  Sonne  bei 
ihrem  Tode  die  Natur,  für  deren  Jünger  die  Freimaurer  sich 
halten,  als  Witwe  zurückläfst*) 

Ein  jetzt  in  Paris  befindliches  ägyptisches  Mumiengemälde 
stetlt  sowohl  den  Tod  und  die  Auferstehung  Osiris’,  als  auch 
den  Beginn,  Verlauf  und  Schlufs  der  Nil-Überschwemmung  vor. 
Das  Zeichen  des  Löwen  dient  als  Lagerstätte,  auf  welcher  der 
tote  Gott  ruht,  und  unterhalb  dieses  Lagers  stehen  vier  ungleich 
grofse  Krüge,  die  den  Stand  des  Nils  zu  verschiedenen  Zeiten 
veranschaulichen.  Den  Abschlufs  des  ersten  Kruges  bildet  das 
Haupt  des  Hundssternes  Sirius,  dessen  Erscheinen  das  baldige 
Austreten  des  Flusses  ankündigt  Das  Zeichen  des  zweiten  ist 
ein  Habichtkopf,  das  Sinnbild  der  Etesien  (Nordwestwinde), 
welche  die  Gewässer  anschwellen  lassen;  der  dritte  weist  einen 
Reiherkopf  auf,  das  Symbol  des  Südwindes,  der  das  Wasser  ms 
Mittelländische  Meer  treibt;  der  vierte  Krug  endlich  wird  vom 
Haupt  der  Jungfrau  abgeschlossen,  was  die  Bedeutung  hat,  dafs 
nach  dem  Durchgang  der  Sonne  durch  dieses  Zeichen  die  Über- 
schwemmung fast  aufgehört  hat  Das  betreffende  Gemälde  weist 
ferner  einen  grofsen  Anubis  auf,  der  - gegen  Isis  gewendet, 
die  einen  leeren  Thron  auf  dem  Kopfe  trägt  — mit  emphatischer 
Gebärde  andeutet,  dafs  die  Sonne  mit  Hilfe  des  Löwen  den 
schwierigen  Durchgang  durch  den  Wendekreis  des  Krebses  voll- 


*)  Übrigens  knüpft  die  Bezeichnung  »Kinder  der  Witwe“  viel- 
leicht an  die  Manichäersekte  an,  deren  Bekenner  sich  »Söhne  der  Witwe* 
nannten. 


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Royal  Arch. 


■111 


zogen  habe,  sich  bereits  im  Zeichen  des  letzteren  befinde  und, 
obgleich  noch  erschöpft,  bald  in  der  Lage  sein  werde,  ihren  Weg 
gen  Süden  anzutreten.  Der  leere  Thron  auf  dem  Haupte  Isis’ 
soll  an  den  Tod  Osiris'  erinnern.  Warum  der  Habicht  die 
Etesien  vertritt?  Weil  er  um  die  Sommersonnenwende,  wenn 
der  Wind  von  Nord  nach  Süd  bläst,  mit  dem  Wind  südwärts 
fliegt.  (Vgl.  das  Buch  Hiob,  XXXIX,  26.)  Der  Reiher  hin- 
wiederum versinnbildlicht  den  Südwind,  weil  er  von  den  Würmern 
des  Nilschlammes  lebt  und  daher,  gleich  dem  Südwind,  dem 
Flufslauf  seewärts  folgt.  Um  sich  in  ihrem  eignen  Interesse 
über  den  Stand  des  Nils  zu  unterrichten,  pflegten  die  alten 
Ägypter  die  genannten  Vögel  zu  beobachten  - eine  Gewohnheit, 
aus  der  bei  anderen  Völkern,  die  den  betreffenden  Grundsatz 
der  Ägypter  nicht  kannten,  das  Wahrsagen  nach  dem  Vogelflug 
hervorging. 

Der  Flammende  Stern,  welcher  sich  in  jeder  Freimaurer- 
loge dargestellt  findet  und  den  die  „Brüder"  merkwürdigerweise 
als  ein  Sinnbild  der  Klughei  t (? !)  erklären,  ist  der  Sirius,  denn 
der  Austritt  des  Nils  erfolgte,  wenn  die  Sonne  unter  dem  Stern- 
bild des  Löwen  stand,  ln  der  Nähe  des  Sternbildes  des  Krebses 
sahen  die  Ägypter  am  Morgen  - wenige  Wochen  nach  dessen 
Aufgehen  - einen  der  glänzendsten  Steme  am  Horizont  erschei- 
nen. Da  dies  knapp  vor  dem  Sonnenaufgang  geschah,  wählten 
sie  diesen  Stern  als  ein  unfehlbares  Zeichen  des  Durchgangs  der 
Sonne  unter  dem  Sternbild  des  Löwen,  folglich  des  Anfangs  der 
Überschwemmung.  Wegen  dieser  ihm  zugeschriebenen  Wach- 
samkeits-  und  Ankündigungs-Thätigkeit  nannten  sie  ihn  „Beller*, 
„Anubis",  „Thot*,  d.  h.  „Hund".  Bei  den  Hebräern  hiefs  er 
Sihor,  woraus  die  Griechen  Seirios,  die  Römer  Sirius  machten. 
Bei  seinem  Erscheinen  hielten  es  die  Ägypter  für  geraten,  sich 
auf  Anhöhen  zurückzuziehen,  und  die  Freimaurer  geben  dem 
Symbol,  obgleich  sie  dessen  Ursprung  nicht  kennen,  seine  ur- 
sprüngliche sinnbildliche  Bedeutung. 


Royal  Arcb. 

Die  Inhaber  dieses  Grades,  der  1766  gegründet  wurde, 
heifsen  „Genossen*  oder  „Gefährten“  (companions).  Es  giebt 
neun  Würdenträger,  deren  höchster  Zerubabel  genannt  wird  - 
ein  zusammengesetztes  Wort,  welches  etwa  „Herr  des  Lichts, 
Sonne*  bedeutet.  Er  baut  den  Tempel  Salomos  wieder  auf  und 
stellt  daher  die  wiedererstandene  Sonne  vor.  Die  nächsthohen 


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412 


Die  Freimaurerei. 


Funktionäre  sind  der  Hohepriester  Jeschua  und  der  Prophet  Hag- 
gai,  die  zusammen  mit  Zerubabel  den  Grofsrat  bilden.  Dann 
kommen  der  Haupt-,  der  erste  und  der  zweite  »Gast*  an  die 
Reihe;  ferner  der  erste  Schreiber  Esra  und  der  zweite  Schreiber 
Nehemia;  endlich  der  Ziegeldecker  (Logenschliefser).  Versammelt 
bilden  die  Genossen  die  Seiten  des  Gewölbes,  die  Säulen  Jachin 
und  Boaz  darstellend.  Vor  dem  » Hauptgast"  steht  ein  Altar  mit 
den  Namen  Salomos,  König  Hirams  und  Hiram  Abiffs. 

Beim  Betreten  des  Kapitels  (=  Loge)  machen  die  Gefährten 
das  Trauerzeichen,  womit  sie  die  Trauer  der  Alten  um  den  Ver- 
lust Osiris’  andeuten  wollen.  Bei  der  Eröffnung  eines  Kapitels 
müssen  neun  Genossen  anwesend  sein  und  gleichzeitig  können 
nicht  mehr  oder  weniger  als  drei  Personen  mit  dem  Royal-Arch- 
Grad  belehnt  werden ; neun  und  drei  machen  zwölf  - die  Zahl 
der  Zeichen  des  Tierkreises.  Den  Aufnahmebewerbern  wird, 
nachdem  man  ihnen  die  Augen  verbunden,  ein  langes  Seil  sieben- 
mal um  den  Leib  gewunden ; das  Seil  verbindet  sie  mit  einander 
und  sie  haben  es  je  drei  Fufs  lang  lose  zwischen  sich  hängen. 
Sodann  gehen  sie  unter  dem  lebenden  Bogengewölbe  hindurch, 
welches  die  Anwesenden  entweder  durch  das  Eniporhalten  ihrer 
vereinigten  Hände  oder  durch  eine  entsprechende  Anordnung 
ihrer  Degen  oder  auch  ihrer  Stäbe  bilden.  Früher  war  diese  Zere- 
monie in  manchen  Logen  mit  allerlei  rohen  Späfsen  verknüpft. 
Die  Genossen  liefsen  sich  auf  die  Kandidaten  fallen,  sodafs  diese 
auf  den  Händen  und  Knien  gehen  mufsten.  Gingen  sie  lang- 
sam, so  pflegten  die  Genossen  sie  durch  Stiche  mit  spitzen 
Gegenständen  anzuspomen.  Auch  die  Erprobungen  der  alten 
Mysterien  wurden  zuweilen  nachgeahmt  Heutzutage  jedoch 
giebt  es  kaum  mehr  irgendwelche  Royal-Arch-Logen,  in  denen 
solche  unwürdige  Kindereien  vorkämen. 

Nach  der  Eidesleistung  erklären  die  Kandidaten,  gekommen 
zu  sein,  um  an  dem  Wiederaufbau  des  salomonischen  Tempels 
mitzuwirken.  Sie  empfangen  Äxte,  Schaufeln,  Brechstangen  etc. 
und  entfernen  sich,  um  angeblich  zu  arbeiten.  Nach  kurzer  Zeit 
kehren  sie  mit  der  Meldung  zurück,  dafs  sie  beim  Graben  für 
das  neue  Fundament  ein  unterirdisches  Gewölbe  entdeckt  haben 
und  in  diesem  eine  Rolle  - das  seit  langem  verlorene  mosai- 
sche Gesetzbuch.  Sie  beginnen  ihre  Scheinarbeit  wieder  und 
entdecken  ein  zweites  und  unter  diesem  ein  drittes  Gewölbe. 
Die  jetzt  im  Zenith  stehende  Sonne  bestrahlt  den  Mittelpunkt 
und  bescheint  einen  weifsen  Marmoruntersatz,  auf  dem  sich  eine 
Goldplatte  befindet,  welche  ein  Doppeldreieck  aufweist,  dessen 
Inschrift  sie  nicht  verstehen  können,  weshalb  sie  das  Schildchen 
Zerubabel  vorlegen.  Die  rätselhafte  Inschrift  entpuppt  sich  als 
das  von  der  Freimaurerei  so  eifrig  gesuchte,  von  den  Königen 


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Royal  Arch. 


413 


Hiram  und  Salomo  vergrabene  (vgl.  »Die  Tempellegende")  Meister- 
wort Adonirams.  Dieses  Wort  lautet  »Jabulon"  und  ist  aus  den 
Sonnennamen  der  Juden,  Assyrer  und  Ägypter  (Jah-Be![Baal]-On) 
zusammengesetzt.  Es  ist  das  Logos  Platos  und  Johannis,  das 
allschöpferische  Wort.  Den  Aufnahmehewerbem  wird  es  folgen- 
dermafsen  mitgeteilt.  Die  drei  »Hauptgäste"  und  je  drei  Ge- 
nossen bilden  Dreiecke;  jeder  der  Drei  fafst  seinen  linken  Neben- 
mann beim  rechten  Handgelenk,  seinen  rechten  Nebenmann  beim 
linken  Handgelenk  und  mit  den  Füfsen  wird  ein,  mit  den  Hän- 
den werden  zwei  Dreiecke  gebildet.  In  dieser  Stellung  sagen 
sie  — jeder  eine  Zeile  — die  folgende  Strophe  her; 

»Wie  wir  drei  übereingekommen  sind, 
ln  Frieden,  Liebe  und  Eintracht, 

Das  heilige  Wort  zu  bewahren, 

So  kommen  wir  drei  überein, 

In  Frieden,  Liebe  und  Eintracht, 

Das  heilige  Wort  zu  suchen, 

Bis  wir  drei, 

Oder  drei  wie  wir,  Übereinkommen  werden, 

Dies  Royal-Arch-Kapitel  zu  schliefsen." 

Die  zu  einem  Dreieck  verbundenen  Hände  werden  möglichst 
hoch  erhoben  und  das  Meisterwort  wird  von  jedem  einzelnen 
silbenweise  geflüstert  Das  »heilige"  Wort  darf  nicht  laut  aus- 
gesprochen werden,  da  sonst  — wie  beim  Aussprechen  der 
Worte  »Jehovah“  und  »Oum"  — eine  Erschütterung  von  Himmel 
und  Erde  zu  befürchten  wäre. 

Der  nächste  Schritt  ist,  dafs  Zerubabel  die  neuen  »Ge- 
fährten“ in  die  fünf  Zeichen  der  Royal-Arch-Maurerei  einweiht 
und  ihnen  die  Abzeichen  dieses  Grades  verleiht:  die  Schürze, 
die  Schärpe  und  das  Geschmeide.  Das  Schurzfell  weist  ein 
dreifaches  T auf  — eines  der  ältesten  Symbole,  von  den  Frei- 
maurern »das  Zeichen  der  Zeichen*  genannt  und  seinem  Ur- 
sprung nach  bis  zur  Schöpfung  zurückversetzt.  Die  Form  des 
Tau  (T)  entsprach  der  des  altägyptischen  Nilmessers,  der  zur 
Feststellung  des  Überschwemmungs-Wasserstandes  benutzt  wurde. 
Da  nun  das  Leben  und  Gedeihen  der  Bevölkerung  mit  dem 
Austritt  des  Nils  eng  verknüpft  war,  betrachtete  man  den  Nil- 
messer als  Sinnbild  der  Gesundheit  und  des  Wohlstandes;  all- 
mählich schrieb  man  ihm  die  Macht  zu,  Böses  abzuwenden  und 
trug  daher  ein  kleines  T (auch  Antoniuskreuz  genannt)  als  Amu- 
lett So  fand  das  Tau  bezw.  das  dreifache  T Eingang  in  die 
Freimaurersymbolik. 

Wir  gelangen  jetzt  zur  Zeremonie  des  »Passierens  des 
Schleiers“  (Vorhangs),  die  allerdings  nicht  in  sämtlichen  Royal- 
Arch-Kapiteln  üblich  ist.  Der  Kandidat  wird  mit  verbundenen 
Augen,  entblöfsten  Knien  und  abgetretenen  Schuhsohlen  herein- 


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414 


Die  Freimaurerei. 


geführt,  ein  Ankertau  um  die  Hüften  gewickelt  tragend.  Der 
Hohepriester  verliest  die  ersten  sechs  Verse  des  3.  Kapitels  des 
zweiten  Buches  Mosis,  dann  den  13.  und  14.  Vers,  und  sagt 
dem  Bewerber,  »Ich  bin  der  ich  bin"  sei  das  Passierwort  vom 
ersten  zum  zweiten  Schleier.  Man  zeigt  ihm  einen  brennenden 
Busch  und  führt  ihn  zum  zweiten  Schleier.  Das  Losungswort 
aussprechend,  geht  er  vorbei  und  erblickt  Arons  Stab  und  die 
Darstellung  einer  Schlange.  Nunmehr  verliest  der  Hohepriester 
die  ersten  fünf  Verse  aus  dem  4.  Kapitel  des  zweiten  Buches 
Mosis  und  teilt  ihm  mit,  dafs  er  zum  Zeichen  des  Passierens  der 
Wache  des  zweiten  Schleiers  den  vor  ihn  hingeworfenen  Stab 
aufheben  müsse  und  dafs  das  Losungswort  »Moses,  Aaron  und 
Eleasar«  laute.  Nachdem  der  Neuling  die  Wache  des  dritten 
Schleiers  passiert  hat,  fährt  der  Hohepriester  in  seiner  Vorlesung 
bis  zum  Schlufs  des  9.  Verses  fort  und  sagt  jenem,  dafs  die 
aussätzige  Hand  und  das  Vergiefsen  des  Wassers  die  Zeichen 
des  dritten  Schleiers  seien,  der  Satz  »Heil  dem  Herrn!*  aber 
das  Losungswort  für  das  Allerheiligste  bilde.  Man  zeigt  ihm 
ferner  die  Bundeslade,  den  Tisch  mit  dem  Schaubrot,  den 
brennenden  Weihrauch  und  den  siebenarmigen  Leuchter.  Schliefs- 
lich  folgen  langatmige,  jedoch  ziemlich  wertlose  und  nichtssagende 
Erläuterungen  der  Losungsworte  und  der  Sinnbilder  - unnützes 
Phrasengeklingel,  welches  oft  überdies  völlig  unwissenschaftlich  ist 


Grofsbaumeister. 

So  heifst  der  zwölfte  Orad  des  Alten  Schottenritus.  Hier 
stellt  die  Loge  (das  Kapitel)  den  Tempel  Salomos  in  drei  Ab- 
teilungen dar.  Zuerst  das  im  Westen  liegende  weifsverhängte 
Vestibül,  an  dessen  Nordseite  das  weifse  Grab  Hirams  steht, 
während  sich  im  Süden  das  Eherne  Meer  befindet  Ein  weifser 
Vorhang  trennt  das  Vestibül  vom  Innern  des  Tempels,  d.  h.  der 
Mitte  der  Loge.  Hier  bedeckt  den  Boden  der  schottische  Teppich, 
der  die  dreifache  Ummauerung  des  Tempels  zeigt  und  an  dessen 
Nordseite  der  goldne  Tisch  mit  dem  Schaubrot  steht;  im  Süden 
ist  der  siebenarmige  Leuchter  aufgestellt  Auf  dem  Teppich 
selbst  ist  der  Weihrauchaltar  errichtet,  über  welchem  der  hell- 
erleuchtete Flammende  Stern  hängt.  Die  dritte  Abteilung,  das 
Allerheiligste,  befindet  sich  im  Osten  und  ist  vom  Innern  durch 
einen  roten  Vorhang  geschieden.  In  seiner  Mitte  steht  ein  sie- 
benstufiger Altar,  der  die  Stelle  der  Bundeslade  vertritt  und  zwei 
Cherubim  aufweist,  die  vom  Zeichen  des  Ruhmes  Gottes  über- 


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Qrofsbaumeister. 


415 


ragt  sind,  nämlich  von  einer  durchsichtigen  Scheibe,  in  deren 
Mitte  ein  Dreieck  mit  der  Inschrift  »7,  7,  74“  zu  sehen  ist 
Über  dem  Altar  brennt  das  ewige  heilige  Feuer  in  einem  Ge- 
fäfs.  Der  Meister  sitzt  an  einem  mit  rotem  Tuch  bedeckten 
Tischchen;  das  Tuch  zeigt  das  Bundeswort  und  auf  dem  Tisch 
liegt  die  Gewandung  des  Aufnahmebewerbers.  Auf  den  Altar- 
stufen brennen  81  Lichter,  welche  jedoch  erst  angezündet  wer- 
den, wenn  dem  Kandidaten  das  Licht  des  Allerheiligsten  gezeigt 
werden  soll.  Die  Brüder  tragen  rotgestickte  und  rotgefütterte 
Schürzen  und  von  der  rechten  Schulter  zur  linken  Hüfte  gehende 
Schärpen,  von  denen  das  Fünfeck  oder  eine  goldne  Medaille 
herabhängt,  auf  deren  beiden  Seiten  die  Bauordnungen  eingraviert 
sind.  Der  Meister  heilst  »Mächtigster  Oberbaumeister“,  während 
die  beiden  Aufseher  »Alte  schottische  Großmeister*  und  die 
Brüder  »Vollkommene  Bauherren“  genannt  werden. 

Bei  der  Eröffnung  der  Loge  findet  das  in  der  Freimaurerei 
übliche  Frage-  und  Antwortspiel  statt  Hier  eine  Probe: 

»Wo  weilt  der  Mächtigste  Oberbaumeister?*  — »Im  Osten, 
im  Allerheiligsten." 

»Warum?*  — »Damit  er  der  Quelle  alles  Lichts  nahe  sei,  um  den 
Brüdern  den  Weg  von  der  Finsternis  zum  Licht  weisen  zu  können.“ 
»Wie  geschieht  dies?«  — »Durch  das  öffnen  des  Tempels; 
durch  Rat  und  Führung;  durch  Prüfung  der  Arbeit  der  schotti- 
schen Bauherren." 

»Nennet  mir  das  Losungswort ! * — »Zididiac  oderZedekiah.**) 
»Nennet  mir  das  heilige  Wort!« 

Die  Brüder  bilden  eine  Kette  und  flüstern  einander  ins  Ohr 
(der  letzte  dem  Meister):  »Jehova.* 

»Welche  Stunde  ist  jetzt?*  — » Die  erste  Stunde  des  letzten 
Tages  des  Jahres,  in  welchem  Salomos  Tempel  vollendet  wurde." 

Die  Brüder  erheben  ihre  Schwerter  und  begrüfsen  einander 
durch  das  Kreuzen  derselben;  dann  schultern  sie  sie  links,  nehmen 
die  Hüte  ab  und  knien  zum  Gebet  nieder.  Während  des  letz- 
tem machen  sie  das  Grofse  schottische  Zeichen,  d.  h.  sie  halten 
die  Hand  an  die  Stirne.  Nach  dem  Gebet  erheben  sie  sich 
und  setzen  die  Hüte  wieder  auf.  Jetzt  erklärt  der  Meister  die 
Loge  zum  Empfang  des  Kandidaten  bereit,  der  nun  mit  verbun- 
denen Augen  feierlich  hereingeführt  wird,  die  Meisterschürze 
umgegürtet  und  Pantoffel  an  den  Füfsen.  Der  Zeremonien- 
Grofsmeister  erklärt  ihn  für  einen  Hiramiten,  der  von  den  Alten 
Schotten  einstimmig  erkoren  worden  sei,  ein  Vollkommener  Bau- 
herr zu  werden  und  am  Bau  des  Allerheiligsten  mitzuwirken. 
Er  mufs  mit  dem  rechten  Knie  vor  dem  Grab  oder  Sarg  Ado- 


*)  Zuweilen  ist  es  »Rabacim*. 


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416 


Die  Freimaurerei. 


nirams  auf  einen  Schemel  niederknien  und  sich  über  seine  Ab- 
sichten ausfragen  lassen.  Dann  wird  er  fünfmal  und  alsbald 
wieder  siebenmal  im  Saal  umhergeführt  und  von  der  Augen- 
binde befreit  Man  zeigt  ihm  das  Grab  Hirams  und  den  Buch- 
staben G im  Flammenden  Stern;  derselbe  soll  hier  nicht  Geo- 
metrie, sondern  »Gnosis“  (=  Erkenntnis)  bedeuten,  »das  Erbe 
der  Vollkommenen  Architekten“.  Nach  weiterem  Ausfragen  und 
Predigen  leistet  der  Neuling  einen  Eid,  der  ihm  Verschwiegen- 
heit und  die  Erfüllung  gewisser  Sittenpflichten  auferlegt. 

Nachdem  die  Mitglieder  auf  dem  Teppich  oder  um  ihn 
herum  abermals  eine  Anzahl  von  Evolutionen  vollzogen  haben, 
ziehen  sie  ihre  Degen,  um  sie  hochzuhalten,  zu  kreuzen  und 
wieder  in  die  Scheide  zu  stecken.  Dem  Novizen  werden  die 
Augen  neuerdings  verbunden  und  die  Brüder  knien  nieder  mit 
dem  Gesicht  gegen  das  Allerheiligste,  in  welchem  jetzt  die  81 
Lichter  angezündet  werden.  Man  zieht  den  Vorhang  weg,  wirft 
etwas  Pulver  auf  den  Weihrauchaltar  und  befreit  den  Vielgeplagten 
von  der  Augenbinde.  Der  Grofsmeister  hält  eine  erbauliche 
Sittenpredigt,  die  Brüder  schwingen  ihre  Schwerter  und  halten 
sie,  einen  Kreis  bildend,  über  dem  Kopfe  des  Neulings  zusammen, 
der  nun  vom  Vorsitzenden  als  ein  vollkommener  alter  Schotti- 
scher Bauherr  erklärt  und  mit  einem  Degen  auf  dem  Rücken, 
auf  der  Brust  und  an  den  beiden  Schultern  berührt  wird.  Der 
Grofsmeister  händigt  ihm  dann  dieses  Schwert  ein  und  hält  aber- 
mals eine  lange  Rede.  Da  der  neue  »Vollkommene“  schliefslich 
doch  auch  in  irgend  ein  Geheimnis  eingeweiht  werden  mufs, 
teilt  man  ihm  mit,  das  heilige  Wort  sei  »Jehovah“,  werde  aber 
niemals  aufserhalb  des  Allerheiligsten  ausgesprochen.  Auch  das 
Wort  »Gomer“  wird  benutzt,  seine  Bedeutung  jedoch  nicht 
erklärt.  Sonstige  Geheimnisse  giebt  es  in  diesem  Hochgrad 
nicht  und  derselbe  erinnert  daher  lebhaft  an  einen  Ausspruch 
Lessings.  Dem  berühmten  Klassiker  gegenüber  drückte  bald 
nach  seiner  Aufnahme  in  den  Freimaurerbund  der  Stuhlmeister 
die  Hoffnung  aus,  er  habe  in  der  Maurerei  nichts  Staats-,  Re- 
ligions-  oder  Sittenfeindliches  gefunden.  »Nein«,  antwortete  er, 
»aber  ich  wollte,  ich  hätte  derlei  entdeckt,  denn  dann  würde  ich 
wenigstens  überhaupt  etwas  gefunden  haben." 


Ritter  von  Kadosch. 

Dieser  wahrscheinlich  aus  Ägypten  stammende  Hochgrad, 
der  dreifsigste  des  Alten  und  Angenommenen  Schottenritus,  ent- 
hält eine  schöne  astronomische  Allegorie.  Das  Wort  »kadosch“ 
bedeutet  »heilig“  oder  »erkoren“.  (Einst  trug  jeder  Inhaber  einer 


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Ritter  von  Kadosch. 


417 


Ehrenstelle  einen  Stab,  welcher  ihn  als  kadosch,  erwählt,  geheiligt 
kennzeichnete.)  Die  Loge  besteht  aus  vier  Gemächern,  welche  die 
vier  Jahreszeiten  versinnbildlichen.  Die  Einweihung  erfolgt  im  vierten. 

Das  erste  Gemach  ist  schwarz  verhängt  und  durch  eine 
dreieckige,  von  der  gewölbten  Decke  herabhängende  Lampe  er- 
leuchtet. Es  steht  in  Verbindung  mit  einer  Art  Höhle  oder 
Kammer  des  Nachdenkens,  welche  verschiedene  Symbole  des 
Todes  und  der  Vernichtung  enthält  und  in  welcher  der  Kandidat 
einige  Zeit  verweilt,  ehe  er  das  zweite,  weifs  drapierte  Gemach 
betritt,  dessen  Mitte  von  zwei  Altären  eingenommen  ist.  Auf 
dem  ersten  steht  eine  mit  brennendem  Spiritus  gefüllte  Urne, 
auf  dem  andern  liegt  Weihrauch  und  daneben  eine  Pfanne  mit 
Kohlenglut.  Der  Aufnahmebewerber  sieht  vor  sich  den  Opfer- 
priester, der  einige  Worte  der  Ermahnung  an  ihn  richtet  und 
ihn,  nachdem  er  etwas  von  dem  Weihrauch  verbrannt  hat,  ins 
dritte  Gemach  gehen  heilst.  Dieser  blau  verhängte  Raum,  dessen 
gewölbte  Decke  stemenbesät  ist,  heilst  »Areopag“  und  wird  von 
drei  gelben  Wachskerzen  erleuchtet.  Hier  giebt  der  Novize  die 
Erklärung  ab,  dals  seine  Absichten  ehrlich  seien  und  dals  er 
alles  geheimhalten  wolle,  worauf  er  in  das  rot  verhängte  vierte 
Gemach  geführt  wird,  in  welchem  zwölf  gelbe  Wachskerzen 
brennen.  Dort  nimmt  das  Kapitel  die  Bezeichnung  »Senat*  an 
und  die  Brüder  heifsen  „Ritter".  Im  Osten  steht  ein  Thron, 
überragt  von  einem  gekrönten,  in  der  Klaue  ein  Schwert  halten- 
den Doppeladler  mit  ausgebreiteten  Schwingen. 

Im  vierten  Gemach  befindet  sich  auch  die  „geheimnisvolle 
Leiter",  deren  sieben  Sprossen  den  Durchgang  der  Sonne  durch 
die  sieben  Tierkreiszeichen  vom  Widder  bis  einschliefslich  zur 
Wage  andeuten.  Die  Leiter  hinansteigend,  empfängt  der  Aspirant 
auf  jeder  Sprosse  die  Erläuterung  ihrer  Bedeutung  von  einem 
ihm  unsichtbar  bleibenden  Hierophanten.  (Auch  in  den  alten 
Mysterien  blieb  der  Einweihungspriester  unsichtbar.)  Auf  der 
letzten  Sprosse  angelangt,  darf  er  nicht  denselben  Weg  zurück- 
gehen (denn  die  Sonne  geht  nie  zurück),  sondern  mufs  über  die 
Leiter,  welche  zu  diesem  Zweck  erniedrigt  wird,  hinwegschreiten. 
Am  Fufse  der  Leiter  liest  er  die  Inschrift  „Ne  plus  ultra!* 

Was  den  Sinn  der  sieben  Stufen  betrifft,  so  heilst  die  erste 
Isedakah  (=  Gerechtigkeit),  mit  welchem  Namen  auf  die  Sonne 
während  der  Frühlings-Nachtgleiche  im  März  angespielt  wird, 
denn  um  diese  Zeit  sind  die  Tage  und  Nächte  überall  gleich  und 
die  Sonne  wendet  ihre  Gunst  allen  gleichmälsig  zu.  — Die  zweite 
Sprosse  heilst  Schor-laban  (=  weilser  Ochse).  Der  Stier  ist  das 
zweite  Zeichen  des  Tierkreises;  die  Sonne  tritt  in  dasselbe  am 
21.  April  ein.  Dieser  Eintritt  wird  von  dem  Untergang  des  Orion 
und  dem  Aufgang  der  Plejaden  begleitet.  - Die  dritte  Sprosse 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  27 


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•m 


Die  Freimaurerei. 


heilst  »Mathok*  (=■=  Süfsigkeit).  Das  dritte  Tierkreiszeichen  sind 
die  Zwillinge,  in  das  die  Sonne  im  Mai  eintritt.  Die  Plejaden, 
welche  bei  dem  einstigen  Frühlingsanfang  erschienen,  wurden 
von  den  Römern  Vergilien  genannt  und  ihr  »süfser  Einflurs*  — 
wie  es  bei  Hiob  heifst  — segnet  das  Jahr  durch  den  Beginn 
des  Frühlings.  — Die  vierte  Stufe  ist  »Emunah“  (=  Verhüllte 
Wahrheit).  In  das  vierte  Zeichen,  den  Krebs,  tritt  die  Sonne 
im  Juni  — also  zu  einer  Zeit,  da  Ägypten  in  Wolken  und  Staub 
gehüllt  ist,  wodurch  die  Sonne,  die  bildliche  Wahrheit,  verdunkelt 
oder  verhüllt  wird.  - Mit  der  fünften  Sprosse,  »Hamal  saggi“ 
(=  grofse  Arbeit),  ist  das  fünfte  Zeichen  verknüpft:  das  des 
Löwen  ; die  beträchtlichen  Schwierigkeiten,  denen  die  Sonne  beim 
Durchgang  dieses  Zeichens  vermeintlich  begegnet,  haben  wir 
bereits  im  Kapitel  »Einweihungszeremonien"  erwähnt.  — Die 
sechste  Sprosse  heifst  Sabbal“  (=  Last  oder  Geduld).  Das  sechste 
Tierkreiszeichen , durch  das  die  Sonne  geht,  ist  die  Jungfrau. 
Angekündigt  wird  der  Durchgang  von  dem  gänzlichen  Ver- 
schwinden der  lernäischen  Hydra  vom  Himmelszelt,  worauf  aus 
ihrem  Haupt  der  Grofse  Hund  und  die  Krabbe  entspringen. 
Herkules  vernichtet  die  lernäische  Hydra,  wird  aber  von  einer 
Seekrabbe  in  den  Fufs  gebissen.  Da  für  jeden  Kopf,  den  er 
abhieb,  zwei  andere  nachwuchsen,  wäre  seine  Arbeit  endlos  ge- 
wesen, wenn  er  nicht  auf  den  Gedanken  gekommen  wäre,  das 
Blut  ausbrennen  zu  lassen.  — Die  siebente  Stufe  der  Leiter  - 
welche,  nebenbei  bemerkt,  der  Leiter  -der  Hindumysterien,  der 
Jakobsleiter,  den  siebenstufigen  Pyramiden  und  den  sieben  Höhlen 
verschiedener  alter  Völker  entspricht  — wird  »Gemunah,  Binah,  Je- 
bunah“  (=  Vergeltung,  Verstand,  Klugheit)  genannt,  ln  das  siebente 
Zeichen,  die  Wage,  tritt  die  Sonne  bei  Beginn  des  Herbstes. 
Der  Eintritt  wird  angezeigt  durch  das  Erscheinen  des  Himmels- 
Centauren  - desselben,  der  Herkules  so  gastlich  behandelte.  Die 
Sonne  ist  nun  bei  der  herbstlichen  Nachtgleiche  angelangt,  die 
Früchte  der  Erde  werden  eingeheimst  und  der  Landwirt  findet 
seinen  Lohn  nach  Mafsgabe  seiner  Klugheit  und  seines  Verstandes. 

In  früherer  Zeit  — vielleicht  zuweilen  noch  heute  — ge- 
hörte zu  den  mit  der  Bewerbung  um  den  Kadoschrittergrad  ver- 
knüpften Erprobungen  auch  die,  dafs  der  Kandidat  den  Mörder 
Hirams  erdolchen,  dessen  Haupt  zum  Altar  bringen  und  aus 
einem  Schädel  Blut  trinken  mufste.  Mit  verbundenen  Augen 
legte  er  die  Hand  an  das  schlagende  Herz  eines  lebenden  Schafes 
(die  Wolle  hatte  man  abrasiert)  und  stach  in  dasselbe,  worauf 
man  ihm  die  Augenbinde  abnahm  und  einen  blutigen  wächser- 
nen Menschenkopf  zeigte,  der  jedoch  sofort  entfernt  wurde,  damit 
der  Neuling  die  Täuschung  nicht  wahrnehme. 


Prinz  von  Rose-Croix.  (Adler-Ritter.) 


419 


Prinz  von  Rose-Croix.  (Adler-Ritter). 

Dieser  Grad,  der  achtzehnte  des  alten  und  angenommenen 
SchoOenritus,  gehört  zu  den  verbreitetsten  Hochgraden  der  Frei- 
maurerei. Sehr  mit  Unrecht  wird  er  von  den  Unwissenden  oft 
mit  den  mystischen  Rosenkreuzern  verwechselt.  Der  Name  kommt 
von  Rose  und  Kreuz,  hat  aber  nichts  mit  Alchimie  zu  schaffen. 
Der  Ursprung  des  Grades  ist  in  tiefstes  Geheimnis  gehüllt.  Der 
Grad  selbst  führt  allerlei  Beinamen,  so:  »Souveräne  Prinzen  von 
Rose-Croix",  »Prinzen  von  Rose-Croix  de  Heroden“  (d.  h.  des 
heiligen  Hauses,  worunter  der  Tempel  verstanden  wird),  .Ritter 
vom  Adler  und  Pelikan.“  Seine  Inhaber  halten  ihn  für  das 
non  plus  ultra  der  Feimaurerei,  wie  die  Kadoschritter  ihren 
Grad  als  non  plus  ultra  ansehen;  das  Gleiche  gilt  übrigens  für 
noch  mehrere  andere  Hochgrade. 

Der  den  Vorsitz  führende  Würdenträger  heifst  »Allezeit 
Vollkommenster  Souverän“,  während  die  beiden  Aufseher  »Hoch- 
würdigste und  Vollkommenste  Brüder“  genannt  werden.  Die 
Verleihung  des  Grades  erfolgt  durch  das  »Kapitel  der  Souveränen 
Prinzen  von  Rose-Croix“,  u.  zw.  in  drei  Gemächern,  welche 
den  Kalvarienberg,  die  Auferstehung  und  die  Hölle  darstellen. 
Es  handelt  sich  hier  auch  gar  nicht  um  die  eigentliche,  sondern 
um  den  Versuch  einer  verchristlichten  Freimaurerei.  Der  schwarz 
drapierte  erste  Raum  wird  durch  drei  Armleuchter  zu  je  elf 
Kerzen  beleuchtet;  die  Zahl  33  spielt  auf  das  Alter  an,  welches 
Christus  erreichte.  Jedes  Licht  steckt  in  einer  kleinen  Blech- 
büchse, die  einen  runden  Einschnitt  von  einem  Zoll  Durchmesser 
hat.  ln  drei  Winkeln  — dem  nordöstlichen,  dem  südöstlichen 
und  dem  südwestlichen  - steht  je  eine  mannshohe  Säule;  die 
drei  Kapitäle  weisen  je  eines  der  Worte  auf:  Glaube,  Hoffnung, 
Liebe  (Erbarmen).  In  jeder  Loge  hängt  deren  eigene  Abbildung 
mit  vorgeschriebener  Anordnung  der  Plätze  ihrer  Beamten  und 
Sinnbilder.  In  der  östlichen,  südlichen  und  nördlichen  Ecke 
sind  Malereien  zu  sehen,  welche  die  Sonne,  den  Mond  und  einen 
teilweise  dunkel  bewölkten  Sternenhimmel  wiedergeben.  Die 
höchste  Macht  erscheint  durch  einen  mit  den  Flügeln  schlagen- 
den Adler  symbolisiert.  Auch  noch  andere  allegorische  Malereien 
sind  vorhanden,  darunter  ein  kubischer  Stein,  der  Blut  und 
Wasser  schwitzt  und  auf  dem  sich  eine  Rose  und  der  Buch- 
stabe J (=  Jehovah)  befinden.  Der  dieses  Gemälde  umgebende 
quadratische  Raum  ist  im  Hinblick  auf  die  Vorfälle  bei  der  Kreu- 
zigung Christi  vollständig  finster  gehalten.  Unter  dem  Bild  sieht 
man  alles  alte  Maurerwerkzeug  und  die  in  viele  Stücke  geteilten 
und  zerbrochenen  Säulen,  weiter  unten  den  entzweigerissenen 
Tempelvorhang. 

27* 


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420 


Die  Freimaurerei. 


Vor  dem  Meister  steht  ein  kleiner  Tisch  mit  drei  brennen- 
den Kerzen,  dem  Evangelium,  dem  Zirkel,  dem  Winkelmafs  und 
dem  Dreieck.  Alle  Brüder  sind  schwarz  gekleidet  und  tragen 
schwarze,  von  der  linken  Schulter  zur  rechten  Hüfte  gehende 
Schärpen  und  weifse,  schwarzgeränderte  Schürzen.  Die  Stickerei 
auf  der  Schürze  zeigt  eine  von  einer  Schlange  und  dem  Buch- 
staben J überragte  Erdkugel,  die  Stickerei  auf  dem  Latz  einen 
Totenschädel  und  gekreuzte  Totenknochen  zwischen  drei  roten 
Rosen.  Um  den  Hals  haben  der  Meister  und  die  Beamten  ein 
breites  schwarzes  Mohairband,  an  welchem  das  »Geschmeide“ 
hängt:  ein  von  einer  dreifachen  Krone  überragter  Goldzirkel  mit 
einem  Kreuz  zwischen  den  Schenkeln  und  einer  voll  aufgeblühten 
Rose  in  der  Mitte;  am  Fufse  des  Kreuzes  füttert  ein  Pelikan 
seine  Jungen  an  seiner  Brust,  auf  der  anderen  Seite  entfaltet  ein 
Aar  seine  Schwingen.  Während  der  Adler  die  »Sonne  der  Recht- 
fertigung“ vertritt,  ist  der  Pelikan  eine  Anspielung  auf  Christus, 
der  sein  Blut  für  die  Menschheit  vergossen  hat. 

Gehen  wir  nun  zu  den  Einweihungszeremonien  über.  Im 
ersten  Gemach  erscheint  der  Kandidat  in  schwarzer  Kleidung 
und  rot  gefütterter  Schürze,  geschmückt  mit  einem  roten  Band, 
einem  Schwert  und  einer  Schärpe.  Nach  allerlei  vorbereitenden 
Zeremonien  wird  er  hereingeführt  und  der  Meister  sagt  ihm, 
dafs  das  verlorene  Wort,  welches  er  sucht,  ihm  nicht  mitgeteilt 
werden  könne,  weil  grofse  Verwirrung  herrsche,  indem  der 
Tempelvorhang  zerrissen,  das  Werkzeug  zerbrochen  sei,  Finsternis 
die  Erde  bedecke  u.  s.  w.;  doch  möge  er  nicht  verzweifeln,  da 
sie  gewifs  das  neue  Gesetz  finden  und  dadurch  das  verlorene 
Wort  wiedererlangen  würden.  Inzwischen  möge  er  33  Jahre 
auf  Reisen  verbringen.  Der  zweite  Aufseher  führt  ihn  33  mal 
rings  um  die  Loge,  ihm  dabei  die  drei  Säulen  zeigend,  ihre 
Namen  nennend  und  sie  als  seine  künftigen  Leitsterne  bezeich- 
nend, weshalb  er  sie  seinem  Gedächtnis  gut  einprägen  solle. 
Nach  einer  längeren  Zwiesprache  mufs  er  mit  dem  rechten  Knie 
auf  das  Evangelium  niederknien  und  den  folgenden  Eid  leisten: 
» Ich  verspreche  in  derselben  Weise  wie  in  den  bisherigen  Graden 
die  Geheimnisse  der  Adlerritter  niemals  zu  enthüllen,  widrigen- 
falls ich  auf  immer  des  wahren  Wortes  beraubt  werden  möge, 
ein  Strom  von  Blut  und  Wasser  unablässig  aus  meinem  Leib 
fliefsen,  meine  Seele  Angst  erleiden,  mein  Körper  in  Essig  und 
Galle  getaucht,  mein  Kopf  von  Domen  durchbohrt  werden  und 
ich  am  Kreuz  sterben  soll.  So  helfe  mir  der  grofse  Welten- 
baumeister!* 

Nunmehr  erhält  er  die  Schürze  und  die  Schärpe  als  Sinn- 
bilder der  Trauer  um  das  verlorene  Wort.  Es  folgt  ein  Ge- 
spräch, in  welchem  die  Hoffnung,  das  Wort  wiederzufinden, 


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Prinz  von  Rose-Croix.  (Adler-Ritter.) 


421 


angedeutet  wird,  worauf  der  Meister  und  die  Brüder  sich  ins 
zweite  Gemach  begeben,  wo  sie  ihre  schwarzen  Schürzen  und 
Schärpen  gegen  rote  vertauschen.  Dieser  Raum  ist  mit  Wand- 
teppichen behängen  und  ebenfalls  von  drei  elfarmigen  Leuchtern 
erhellt,  doch  stecken  hier  die  Kerzen  nicht  in  Blechbüchsen.  Im 
Osten  steht  ein  von  einer  Wolke  und  einem  Glorienschein  um- 
gebenes Kreuz,  auf  dem  eine  Paradiesrose  sich  befindet,  in  deren 
Mitte  der  Buchstabe  G prangt.  Unterhalb  sieht  man  drei  Qua- 
drate mit  je  einem  Zirkel,  deren  jeder  ein  Dreieck  enthält.  Das 
ist  eine  Allegorie  des  Kalvarienberges,  auf  welchem  der  grofse 
Weltenbauherr  verschied.  Auf  dem  durch  jene  Darstellung  ge- 
bildeten Gipfel  glänzt  ein  siebenstrahliger  Flammender  Stern, 
in  dessen  Mitte  abermals  ein  G erscheint.  Auch  dem  Adler  und 
dem  Pelikan  begegnen  wir  hier  wieder.  Unterhalb  ist  das  Grab 
untergebracht.  Im  untern  Teil  des  Quadrats  sind  sichtbar:  der 
Zirkel,  das  Zeichenbrett,  das  Brecheisen,  die  Kelle  und  das  Win- 
kelmafs.  Auch  an  Abbildungen  des  kubischen  Steins,  des  Ham- 
mers und  anderer  Werkzeuge  fehlt  es  nicht  Die  Fortsetzung 
der  Aufnahmefeierlichkeiten  findet  jedoch  nicht  hier  statt,  sondern 
im  dritten  Gemach. 

Das  letztere  soll  die  Höllenqualen  darstellen  und  ist  daher 
recht  gruselig  eingerichtet.  In  sieben  Armleuchtern  brennen 
Fackeln  mit  grauen  Flammen  in  Gestalt  von  Totenschädeln  und 
-Knochen.  An  den  Wänden  hängen  Teppiche,  die  mit  Flammen 
und  Verdammten  bemalt  sind.  Dem  Kandidaten,  der  sich  als 
Forscher  nach  dem  verlornen  Wort  vorstellt,  werden  Schärpe  und 
Schürze  als  nicht  demütig  genug  abgenommen  und  dafür  ein 
mit  Asche  bestreutes  schwarzes  Tuch  auf  den  Kopf  gelegt,  sodafs 
er  nichts  sehen  kann.  Gleichzeitig  teilt  man  ihm  mit,  er  werde 
an  den  denkbar  dunkelsten  Ort  gebracht  wrerden,  von  welchem 
das  gesuchte  Wort  zum  Nutzen  und  Ruhm  der  Freimaurerei 
emporkommen  müsse.  Er  wird  an  einen  steilen  Abstieg  geführt, 
den  er  hin  und  her  zurücklegen  muss,  worauf  er  zur  Thüre  ge- 
bracht und  von  dem  Kopftuch  befreit  wird.  Er  erblickt  drei  als 
Teufel  verkleidete  Gestalten  und  geht  zum  Andenken  an  die 
dreitägige  Höllenfahrt  dreimal  schweigend  im  Saal  auf  und  ab. 
Sodann  führt  man  ihn  zu  der  mit  schwarzem  Tuch  bedeckten 
Saalthür  und  sagt  ihm,  dafs  er  seine  ganze  Kraft  zusammen- 
nehmen möge,  da  die  von  ihm  bislang  mitgemachten  Schreck- 
nisse geringfügig  seien  im  Vergleich  zu  jenen,  die  er  noch  vor 
sich  habe,  ln  Wirklichkeit  sind  seine  Erprobungen  aber  gänz- 
lich vorbei  und  er  wird  sofort  vor  den  Meister  gebracht,  der  mit 
ihm  ein  Gespräch  beginnt: 

w Woher  kommst  du?“  — »Aus  Judäa.* 

»Welchen  Weg  bist  du  gegangen?"  — »Über  Nazareth.“ 


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422 


Die  Freimaurerei. 


»Von  weichem  Stamm  bist  du  entsprossen?«  - »Juda.« 

»Nenne  mir  die  vier  Anfangsbuchstaben.“  — »I.  N.  R.  I.« 

»Was  bedeuten  diese  Buchstaben?«  — »Jesus  von  Nazareth, 
König  der  Juden.« 

Jetzt  ruft  der  Meister:  »Das  Wort  ist  gefunden!  Gebet 
ihm  das  Licht  wieder!«  Der  zweite  Aufseher  nimmt  dem  Neu- 
ling rasch  das  Tuch  ab  und  alle  Anwesenden  schlagen,  dreimal 
»Hurrah!«  schreiend,  dreimal  in  die  Hände.  Es  erfolgt  die  Ein- 
weihung in  die  »Ausweise«  (Zeichen,  Losungswort,  Händedrücke 
u.  s.  w.)  und  darauf  die  nähere  Unterweisung  durch  den  Meister. 
In  der  Hauptsache  erfährt  der  neue  Adlerritter,  dafs  nach  dem 
Bau  des  Tempels  Salomos  die  Maurer  ihre  Arbeiten  zu  vernach- 
lässigen begannen,  weshalb  der  kubische  Eckstein  Blut  und  Wasser 
schwitzte,  aus  dem  Gefüge  gerissen  wurde  und  mit  dem  ver- 
fallenden Tempel  zu  Grunde  ging,  während  die  mystische  Rose 
an  einem  Kreuz  geopfert  worden  sei.  Dann  sei  die  Maurerei 
verfallen,  die  Erde  verdunkelt,  das  Maurerwerkzeug  zerbrochen 
worden,  der  Flammende  Stern  verschwunden  und  das  heilige 
Wort  verloren  gegangen.  Doch  sei  dadurch,  dafs  die  Freimau- 
rer die  Worte  »Glaube,  Hoffnung  und  Liebe"  kennen  lernten 
und  das  neue  Gesetz  befolgten,  die  Maurerei  wiederhergestellt 
worden,  freilich  bauen  die  Freimaurer  nicht  mehr  wirkliche, 
sondern  geistige  Gebäude.  Die  mystische  Rose  und  der  Flam- 
mende Stern  haben  ihre  alte  Schönheit  und  ihren  früheren  Glanz 
wiedererlangt. 

Ursprünglich  war  dieser  Hochgrad  rein  jesuitischer  Art 
und  bezweckte  die  Wiederherstellung  des  Hauses  Stuart. 


Misraim-  und  Memphis- Ritus. 

Zu  den  Abweichungen  und  Abwechslungen,  welche  die 
ständigen  Begleiter  grofser  Vereinigungen  genannt  werden  können, 
gehört  in  der  Maurerei  der  Misraim-Ritus,  so  genannt,  weil  er 
den  unberechtigten  Anspruch  erhebt,  von  dem  ägyptischen  König 
Misraim  (Menas)  abzustammen.  Wodurch  er  sich  von  anderen 
Riten  hauptsächlich  unterscheidet  und  was  ihn  gänzlich  aus  der 
freimaurerischen  Art  schlagen  läfst,  das  ist  die  aufserordentliche 
Macht,  die  er  den  Oberhäuptern  verleiht.  Während  die  Maurerei, 
um  die  Logen  den  Formen  der  echten  Demokratie  zugänglich 
zu  machen,  die  Unabsetzbarkeit  der  Lenker  beseitigt  hat,  ist  der 
Misraim-Ritus  streng  autokratisch  eingerichtet.  Seine  Logen 
werden  von  einem  einzigen  und  unverantwortlichen  »Absolut 


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Misraim-  und  Memphis- Ritus.  423 

Souveränen  Grofsmeister“  beherrscht.  Ist  es  nicht  höchst  sonder- 
bar, dafs  im  Rahmen  einer  freisinnigen  Gesellschaft,  welche  seit 
Jahrhunderten  die  unumschränkte  Macht  bekämpft,  ein  vereinzeltes 
Mitglied  diese  Macht  für  sich  in  Anspruch  nimmt? 

Zu  einer  Zeit,  da  davon  die  Rede  war,  die  bereits  auf 
fünf  herabgesetzte  Zahl  der  Grade  des  schottischen  Ritus  noch 
weiter  zu  verringern,  arbeitete  Cagliostro  dieser  Vereinfachungs- 
tendenz entgegen,  indem  er  den  Misraim-Ritus  mit  nicht  weniger 
als  neunzig  Graden  (!)  gründete.  Diese  zerfielen  in  siebzehn 
Klassen,  welche  in  vier  „Sektionen“  gruppiert  wurden:  1.  die 
symbolische,  2.  die  philosophische,  3.  die  mystische,  4.  die 
kabbalistische.  Das  Ritual  ist  ein  Gemisch  von  Schottentum, 
Martinismus  und  Tempelrittertum.  Die  „Absoluten  Grofsmeister* 
mafsen  sich  das  Recht  an,  über  alle  Maurerlogen  der  Erde  zu 
herrschen.  Die  Grundlagen  dieses  Systems  wurden  1805  zu 
Mailand  von  mehreren  Maurern  geschaffen,  die  nicht  in  den 
Höchsten  Grofsrat  (Konzil)  aufgenommen  worden  waren.  An- 
fänglich konnten  die  gewöhnlichen  Mitglieder  nur  bis  zum  87. 
Grad  aufrücken,  die  drei  letzten  Grade  umfafsten  die  - dem 
„Plebs“  unbekannt  gebliebenen  - Oberhäupter. 

Von  Mailand  aus  verbreitete  der  Misraim-Orden  sich  nach 
Dalmatien,  den  Ionischen  Inseln  und  dem  Königreich  Neapel. 
Erst  1814  fand  er  in  Frankreich  Eingang,  wo  die  hochtrabenden 
Namen  seiner  schier  endlosen  Rangstufenleiter  grofse  Anziehungs- 
kraft ausübten.  Nie  zuvor  hatte  die  Freimaurerei  so  grofsartige 
Titel  gekannt:  „Höchstkommandierender  der  Sterne",  „Souverän 
der  Souveräne",  „Höchster  und  Mächtigster  Regenbogenritter", 
„Souveräner  Grofsfürst  Hirani",  „Souveräne  Grofsprinzen"  u.  s.  w. 
u.  s.  w.  Es  war  ja  auch  keine  Kleinigkeit,  für  volle  neunzig 
Grade  Benennungen  auszuklügeln!  Die  Einweihungserprobungen 
waren  langwierig  und  schwierig,  denn  sie  beruhten  auf  den 
Überlieferungen  der  ägyptischen  und  der  eleusinischen  Mysterien. 
Die  Stifter  scheinen  in  den  zwei  ersten  „Sektionen“  ein  Sammel- 
surium der  Theorie  und  Praxis  der  schottischen  Maurerei  und 
der  altägyptischen  Einweihungsgeheimnisse,  in  den  zwei  letzten 
die  gesamten  chemisch-kabbalistischen  Kenntnisse  der  ägyptischen 
Priesterschaft  zusammengebraut  zu  haben.  In  Paris  besitzt  der 
Orden  noch  jetzt  drei  Logen,  doch  ist  er  vom  französischen 
Grofsorient  nie  als  Bestandteil  der  Freimaurerei  anerkannt  worden. 
Er  wurde  allmählich  auch  in  Belgien,  Schweden,  der  Schweiz, 
Irland  und  zuletzt  in  England  eingeführt,  befindet  sich  aber 
überall  in  einem  Zustande  des  Siechtums. 

Der  Misraimritus  feiert  zwei  Tag-  und  Nachtgleichenfeste: 
„das  Wiedererwachen  der  Natur“  und  die  „Ruhe  der  Natur“. 
Im  69.  Grad  — dem  der  „Chanukaritter,  genannt  Hynaroth“  — 


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424 


Die  Freimaurerei. 


werden  besondere  Belehrungen  erteilt  über  das  Verhältnis  des 
Menschen  zu  Gott  und  über  die  kabbalistische  Vermittlung  der 
Engel  zwischen  beiden.  Der  Grofsrat  des  87.  Grades  hat  drei 
Gemächer:  das  erste  stellt  das  Chaos  vor,  ist  schwarz  drapiert  und 
nur  mit  einer  Kerze  beleuchtet;  im  zweiten,  welches  die  Hoffnung 
bedeutet  und  daher  grün  verhängt  ist,  brennen  drei  Lichter;  im 
dritten  72  Kerzen  und  ein  Transparent,  das  einen  Thron  und 
darüber  das  Wort  »Jehovah“  zeigt.  Ein  ähnliches  Transparent 
hängt  über  der  Eingangsthüre.  Das  Erkennungszeichen  besteht 
im  Erheben  beider  Hände  gen  Himmel,  der  »Griff“  im  Kreuzen 
der  Hände.  Die  Losungsworte  sind:  »Ich  bin  — Wir  sind; 
Natur  - Wahrheit“.  Im  88.  Grad  ist  der  Einweihungssaal  oval 
und  meergrün  verhängt.  Das  Losungswort  des  89.  Grades 
lautet  »Lux  ex  tenebris".  Der  90.  Grad  hält  seine  Versamm- 
lungen in  einem  kreisrunden  Gemach;  das  Losungswort  ist 
»Sophia«  (=  Weisheit),  das  »heilige"  Wort  »Isis«,  die  Antwort 
hierauf  »Osiris«. 

Obgleich  der  Misraimritus  aus  dem  19.  Jahrhundert  stammt, 
begegnen  wir  in  ihm  gnostisch-kabbalistischen  Ausdrücken  und 
Vorstellungen.  Das  wäre  unmöglich,  wäre  nicht  die  ganze  Frei- 
maurerei vom  Gnostizismus  durchdrungen.  Eine  Nachahmung 
des  Misraim-Ordens,  der  Memphisritus,  wurde  1839  zu  Paris 
ins  Leben  gerufen  und  nachmals  auch  in  Brüssel  und  Marseille 
eingeführt  Er  bestand  sogar  aus  91  (!!)  Graden  in  drei 
»Sektionen“  und  sieben  Klassen.  Ein  in  Paris  gedruckter  dicker 
Band,  »Das  Heiligtum"  betitelt,  beschreibt  die  ganze  Organisation 
eingehend.  Danach  umfafst  die  erste  Sektion  Sittenlehre  und 
Symbol-Erläuterung,  die  zweite  den  Unterricht  in  der  Natur- 
geschichte und  der  Geschichtsphilosophie  sowie  die  Erklärung  der 
dichterischen  Mythen  des  Altertums;  die  dritte  Sektion  lehrt  die 
Geschichte  des  Ordens,  studiert  die  Religionsmythen  aller  Zeiten 
und  beschäftigt  sich  mit  höherer  Philosophie. 


Das  Klerikat  der  Tempelherren. 

Einige  Höflinge  Ludwigs  XIV.,  darunter  der  Herzog  von 
Gramont,  der  Marquis  von  Biran  und  Graf  Tallard,  gründeten 
einen  Geheimbund  zu  Vergnügungszwecken.  Derselbe  hiefs 
»Eine  Wiedererweckung  des  Templerordens"  und  es  traten  ihm 
viele  Mitglieder  bei,  doch  wurden  sie,  soweit  ertappt,  vom  König 
verbannt,  als  er  die  Satzungen  kennen  lernte.  1705  scharte 
Herzog  Philipp  von  Orleans  die  nichtverbannten  Mitglieder  zur 


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Das  Klerikat  der  Tempelherren. 


425 


Fortsetzung  des  ungestalteten  Bundes  um  sich,  der  sich  nun- 
mehr auf  die  Politik  verlegte.  Ein  gelehrter  Schwindler,  der 
Jesuitenpater  Bonnani,  fabrizierte  ein  falsches  Verzeichnis  der  an- 
geblichen Grofsmeister  des  Templerordens  seit  seiner  Unter- 
drückung unter  Molay.  Nie  ist  ein  Betrug  mit  gröfserer  Geniali- 
tät ins  Werk  gesetzt  worden.  Die  Urkunde  war  so  geschickt 
gefälscht,  dafs  sich  selbst  die  gewiegtesten  Fachleute  täuschen 
liefsen;  ihr  Zweck  war,  die  neue  Gesellschaft  mit  dem  alten 
Templerorden  unmittelbar  zu  verknüpfen.  Um  die  Fälschung  noch 
zu  steigern,  wurde  der  die  Liste  enthaltende  Band  mit  erdichteten 
und  angemessen  datierten  Protokollen  von  angeblichen  Sitzungen 
gefüllt.  Man  schickte  sogar  zwei  Mitglieder  nach  Lissabon,  um 
von  dem  dortigen  Orden  der  Christusritter,  der  aus  den  portu- 
giesischen Trümmern  des  Templerordens  hervorgegängen  war, 
Beglaubigungsschriftstücke  zu  erlangen;  die  beiden  kamen  dort 
aber  übel  an.  Sie  wurden  entlarvt  und  der  eine  nach  Afrika 
deportiert,  während  der  andere  froh  war,  nach  England  fliehen 
zu  können. 

Die  in  Rede  stehende  Geheimgesellschaft  war  vermutlich 
identisch  mit  derjenigen,  welche  sich  vor  dem  Ausbruch  der 
Revolution  unter  dem  Namen  „Gesellschaft  zum  Stierkopf"  ver- 
barg und  deren  Mitglieder  1 792  zerstreut  wurden.  Damals  war 
der  Herzog  von  Cosse-Brissac  Grofsmeister.  Auf  dem  Wege 
nach  Versailles,  wo  eine  Gerichtsverhandlung  gegen  ihn  und 
seine  Mitgefangenen  stattfinden  sollte,  wurde  er  ermordet  und 
so  gelangte  sein  Arzt  Ledru  in  den  Besitz  der  Bundespapiere. 
Die  Lektüre  der  Satzungen  von  1705  und  der  sogen.  Larmenius- 
Charta  brachten  Ledru  auf  den  Gedanken,  den  Orden  wieder- 
zubeleben. Nach  der  Wahl  des  Freimaurers  Dr.  Fabre  de 
Palaprat  zum  Grofsmeister  wurden  grofse  Anstrengungen  ge- 
macht, den  Glauben  an  die  Echtheit  des  Tempelherrenklerikats 
zu  verbreiten.  Auf  der  Jagd  nach  angeblichen  Reliquien  kaufte 
man  bei  Antiquitätenhändlern  den  Degen,  die  Mitra  und  den 
Helm  Molays;  auch  zeigte  man  den  Gläubigen  seine,  vorgeblich 
von  seinem  Scheiterhaufen  herabgenommenen  Gebeine.  Ganz  in 
der  mittelalterlichen  Weise  forderte  die  Gesellschaft  von  ihren 
Mitgliedern  den  Adel;  wer  ihn  nicht  von  Geburt  hatte,  wurde 
von  ihr  geadelt.  Bei  einer  Gelegenheit  verlieh  sie  nicht  weniger 
als  vierzehn  ehrsamen  Bürgern  der  Stadt  Troyes  auf  einmal 
Adelsbriefe  und  Wappenschilder.  Unter  der  Republik  aufgelöst, 
wurde  der  Orden  unter  dem  Direktorium  teilweise  wiederher- 
gestellt. Nach  der  Kaiserkrönung  erfolgte  die  Wiederwahl 
Palaprats,  und  Napoleon  begünstigte  den  Bund,  weil  dieser  ge- 
eignet war,  die  Gemeinschaft  der  alten  Aristokratie  mit  der  neuen 
kaiserlichen  zu  fördern.  Unter  der  Restauration  machte  sich 


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•126 


Die  Freimaurerei. 


das  Klerikat  durch  seine  fortschrittlichen  Gesinnungen  verdächtig 
und  der  Großmeister  wanderte  mehrmals  ins  Gefängnis.  Die 
modernen  Tempelherren  hatten  übrigens  auch  die  Absicht,  die 
Aufgabe  ihrer  einstigen  Vorläufer  — die  Bekämpfung  der  Un- 
gläubigen - zu  der  ihrigen  zu  machen.  Zu  diesem  Behuf  be- 
mühten sie  sich,  freilich  vergebens,  eine  Mittelmeerinsel  zu  er- 
langen. Später  wollte  Sir  Sidney  Smith  sich  ihrer  zur  Unter- 
drückung des  Pirateiiunwesens  an  der  afrikanischen  Küste  bedienen. 

Ursprünglich  streng  katholisch  und  romfreundlich,  nahm 
die  Gesellschaft  keine  Protestanten  auf.  Nachmals  jedoch  ver- 
wandelte Fabre-Palaprat  diese  Tendenz  in  die  gegenteilige.  Er 
hatte  nämlich  eine  griechische  Handschrift  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert erworben,  eine  von  der  anerkannten  abweichenden  Les- 
art des  Evangeliums  Johannis,  eingeleitet  von  dem  „Levitikon« 
des  griechischen  Mönches  Nikephoros.  Um  1815  beschlofs  er 
nun,  die  Lehren  dieser  Schrift  auf  seinen  Geheimbund  anzu- 
wenden und  denselben  aus  einem  orthodoxen  in  einen  schisma- 
tischen umzugestalten.  Nikephoros  war  in  die  Mysterien  des 
Suphismus  eingeweiht  worden,  welcher  im  Schofs  des  Mohamme- 
danismus die  düsteren  Lehren  der  Ischmaeliten  — der  Gründer 
der  Weisheitsloge  zu  Kairo,  des  Assassinentums,  der  Roschenia 
u.  s.  w.  — noch  heute  fortpflanzt.  Um  den  Suphismus  auf  das 
Christentum  anzuwenden,  schrieb  er  das  »Levitikon",  das  dann 
die  Bibel  einer  geringen  Anzahl  von  Sektierern  wurde,  die  aller- 
dings bald  verfolgt  und  zerstreut  wurden.  1822  übersetzte 
Palaprat  dieses  sonderbare  Werk  ins  Französische  und  liefs  es 
mit  eigenen  Einschaltungen  und  Abänderungen  drucken  - eine 
Veröffentlichung,  welche  unter  den  Mitgliedern  des  Klerikats  ein 
Schisma  verursachte.  Jene  Ritter,  welche  die  darin  verfochtenen 
Lehren  annahmen,  machten  diese  zur  Grundlage  einer  neuen 
Liturgie.  Die  letztere  wurde  1833  der  Öffentlichkeit  zugänglich 
gemacht,  und  zwar  im  »Tempel",  einer  mit  grofser  Feierlichkeit 
eingeweihten  Johanniterkirche.  Gleichzeitig  trat  als  Zweig  des 
Klerikats  ein  »Bund  der  Tempeldamen*  ins  Leben. 

Die  Logen  heifsen  »Lager"  und  die  Beamten  führen  die- 
selben Namen  wie  die  des  mittelalterlichen  Templerordens.  Das 
»grofse“  Erkennungszeichen  bildet  eine  Anspielung  auf  die 
Kreuzigung  Christi.  Die  Ritter  tragen  die  Rittertracht  einschliefs- 
lich  des  Schwertes.  Was  die  Einweihungszeremonien  betrifft,  so 
erscheint  der  Kandidat  bei  denselben  als  Pilger  in  Sandalen  und 
Mantel,  mit  Stab,  Kreuz,  Tasche  und  Ränzel,  um  den  Leib  einen 
Gürtel  oder  eine  Schnur;  in  manchen  Lagern  trägt  er  auf  dem 
Rücken  eine  Last,  welche  ihm  beim  Anblick  des  Kreuzes  abfällt. 
Bei  seinem  Herannahen  ertönt  ein  Trompetensignal ; nach  längeren 
Unterhandlungen  in  pseudomilitärischer  Sprache  wird  er  einge- 


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Das  Klerikat  der  Tempelherren. 


427 


lassen  und  sieht  die  Ritter  unter  Waffen  vor  sieh.  Nachdem  der 
zweite  Kapitän  mit  einer  Säge  an  seiner  Stirn  herumhantiert  hat, 
erklärt  der  Bewerber  — dem  der  Zeremonienmeister  alles  ein- 
sagt - ein  müder  Pilger  zu  sein,  der  bereit  sei,  sich  dem 
Dienste  der  Armen  und  Kranken  zu  widmen  und  das  heilige 
Grab  zu  schützen.  Darauf  durchschreitet  er  das  Lager  sieben- 
mal, legt  Stab  und  Kreuz  ab,  nimmt  ein  Schwert  in  die  Hand 
und  schwört,  das  Grab  des  Herrn  »gegen  alle  Juden,  Türken, 
Ungläubigen,  Heiden  und  andere  Feinde  des  Evangeliums“ 
verteidigen  zu  wollen.  »Wenn  ich  diesen  meinen  feierlichen 
Eid  als  Bruder  Tempelritter  je  absichtlich  verletzen  sollte,  möge 
mir  der  Schädel  entzweigesägt,  das  Gehirn  herausgenommen  und 
in  einem  Napf  der  sengenden  Sonne  ausgesetzt  werden  und 
mein  Schädel  in  einem  andern  Napf  - zur  Erinnerung  an  den 
heiligen  Johannes  von  Jerusalem,  den  ersten  getreuen  Soldaten 
und  Märtyrer  unseres  Herrn  und  Erlösers.  Ferner  möge  dann 
die  Seele,  welche  gegenwärtig  diesen  Schädel  bewohnt,  beim 
Jüngsten  Gericht  gegen  mich  Zeugenschaft  ablegen.  So  wahr 
mir  Gott  helfe!"  Jetzt  wird  ihm  eine  brennende  Wachskerze 
in  die  Hand  gegeben,  er  geht  damit,  »in  feierliche  Betrachtungen 
versunken“,  fünfmal  auf  und  ab  und  kniet  schliefslich  nieder, 
um  vom  Grofskomtur  zum  Ritter  geschlagen  zu  werden  mit  den 
Worten:  »Ich  setze  dich  hiermit  ein  zum  maurerischen  Ritter 
des  Johanniterordens  von  Jerusalem,  Rhodus  und  Malta,  wie  auch 
zum  Tempelherrn.“  Nun  übergrebt  der  Grofskomtur  ihm 
Mantel,  Schürze,  Schärpe,  Geschmeide,  Schwert  und  Schild  und 
unterweist  ihn  in  den  Ausweisen  wie  auch  in  dem  Ordensmotto 
(»In  hoc  signo  vinces“). 

In  England  hält  das  Baldwinsche  »Lager“,  das  zu  Bristol 
angeblich  von  den  mit  Richard  Löwenherz  aus  Palästina  zurück- 
gekehrten Tempelherren  errichtet  wurde,  noch  immer  regelmäfsige 
Versammlungen  ab,  und  man  glaubt,  dafs  es  die  alten  Zere- 
monien und  Trachten  des  Templerordens  fortpflanzt.  Auch  in 
Bath  und  York  giebt  es  Lager.  Aus  diesen  drei  Lagern  gingen 
alle  übrigen  grofsbritannischen  und  amerikanischen  Lager  hervor. 
In  einigen  Lagern  spielt  sich  der  Schlufs  der  Einweihungsfeier- 
lichkeiten folgendermafsen  ab.  Einer  der  Ordens-Stallmeister 
stürzt  in  der  weifsen  Schürze  und  Mütze  eines  Kochs  mit  einem 
grofsen  Küchenmesser  in  der  Hand  plötzlich  herein,  kniet  auf 
einem  Knie  vor  dem  neuen  Ritter  nieder  und  spricht:  »Herr 
Ritter,  ich  ermahne  euch,  gerecht,  ehrenhaft  und  dem  Orden  treu 
zu  sein,  widrigenfalls  ich,  der  Koch,  euch  mit  meinem  Küchen- 
messer die  Sporen  von  den  Fersen  abhauen  würde." 


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428 


Die  Freimaurerei. 


Die  Freimaurerei  in  Grofsbritannien  und  Frankreich. 

Die  beglaubigte  Geschichte  der  englischen  wirklichen 
Maurerei  — nicht  der  geistigen  — begann  unter  König  Ethelstan, 
von  dem  sein  Bruder  Edwin  eine  Charta  erlangte,  welche  die 
Maurerei  ermächtigte,  alljährlich  eine  Hauptversammlung  abzu- 
halten und  ihre  Bundesangelegenheiten  selbständig  zu  regeln. 
Demgemäfs  trat  die  erste  Grofsloge  von  England  im  Jahre  936 
in  York  zusammen.  Damals  wurden  alle  einschlägigen  griechischen, 
lateinischen,  französischen  und  anderen  Schriften  und  Berichte 
gesammelt  und  auf  Grund  der  betreffenden  alten  Bräuche  Vor- 
schriften und  »Konstitutionen“  festgestellt  und  angenommen.  Aus 
dieser  Ursache  genossen  die  Yorker  Maurer  seither  grofses  An- 
sehen, und  hiervon  rührt  es,  dafs  die  »echte“  oder  »blaue* 
Freimaurerei  nachmals  die  Bezeichnung  »York-Ritus“  annahm. 
Nach  Edwins  Tod  safs  Ethelstan  selber  den  Logen  vor  und  seine 
nächsten  Nachfolger  waren  Dunstan  der  Heilige  — Erzbischof 
von  Canterbury  — und  Eduard  der  Bekenner.  Bis  zur  Gegen- 
wart sind  die  Grofsmeister  Angehörige  der  jeweiligen  Dynastie 
gewesen,  zuweilen  der  König  selbst.  Wie  bereits  erwähnt,  blieb 
der  Bund  bis  in  den  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  hinein  größten- 
teils auf  wirkliche  Bauarbeiter  und  Baukünstler  beschränkt.  Trotz 
des  königlichen  Schutzes  erlitt  er  wiederholt  staatliche  Verfolgungen, 
aber  diese  waren  viel  seltener  und  von  kürzerer  Dauer  als  in 
anderen  Ländern. 

Eine  Überlieferung  behauptet,  dafs  nach  der  Vernichtung 
des  Templerordens  viele  Tempelherren  nach  Schottland  flüchteten, 
wo  sie  sich  unter  dem  Schutze  von  Robert  Bruce  den  Frei- 
maurern anschlossen.  Es  giebt  einen  maurerischen  Grad,  ge- 
nannt »Prinzen  von  Rose-Croix  de  Heroden“  (französisch 
„Heredom").  In  einer  den  Alten  Schottenritus  betreffenden,  ziem- 
lich alten  Handschrift  ist  zu  lesen,  dafs  „Heroden"  ein  im  Nord- 
westen Schottlands  gelegener  Berg  war,  auf  dem  die  flüchtigen 
Tempelritter  eine  sichere  Zuflucht  fanden.  Dem  steht  die  An- 
sicht anderer  Autoren  gegenüber,  das  Wort  Heredom  sei  ledig- 
lich eine  Entstellung  des  lateinischen  »haeredium»  (Erbschaft) 
und  spiele  auf  das  Schlofs  St-Germain  an,  die  Residenz  des 
Kronprätendenten  Karl  Stuart,  dessen  Wiedereinsetzung  der  Hoch- 
grad „Rose-Croix“  anstrebte.  Die  Sache  ist  ganz  dunkel  und 
verworren,  aber  es  lohnt  wirklich  nicht,  ihr  weiter  nachzugehen. 
König  Robert  Bruce  bemühte  sich,  die  Oberleitung  des  Bundes 
zu  erlangen,  der  zwar  der  herrschenden  Gewalt  nicht  feindlich 
gesinnt  war,  jedoch  unter  Umständen  durch  ihre  Organisation 
gefährlich  werden  konnte.  Es  wird  vielfach  geglaubt,  dafs  Bruce 


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Die  Freimaurerei  in  Orofsbritannien  und  Frankreich. 


429 


sich  und  seinen  Nachfolgern  die  Grofsmeisterwürde  des  Ordens 
vorbehielt,  namentlich  der  Herodenloge,  welche  später  nach  Edin- 
burg  verlegt  wurde. 

Bei  der  weiter  oben  (»Geschichte«)  eingehend  behandelten, 
von  London  ausgegangenen  Neugestaltung  der  Freimaurerei 
wurden  die  alten  »Konstitutionen«,  Merkzeichen,  Sinnbilder  und 
Feierlichkeiten  beibehalten.  Der  Bund,  welcher  Bruderliebe,  Bei- 
stand und  Wahrheit  als  seine  leitenden  Grundsätze  hinstellte,  er- 
langte durch  die  Umwandlung  ein  gröfseres  Thätigkeitsgebiet  und 
mehr  Bewegungsfreiheit;  allein  in  Grofsbritannien  werden  diese 
Vorteile  lediglich  zum  Essen,  zum  Trinken  und  zum  Mummen- 
schanz benutzt.  Die  britische  Freimaurerei  leistet  nichts  Nennens- 
wertes auf  geistigem  Gebiete,  denn  dem  Jdeinlichen  Hader 
zwischen  den  verschiedenen  Logengattungen  kann  man  keine 
geistige  Bedeutung  für  die  Welt  beimessen.  Nur  auf  dem  Ge- 
biete der  Wohlthätigkeit  leisten  speziell  die  englischen  Frei- 
maurer Ansehnliches,  aber  angesichts  der  ungeheuren  Brüderzahl 
mufs  auch  das  als  unzulänglich  bezeichnet  werden.  (In  anderen 
Ländern  kommt  es  überdies  vor,  dafs  die  Logenwohithätigkeits- 
partei  von  politischen  Rücksichten  beeinflufst  wird;  so  z.  B. 
weigerte  sich  1874  die  Philadelphialoge  zu  Verviers,  das  Rote 
Kreuz  zu  unterstützen,  weil  dieses  in  Spanien  gegebenenfalls 
nicht  nur  den  Verfassungstreuen,  sondern  auch  den  Karlisten 
zu  Hilfe  kommen  müfste.)  Und  dabei  leugnen  die  Maurer  mit 
Vorliebe,  einem  vorwiegend  wohlthätigen  Bund  anzugehören  — 
namentlich  die  französischen. 

Was  Frankreich  betrifft,  so  gelangte  die  Freimaurerei  dahin 
durch  die  Anhänger  Jakobs  und  des  Prätendenten,  die  in  ihr 
einen  Behelf  zur  Wiedereinsetzung  der  Stuart- Dynastie  erblickten. 
Die  Betreffenden  begnügten  sich  aber  nicht  mit  dem  Mifsbrauch 
der  Maurerei  zu  neuartigen  und  unrechtmäfsigen  Zwecken,  sie 
führten  auch  neue  Grade  ein,  z.  B.  »Irischer  Meister«,  »Voll- 
kommener Irischer  Meister“,  »Mächtiger  Irischer  Meister«.  Die 
Mitgliedschaft  wie  die  pekuniäre  und  moralische  Unterstützung 
des  Hochadels  sicherten  sie  sich  dadurch,  dafs  sie  die  Enthüllung 
wichtiger  Geheimnisse  in  Aussicht  stellten  und  den  Glauben  zu 
erwecken  wufsten,  die  Freimaurer  seien  die  Nachfolger  der 
Templer.  Die  erste  französische  Loge,  die  »zur  Freundschaft 
und  Brüderlichkeit«,  wurde  1721  in  Dünkirchen  errichtet.  Vier 
Jahre  später  gründete  Lord  Derwentwater  zu  Paris  die  zweite, 
deren  Name  unbekannt  geblieben.  Dieser  Lord,  der  wegen 
seiner  Hingabe  an  die  Sache  der  Stuarts  im  Jahre  1746  hin- 
gerichtet wurde,  stand  als  Grofsmeister  an  der  Spitze  noch 
anderer,  von  Parteigängern  jenes  Hauses  ins  Leben  gerufenen 
Logen. 


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430 


Dfe  FrtmiAujerei. 


Praktischer  ging  ein  anderer  eifriger  Freund  der  Stuarts, 
Chevalier  Ramsay,  vor,  indem  er  1730  zunächst  in  London 
auf  eine  maurerische  Reform  hinwirkte,  welche  darauf  hinaus- 
laufen sollte,  dafs  die  »Legende“  auf  den  gewaltsamen  Tod 
Karls  I.  bezogen  werden  und  die  in  der  Loge  zu  verdammenden 
Mörder  Cromwell  und  dessen  Anhänger  sein  sollten.  Er  schlug 
der  Orofsloge  von  England  vor,  die  üblichen  drei  ersten  Grade 
(Lehrling,  Geselle,  Meister),  durch  drei  andere  (»Schottischer 
Maurer“,  »Novize“,  »Tempelritter")  zu  ersetzen,  die  er  als  die 
einzig  echten  und  alten  erklärte.  Aber  die  Grofsloge  durch- 
schaute seine  politischen  Hintergedanken  und  lehnte  ab,  worauf 
er  nach  Paris  ging,  wo  seine  Pläne  viel  Anklang  fanden.  Sein 
»System“  führte  zur  Bildung  jener  Hochgrade,  welche  unter  dem 
Sammelnamen  »Alter  Schottenritus"  bekannt  sind.  Die  Un- 
vereinbarkeit vieler  dieser  Neuerungen  mit  den  Überlieferungen 
der  Freimaurerei  wurde  durch  den  Glanz  der  Dekorationen  und 
die  Prunkhaftigkeit  der  Zeremonien  verhüllt.  Aber  die  Hoch- 
grade des  französischen  und  die  philosophischen  Grade  des  alten 
schottischen  Ritus  sind  keine  Neuerungen,  sondern  Illustrationen 
der  rein  symbolischen  Maurerei. 

Die  Philosophie  begann  in  die  Maurerei  Eingang  zu  finden 
und  deren  Riten  zu  vereinfachen,  ihre  Lehren  zu  klären.  Zu 
den  bemerkenswertesten  philosophischen  Graden  des  18.  Jahr- 
hunderts gehörte  der  »Sonnenritter“.  Er  bezeichnete  es  als 
seinen  Zweck,  an  die  Stelle  der  offenbarten  Religion  die  Natur- 
religion zu  setzen.  Die  Loge  war  nur  von  einem  Lichte  er- 
leuchtet, das  hinter  einer  Wasserkugel  brannte,  welche  die  Sonne 
darstellte.  Die  „Sonnenritter“  ähnelten  einigermafsen  den  „Er- 
habenen Erwählten  Rittern«.  Anderseits  hatte  das  Eindringen  der 
Philosophie  in  die  Freimaurerei  den  Nachteil,  dafs  letztere  zu 
allerlei  Dingen  mifsbraucht  wurde,  die  mit  ihr  nichts  zu  schaffen 
haben.  In  manchen  Logen  lehrte  man  Kabbala,  Zauberei,  Geister- 
beschwörung, Wahrsagekunst,  Alchimie,  Teufelsglauben  u.  dgl.  m. 
Diese  Verirrungen  führten  dazu,  dafs  1747  in  Arras  und  vier 
Jahre  darauf  in  Marseille  Verwaltungsmittelpunkte  ins  Leben 
traten.  1754  stiftete  Ritter  von  Bonneville  zu  Paris  in  einem 
von  ihm  erbauten  prachtvollen  Palast  das  „Clermontsche  Hoch- 
kapitel“, welches  auf  ähnlichen  Grundlagen  beruhte  wie  das 
Ramsaysche  System.  Gegner  desselben  gründeten  1762  den 
„Rat  der  Ritter  vom  Orient“.  Auch  an  einer  Loge  der 
„Kaiser  vom  Morgen-  und  Abendland"  fehlte  es  nicht.  Der 
1766  von  Baron  Tschudi  ins  Dasein  gerufene  „Orden  vom 
Flammenden  Stern“  hatte  zur  Grundlage  ein  seltsames  Gemisch 
von  tempelritterlichen  und  jesuitischen  Ideen  und  Begriffen. 

Das  französische  Maurertum  blieb  nicht  ohne  Einflufs  auf 


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Clermontsches  Hochkapitel,  strikte  und  laxe  Observanz. 


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die  Revolution.  Nach  der  Wahl  des  Herzogs  von  Chartres  zum 
Orofsmeister  wurden  alle  Logen  zu  einem  Grofsorient  vereinigt, 
dessen  Rolle  bei  der  Vorbereitung  der  Revolution  ebenso 
historisch  ist  wie  der  gewaltige  Einflufs  des  Herzogs,  der  den 
Grofsorient  für  seine  politischen  Ziele  ausbeutete.  Die  Art  und 
Weise  seiner  Einweihung  in  den  Kadoschrittergrad  wird  folgender- 
mafsen  erzählt.  Fünf  Brüder  führten  ihn  in  einen  Saal,  der  in 
eine  mit  menschlichen  Gebeinen  besäte  und  von  Grablampen  be- 
leuchtete Grotte  verwandelt  worden  war.  In  einem  Winkel  be- 
fand sich  eine  mit  den  Abzeichen  des  Königtums  versehene 
Gliederpuppe.  Die  Einführer  befahlen  dem  Herzog,  sich  wie 
tot  auf  den  Boden  zu  legen,  zählten  die  Grade  auf,  die  er  be- 
reits hinter  sich  hatte,  wiederholten  seine  früheren  Eide  und  lob- 
priesen  den  Grad,  in  welchen  er  nunmehr  aufgenommen  werden 
sollte.  Dann  liefsen  sie  ihn  aufstehen  und  eine  hohe  Leiter  er- 
klimmen, von  deren  höchster  Sprosse  er  hinabspringen  mufste. 
Nachher  bewaffneten  sie  ihn  mit  einem  Dolch  und  beauftragten 
ihn,  die  gekrönte  Gliederpuppe  zu  erstechen;  aus  der  Wunde 
spritzte  ihm  eine  blutähnliche  Flüssigkeit  auf  die  Hände  und 
Kleider.,  Ferner  mufste  er  der  Gestalt  den  Kopf  abhauen  und 
schliefslich  wurde  ihm  mitgeteilt,  dafs  er  König  Philipp  den 
Schönen  erschlagen  habe  und  dafs  die  umhergestreuten  Gebeine 
diejenigen  des  Templer-Grofsmeisters  Molay  seien. 


Clermontsches  Hochkapitel,  strikte  und  laxe  Observanz. 

Zwischen  1735  und  1740  wurde  die  Freimaurerei  mit 
katholischen  Zeremonien  bereichert,  die  ihr  früher  unbekannt 
waren.  Dies  geschah  durch  das  Clermontsche  Hochkapitel,  so 
genannt  zu  Ehren  Ludwigs  von  Bourbon,  Prinzen  von  Clermont, 
der  damals  französischer  Orofsmeister  der  Maurerbrüderschaft 
war.  Seither  gewannen  die  Jesuiten  auf  die  letztere  einen  immer 
gröfseren  Einflufs.  Der  Aufnahmebewerber  wurde  nicht  in  einer 
Loge,  sondern  in  Jerusalem  empfangen,  aber  keinem  geistigen  Jeru- 
salem, sondern  einem  geistlichen,  Rom  bedeutenden.  Die  Ver- 
sammlungen hiefsen  „kanonische  Kapitel"  und  in  ihnen  herrschte 
mönchische  Redeweise  und  Askese.  Die  Satzungen,  vom  zweiten 
Jesuitengeneral  Lainez  verfafst  oder  inspiriert,  verraten  die  Sucht 
nach  allgemeiner  Herrschaft,  denn  bei  der  Aufnahme  der  Erha- 
benen Ritter  werden  dem  Kandidaten  die  zwei  letzten  Kapitel 
der  Apokalypse  vorgelesen  — eine  glühende  Darstellung  des 
allumfassenden  Reichs,  des  Gegenstandes  der  Sehnsucht  der 
Jesuiten.  Der  neue  Orden  fand  eine  sehr  schnelle  Verbreitung; 


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Die  Freimaurerei. 


als  der  1742  zu  Paris  in  dessen  höchste  Grade  eingeweihte 
Reichsfreiherr  Karl  Gotthold  v.  Hundt  nach  Deutschland  zurück- 
kehrte, entdeckte  er,  dafs  jene  Grade  unter  der  Leitung  Marshalls 
bereits  in  Sachsen  und  Thüringen  eingeführt  waren. 

ln  Gemeinschaft  mit  Marshall  rief  Hundt  den  .Ritus  von 
der  strikten  Observanz»  ins  Leben,  der  seinen  Namen  seinem 
strengen  mönchischen  Unterordnungswesen  verdankte.  Eine  Zeit- 
lang schien  diese  neue  Schöpfung  den  Zweck  zu  haben,  die 
Hoffnungen  des  Hauses  Stuart  zu  nähren.  Marshall  war  nämlich, 
als  er  1741  Paris  besuchte,  daselbst  mit  Ramsay  und  den  übri- 
gen hervorragenderen  Anhängern  der  verbannten  Dynastie  in 
enge  Beziehungen  getreten,  und  Hundt  bewegte  sich  auf  derselben 
Bahn,  indem  er  den  Clermontschen  Ritus  mit  alttemplerischen 
Elementen  verquickte  und  in  Deutschland  eine,  mit  keiner  andern 
zu  verwechselnde  »Neue»  Tempelherrensekte  stiftete.  In  Wirk- 
lichkeit jedoch  scheint  der  Baron  den  Stuarts  nicht  von  Nutzen 
gewesen  zu  sein.  Allerdings  wurde  Karl  Eduard,  als  er  Deutsch- 
land besuchte,  von  den  Mitgliedern  der  Sekte  sehr  zuvorkommend 
empfangen ; sie  versprachen  ihm  den  ausgedehntesten  Beistand, 
unterliefsen  aber  freilich  auch  nicht,  sich  bei  ihm  für  den  Fall 
des  Gelingens  auf  Titel  und  Würden  vorzumerken.  Hundt  selbst 
dürfte  bei  der  ganzen  Sache  nur  die  Rolle  eines  Spekulanten 
gespielt  haben,  und  der  von  jesuitischem  Sauerteig  durchsetzte 
Ritus  von  der  strikten  Observanz  hatte  wahrscheinlich  insgeheim 
einen  ganz  andern  Zweck  als  die  Wiedereinsetzung  der  vertrie- 
benen Königsfamilie.  Thatsaehe  ist,  dafs  die  Sekte  der  Neuen 
Templer  zu  einer  Zeit  grofse  Macht  besafs  und  die  Vorläuferin 
des  bayrischen  Illuminatenordens  war. 

1767  ereignete  sich  zu  Wien  im  Schofs  der  Strikten  Ob- 
servanz ein  Schisma;  die  sich  Lostrennenden  traten  zu  einem 
»Ritus  der  laxen  Observanz"  zusammen.  Sie  behaupteten,  im 
Alleinbesitz  der  maurerischen  Geheimnisse  zu  sein  und  das  Ver- 
steck der  herrlichen  Schätze  des  mittelalterlichen  Templerordens 
zu  kennen.  Demgemäfs  beanspruchten  sie  den  Vorrang  vor 
sämtlichen  übrigen  Freimaurer-Riten  und  -Systemen.  Ihre  Ver- 
sprechungen und  Unterweisungen  drehten  sich  um  den  Stein 
der  Weisen,  die  Beherrschung  der  Geisterwelt  und  das  Tausend- 
jährige Reich  Christi.  Nur  römisch-katholische  Kandidaten  wur- 
den aufgenommen,  u.  zw.  blofs  solche,  die  bereits  alle  Grade 
der  Strikten  Observanz  hinter  sich  hatten.  Die  Mitglieder  kannten 
lediglich  ihre  unmittelbaren  Vorgesetzten;  doch  wufste  man,  dafs 
der  Hofprediger  Dr.  Stark  in  Königsberg  und  der  mecklenbur- 
gische Baron  Raven  mit  an  der  Spitze  des  Ritus  standen. 

Unterschiedliche  deutsche  Logen  hatten  schon  vor  der 
Entstehung  der  Strikten  Observanz  das  Templertum  eingeführt. 


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Clermontsches  Hochkapitel,  strikte  und  laxe  Observanz. 


433 


Infolge  der  dadurch  hervorgerufenen  Zwistigkeiten  fand  in 
Braunschweig  im  Mai  1775  ein  »Konvent"  statt,  auf  welchem 
Dr.  Stark  auftrat,  der  ein  Jünger  des  Betrügers  und  Geistersehers 
Schröpfer  und  des  Schwindlers  Gugumos  war.  (Der  letztere  nannte 
sich  Hohepriester,  Ritter,  Fürst,  Inhaber  des  Steins  der  Weisen, 
Besitzer  des  Geheimnisses  der  Geisterbeschwörung  u.  s.  w.) 
Stark  erklärte  unverfroren,  er  führe  den  Beinamen  »Archimedes 
ab  aquila  fulva",  sei  Kanzler  des  Grofskapitels  von  Schottland 
und  habe  von  diesem  den  Auftrag  erhalten,  den  Konvent  in  den 
wahren  Grundsätzen  der  Maurerei  zu  unterrichten.  Als  man  ihm 
aber  sein  Beglaubigungsschreiben  abverlangte,  wollte  oder  konnte 
er  es  nicht  vorzeigen,  und  als  die  Braunschweiger  eine  Abord- 
nung direkt  nach  Aberdeen,  dem  Sitz  des  »Grofskapitels“,  ent- 
sandten, erfuhren  sie,  dafs  das  letztere  keine  unbekannten  Ge- 
heimnisse habe,  vielmehr  nur  die  drei  untersten  Grade  der  Frei- 
maurerei kenne,  also  noch  weniger  wisse  als  die  deutschen  Maurer. 
Allein  der  entlarvte  Dr.  Stark  bewahrte  seine  Seelenruhe  und 
schrieb  ein  Buch,  in  welchem  er  die  Strikte  Observanz  als  staats-, 
gesellschafts-  und  religionsfeindlich  hinstellte.  Dasselbe  betitelt 
sich:  »Der  Stein  des  Anstofses  und  Fels  der  Ärgernis,  allen 
meinen  deutschen  Mitbürgern  in  und  aufser  der  siebenten  Pro- 
vinz entdeckt,  ich  weifs  nicht  von  wem"  (1780). 

Der  Starksche  Angriff  auf  das  Hundtsche  System  war  nicht 
der  erste.  Graf  Zinzendorf,  ein  preufsischer  Oberstabsarzt,  der 
in  die  Strikte  Observanz  aufgenommen  und  daher  aus  der  Logen- 
liste der  Drei  Weltkugeln  gestrichen  worden  war,  rächte  sich  an 
beiden  Systemen  durch  die  Gründung  von  templerischen  Logen 
in  Berlin  und  Potsdam,  die  er  jedoch  bald  aufgab,  um  einen 
ganz  neuen  Ritus  zu  erfinden:  den  aus  sieben  Graden  bestehen- 
den Zinzendorfschen,  den  Friedrich  der  Grofse  begünstigte.  Der 
neue  Orden  bekämpfte  sowohl  die  Strikte  als  auch  die  Laxe 
Observanz  heftig  und  erfolgreich. 

Um  das  Jahr  1765  gründete  der  »Bruder"  v.  Köpper  in 
Preufsen  den  Bund  der  »Afrikanischen  Bauherren"  — ein  Ge- 
misch von  Geschichtsforschung  und  naturwissenschaftlichem  Stu- 
dium mit  Maurerei  und  Rittertum.  Der  in  elf  Grade  eingeteilte 
Bund  errichtete  ein  Riesengebäude  mit  einer  grofsen  Bücherei, 
einer  naturgeschichtlichen  Sammlung  und  einem  chemischen 
Laboratorium.  Bis  zu  ihrer  Auflösung  (1786)  bewilligte  die 
Gesellschaft  alljährlich  eine  goldene  Medaille  und  50  Dukaten 
dem  Verfasser  der  besten  maurerischen  Schrift,  die  dann  von 
ihr  veröffentlicht  wurde.  Sie  gehörte  zu  den  wenigen  vernünf- 
tigen Maurergesellschaften,  denn  die  afrikanischen  Bauherren 
hielten  nichts  von  Äufserlichkeiten  (Schurzfell,  Geschmeide,  Ver- 
zierungen etc.),  füllten  ihre  Versammlungen  mit  Vorträgen  und 

Heckethorn-Kattcher,  Geheimbünde  u.  Gchcimlchren.  28 


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434 


Die  Freimaurerei. 


wissenschaftlichen  Verhandlungen  aus,  hielten  bei  ihren  einfachen 
und  würdigen  Mahlzeiten  belehrende  Ansprachen,  liefsen  sich  für 
die  Einweihung  von  Mitgliedern  nichts  bezahlen  und  unterstützten 
arme  Brüder  reichlich. 

Was  die  Organisation  betrifft,  so  waren  die  Afrikanischen 
Bauherren  in  zwei  Gruppen  geteilt.  Die  erste  umfafste  fünf 
Grade:  1.  Lehrling  der  ägyptischen  Geheimnisse;  2.  in  die 
ägeischen  Geheimnisse  Eingeweihter;  3.  Kosmopolit;  4.  christ- 
licher Philosoph;  5.  Wahrheitsliebender  („aletophile").  ln  der 
zweiten  („inneren“)  Gruppe  gab  es  nur  drei  Grade:  1.  Armiger, 
dem  die  Bedeutung  der  Worte  „Fos  Braeder“  und  „Gälde“ 
erklärt  wurde;  2.  Miles,  dem  man  mitteilte,  dafs  die  Buchstaben 
G und  L nicht  „Geometrie“  und  „Logik“  bedeuten,  sondern 
die  Anfangsbuchstaben  des  Namens  des  Ordensstifters  seien; 
3.  Eques  (Ritter),  dem  ein  Ring  verliehen  wurde,  den  er  am 
Ringfinger  der  rechten  Hand  oder  an  der  Uhr  trug  und  der 
aus  goldnen  Liebesknoten  und  den  Buchstaben  R.  S.  gebildet 
war.  Die  Mitglieder  nannten  sich  „aediles"  (Architekten)  und 
sprachen  bei  ihren  Zusammenkünften  lateinisch.  Alle  ihre  Bücher 
waren  in  rotem  Maroquin  gebunden  und  mit  Goldschnitt  ver- 
sehen. Ihr  Hauptarchiv  befand  sich  in  der  Schweiz  an  einem 
geheimgehaltenen  Ort.  Die  Wände  des  Einweihungssaales  waren 
entweder  mit  gefüllten  Büchergestellen  oder  mit  schönen  Fresken 
geschmückt.  Wer  einen  Aufnahmebewerber  einführte,  trug  ein 
blaues  Atlasgewand;  der  Meister  safs  an  einem  Tisch,  auf  welchem 
ein  Globus  stand  und  mathematische  Instrumente  lagen.  Die 
Kandidaten  mufsten  Gelehrte  oder  Künstler  sein  und  Proben 
ihrer  Tüchtigkeit  ablegen.  Der  Vorgang  bei  den  Verhandlungen 
war  grofsenteils  dem  der  französischen  Akademie  nachgebildet. 


Der  Wilhelmsbader  Konvent. 

Im  Laufe  der  Zeit  kam  es  zwischen  den  verschiedenartigen 
maurerischen  Vereinigungen  zu  so  vielen  und  teilweise  heftigen 
Streitigkeiten,  dafs  zu  deren  Schlichtung  mehrere  Konvente 
oder  Kongresse  abgehalten  wurden.  Der  Lyoner  (1778)  verlief 
ergebnislos,  obgleich  er  einen  ganzen  Monat  dauerte,  und  auch 
bei  dem  Pariser  (1785)  kam  nichts  heraus,  da  man  die  Zeit  an 
unfruchtbare  Debatten  mit  Cagliostro  verschwendete.  Am  wich- 
tigsten und  erfolgreichsten  war  der  1782  abgehaltene  Wilhelms- 
bader Konvent,  welchem  der  Herzog  von  Braunschweig  vorsafs, 
der  den  innerhalb  der  deutschen  Freimaurerei  herrschenden 


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Der  Wilhelmsbader  Konvent. 


435 


Zwistigkeiten  sehr  gern  ein  Ende  gemacht  hätte.  Der  Beratung 
wohnten  Maurer  aus  ganz  Europa  wie  auch  aus  Amerika  und 
sogar  aus  Asien  bei.  Damals  schätzte  man  die  Zahl  der  Frei- 
maurer auf  der  Erde  auf  mehr  als  drei  Millionen. 

Einen  Hauptgegenstand  der  Tagesordnung  bildeten  die 
Mitteilungen  in  Dr.  Starks  »Stein  des  Anstofses"  über  den 
Einfluss  der  Jesuiten  auf  den  Freimaurerbund.  Beträchtliche 
Verwirrung  verursachte  der  Umstand,  dafs  mehrere  Oberhäupter 
des  Ritus  von  der  Strikten  Observanz  aufser  stände  waren,  über 
die  ihnen  angeblich  wohlbekannten  Geheimnisse  der  Hochgrade 
Aufschlufs  zu  geben  und  sich  über  die  Verwendung  der  ihnen 
anvertrauten  grofsen  Beträge  auszuweisen.  Der  wichtigste  Be- 
ratungspunkt betraf  die  Frage,  ob  die  Freimaurerei  als  eine 
Fortsetzung  des  Tempelrittertums  zu  betrachten  sei  und  ob  die 
Bundesgeheimnisse  in  den  modernen  Templergraden  zu  suchen 
seien.  Nach  dreifsig  Sitzungen  traf  der  Konvent  eine  verneinende 
Entscheidung;  die  Strikte  Observanz  erlitt  eine  Niederlage  und 
wurde  vom  Herzog  von  Braunschweig  auf  drei  Jahre  suspendiert 
— ein  Schlag,  von  dem  sie  sich  nicht  mehr  erholte.  Als  die 
schwedischen  Maurer  behaupteten,  im  Besitz  aller  Geheimnisse 
zu  sein,  begab  sich  der  Herzog  nach  Upsala,  und  da  er 
fand,  dafs  die  Schweden  keineswegs  mehr  wufsten  als  die 
Deutschen,  entstanden  neue  Streitigkeiten  zwischen  den  Maurern 
der  beiden  Länder. 

Das  Ergebnis  des  Wilhelmsbader  Konvents  war  die  Bei- 
behaltung der  drei  symbolischen  Grade  und  die  Stiftung  eines 
neuen,  »Ritter  von  der  Wohlthätigkeit“  genannt  und  auf  den  in 
St  Martins  »Irrtümer  und  Wahrheit“  und  im  »Tableau  Naturei" 
dargelegten  Grundsätzen  beruhend.  Die  Gründung  dieses  Wohl- 
thätigkeitsgrades  wurde  dem  Einflufs  der  Jesuiten  zugeschrieben, 
weil  »CH.  B.“  (Abkürzung  für  »Chevaliers  bienfaisants")  den 
Zahlenwert  13  (3-J-8-J-2)  hat,  was  N bedeutet,  die  Abkürzung 
von  »Nostri«.  Ein  andres  Ergebnis  des  Konvents  bestand  in 
einer  Art  Bündnis  zwischen  Freimaurerei  und  Illuminatentuni, 
herbeigeführt  durch  Weishaupt  (»Spartacus“),  den  Stifter  des 
bayrischen  Illuminatenordens.  Übrigens  war  damals  der  Einflufs 
der  Jesuiten  zu  grofs,  um  gänzlich  überwunden  werden  zu 
können;  ihrer  Einwirkung  auf  den  Herzog  von  Braunschweig 
war  auch  der  heftige  Widerstand  Deutschlands  gegen  die  Prin- 
zipien der  französischen  Revolution,  namentlich  das  bekannte 
einschlägige  Manifest  des  Herzogs  zuzuschreiben. 

An  dieser  Stelle  wird  eine  interessante  historische  Anekdote 
willkommen  sein,  deren  Wahrheit  wir  nicht  verbürgen  können, 
die  aber  von  Dr.  E.  E.  Eckert  einem  Pariser  Brief  (gerichtet  an 
einen  Wiener  Baron)  entnommen  wird,  dessen  Schreiber  er  als 

28* 


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436 


Die  Freimaurerei. 


»vollkommen  vertrauenswürdig“  bezeichnet.  Es  handelt  sich  um 
den  plötzlichen  Rückzug  Friedrich  Wilhelms  III.  aus  Frankreich 
nach  dem  Einfall  von  1792.  Diesen  bisher  nicht  genügend 
aufgeklärten  Rückzug  beleuchtet  Eckert  in  seinem  »Magazin  der 
Beweisführung  für  Verurteilung  des  Freimaurer-Ordens“  (3  Bände, 
1863, 1867,  1880)folgendermafsen:  »Der  König  von  Preufsen  hatte 
unsre  Grenze  überschritten  und  befand  sich  entweder  in  Verdun 
oder  in  Thionville.  Da  gab  ihm  eines  Abends  ein  vertrauter 
Diener  das  maurerische  Zeichen  und  führte  ihn  in  ein  unter- 
irdisches Gewölbe,  wo  er  ihn  allein  liefs.  Alsbald  sah  der 
König  seinen  Vorfahr,  Friedrich  den  Grofsen  - der  Stimme, 
der  Kleidung,  dem  Gang  und  den  Gesichtszügen  nach  un- 
verkennbar - auf  sich  zuschreiten.  Der  Geist  warf  dem  König 
das  franzosenfeindliche  Bündnis  mit  Österreich  vor  und  befahl 
ihm,  sich  sofort  von  demselben  zurückzuziehen.  Friedrich 
Wilhelm  III.  vollzog  den  Befehl  zum  grofsen  Verdrufs  seiner 
Verbündeten,  denen  er  die  Ursache  seiner  Willensänderung  nicht 
mitteilte.  Unser  berühmter  Schauspieler  Fleury,  der  am  Thöätre 
Fran^ais  in  den  »Zwei  Pagen"  Friedrich  den  Grofsen  bekanntlich 
aufs  vollendetste  zu  spielen  pflegte,  gestand  nach  einigen  Jahren, 
dafs  er  auf  Veranlassung  des  Generals  Dumouriez  bei  jener 
Scene  den  Geist  Friedrichs  des  Grofsen  dem  König  gegenüber 
dargestellt  habe“.  Dumouriez  war  allerdings  Freimaurer;  ob 
aber  die  interessante  Geschichte  wirklich  wahr  ist,  wissen  wir  nicht. 


Die  französische  Freimaurerei  unter  den  Napoleons 
und  der  Restauration. 

Vor  und  während  der  Revolution  entfaltete  die  Maurerei 
in  Frankreich  eine  nützliche  Thätigkeit,  denn  ihre  Oberhäupter 
verstanden  die  maurerischen  Grundsätze  richtig  und  vertraten  sie 
würdig.  Aber  die  Errichtung  des  Kaisertums  mit  seinen  höfischen 
Nichtigkeiten  und  seiner  militärischen  Prachtentfaltung  liefs  das 
theatralische  Element  des  Maurerwesens  wieder  mehr  in  den 
Vordergrund  treten.  Man  verfiel  in  akademische  Spielereien, 
unterwürfigen  Gehorsam  und  endlose  Streitigkeiten.  Von  dem 
kaiserlichen  Glanz  verblendete  maurerische  Schriftsteller,  Anhänger 
Napoleons  I.,  erklären  jene  Zeit  für  die  Blütezeit  der  französischen 
Freimaurerei;  unbefangene  Beurteiler  jedoch  halten  sie  für  die 
am  wenigsten  wichtige  und  ehrenvolle. 

Napoleon  hegte  anfangs  die  Absicht,  die  Freimaurerei  gänz- 
lich zu  beseitigen,  da  er  in  ihr  eine  mögliche  Zufluchtstätte  für 
die  von  ihm  bekanntlich  so  sehr  verachteten  »Ideologen"  er- 


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Die  französische  Freimaurerei  unter  den  Napoleons.  4.57 

blickte,  da  ferner  das  Repräsentationssystem  des  Orofsorients  seinen 
monarchischen  Grundsätzen  zuwiderlief  und  da  endlich  der 
schottische  Ritus  seinen  Verdacht  erregte.  Allein  die  in  der 
Schmeichelkunst  geübten  Pariser  Logen  bückten  sich  vor  dem 
Ersten  Konsul,  sodann  vor  dem  Kaiser  und  baten  um  Gnade. 
Napoleon  fühlte  sich  zwar  nicht  ganz  beruhigt,  aber  er  war  zu 
klug,  um  nicht  die  Notwendigkeit  der  Vermeidung  von  Gewalt- 
mafsregeln  einzusehen.  Er  befolgte  daher  die  Politik,  die  Körper- 
schaft, um  sie  nicht  gegen  sich  aufzubringen,  unter  seiner  eigenen 
mittelbaren  Aufsicht  bestehen  zu  lassen.  Er  überschwemmte  die 
Logen  mit  Polizeispitzeln,  die  bald  zu  den  höchsten  Graden  auf- 
stiegen  und  deren  Anwesenheit  alles  politische  Ränkeschmieden 
von  vornherein  verhindern  mufste.  Nach  langem  Zögern  erklärte 
der  Kaiser  sich  zu  Gunsten  des  Grofsorients  und  wies  dem 
schottischen  Ritus  den  zweiten  Rang  an.  Sein  Machtwort  stellte 
im  Schofs  der  französischen  Freimaurerei  den  Frieden  her.  Der 
Grofsorient  wurde  zu  einem  Hofamt  und  die  »Brüder"  zu  einem 
Heer  von  Staatsbeamten.  Die  Grofsmeisterstelle  übertrug  der 
Grofsorient  mit  Zustimmung  des  Kaisers  einem  Bruder  desselben, 
Joseph  Napoleon,  der  sie  auch  annahm,  obgleich  er  gar  kein 
Eingeweihter  war.  Der  Herrscher  bestand  jedoch  zur  gröfsem 
Sicherheit  darauf,  dafs  sein  Vertrauter  und  Erzkanzler  Cambac£res 
zum  Vize-Grofsmeister  gewählt  werde  und  dadurch  die  eigent- 
liche Oberleitung  in  die  Hände  bekomme. 

Allmählich  gaben  sämtliche  in  Frankreich  heimische  Maurer- 
riten ihre  Zustimmung  zur  kaiserlichen  Politik  und  wählten  Camba- 
ceres  zum  Oberhaupt.  So  erlangte  der  Erzkanzler  im  Laufe  der 
Zeit  mehr  maurerische  Titel  als  irgend  jemand  vor  oder  nach 
ihm.  1805  wurde  er  Grofsmeistergehilfe  des  Grofsorients,  1806 
Souveräner  Grofsmeister  des  Hohen  Konzils  und  Grofsmeister  der 
Prinzen  von  Rose-croix  de  Heroden,  1 807  Oberhaupt  des  fran- 
zösischen Ritus  und  Grofsmeister  des  philosophischen  Schotten- 
ritus, 1 808  Grofsmeister  des  Christusordens,  1 809  National-Grofs- 
meister  der  Ritter  von  der  heiligen  Stadt  und  Protektor  der 
philosophischen  Hochgrade.  Und  da  jede  neue  französische  Loge 
dem  Grofsmeister  eine  hohe  Summe  bezahlen  mufste,  zog  er  aus 
der  Maurerei  ein  ungeheures  Einkommen. 

Nach  kurzer  Zeit  stellten  sich  abermals  Zwistigkeiten  ein,  denn 
der  an  höfische  Sitten  und  höfischen  Prunk  gewöhnte  Camba- 
ceres  bevorzugte  insgeheim  den  schottischen  Ritus  mit  dessen 
hochtrabenden  Titeln  und  glänzenden  Zeremonien.  Dies  ver- 
anlafste  den  Grofsorient,  sich  beim  Kaiser  zu  beschweren,  der 
inmitten  seiner  grofsangelegten  militärischen  und  politischen  Pläne 
nichts  von  den  kleinlichen  Scherereien  des  Maurertums  wissen 
wollte  und  neuerlich  daran  dachte,  den  Bund  in  Frankreich  gänz- 


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43S 


Die  Freimaurerei. 


lieh  aufzulösen.  Doch  liefs  er  sich  von  dieser  Ansicht  durch  den 
Erzkanzler  abbringen,  der  ihn  von  den  Gefahren  überzeugte, 
welche  die  Unterdrückung  der  Logen  nach  sich  gezogen  haben 
würde.  Bekanntlich  pflegte  der  geniale  Korse  sonst  weder  zu 
zögern  noch  sich  von  Entschlüssen  abbringen  zu  lassen.  Viel- 
leicht leuchtete  ihm  diesmal  die  Notwendigkeit  ein,  dafs  die  fran- 
zösische Gesellschaft  wenigstens  eine  Körperschaft  aufzuweisen 
habe,  deren  Mitglieder  wenigstens  scheinbar  frei  seien,  die  also 
eine  Art  politischen  Sicherheitsventils  bilden  könne.  Die  Fran- 
zosen hatten  nämlich  eine  Vorliebe  für  die  Logen,  weil  sie  die- 
selben für  unabhängig  hielten. 

Der,  wie  gesagt,  insgeheim  begünstigte  Schottenritus  breitete 
sich  rasch  aus,  obgleich  der  Grofsorient  ihn  zu  beseitigen  trachtete. 
Er  wählte  einen  „Direktor  der  Riten“,  verlegte  das  Hohe  Konzil 
(den  Grofsrat)  nach  Mailand  und  machte  Eugen  v.  Beauharnais 
zum  Grofsmeister  des  schottischen  Grofsorients  von  Italien. 
Obgleich  eine  Person,  Cambaceres,  an  der  Spitze  der  beiden 
Systeme  stand,  bekämpften  diese  einander  mit  der  ärgsten  Heftig- 
keit. Trotzdem  nahm  die  Zahl  der  Logen  in  Frankreich  so  sehr 
zu,  dafs  es  ihrer  im  Jahre  1812  nahezu  1100  gab,  darunter  69 
in  der  Armee.  Da  der  Kaiser  der  Maurerei  nichts  anhaben 
konnte,  machte  er  sie  seinen  Zwecken  nutzbar  und  führte  sie  im 
Heer  und  in  den  von  ihm  eroberten  Ländern  ein.  Er  züchtete 
durch  sie  den  Bonapartismus  und  die  Logen- „Arbeit“  wurde  mit 
Hochrufen  auf  ihn  eröffnet  und  geschlossen.  1808  rief  in 
Deutschland  Johannes  Witt  von  Dörring  — Mitglied  der  meisten 
damaligen  Geheimbünde  Europas  — den  maurerischen  „Orden 
der  Kleeblätter"*)  ins  Leben  behufs  Förderung  der  Pläne  Napo- 
leons; die  Mitglieder  - zu  denen  auch  einige  hervorragende 
deutsche  Staatsmänner  gehört  haben  sollen  - erhofften  von 
einem  Erfolg  des  Korsen  die  Mediatisierung  aller  deutschen  Staaten 
und  die  Vereinigung  Deutschlands  mit  Frankreich  zu  einem  Reich. 

Übrigens  gab  es  unter  dem  Schatten  des  kaiserlichen 
Schutzes  auch  antinapoleonische  Logen,  die  bei  ihren  Versamm- 
lungen n icht  „Vive  l’empereur!"  riefen.  Im  allgemeinen  aber  ist 
es  gewifs,  dafs  Napoleon  I.  bei  seinen  Eroberungen  dem  Beistände 
der  Freimaurer  viel  zu  verdanken  hatte.  Das  ist  kein  Wunder, 
denn  die  spanischen,  deutschen  und  italienischen  Logen,  die 
unter  seiner  Ägide  errichtet  wurden,  standen  unter  der  Ober- 
leitung von  Militärs,  und  die  französischen  selbst  hatten  zu  ihren 
höchsten  Würdenträgern  Marschälle,  Ritter  der  Ehrenlegion,  Hoch- 
aristokraten, Senatoren  und  andere  „verläßliche  Persönlichkeiten", 


*)  Der  Name  rührt  daher,  dafs  nur  je  drei  Mitglieder  einander  be- 
kannt waren. 


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Die  französische  Freimaurerei  unter  den  Napoleons.  -H9 

die  gegen  Cambaeeres  und  mittelbar  gegen  den  Monarchen 
äufserst  unterwürfig  waren.  Die  halbjährlichen  Losungsworte 
des  Qrofsorients  spiegeln  die  Entwicklungs-Geschichte  der  Lauf- 
bahn Bonapartes  wieder:  1800  »Wissenschaft  und  Friede",  1802 
(nach  Marengo)  »Einheit  und  Erfolg",  1804  (nach  der  Krönung) 
»Zufriedenheit  und  Gröfse“,  nach  der  Schlacht  von  Friedland 
»Kaiser  und  Vertrauen“,  nach  • Unterdrückung  der  Tribüne 
»Treue«,  bei  der  Geburt  des  Königs  von  Rom  »Nachkommen- 
schaft und  Freude»,  beim  Abmarsch  nach  Rufsland  »Sieg  und 
Rückkehr.“ 

Als  Napoleon  sich  mit  der  Freimaurerei  verständigte,  um 
ihre  Unterstützung  zu  erlangen,  soll  er  ihr  Versprechungen  ge- 
macht haben,  die  er  nicht  gehalten  zu  haben  scheint;  es  heifst, 
dafs  sie  sich  deshalb  später  gegen  ihn  wendete  und  nicht  wenig 
zu  seinem  Sturz  beitrug.  Diese  Angaben  haben  indes  geringe 
Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Immerhin  ist  es  Thatsache,  dafs  die 
maurerischen  Kreise  sich  auf  die  Hinterbeine  zu  stellen  begannen. 
Das  veranlafste  den  Polizeiminister  Savary  im  Jahre  1810  zu  dem 
Vorhaben,  den  Bund  zu  verbieten,  doch  wurde  dieser  abermals 
von  Cambaeeres  gerettet.  Die  Rettung  verhinderte  nicht  die  Ent- 
stehung einer  auf  die  Wiedereinsetzung  der  Bourbonen  abzielen- 
den Loge,  welche  auch  auf  das  Heer  Übergriff  und  die  aufstän- 
dische Bewegung  von  1813  verursachte. 

Was  die  Restauration  betrifft,  so  konnte  sie  mit  ihrer  Kurz- 
sichtigkeit, Mittelmäfsigkeit  und  Rücksichtslosigkeit  den  Freimaurern 
nicht  behagen.  Hatte  schon  Napoleon  diese  zuletzt  gegen  sich 
eingenommen,  so  konnten  sie  dem  Verhalten  der  neuen  Regierung 
selbstverständlich  noch  weniger  Geschmack  abgewinnen.  Sie  ver- 
hielten sich  einstweilen  zuwartend.  Bald  entstand  in  Paris  die 
maurerische  Formen  annehmende  Gesellschaft  »Das  wiedergeborne 
Frankreich",  die  dem  neuen  Willkürherrscher  Spionen-  und  Rächer- 
dienste leistete,  aber  von  ihm  schon  nach  einem  Jahre  im  stillen 
unterdrückt  werden  mufste,  weil  der  blinde  Eifer  ihrer  Mitglieder 
sich  mehr  schädlich  als  nützlich  erwies.  Nun  nahm  die 
katholische  Geistlichkeit  den  Kampf  gegen  die  Freimaurerei  auf. 
Unter  dem  Kaiser  hatte  die  Geistlichkeit  sich  sehr  beengt  und 
geringgeschätzt  gefühlt;  jetzt  schwoll  ihr  der  Kamm  wieder  und 
sie  liefs  es  sich  angelegen  sein,  die  Maurer  beim  König  wie  beim 
Publikum  als  Rationalisten  und  Freunde  des  Königsmordes  zu 
verdächtigen,  was  die  Schließung  zahlreicher  Logen  bewirkte. 
Anderseits  wurde  1816  in  Paris  der  Misraimritus  eingeführt;  fünf 
Jahre  später  infolge  polizeilicher  Plackereien  verboten,  feierte  die 
Mutterloge,  »Regenbogen«  genannt,  ihre  Wiedereröffnung  erst 
1830.  Um  dieselbe  Zeit  trat  die  »Trinosophisten"-Loge  ins 
Leben. 


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410 


Die  Freimaurerei. 


Angeblich  sollen  die  Freimaurer  die  Julirevolution  (1830) 
zu  stände  gebracht  haben,  aber  das  ist  wenig  glaubwürdig.  Immer- 
hin nahm  Ludwig  Philipp  den  Bund  unter  seinen  Schutz  und 
ernannte  einen  seiner  Söhne,  den  Herzog  von  Orleans,  zum  Grofs- 
meister.  Nach  des  Herzogs  Tod  (1842)  wurde  sein  Bruder,  der 
Herzog  von  Nemours,  sein  Nachfolger  und  in  demselben  Jahr 
fanden  die  Streitigkeiten  zwischen  dem  Orofsorient  und  dem 
schottischen  Ritus  eine  gütliche  Beilegung.  Es  heilst,  dafs  ein  in 
Strafsburg  abgehaltener  Freimaurerkonvent  die  Grundlagen  der 
1848er  Revolution  gelegt  habe.  Sicher  ist,  dafs  viele  hervor- 
ragende französische  und  deutsche  Republikaner  dem  Konvent 
beiwohnten;  aber  eben  deshalb  mufs  er  eher  für  eine  republi- 
kanische als  für  eine  maurerische  Versammlung  gelten.  Nach  der 
Errichtung  der  provisorischen  Regierung  infolge  des  Februar- 
Aufstandes  erklärten  sich  die  Freimaurer  zu  Gunsten  dieser  Re- 
gierung und  schwelgten  in  schwungvollen  Reden  über  Freiheit, 
Gleichheit  und  Brüderlichkeit;  allein  die  baldige  Gründung  des 
zweiten  Kaisertums  zeigte  die  Nichtigkeit  dieses  Phrasentums  und 
die  grofse  Geringfügigkeit  des  Einflusses  der  Freimaurerei  auf 
den  Gang  der  Weltgeschichte. 

Louis  Napoleon  zeigte  sich  der  Maurerei  schon  als  Präsi- 
dent der  Republik  eben  so  feindlich  gesinnt  wie  einst  sein  Oheim. 
Am  7.  September  1850  erliefs  er  ein  Dekret,  welches  den  fran- 
zösischen Logen  unter  Androhung  der  Auflösung  die  Beschäfti- 
gung mit  Fragen  der  Politik  verbot.  Anfangs  1852  wurde  die 
Grofsmeisterwürde  einem  Vetter  des  Präsidenten,  Lucien  Murat, 
übertragen;  nach  neun  Jahren  mufste  dieser  jedoch  zurücktreten, 
weil  der  Bund  ihm  die  Mifsbilligung  ausgedrückt  hatte  für  sein 
Eintreten  im  Senat  zu  Gunsten  der  weltlichen  Macht  des  Papstes. 
Der  Umstand,  dafs  man  nun  das  Grofsmeisteramt  dem  Prinzen 
Napoleon  anbot,  erregte  die  Eifersucht  der  Anhänger  Murats,  und 
die  beiden  Parteien  bekämpften  einander  aufs  heftigste  in  Flug- 
schriften. Jetzt  mischte  sich  der  Kaiser  ein,  indem  er  den  Streiten- 
den Schweigen  gebot,  den  Prinzen  auf  längere  Zeit  nach  Amerika 
schickte  und  selber  einen  Grofsmeister  ernennen  zu  wollen 
erklärte.  Der  Verlust  des  Rechtes  der  selbständigen  Grofsmeister- 
wahl  machte  die  Unabhängigkeit  der  französischen  Maurerei  aber- 
mals illusorisch,  ihr  Programm  zwecklos,  ihre  Geheimnisse  wertlos. 
Allmählich  beruhigten  sich  die  Gemüter,  Prinz  Napoleon  kehrte 
aus  den  Vereinigten  Staaten  zurück,  Murat  söhnte  sich  mit  seiner 
Niederlage  aus  und  im  Januar  1862  ernannte  der  Kaiser,  seinem 
Oheim  nachäffend,  einen  Marschall  zum  Grofsmeister. 

Inzwischen  war  die  Zahl  der  französischen  Logen,  1852 
noch  325,  1861  auf  269  gesunken.  Diese  waren  teils  unfähig, 
teils  abgeneigt,  dem  Einflufs  der  Jesuiten  auf  die  öffentlichen 


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Die  Freimaurerei  in  Italien. 


441 


Angelegenheiten  wirksam  entgegenzutreten.  Übrigens  ist  die 
Freimaurerei  im  allgemeinen,  wenn  in  die  Enge  getrieben,  trotz 
ihres  Geredes  von  Brüderlichkeit  und  Gleichheit  streng  konser- 
vativ — eine  Thatsache,  welche  die  »Internationale"  veranlafste, 
auf  ihrer  Tagung  zu  Lyon  im  Jahre  1870  die  Freimaurerei  in 
Acht  zu  erklären  und  zehn  Jahre  später  anzuordnen,  dafs  nur 
Nichtmaurer  Mitglieder  werden  können. 


Die  Freimaurerei  in  Italien. 

Über  die  Anfänge  der  Freimaurerei  in  Italien  ist  wenig 
bekannt.  Doch  weifs  man,  dafs  zu  Florenz  im  Jahre  1512  »die 
Kelle“  gegründet  wurde,  eine  aus  Gelehrten  und  Litteraten  be- 
stehende Gesellschaft,  die  sich  in  allerlei  wunderlichen  Grillen 
erging.  Bald  versammelten  sich  die  Mitglieder  in  der  Loge  in 
der  Kleidung  von  Maurern  und  Handlangern,  um  aus  Maccaroni 
mit  Parmesan  ein  Gebäude  aufzuführen;  Gewürze  und  Zucker- 
plätzchen dienten  als  Mörtel,  Semmel  und  Kuchen  als  Steine; 
auch  allerlei  andere  Efswaren  fanden  beim  Bau  Verwendung, 
der  so  lange  fortgesetzt  wurde,  bis  ein  angeblicher  Regen  der 
»Arbeit“  ein  Ende  machte.  Bald  liefsen  sie  sich  von  Ceres,  die 
auf  der  Suche  nach  Proserpina  war,  einladen,  sie  in  die  Unter- 
welt zu  begleiten.  Sie  folgten  der  Göttin  durch  den  Rachen 
einer  Schlange  in  einen  finstern  Raum;  als  Pluto  sie  zu  einer 
Mahlzeit  einlud,  erschienen  Lichter  und  man  sah  auf  dem  schwarz- 
gedeckten  Tisch  Schüsseln  mit  scheufslichen,  abstofsenden  Tieren, 
während  einige  Teufel  auf  Schaufeln  die  Gebeine  toter  Menschen 
servierten.  Nach  kurzer  Zeit  verschwand  der  Spuk  und  ein 
prächtiges  Bankett  folgte.  1737  bestand  »die  Kelle“  noch.  Die 
Geistlichkeit  arbeitete  gegen  sie,  und  es  würde  ihr  auch  ge- 
lungen sein,  sie  zu  unterdrücken,  wenn  nicht  Herzog  Franz  von 
Toskana,  der  in  Holland  Freimaurer  geworden  war,  den  Thron 
bestiegen,  den  Orden  unter  seinen  Schutz  genommen  und  alle 
eingesperrten  Maurer  freigelassen  hätte.  Die  Erinnerung  an  die 
Verfolgungen  wurde  in  den  Ritualen  verewigt;  im  »Magus“- 
Grad  ist  die  Tracht  die  der  Inquisition  und  auch  andere  Grade 
erinnern  an  die  portugiesischen  und  spanischen  Inquisitoren. 

Was  aus  der  »Kelle«  geworden,  wissen  wir  nicht  Aber 
wir  wissen,  dafs  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  eine  vom 
Grafen  Filippo  Strozzi  eifrig  geförderte  Illuminaten-Vereinigung 
grofse  Verbreitung  fand.  Sie  nahm  nur  solche  Bewerber  auf,  die 
bereits  die  drei  symbolischen  Grade  des  York-Ritus  hinter  sich 


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•442 


Die  Freimaurerei. 


hatten.  Gleich  der  ägyptischen  Maurerei,  verehrte  sie  das  Tetra- 
grammaton  und  verband  die  höchste  Philosophie  mit  dem  albernsten 
Aberglauben. 

Was  insbesondere  Neapel  betrifft,  so  gab  es  dort  im  18. 
Jahrhundert  viele  Tausende  von  Freimaurern.  Zwar  versuchte 
Karl  III.  1751  und  Ferdinand  IV.  acht  Jahre  später,  dem  Bunde 
durch  den  Befehl  der  Schliefsung  der  Logen  beizukommen; 
allein  trotz  der  Feindseligkeit  des  Ministers  Tanucci  blieb  das 
Verbot  ein  toter  Buchstabe.  Als  ein  Neuling  wenige  Tage  nach 
seiner  Einweihung  starb,  fanden  neuerliche  Verfolgungen  statt. 
Die  bei  einem  Bankett  versammelten  Mitglieder  der  betr.  Loge 
wurden  verhaftet,  ihr  Verteidiger,  der  Rechtsanwalt  Levy,  ver- 
bannt und  dessen  der  Brüderschaft  günstiges  Buch  öffentlich  vom 
Henker  verbrannt.  Bald  jedoch  entliefs  Königin  Karoline  den 
zelotischen  Tanucci  und  gab  den  Maurern  Versammlungsfreiheit, 
wofür  ihr  der  französische  Grofsorient  Dank  sagte.  Aber  es 
scheint,  dafs  die  Freimaurerei  schon  nach  einigen  Jahren  wieder 
Ursache  hatte,  sich  zu  verbergen,  denn  1767  spricht  eine  Ur- 
kunde von  ihr  als  einer  unentdeckten  Geheimgesellschaft,  welche 
angeblich  64  000  Mitglieder  hatte,  was  offenbar  eine  Übertreibung 
war.  Wir  lassen  den  interessanten  Inhalt  des  in  Rede  stehenden 
Schriftstückes  auszugsweise  folgen : 

»Endlich  ist  Neapels  grofse  Freimaurergrube  entdeckt, 
deren  Name  bekannt  war,  während  ihr  Geheimnis  unbekannt 
blieb.  Ein  Sterbender  enthüllte  alles  seinem  Beichtvater,  damit 
dieser  den  König  benachrichtige,  und  ein  bei  dem  Bund  in  hohem 
Ansehen  stehender  Ritter,  dem  man  die  Bezüge  einstellte,  verriet  den 
Grofsmeister  an  den  König.  Dieser  Grofsmeister  war  der  Herzogvon 
San  Severo.  Der  König  entsandte  einen  vertrauenswürdigen  Offizier 
nebst  drei  Dragonern,  damit  sie  den  Herzog  in  dessen  Wohnung 
ergriffen  und,  ehe  er  sich  mit  irgend  jemand  verständigen  könne, 
in  den  Königspalast  brächten.  Der  Befehl  wurde  vollzogen,  doch 
brach  nach  wenigen  Minuten  im  Palast  des  Herzogs  Feuer  aus 
und  zerstörte  seine  Büchersammlung,  womit  wahrscheinlich  die 
Vernichtung  aller  maurerischen  Schriften  bezweckt  war.  Truppen 
löschten  das  Feuer  und  bewachten  das  Haus.  Vor  den  König 
gebracht,  erläuterte  der  Herzog  ohne  Scheu  die  Ziele,  das  Wesen, 
die  Beschaffenheit,  die  Siegel  u.  s.  w.  des  Ordens.  Er  wurde 
wieder  heimgeschickt  und  von  Soldaten  bewacht,  damit  er  nicht 
wegen  seiner  Enthüllungen  von  den  Freimaurern  getötet  werde. 
Auch  in  Florenz  sind  Freimaurer  entdeckt  worden;  der  Papst 
und  der  Kaiser  haben  24  Gottesgelehrte  hingeschickt,  die  dem 
Unfug  ein  Ende  machen  sollen.  Um  die  grofsen  Gefahren  zu 
vermeiden,  welche  mit  dem  Eingreifen  allzu  strenger  Mafsregeln 
verknüpft  sein  könnten,  handelt  der  König  gegen  alle  Beteiligten 


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Die  Freimaurerei  in  Italien. 


443 


mit  der  gröfsten  Milde.  Er  hat  vier  hervorragende  Persönlich- 
keiten beauftragt,  die  besten  Mittel  zur  Ausrottung  der  ver- 
abscheuenswerten Sekte  ausfindig  zu  machen.  Auch  teilte  er 
allen  europäischen  Herrschern  seine  Entdeckung  mit  und  forderte 
sie  auf,  ihn  in  seinen  Unterdrückungsbestrebungen  zu  unter- 
stützen; »es  wäre  thöricht  von  ihnen,  sich  dessen  zu  weigern.“ 
Über  Organisation,  Ursprung  und  Wesen  des  Bundes  ent- 
hält dasselbe  Dokument  u.  a.  die  folgenden  sonderbaren  An- 
gaben: »Dieser  Orden  zählt  nicht  Tausende,  sondern  Millionen 
von  Mitgliedern,  namentlich  unter  den  Juden  und  Protestanten. 
Seine  schrecklichen  Grundsätze  sind  nur  den  Angehörigen  des 
5.,  6.  und  7.  Grades  bekannt;  die  der  drei  ersten  wissen  nichts, 
und  die  des  vierten  handeln,  ohne  zu  wissen,  was  sie  thun.  Der 
Ursprung  der  Sekte  ist  in  England  zu  suchen  und  ihr  Gründer 
war  der  berüchtigte  Cromwell,  zuerst  Bischof,  dann  Anna  Boleyns 
Geliebter,  »die  Geifsel  der  Herrscher“  genannt  und  schliefslich 
wegen  seiner  Verbrechen  enthauptet.  Er  hinterliefs  dem  Orden 
ein  Jahreseinkommen  von  10000  Pf.  St.  Derselbe  ist  in  sieben 
Grade  geteilt:  7.  Beisitzer,  6.  Grofsmeister,  5.  Bauherren,  4. 
Exekutoren,  3.  Rurikoren,  2.  Novizen,  1.  Proselyten.  Seine 
schändlichen  Ideen  beruhen  auf  der  Allegorie  des  salomonischen 
Tempels  in  dessen  ursprünglicher  Pracht,  die  durch  die  Willkür 
der  Assyrer  zerstört  wurde,  um  schliefslich  wiederhergestellt  zu 
werden.  Damit  werden  angedeutet:  die  menschliche  Freiheit 
nach  Erschaffung  der  Welt,  ihre  Vernichtung  durch  die  Willkür 
der  Priester,  Könige  und  Gesetze,  und  ihre  schliefsliche  Wieder- 
herstellung." Aus  den  näheren  Einzelheiten,  welche  in  der  Ur- 
kunde angeführt  sind,  geht  hervor,  dafs  es  sich  um  Grundsätze 
und  Ziele  handelte,  die  sich  von  denen  der  nichtmaurerischen 
Republikaner  und  Fortschrittsfreunde  nicht  sonderlich  unter- 
scheiden. ' 

ln  Venedig  wurde  die  Freimaurerei  anfänglich  geduldet, 
allein  1686  schöpfte  die  Regierung  Verdacht  und  ordnete  die 
Schliefsung  aller  Logen  sowie  die  Verbannung  der  „Brüder“  an. 
Doch  wurde  das  Dekret  sehr  lau  gehandhabt.  Eine  adelige  Loge, 
die  sich  zu  gehorchen  weigerte,  betrat  die  Behörde,  um  die  Mit- 
glieder zu  schonen,  absichtlich  zu  einer  Zeit,  da  niemand  an- 
wesend war;  die  Einrichtung,  die  Dekorationen  etc.  wurden  auf 
die  Strafse  geworfen  und  öffentlich  verbrannt,  die  Mitglieder  aber 
in  keiner  Weise  behelligt.  1785  entdeckte  man  in  Venedig  eine 
Loge  und  vernichtete  ihre  Einrichtungen  etc.  Man  fand  auch  das 
Ritual.  Danach  wurde  der  Aufnahmebewerber  mit  verbundenen 
Augen  die  Kreuz  und  die  Quer  geführt,  um  nicht  zu  wissen 
wohin.  In  der  Loge  brachte  man  ihn  in  ein  schwarzverhängtes, 
nur  von  einer  Kerze  erleuchtetes  Zimmer,  wo  man  ihn  in  ein 


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Die  Freimaurerei. 


sterbehemdähnliches,  aber  schwarzes  Gewand  hüllte,  ihm  eine 
turbanartige  Mütze  aufsetzte,  ihm  das  Haar  ins  Gesicht  kämmte 
und  ihn  dann  vor  einen,  hinter  einem  schwarzen  Vorhang  ver- 
borgenen Spiegel  stellte.  Er  durfte  nun  die  Augenbinde  ab- 
nehmen und  las  unterhalb  des  Spiegels  die  Worte:  »Wenn  du 
wirklich  Mut  hast  und  ernstlich  gewillt  bist,  dem  Orden  bei- 
zutreten, so  ziehe  den  Vorhang  zur  Seite  und  lerne  dich  selbst 
kennen!*  Nachdem  er  sich  gesehen,  wurden  ihm  die  Augen 
wieder  verbunden  und  er  mufste,  in  der  Mitte  des  Gemachs 
stehend,  mit  30  — 40  Brüdern,  die  nun  eintraten,  ein  Degen- 
gefecht beginnen,  um  seinen  Mut  zu  beweisen.  Nach  Abnahme 
der  Augenbinde  verband  man  die  ihm  absichtlich  beigebrachte 
leichte  Wunde,  legte  ihm  die  Augenbinde  abermals  um  und 
führte  ihn  in  ein  anderes  Gemach,  welches  schwarz  und  weifs 
drapiert  war.  In  der  Mitte  stand  ein  mit  einem  schwarzen  Tuch 
bedecktes  Bett;  die  Stickerei  des  Tuches  zeigte  im  Mittelpunkt 
ein  weifses  Kreuz,  an  beiden  Seiten  je  ein  weifses  Skelett.  Von 
der  Binde  befreit,  wurde  der  Kandidat  aufs  Bett  gelegt  und  mit 
einer  gelben  und  einer  weifsen  Wachskerze  allein  gelassen.  Nach 
kurzer  Zeit  traten  die  Brüder  ein,  einen  Heidenlärm  vollführend. 
Der  Neuling,  der  bei  all  diesen  Unannehmlichkeiten  keinerlei 
Angst  an  den  Tag  legen  durfte,  wurde  schliefslich  als  neuaufge- 
nommener  Bruder  begrüfst  und  erhielt  den  Namen,  unter  dem 
er  künftig  innerhalb  des  Bundes  gekannt  sein  sollte. 

Unter  Napelon  I.  entstanden  in  ganz  Italien  zahlreiche 
Logen.  Dafs  sich  das  italienische  Maurertum  damals  in  einem 
kläglichen  Zustand  befand,  geht  aus  der  Thatsache  hervor,  dafs 
es  an  den  Kaiser  einmal  die  folgende  Adresse  richtete:  »O 
Napoleon ! Deine  Philosophie  bürgt  für  die  Duldung  unsrer 
natürlichen  und  göttlichen  Religion.  Dafür  erweisen  wir  dir  ge- 
bührende Ehre  und  du*wirst  in  uns  stets  treue,  deiner  erhabenen 
Person  ergebene  Unterthanen  finden!*  Welche  Selbsterniedrigung 
seitens  einer  Vereinigung,  die  sich  immer  ihrer  Unabhängigkeit 
von  allen  Regierungen  und  ihrer  Überlegenheit  über  dieselben 
gerühmt  hat! 

Grofse  Beachtung  verdient  das  Programm  der  heutigen, 
unter  wenigen  Oberhäuptern  vereinigten  italienischen  Freimaurerei, 
denn  es  deutet  auf  die  Reformen,  welche  diesem  grofsen  und 
alten  Bund  nicht  nur  in  Italien,  sondern  allenthalben  notthun. 
Danach  bezweckt  das  italienische  Maurertum  gegenwärtig  die 
höchste  Entwicklung  der  umfassendsten  Menschenliebe,  die 
Selbständigkeit  und  Einheit  der  einzelnen  Völker,  ihre  Ver- 
brüderung unter  einander,  die  Duldung  aller  Religionen,  die 
Gleichberechtigung  aller  Gottesdienstformen,  die  Hebung  des 
sittlichen  und  materiellen  Loses  der  Massen.  Auch  erklärt  es, 


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Die  Freimaurerei  in  Italien. 


445 

von  jeder  Regierung  unabhängig  zu  sein  und  keine  irdische 
Macht  anzuerkennen  aufser  der  Vernunft  und  dem  Gewissen. 
Ferner  besagt  es,  dafs  - und  dies  verdient  besondere  Aufmerk- 
samkeit — das  Wesen  der  Freimaurerei  nicht  in  einem  geheimnis- 
vollen Symbolismus,  in  leeren  Förmlichkeiten  und  nebelhaften 
Bestrebungen  bestehen  dürfe,  wenn  sie  sich  nicht  lächerlich 
machen  wolle.  Da  sie  etwas  allgemein  Menschliches  sei,  habe 
sie  sich  weder  mit  Regierungsformen  noch  mit  Fragen  von 
vorübergehendem  Interesse,  sondern  mit  Dingen  von  allgemeiner, 
dauernder  Bedeutung  zu  befassen.  Im  Gebiete  der  Sozialreformen 
müsse  sie  abstrakte,  auf  mystischen  Bestrebungen  beruhende 
Lehren  vermeiden.  Sie  verurteile  den  Müfsiggang,  denn  die 
Arbeitsamkeit  sei  die  oberste  Pflicht  aller  Angehörigen  der  ge- 
sitteten Gesellschaft.  Religionsfragen  liegen  aufserhalb  des  Be- 
reiches der  Maurerei,  welche  nichts  mit  den  positiven  Bekennt- 
nissen zu  schaffen  habe,  weil  das  menschliche  Gewissen  durch- 
aus unverletzlich  sei.  Den  Grundsätzen  der  Brüderlichkeit 
huldigend,  predige  sie  allgemeinste  Duldsamkeit  und  nehme  in 
ihr  Ritual  viele  der  Sinnbilder  verschiedener  Bekenntnisse  auf. 
Die  Religion  der  Freimaurer  bestehe  in  der  Verehrung  des  Gött- 
lichen in  seiner,  jedes  kirchlichen  Beiwerks  entkleideten  höchsten 
Auffassung  des  Weltenbauherm,  sowie  in  dem  Glauben  an  die 
Menschlichkeit,  den  einzigen  weltlichen  Ausdruck  des  Göttlichen. 
Was  die  äußerlichen  Formen  des  Gottesdienstes  betreffe,  so  über- 
lasse das  Maurertum  diesen  Punkt,  ohne  irgendwelche  Richt- 
schnur zu  geben,  dem  freien  Ermessen  jedes  Einzelnen  — in  der 
Erwartung  der  vielleicht  nicht  allzufernen  Zeit,  da  alle  Menschen 
im  stände  sein  werden,  das  unendliche  Prinzip  ohne  Vermittler 
und  ohne  äufsere  Formen  im  Geiste  der  Wahrheit  anzubeten. 
Bei  der  Bestimmung  der  Beziehungen  der  Menschen  unter 
einander  beschränke  sich  die  Freimaurerei  nicht  darauf,  zu 
empfehlen,  dafs  wir  anderen  nichts  anthun,  was  wir  nicht 
wünschen,  dafs  sie  uns  anthun;  sie  schärfe  vielmehr  ausdrücklich 
ein,  das  Gute  zu  thun,  sich  dem  Bösen  zu  widersetzen  und 
keinerlei  Ungerechtigkeit  zu  dulden.  Das  Maurertum  erhoffe 
eine  Zeit,  in  der  die  Panzerplatten  der  Kriegsschiffe  sich  zu 
Dampfpflügen  wandeln  werden,  der  durch  die  Freiheit  und  die 
Wissenschaft  erlöste  Mensch  sich  an  reinen  Geistesgenüssen  er- 
freuen und  der  Friede  mit  Hilfe  der  gegenwärtig  dem  Krieg  ge- 
widmeten Mittel  und  Kräfte  am  Lebensbaum  die  herrlichsten 
Früchte  zeitigen  wird. 

Angesichts  eines  so  schönen  Programms  ist  es  lebhaft  zu 
bedauern,  dafs  eine  grofse,  bedeutende  Vereinigung  wie  der  Frei- 
maurerbund, der  in  die  Zukunft  hinaussteuern  sollte,  durch  die 
unpraktische  Beibehaltung  kindischer  Spielereien  — etwas  andres 


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446  Die  Freimaurerei. 

sind  die  »Riten«  ja  doch  nicht  — an  die  Vergangenheit  ge- 
kettet wird.  Die  Freimaurerei  sollte  keine  Ambulanz  sein,  sondern 
eine  Vorhut  — ohne  die  übermäfsige  Bürde  der  jetzigen 
Formalitäten,  ohne  den  Ballast  eines  überflüssigen  Symbolismus. 
Wenn  sie  sich  nicht  zu  einer  gründlichen  Selbstumgestaltung  ent- 
schliefst, ist  sie  unhaltbar.  Es  hat  keinen  Sinn,  allgemein  be- 
kannte Geheimnisse  zu  hüten.  Der  Glaube,  sie  sei  im  Allein- 
besitz weitverbreiteter  Wahrheiten,  beraubt  sie  und  die  Welt 
andrer  Wahrheiten,  wichtigerer  Geheimnisse.  De  Castro  meint, 
dafs  es  für  Italien  eine  Ehre  sein  würde,  mit  den  unerläfslichen 
Reformen  zu  beginnen.  In  Wirklichkeit  wäre  das  für  welches 
Land  immer  eine  Ehre.  Es  hat  den  Anschein,  als  sollte  Deutsch- 
land am  ehesten  geneigt  sein,  den  Anfang  zu  machen,  ln  der 
1899  erschienenen,  »Der  Stern  von  Bethlehem«  betitelten  Samm- 
lung von  Aufsätzen  und  Logenvorträgen  reichsdeutscher  Maurer 
wird  auf  diese  Richtung  hingearbeitet.  Es  heifst  dort  u.  a., 
dafs  — was  übrigens  schon  viele  andere  maurerische  Schriften 
betont  haben  — der  Bund  keine  geheimen  Kenntnisse  besitze, 
deren  Mitteilung  verboten  wäre.  »Wenn  nun  die  Freimaurerei 
trotzdem  von  ihren  Geheimnissen  redet,  so  versteht  sie  darunter 
nichts  andres  als  die  ihr  eigentümlichen  Mittel  und  Übungen, 
wodurch  jeder  ihrer  Anhänger  zu  einer  ihn  selbst  befriedigenden 
Lebensanschauung  gelangen  kann.«  Franz  Brückner  knüpft  an 
die  Darlegungen  des  »Sterns  von  Bethlehem“  die  folgenden  be- 
zeichnenden Bemerkungen : 

»Wenn  diese  Veröffentlichungen  allgemein  bekannt  werden, 
so  wird  man  aufhören,  den  deutschen  Maurern  allerlei  Phan- 
tastisches und  Scheu fsliches  nachzusagen  . . . Man  wird  es  im 
grofsen  Publikum  nicht  verstehen,  wenn  die  harmlosen  deutschen 
Maurer  ihren  Ritus  und  ihre  Verhandlungen  beharrlich  geheim- 
halten. Solange  sie  ihr  Geheimnis  bewahren,  werden  sich  die 
Ausstehenden  für  berechtigt  halten,  allerlei  zu  argwöhnen  . . . 
Verständen  sich  die  deutschen  Maurer  dazu,  auf  die  Geheim- 
haltung zu  verzichten,  so  würde  auch  in  Österreich,  wo  die 
Maurerei  seit  1 794  verboten  ist,  die  Gründung  von  Logen  wieder 
gestattet  werden.« 


Cagliostro  und  die  ägyptische  Maurerei. 

Joseph  Baisamo,  der  Jünger  und  Nachfolger  Saint-Germains, 
der  am  Hofe  Ludwigs  XV.  vorgab,  ein  Zeitgenosse  Christi, 
Karls  V.  und  Franz  I.  gewesen  zu  sein,  hatte  weiterausgreifende 


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Cagliostro  und  die  ägyptische  Maurerei. 


447 


Pläne  und  hegte  einen  hohem  Ehrgeiz  als  sein  Meister.  1743  zu 
Palermo  geboren,  wurde  er  in  zwei  dortigen  Klöstern  erzogen, 
wo  er  sich  einige  Kenntnisse  in  der  Chemie  erwarb.  Als  junger 
Mann  lernte  er  einen  Abenteurer  namens  Althotas  kennen,  der 
im  Besitz  des  Steins  der  Weisen  zu  sein  behauptete.  Die  beiden 
führten  jahrelang  ein  gemeinsames  Wanderleben.  Was  schliefslich 
aus  Althotas  geworden,  weifs  man  nicht  bestimmt;  Baisamo  aber 
verheiratete  sich  in  Rom  mit  der  schönen  Lorenza  Feliciani. 
Er  behandelte  sie  so  schlecht,  dafs  sie  entfloh;  als  er  sie  wieder- 
erlangte, übte  er  durch  Magnetisieren  einen  gewaltigen  Einflufs 
auf  sie  aus.  Er  war  überhaupt  ein  grofser  Magnetiseur.  Er 
besuchte  Deutschland  und  wurde  daselbst  in  die  Freimaurerei 
eingeweiht,  in  welcher  er  bald  eine  grofse  Rolle  zu  spielen 
begann.  Auch  legte  er  sich  verschiedene  Adelstitel  bei;  u.  a. 
nannte  er  sich  Marquis  von  Pellegrini;  am  bekanntesten  ist  er 
als  Graf  Cagliostro  geworden.  Seine  Schlauheit,  seine  Unver- 
frorenheit und  einige  glückliche  Weissagungen  verschafften  ihm 
einen  europäischen  Ruf,  der  es  ihm  ermöglichte,  viele  Menschen, 
darunter  einige  sehr  hochstehende,  zu  beschwindeln,  besonders 
in  Frankreich,  wo  er  viele  neue  Maurerlogen  gründete. 

Dieser  merkwürdige  Mensch  schrieb  ein  Buch  »Der  ägyp- 
tische Maurerritus“.  Den  letztem  führte  er  zuerst  in  Kurland,  später 
in  Deutschland,  Frankreich  und  England  ein.  Wegen  seiner 
Verwicklung  in  die  berühmte  Angelegenheit  des  Halsbandes  der 
Königin  aus  Frankreich  verbannt,  ging  er  nach  England.  Von 
dort  floh  er  vor  seinen  Gläubigern  und  kehrte  auf  Wunsch 
seiner  wandermüden  Frau,  die  sich  nach  ihren  Verwandten 
sehnte,  nach  Rom  zurück,  wo  er  jedoch  bald  unter  der  An- 
schuldigung, eine  Maurerloge  haben  gründen  zu  wollen,  verhaftet 
und  zum  Tode  verurteilt  wurde  (1789).  Man  begnadigte  ihn 
zu  lebenslänglichem  Kerker  und  steckte  seine  Gattin  in  ein 
Kloster,  wo  sie  bald  starb.  Im  Gefängnis  versuchte  er  einen 
Beichtvater  umzubringen,  um  in  dessen  Gewand  zu  entspringen; 
doch  mifslang  ihm  das  und  er  soll  1795  als  Sträfling  ge- 
storben sein. 

Der  von  ihm  ersonnene  ägyptische  Ritus  ist  ein  albernes 
Gemisch  von  Heiligem  und  Weltlichem,  von  Ernstem  und 
Lächerlichem.  Zu  seiner  Gründung  regte  ihn  eine  Handschrift 
an,  die  er  entdeckt  hatte  und  in  welcher  George  Cofton  die  Um- 
gestaltung der  Freimaurerei  in  alchimistisch-phantastischem  Sinne 
vorschlug.  Cagliostro  spekulierte  mit  seiner  ägyptischen  Maurerei 
auf  die  Leichtgläubigkeit  der  Menschen,  um  sich  zu  bereichern. 
Er  gab  als  Ziel  seines  Ritus  die  Vervollkommnung  der  Erden- 
bewohner durch  leibliche  und  sittliche  Wiedergeburt  vor.  Die 
leibliche  sei  bestimmt  zu  erzielen  durch  die  prima  materia 


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448 


Die  Freimaurerei. 


(Urstoff)  und  den  Stein  der  Weisen,  die  dem  Menschen  Jugend- 
kraft und  Unsterblichkeit  sichern  würden,  während  die  sittliche 
Wiedergeburt  durch  die  Entdeckung  eines  Fünfecks  erfolgen 
sollte,  das  die  Menschen  zu  ihrer  ursprünglichen  Unschuld 
zurückführen  werde.  Um  der  Sache  gröfsem  Nachdruck  zu 

verleihen,  behauptete  er,  der  Ritus  sei  schon  von  Enoch  gestiftet 
und  von  Elias  umgestaltet  worden,  um  schliefslich  vom  Grofs- 
kophta  — das  war  er  selbst  — wiederhergestellt  zu  werden. 

Sowohl  Männer  als  auch  Frauen  fanden  Aufnahme;  die 
Einweihungszeremonien  und  die  Versammlungslogen  waren  für 
jedes  Geschlecht  andere.  Bei  der  Einweihung  von  Frauen  blies 
der  Meister  der  Kandidatin  ins  Gesicht  und  sagte:  »Ich  hauche 
dir  diesen  Atem  ein,  damit  er  in  deinem  Herzen  die  Wahrheit,  die 
wir  besitzen,  zum  Keimen  und  Wachsen  bringe.  Ich  blase  dir 
diesen  Hauch  ein,  auf  dafs  derselbe  dich  in  deinen  guten 
Absichten  bestärke  und  den  Glauben  deiner  Brüder  und  Schwestern 
in  dir  kräftige.  Wir  wählen  dich  zur  legitimen  Tochter  der 
wahren  ägyptischen  Adoption  und  dieser  hochwürdigen  Loge“. 
In  der  Loge  „Sinai"  wurden  die  geheimsten  Riten  gefeiert;  eine 
andre  hiefs  „Ararat“.  Bezüglich  des  Fünfecks  redete  Cagliostro 
seinen  Opfern  ein,  dasselbe  werde  den  Meistern  nach  vierzig- 
tägigem Umgang  mit  den  sieben  Ur-Engeln  gewährt  werden  und 
dessen  Besitzer  auf  5557  Jahre  (!!)  körperlich  verjüngen;  erst 
nach  dieser  Zeit  würden  sie  sanft  entschlafen  und  in  den 
Himmel  kommen.  Die  Beliebtheit  des  Fünfecks  (Pentagon)  in 
den  vornehmen  Kreisen  von  Paris,  London  und  St  Petersburg 
war  ebenso  grofs  wie  die  des  Steins  der  Weisen  jemals  und 
irgendwo.  Für  wenige  Gran  der  famosen  prima  materia  wurden 
grofse  Summen  bezahlt. 

Cagliostro  bediente  sich  zur  Heranziehung  von  Logen- 
mitgliedern nicht  nur  maurerischer  Täuschungen,  sondern  auch 
der  damals  nur  sehr  wenig  bekannten  Wunder  des  Magne- 
tismus. Die  Hydromantie  mufste  ebenfalls  herhalten.  Er  liefs 
ein  Kind,  gewöhnlich  ein  kleines  Mädchen,  „die  Taube“  genannt, 
in  eine  mit  Wasser  gefüllte  Flasche  gucken  und  aus  dieser 
Ereignisse  herauslesen  — verflossene,  gegenwärtige  und  künftige. 
Da  nun  Cagliostro  ein  scharfer  Beobachter  war,  sah  er  manches 
richtig  voraus,  und  da  ihm  überdies  zuweilen  der  Zufall  zu 
Hilfe  kam,  galt  er  für  einen  richtigen  Propheten.  Als  der  Geister- 
beschwörungsschwindler Schröpfer  sich  weigerte,  dem  ägyptischen 
Ritus  beizutreten,  weissagte  „die  Taube“,  er  werde  innerhalb 
eines  Monats  seine  Strafe  finden.  Zufällig  beging  Schröpfer 
nach  wenigen  Wochen  einen  Selbstmord  und  das  brachte  Baisamo 
nebst  seiner  Wasserflasche  zu  noch  höherem  Ansehen,  ln  dieser 
Hinsicht  war  er  ein  Vorläufer  der  modernen  Spiritisten.  Dadurch, 


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Adoptionslogen  und  zweigeschlechtige  Maurerei. 


449 


dafs  er  mit  seinen  geheimen  Kräften  nicht  hinter  dem  Berg  hielt, 
sondern  sie  vielen  anderen  mitteilte,  gelangten  in  die  Logen 
Zauberübungen,  welche  dem  Ruf  der  Freimaurerei  schadeten. 
Und  all  dies  ereignete  sich  zur  Zeit  der  Encyklopädisten,  am 
Vorabend  der  grofsen  Revolution! 

Die  zwei  ersten  Logen  gründete  der  falsche  Graf  in  Paris; 
die  eine  befand  sich  in  seinem  eigenen  Wohnhause,  die  andre 
war  glänzend  eingerichtet.  Eine  dritte  wurde  zu  Lyon  ins 
Leben  gerufen  und  in  einem  eigenen  Prachtbau  untergebracht; 
Cagliostro  machte  sie  zur  Mutterloge  und  nannte  sie  »Trium- 
phierende Weisheit“.  Ihr  Patent  begann  folgendermafsen : 

»Ehre,  Weisheit, 

Einigkeit, 

Wohlthätigkeit,  Behagen. 

»Wir,  Grofskophta  in  allen  östlichen  und  westlichen  Teilen 
Europas,  Gründer  und  Grofsmeister  der  ägyptischen  Maurerei, 
thun  allen,  die  dies  lesen,  zu  wissen,  dafs  während  unsres 
Aufenthalts  in  Lyon  viele  Mitglieder  der  Loge  vom  Orient  und 
gewöhnlichen  Ritus,  die  den  Namen  »Weisheit“  angenommen 
hat,  den  innigen  Wunsch  ausgedrückt  haben,  sich  unter  unsre 
Leitung  zu  stellen,  damit  wir  sie  in  die  wahre  Maurerei  ein- 
weihen. Es  macht  uns  Vergnügen,  ihren  Wunsch  zu  erfüllen"  u.s.  w. 

Auch  in  Strafsburg,  Roveredo,  Mitau  und  Basel  entstanden 
Logen,  im  Haag  eine  Frauenloge.  Der  Basler  Bau  war  ein 
prachtvoller  Tempel,  den  die  Bevölkerung  nicht  ohne  Scheu 
betrachten  konnte,  weil  sie  glaubten,  Cagliostro  habe  ihn  zu 
seinem  Mausoleum  bestimmt. 


Adoptionslogen  und  zweigeschlechtige  Maurerei. 

Die  Freimaurerei  hat  mit  den  »gröfseren“  Mysterien  des 
Altertums  die  Regel  gemein,  dafs  Angehörige  des  weiblichen 
Geschlechts,  das  vermeintlich  kein  Geheimnis  bewahren  kann, 
von  der  Mitgliedschaft  ausgeschlossen  sind.  Allmählich  jedoch 
hat  diese  Regel,  wie  die  meisten  Regeln,  Ausnahmen  erfahren. 
Wie  wir  vorhin  gesehen,  nahm  Cagliostro  in  seinen  ägyptischen 
Ritus  auch  Frauen  auf.  Als  am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  in 
Frankreich  mehrere  Vereinigungen  entstanden,  die  in  den  Äufser- 
lichkeiten  der  Freimaurerei  ähnelten,  ohne  das  weibliche  Element 
auszuschliefsen,  lobpries  die  Damenwelt  dieselben  naturgemäfs. 
Um  nun  nicht  allzu  unbeliebt  zu  werden,  kam  der  Maurerbund 
auf  den  Gedanken,  »Adoptionslogen“  für  Frauen  zu  stiften. 

Heckethorn«Katscher,  Geheimbündc  u.  Gcheimlchren.  29 


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450 


Die  Freimaurerei. 


Der  Name  bedeutet,  dafs  jede  solche  Loge  von  einer  regelrechten 
Maurerloge  adoptiert  werden  mufste.  Der  Orofsorient  von 
Frankreich  erliefs  ein  die  Leitung  der  Adoptionslogen  regelndes 
Statut.  Die  Eröffnung  der  ersten  erfolgte  1775  in  Paris;  die 
Herzogin  von  Bourbon,  die  den  Vorsitz  führte,  wurde  zur 
Grofsmeisterin  gewählt.  Durch  die  Revolution  in  ihrer  Thätig- 
keit  unterbrochen,  wurde  diese  Loge  1805  in  Strafsburg  unter 
der  Leitung  der  Kaiserin  Josephine  als  »Kaiserliche  Adoptionsloge 
der  Freien  Ritter"  wieder  ins  Leben  gerufen.  Auch  in  mehreren 
anderen  Ländern  Europas  entstanden  solche  Logen,  aber  sie 
konnten  sich  nicht  halten. 

Der  Adoptionsritus  unterscheidet  sich  hinsichtlich  der  Grade 
nicht  von  der  echten  Maurerei.  Jede  Würdenträgerin  wird  von 
einem  männlichen  Würdenträger  gleichen  Ranges  unterstützt 
Es  giebt  also  neben  der  Grofsmeisterin  einen  Grofsmeister, 
neben  der  Inspektorin  einen  Inspektor  u.  s.  w.  Die  eigentliche 
Leitung  der  Logenangelegenheiten  liegt  in  den  Händen  der 
weiblichen  Funktionäre,  die  „Brüder“  stehen  ihnen  nur  bei; 
blofs  beim  Grofsmeisterrang  ist  es  umgekehrt:  hier  hat  die 
Grofsmeisterin  wenig  Bedeutung,  sie  ist  mehr  die  stumme  Be- 
gleiterin des  Grofsmeisters.  Der  Lehrlingsgrad  bildet  lediglich 
eine  Art  Vorbereitung.  Im  zweiten  Grad,  dem  der  Genossin, 
wird  die  paradiesische  Versuchungsscene  sinnbildlich  dargestellt. 
Der  Gegenstand  des  Meisteringrades  ist  die  Erbauung  des 
babylonischen  Turmes.  Der  vierte  Grad  heifst  „vollkommene 
Meisterin“;  hier  vertreten  die  „Beamten“  Moses,  Aaron  und 
deren  Gattinnen,  und  die  Zeremonien  beziehen  sich  auf  den  Zug 
der  alten  Israeliten  durch  die  Wüste  — eine  Versinnbildlichung 
des  menschlichen  Lebens  als  einer  Wanderung  in  ein  jenseitiges, 
besseres  Leben.  Der  geschmackvoll  verzierte  Logensaal  ist  durch 
Vorhänge  in  vier  Gemächer  geteilt,  deren  jedes  eine  der  vier 
Windrichtungen  darstellt.  Im  Osten  stehen  zwei  herrliche,  gold- 
befranste Thronsessel  für  die  Grofsmeisterin  und  den  Grofs- 
meister. Die  Mitglieder  sitzen  in  geraden  Reihen,  vorn  die 
Schwestern,  hinten  die  Brüder;  die  letzteren  halten  Degen  in 
der  Hand.  Der  Spielerei,  „Arbeit"  genannt,  folgt  eine  grofse 
Mahlzeit,  nicht  selten  auch  ein  Ball.  Beim  Essen  wird  eine 
symbolische  Sprache  geführt,  die  an  das  Precieusentum  erinnert: 
„ Eden  “ = Logensaal ; „Schranken“  = Thüre;  „Lampe“  =Trinkglas; 
„weifses  Öl“=Wasser;  „rotes  Öl“=Wein;  „putzet  eure  Lampen"  = 
füllet  die  Gläser  etc. 

Die  Jesuiten,  die  ihre  Nasen  gern  in  alles  stecken,  sahen 
in  der  Adoptionsmaurerei  bald  ein  Mittel  mehr,  auf  die  Frauen 
Einflufs  zu  gewinnen.  Sie  gründeten  daher  neue  Adoptionslogen 
oder  pafsten  bestehende  ihren  Zwecken  an.  Hier  eine  Stelle 


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Adoptionslogen  und  zweigeschlechtige  Maurerei.  4SI 

aus  dem  Katechismus:  »Schwester!  Bist  du  bereit,  für  das  Ge- 
deihen der  apostolischen  römischen  Kirche  dein  Leben  zu  opfern?“ 

Ein  gut  Teil  des  Rituals  des  zehnten  Grades,  welcher  »Fürstin 
der  Krone"  hiefs,  behandelte  die  Königin  von  Saba.  1779  wurde 
dieser  Ritus  in  Sachsen  eingeführt 

In  der  Adoptivmaurerei  spielt  die  Galanterie  eine  grofse 
Rolle.  Die  in  Frankreich  seit  Jahrhunderten  eifrig  bethätigte 
und  zu  einer  schönen  Kunst  ausgebildete  Galanterie  fabrizierte 
eigene  Riten  und  Grade,  welche  nur  dem  Namen  nach 
maurerisch  waren.  Liebesgetändel  trat  hier  an  die  Stelle  der 
Politik.  Zuweilen  beschränkten  die  zweigeschlechtigen  Logen 
sich  nicht  auf  die  Vergnügungsseite;  im  allgemeinen  jedoch  sind 
sie  nichts  andres  als  eine  wunderliche  Form  jenes  höfischen 
Lebens,  das  in  Frankreich  und  Italien  seine  Dichter  und  Roman- 
schreiber hatte  und  das  in  seinen  späteren  Auswüchsen  zu  den 
Ausschreitungen  der  grofsen  Revolution  führte.  Einige  der 
ältesten  zweigeschlechtigen  Logen  wurden  in  Frankreich  und  , 
anderwärts  von  kühnen  militärischen  Müfsiggängern  gestiftet. 
Typisch  ist  der  Orden  der  »Ritter  und  Damen  der  Freude“, 
bereits  1 696  zu  Paris  unter  dem  Schutze  von  Bacchus  und  Venus 
entstanden.  Erwähnung  verdienen  auch  die  Orden  der  »Damen 
vom  heiligen  Johannes  zu  Jerusalem“  (=  Johanniterinnen)  und 
der  »Jakobiterinnen"  (wörtlich  »Damen  des  heiligen  Jakob  vom 
Schwert  von  Caiatrava");  diese  beiden  dienten  als  Vorbilder  für 
die  Stiftsdamen,  die  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die 
französischen  Klöster  mit  weltlichen  Vergnügungen  und  höfischem 
Glanz  erfüllten,  was  von  Moralisten  damit  entschuldigt  wurde, 
dafs  es  der  Nation  gleichsam  im  Blut  liege. 

Ernsterer  Natur  war  der  Orden  der  »Gefährtinnen  Pene- 
lopes“, auch  »Palladium  der  Damen"  genannt,  dessen  Satzungen 
angeblich  von  Fenelon  verfafst  worden  sind,  was  selbstverständlich 
unwahr  ist  Die  Erprobungen,  denen  sich  die  Aufnahmebewer- 
berinnen unterziehen  mufsten,  sollten  diesen  einprägen,  dafs  die 
Arbeit  das  Palladium  des  weiblichen  Geschlechts  sei.  Die  Ver- 
einigung der  »Möpse"  entstand  infolge  der  die  Freimaurerei 
verdammenden  Bulle  des  Papstes  Klemens  XU.  (1738);  nach 
Veröffentlichung  dieser  Bulle  rief  Klemens  August,  Herzog  von 
Bayern  und  Kurfürst  von  Köln,  die  »Möpse“  ins  Leben,  die 
aber  keine  neue  Gesellschaft,  sondern  die  Freimaurerei  unter 
anderm  Namen  bildeten,  nur  dafs  sie  zweigeschlechtig  waren. 
Alle  Ämter  konnten  von  Damen  bekleidet  werden;  neben  einer 
Grofsmeisterin,  deren  Wahl  jedes  halbe  Jahr  erfolgte,  gab  es 
einen  Grofsmeister  auf  Lebenszeit.  Der  Name  »Mops"  sollte 
ein  Sinnbild  der  Treue  sein.  Die  Zeremonien  der  »Möpse" 
waren  komischer  Art.  Die  Kandidaten  klopften  nicht  an,  sondern 

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452 


Die  Freimaurerei. 


kratzten  an  der  Thür  und  bellten  wie  die  Hunde,  weil  man  sie 
absichtlich  warten  liefs.  Beim  Eintritt  trugen  sie  Hundehals- 
bänder nebst  Ketten  (als  Leinen).  Mit  verbundenen  Augen 
wurden  sie  neunmal  im  Saal  umhergeführt,  während  die  an- 
wesenden »Eingeweihten"  ein  trauriges  Geheul  ausstiefsen  und 
mit  Stöcken,  Degen,  Schaufeln,  Ketten  etc.  einen  Heidenlärm  er- 
zeugten. Über  seine  Absichten  befragt,  erklärte  der  Kandidat, 
er  wünsche  ein  Mops  zu  werden,  worauf  der  Meister  ihn  ferner 
fragte,  ob  er  bereit  sei,  dieses  Tier  auf  einen  gewissen  unedlen 
Körperteil  zu  küssen.  Trotz  seines  Zornes  und  Widerstandes 
wurde  ihm  dann  ein  wächsener  oder  hölzener  Hund  unter  die 
Nase  geschoben.  Nach  Leistung  des  Mitgliedeides  befreite  man 
ihn  von  der  Augenbinde  und  belehrte  ihn  über  die  geheimen 
«Ausweise",  welche  durchweg  scherzhafter  Art  waren. 

1777  entstand  in  Dänemark  die  »Gesellschaft  von  der 
Kette“,  welcher  das  Verdienst  gebührt,  das  Kopenhagener  Blinden- 
institut - vielleicht  das  besteingerichtete  und  gröfste  Europas  - 
gegründet  zu  haben  und  aus  Vereinsmitteln  zu  erhalten.  Das 
genaue  Datum  der  Stiftung  des  „Ordens  der  Ausdauer«  ist 
unbekannt;  doch  weifs  man,  dafs  er  1777  in  Paris  vorhanden 
war,  von  den  hervorragendsten  Persönlichkeiten  unterstützt  wurde 
und  den  löblichen  Brauch  übte,  die  anerkennenswerten  Hand- 
lungen der  Mitglieder  in  ein  Buch  einzutragen;  ein  solches  Buch 
ist  erhalten  geblieben.  Als  besonders  verdienstlich  müssen  wir 
das  1810  ins  Leben  getretene  „Souveräne  Kapitel  der  Schottinnen 
von  Frankreich"  bezeichnen,  welches  „kleinere“  und  „gröfsere" 
Geheimnisse  hatte,  die  den  Hauptzweck  verfolgten,  den  Neuling 
auf  jene  Beschäftigung  hinzulenken,  durch  die  er  der  Menschheit 
am  meisten  nützen  konnte.  Dieser  Bund,  der  nur  18  Jahre 
lang  bestand,  wollte  die  Hungrigen  mit  Brot,  die  Arbeitslosen 
mit  Arbeit  versehen,  beiden  ratend  und  helfend,  um  sie  dem 
Verbrechen  fernzuhalten. 

Der  „Bauhof  der  Weltkugel  und  des  Ruhmes"  wurde 
1747  vom  Chevalier  de  Beauchene  gestiftet,  einem  lustigen 
Zechbruder,  der  sich  zumeist  in  Wirtshäusern  aufhielt,  wo  er 
für  ein  Geringes  alle  maurerischen  Grade  seiner  Zeit  verlieh. 
Der  Bauhof  befand  sich  angeblich  in  einem  Wald  und  die 
Versammlungen  wurden  in  dem  aufserhalb  Paris  gelegenen 
Garten  „Neu-Frankreich"  abgehalten;  bei  denselben  hingen  Lords 
und  Clowns,  Grisetten  und  feine  Damen  den  leichten  Landes- 
sitten jener  Zeit  nach.  Der  fünf  Jahre  vorher  ebenfalls  zu 
Paris  von  Seemännern  gegründete  „Orden  der  Glückseligkeit“ 
hatte  vier  Grade:  Seekadett,  Kapitän,  Geschwaderchef  und  Contre- 
Admiral.  Demgemäfs  waren  auch  die  Sinnbilder  und  die  Ter- 
minologie nautischer  Natur.  Der  Grofsorient  hiefs  „offene  See“, 


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Adoptionslogen  und  zweigeschlechtige  Maurerei. 


453 


die  Loge  »Geschwader".  Hauptsächlich  handelte  es  sich  um 
Liebesangelegenheiten.  Die  Schwestern  machten  die  fiktive  Reise 
nach  der  Glückseligkeitsinsel  »unter  den  Segeln  der  sie  lotsenden 
Brüder"  und  die  Aufnahmebewerberinnen  mufsten  versprechen, 
»kein  fremdes  Schiff  in  ihren  Hafen  aufzunehmen,  solange  ein 
Ordensschiff  daselbst  verankert  ist."  Dieser  Bund  erregte  solches 
Aufsehen,  dafs  1746  eine  gegen  ihn  gerichtete  Satire  erschien: 
»Wie  man  in  der  Marine  die  höchsten  Chargen  erreicht,  ohne 
nafs  zu  werden.“ 

»Die  Liebhaber  des  Vergnügens“  — so  nannte  sich  ein 
im  französischen  Lager  in  der  spanischen  Provinz  Galicien  ent- 
standener militärischer  Orden,  eine  schwache  Nachahmung  der 
Übungen  des  Rittertums  und  der  Liebeshöfe.  Einer  Rede  eines 
Mitgliedes  entnehmen  wir  die  folgende  Stelle:  »Unser  Ziel  ist, 
unser  Dasein  zu  verschönern,  wobei  wir  uns  an  die  Worte 
»Ehre,  Freude,  Zartgefühl"  halten.  Wir  bezwecken  auch  Treue 
gegen  unser  Vaterland  und  gegen  den  erhabenen  Herrscher,  der 
das  Weltall  mit  seinem  ruhmreichen  Namen  erfüllt.  Wir  wollen 
ferner  einer  Sache  dienen,  die  sich  jeder  sanften  Seele  empfehlen 
mufs:  dem  Schutz  der  Jugend  und  Unschuld,  sowie  der  Herbei- 
führung reinster  Freundschaft  und  ewiger  Bundesgenossenschaft 
zwischen  den  beiden  Geschlechtern."  Wenn  es  wahr  ist,  dafs 
Napoleon  I.,  wie  es  heilst,  diese  Gesellschaft  sehr  begünstigte, 
die  ihn  als  »erhabenen  Herrscher"  feierte,  so  dürfte  das  Ver- 
gnügen wohl  kaum  ihr  einziges  Ziel  gewesen  sein. 

Ein  andrer  vergnüglicher  Orden  wurde  1778  zu  Paris  von 
Chaumont,  Privatsekretär  Ludwig  Philipps  von  Orleans,  diesem 
Prinzen  zuliebe  gestiftet:  die  »Ritter  und  Nymphen  von  der 
Rose."  Sein  Programm  war:  Liebe  und  Geheimnis.  Die  Grofs- 
loge  befand  sich  in  einem  der  famosen  »petites  maisons"  jener 
Zeit;  einige  hochstehende  Mitglieder  hatten  Logen  in  ihren  Privat- 
häusern. Der  von  einem  Diakonus  namens  »Gefühl"  unter- 
stützte Hierophant  weihte  die  Männer,  die  von  einer  Stiftsdame 
namens  »Verschwiegenheit“  assistierte  Grofspriesterin  die  Damen 
ein.  Aufnahme  fanden  »Ritter"  im  »Alter  des  Liebens"  und 
»Nymphen«  in  »dem  Alter,  da  man  gefallen  und  geliebt  werden 
soll."  Der  »Liebestempel"  — so  nannte  man  die  Logen  - war 
prächtig  mit  Blumengewinden  und  Liebesabzeichen  geschmückt 
Die  männlichen  Mitglieder  trugen  Myrten-,  die  weiblichen  Rosen- 
kronen. Bei  der  Aufnahme  neuer  Ritter  und  Nymphen  war  der 
Saal  anfänglich  nur  von  einer  dunkelbrennenden  Laterne,  welche 
die  Stiftsdame  »Verschwiegenheit“  in  der  Hand  hielt,  beleuchtet; 
dieselbe  wurde  jedoch  bald  durch  zahlreiche  Wachskerzen  ersetzt 
Die  Kandidaten  waren  mit  Ketten  beladen,  welche  die  Vorurteile 
andeuten  sollten,  in  deren  Banden  sie  schmachteten.  Auf  die 


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4S4 


Die  Freimaurerei. 


Frage,  was  sie  in  der  Loge  suchen,  antworteten  sie:  »Das  Glück.“ 
Nach  einem  Verhör  über  ihr  privates  Verhalten  in  Sachen  der 
Galanterie  durchschritten  sie  den  Saal  zweimal  auf  einem  mit 
Liebesknoten  bedeckten  Weg.  Dann  befreite  man  sie  von  den 
eisernen  Ketten  und  legte  ihnen  Blumengewinde  an,  genannt 
»Liebesketten.«  Hierauf  leisteten  sie  vor  dem  Altar  den  Ver- 
schwiegenheitseid und  schliefslich  brachten  sie  in  dem  den 
Liebestempel  umgebenden  Hain  Venus  und  Amor  Weihrauch 
dar.  Auch  vertauschte  der  männliche  Neuling  seine  Myrtenkrone 
mit  der  Rosenkrone  der  zuletzt  eingeweihten  Nymphe,  der  weib- 
liche Novize  seine  Rosenkrone  mit  der  Myrtenkrone  des  Diakonus 
»Gefühl.“  Die  Schrecken  der  Revolution  bereiteten  diesen 
pseudomaurerischen  Schäferspielen  ein  Ende. 

Ein  gewisser  Franz  Matthäus  Grossinger,  1752  zu  Komorn 
in  Ungarn  geboren,  erhob  sich  selber  als  Franz  Rudolf  von 
Grossing  in  den  Adelsstand  und  gründete  1784  in  Deutschland 
den  »Rosenorden."  Sein  Vater  war  ein  Fleischhauer,  sein  Grofs- 
vater  ein  Gerber  und  er  selbst  ein  Jesuit.  Nach  Aufhebung  des 
Jesuitenordens  führte  er  ein  Wanderleben,  bis  er  1777  auf 
Empfehlung  des  Beichtvaters  der  Kaiserin  von  dieser  ein  Jahres- 
gehalt von  600  Gulden  erhielt,  das  jedoch  mit  ihrem  Tode 
wieder  aufhörte.  Nunmehr  lebte  er  von  allerlei  Schwindeleien 
und  schliefslich  rief  er  in  Halle  an  der  Saale  den  genannten 
Bund  ins  Leben.  Er  hatte  damit  grofsen  Erfolg  und  lebte  von 
den  Beiträgen  seiner  Opfer  im  Überflufs.  Als  ihm  in  Halle  der 
Boden  zu  heifs  wurde,  siedelte  er  nach  Berlin  über,  wo  er  seine 
kostspielige  Lebensweise  fortsetzte,  wegen  Schulden  verhaftet 
wurde,  aber  entfloh.  Er  hatte  den  Berlinern  nicht  weniger  als 
zwanzigtausend  Thaler  herausgelockt! 

Der  Grossingsche  Rosenorden  — so  genannt  nach  der  ver- 
meintlichen Grofsmeisterin  Dame  Rosenwald  — gab  vor,  die 
höchsten  philosophischen  und  erziehlichen  Zwecke  zu  verfolgen. 
Angeblich  fanden  nur  Männer  und  Frauen  von  hohem  Ge- 
sinnungsadel Aufnahme.  Kein  Mitglied  durfte  verraten,  wer  dem 
Bund  angehörte  oder  was  in  den  Logen  vorging.  Grossing  be- 
hauptete, seine  Schöpfung  habe  nur  die  Vorzüge  der  Freimaurerei 
angenommen,  deren  Schattenseiten  jedoch  verworfen.  Das  Ordens- 
band war  aus  rosa  Seide  und  seine  beiden  Enden  liefen  in  drei 
Spitzen  aus;  es  wies  aufser  einer  Rose  den  Namen  des  Inhabers 
oder  der  Inhaberin,  das  Datum  ihrer  oder  seiner  Einweihung, 
ein  grofses,  von  einem  Rosenkranz  umgebenes  Rosensiegel  und 
eine  ganz  verschwommene,  klexähnliche  Silhouette  der  vorgeb- 
lichen Grofsmeisterin  auf.  Die  Mitglieder  erhielten  auch  eine 
kleine  Karte  mit  der  Erläuterung  gewisser  Ausdrücke,  welche 
Grossing  in  seinen  Satzungen  (»Domenschale“  genannt)  ge- 


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Adoptionslogen  und  zweigeschlechtige  Maurerei. 


455 


brauchte  (»Spieler"  **  Freimaurer,  »Füchse«  = Jesuiten,  »Wespen«  = 
Illuminaten,  »Mücken«  = Geisterseher).  Die  Mitglieder  erkannten 
einander  daran,  dafs  sie  wechselseitig  »Dornen«  und  »Wald« 
sagten,  worauf  sie  ihre  Karten  und  Bänder  vorzeigten.  Im  Jahre 
1786  zählte  der  Orden  etwa  120  Eingeweihte,  von  denen  jedoch 
viele  austraten,  als  sie  erkannten,  dafs  die  ganze  Geschichte  nur 
den  Zweck  hatte,  Grossing  zu  bereichern.  Und  da  der  Bund 
keinerlei  innere  Lebenskraft  hatte,  vielmehr  eine  blofse  Spielerei 
war,  schwand  er  bald  von  selbst  dahin. 

Um  wieder  zu  Geld  zu  kommen,  stiftete  Grossing  1788  unter 
einem  angenommenen  Namen  den  »Harmonie-Orden.«  Er  schrieb 
ein  Buch,  das  er  für  eine  Übersetzung  aus  dem  Englischen  aus- 
gab: »Die  Harmonie  oder  Grundplan  zur  bessern  Erziehung, 

Bildung  und  Versorgung  des  weiblichen  Geschlechts.  Aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  Carl  Reichsgrafen  v.  X.,  1788.“  In  der 
Vorrede  hiefs  es:  »Dieses  Werk  vermenge  man  ja  nicht  etwa 
mit  dem  listigen  Luftgebäude,  mit  welchem  ein  angeblicher  Stifter 
des  Roseninstituts,  Rosenordens,  Damengesellschaft  u.s.w.seit  einigen 
Jahren  Deutschland  zu  täuschen  gesucht  hat.«  Die  »Harmonie« 
wurde  als  von  Seth,  dem  dritten  Sohn  Adams,  gestiftet  aus- 
gegeben ; ferner  hiefs  es,  sie  habe  Moses  und  Christus  zu  ihren 
Mitgliedern  gezählt  und  sei  der  beste  Zufluchtsort  für  jede  ver- 
folgte Unschuld.  Der  Gründer  zog  gegen  Fürsten  und  Pfaffen  los 
und  schlug  die  Errichtung  von  Klöstern  vor,  in  denen  die  Damen 
die  üblichen  Gelübde  nur  jeweilig  auf  ein  Jahr  ablegen  sollten, 
sowie  die  Gründung  einer  Ordensbank.  Auch  beantragte  er, 
dafs  dem  Gründer  als  einem  Wohlthäter  der  Menschheit  ein 
Denkmal  errichtet  werde!  Als  der  saubere  Grossing  in  dem- 
selben Jahre  (1788)  wegen  allerlei  Betrügereien  verhaftet  wurde, 
fand  man  unter  seinen  Papieren  eine  Anzahl  von  Diplomen  mit 
den  Namen  von  Damen,  die  in  die  »Harmonie"  hätten  auf- 
genommen werden  sollen.  Da  die  Polizei  dieser  Schöpfung  den 
Blütenstaub  der  Romantik  mit  rauher  Hand  abstreifte,  blieb  die- 
selbe totgeboren.  Grossing  gelang  es,  zu  entwischen,  indem  er 
seine  Wächter  betrunken  machte;  sein  späteres  Schicksal  ist  un- 
bekannt geblieben. 

In  den  Weststaaten  der  nordamerikanischen  Union  giebt  es 
einen  zweigeschlechtigen  Grad,  welcher  »Maurerstochter"  heilst 
und  welchem  Inhaber  des  maurerischen  Meistergrades  sowie  deren 
Gattinnen,  Schwestern  und  Töchter  angehören.  Diese  Vereinigung 
beruht  auf  den  im  11.  und  12.  Kapitel  des  Evangeliums  Johannis 
berichteten  Zuständen.  In  diesen  mehr  weiblichen  Logen  ist 
der  Bankettsaal  in  Ost,  West,  Süd  und  Nord  geteilt.  An  der 
Ostseite  sitzt  die  Grofsmeisterin.  Der  Tempel  (die  Loge)  heifst 
»Eden,«  der  Wein  »rotes  Öl,“  die  Thüren  werden  »Schranken," 


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456 


Die  Freimaurerei. 


die  Gläser  »Lampen"  genannt.  Statt  »die  Gläser  füllen“  sagt 
man:  „Öl  in  die  Lampen  giefsen,“  statt  »trinken":  „feuern,“  statt 
„den  Wein  austrinken“:  „die  Lampen  auslöschen."  Das  Er- 
kennungszeichen besteht  darin,  dafs  man  die  Hände  auf  die  Brust 
legt  - die  rechte  Hand  auf  die  linke  — und  mit  dem  Daumen 
ein  Dreieck  bildet.  Das  Losungswort  ist  „Eva“  und  es  mufs 
fünfmal  wiederholt  werden.  Vieles  an  diesen  Logen  erinnert  an 
die  weiter  oben  erwähnte  „Kaiserliche  Adoptionsloge  der  freien 
Ritter."  Seit  1877  bestehen  auch  in  Spanien  mehrere  zwei- 
geschlechtige  Logen;  dafs  ihnen  auch  hochstehende  Personen 
beitreten,  geht  daraus  hervor,  dafs  — wie  wir  in  der  maurerischen 
„Chaine  d'Union"  lesen  - im  Juni  1880  die  sowohl  dem 
österreichisch- ungarischen  als  auch  dem  spanischen  Adel  an- 
gehörende Gräfin  Julia  A.  in  die  Loge  „Fraternidad  Iberica“ 
(„Iberische  Brüderschaft“)  aufgenommen  wurde.  Auch  soll  der 
spanische  Grofsorient  Damen  genau  so  wie  Männer  in  alle  Ge- 
heimnisse der  Freimaurerei  einweihen. 


Schismatische  Riten  und  Sekten. 

Die  Anhänger  der  Meinung,  die  Freimaurerei  stamme  vom 
Tempelrittertum  ab,  behaupten,  dafs  die  drei  Mörder  Hirams  die 
drei  Verräter  des  Templerordens  bedeuten  und  dafs  unter  Hiram 
der  Grofsmeister  Jakob  Molay  zu  verstehen  sei.  Nach  dem 
Ritual  der  deutschen  Grofsen  Landesloge  zu  den  drei  Weltkugeln 
vertreten  die  den  Sarg  Hirams  umgebenden  Kerzen  den  Scheiter- 
haufen Molays.  Die  Rosenkreuzer  und  manche  deutschen  Maurer- 
logen halten  Hiram  für  Christus  und  sehen  in  den  drei  Mördern 
Sinnbilder  für  den  Verräter  Judas,  den  Verleugner  Petrus  und 
den  ungläubigen  Thomas.  Der  Alte  Schottenritus  beruhte  auf 
anderen  falschen  Berichten  über  den  Ursprung  der  Freimaurerei. 
Von  den  sonstigen  maurerischen  Schismen,  die  im  1 8.  Jahrhundert 
sehr  zahlreich  waren,  können  wir  hier  nur  die  wichtigsten 
anführen. 

Um  1712  stiftete  der  bereits  mehrfach  erwähnte  Graf  Zinzen- 
dorf  den  „Orden  vom  Senfkorn“  (auch  „Mährische  Brüder  vom 
Orden  der  religiösen  Freimaurer“),  dessen  Geheimnisse  auf  der- 
jenigen Stelle  des  Evangeliums  beruhten,  in  welcher  Christus  das 
Himmelreich  mit  einem  Senfkorn  vergleicht.  Nach  manchen 
Quellen  entstand  dieser  Orden  1808  in  England,  von  wo  er 
nach  Holland  und  Deutschland  kam;  Zinzendorf  habe  ihn  an- 
genommen, als  er  in  Halle  studierte  (1812-14).  Die  Brüder 


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Schismatische  Riten  und  Sekten. 


457 


erkannten  einander  an  einem  Ring,  der  die  Inschrift  trug: 
»Niemand  von  uns  lebt  für  sich.“  Das  Geschmeide  bestand  in 
einem  goldenen  Kreuz,  überragt  von  einer  Senfpflanze  mit  der 
Inschrift  »Was  war's  früher?  Nichts.“  Alljährlich  kam  man  in 
der  Gnadenstädter  Schlofskapelle  zusammen.  Der  1 5.  März  und 
der  16.  April  wurden  als  Festtage  gefeiert.  Übrigens  sind  fast 
alle  Grade  des  schottischen  Ritus  schismatisch.  Auch  sämtliche 
englischen  und  amerikanischen  Ritterorden  bilden  mit  ihren 
Konklaven  und  Lagern  Parodien  des  mittelalterlichen  Rittertums. 

1758  ersannen  in  Frankreich  der  Tanzmeister  Lacorne  und 
der  Schneider  Pirlet  das  »Konzil  der  Kaiser  vom  Morgen-  und 
Abendland."  Die  Mitglieder  führten  den  hochtrabenden  Titel 
»Souveräne  Fürsten-Maurer,  Generalsubstitaten  der  königlichen 
Kunst,  Grofs-Superintendenten  und  Offiziere  der  Souveränen 
Grofsloge  des  Johanniterordens.“  Auch  das  Ritual  war  darauf 
berechnet,  durch  seinen  Glanz  dem  Publikum  Sand  in  die  Augen 
zu  streuen.  Es  bestand  aus  25  Graden  mit  klangvollen  Namen 
und  erzielte  anfangs  so  grofse  Erfolge,  dafs  Lacorne  eine  seiner 
Kreaturen  als  »Inspektor"  nach  Amerika  sandte  behufs  Einführung 
der  Gesellschaft  daselbst.  Int  Jahre  1797  wurden  von  jüdischen 
»Brüdern"  acht  neue  Grade  hinzugefügt  und  nun  erhielt  der 
Bund  den  Namen  »Alter  und  angenommener  Schottenritus.“  Er 
machte  dem  französischen  Grofsorient  so  starke  Konkurrenz, 
dafs  dieser,  um  seinen  Einflufs  nicht  ganz  zu  verlieren,  dem 
hohen  Grofskonzil  des  Schottenritus  günstige  und  ehrenvolle 
Vorschläge  machte,  welche  1804  zu  einer  Einigung  führten; 
doch  gedieh  die  ungleiche  Verbindung  so  wenig,  dafs  sie  schon 
nach  einem  Jahr  gelöst  wurde.  Auch  mit  dem  1 869  vom  Prinzen 
Rhodokanakis  in  England  eingeführten  »Orden  des  Roten  Kreuzes 
von  Konstantin  und  Rom“  vertrug  sich  das  hohe  Grofskonzil 
nicht;  dieses  verhielt  sich  gegen  den  Orden  vielmehr  so  feind- 
selig, dafs  derselbe  bald  wieder  von  der  Bildfläche  verschwand. 

In  Rufsland  giebt  es  eine  gnostische  Sekte,  die  von  den 
Russen  für  maurerisch  gehalten  und  »Farmassoni"  (aus  »franc- 
ma^ons"  verdorben)  genannt  wird.  Sie  betrachtet  das  Priester- 
tum und  die  Liturgie  als  heidnische  Verschlechterungen  des 
echten  Glaubens  und  der  wahren  Lehre.  Deshalb  sucht  sie  das 
Christentum  möglichst  zu  vergeistlichen  und  es  lediglich  auf  die 
Bibel  und  die  innere  Erleuchtung  der  Gläubigen  zu  stützen. 
Das  erinnert  lebhaft  an  die  Bestrebungen  des  Grafen  L.  N.  Tolstoj. 
Den  ersten  Spuren  der  Farmassoni  begegnen  wir  am  Ende  des 
17.  Jahrhunderts;  ihr  damaliges  Auftreten  fällt  mit  demjenigen 
gewisser  deutschen  Mystiker  und  Theosophen  in  Moskau  zusammen. 
Unter  den  letzteren  spielte  die  Hauptrolle  ein  im  siebenjährigen 
Kriege  gefangen  genommener  preufsischer  Unteroffizier. 


458 


Die  Freimaurerei. 


1724  trat  in  England  der  »Orden  der  Gormogonen"  ins 
Leben.  Angeblich  soll  er  von  einem  chinesischen  Mandarin  nach 
England  gebracht  worden  sein  und  in  China  in  hohem  Ansehen 
gestanden  haben;  wahrscheinlich  aber  war  es  kein  Mandarin, 
sondern  ein  Jesuitenmissionär  und  statt  »China“  muls  es  wohl 
heifsen  „Rom."  Wenigstens  wird  allgemein  vermutet,  dafs  es  sich 
um  einen  Versuch  der  Jesuiten  handelte,  unter  dem  Deck- 
mantel frei  maurerischer  Zeremonien  dem  Katholizismus  Proselyten 
zu  gewinnen.  Auch  glaubt  man,  dafs  Ritter  Andreas  Ramsay, 
der  bereits  wiederholt  erwähnte  Erfinder  der  Hochgrade,  der 
Gründung  nicht  ferngestanden  habe.  Was  das  Wort  „Gormo- 
gonen" (zuweilen  auch  „Gormonen“  geschrieben)  bedeutet,  haben 
wir  nicht  ermitteln  können.  Der  Orden,  der  sich  übrigens 
schon  1738  auflöste,  gab  vor,  im  Besitz  aufserordentlicher  Ge- 
heimnisse zu  sein.  Die  Namen  und  Geburtsorte  der  Mitglieder 
wurden  in  Chiffemschrift  geschrieben. 

Im  letzten  Viertel  des  1 8.  Jahrhunderts  entstand  eine  Gesell- 
schaft, die  den  erstaunlichen  Namen  führte:  „Die  Brüderschaft 
der  königlichen  Archenseefahrer,  Mark,  Markmeister,  Erwählte  der 
Neun,  Unbekannte,  Fünfzehn,  Bauherren,  Fürtreffliche  und  höchst 
fürtreffliche  Maurer."  Da  sie  vorgaben,  Abkömmlinge  Noahs  zu 
sein,  nannten  sie  sich  auch  „Noachiten“  oder  „Noachiden."  Der 
Vorsitzende,  Thomas  Boothby  Parkyns  Lord  Rancliffe,  hiefs  der 
„Grofs-Noah,"  die  Loge  das  „königliche  Archenfahrzeug."  In  der 
Loge  trugen  die  Brüder  breite,  den  Regenbogen  darstellende 
Schärpen  und  gestickte  Schürzen,  auf  denen  die  Arche,  die  Taube 
mit  dem  Ölzweig  etc.  sichtbar  waren.  Diese  Brüderschaft  darf 
nicht  mit  dem  ebenfalls  den  Namen  „Noachit“  (oder  auch 
„Russischer  Ritter")  führenden  21.  Grad  des  Alten  Schottenritus 
verwechselt  werden. 

Der  in  Riddagshausen  bei  Braunschweig  lebende  Frei- 
maurer Konrad  v.  Rhetz  stiftete  zu  seinem  Privatvergnügen  den 
»Orden  der  Argonauten."  Er  war  ein  Logenmeister  der  Laxen 
Observanz  gewesen,  hatte  sich  aber  mit  den  Brüdern  überworfen 
und  den  Besuch  der  Loge  eingestellt.  Auf  einer  Insel  des  in 
der  Nähe  seiner  Besitzung  befindlichen  grofsen  Sees  baute  er 
einen  »Tempel",  den  die  Besucher  mit  Booten  erreichten,  die  er 
ihnen  zur  Verfügung  stellte.  Wer  dazu  Lust  hatte,  wurde  in 
den  Bund  aufgenommen,  welchem  denn  auch,  nebst  mehreren 
Damen,  viele  Braunschweiger  Freimaurer  beitraten.  Der  Grofs- 
meister,  »Grofsadmiral“  genannt,  liefs  sich  nicht  nur  nichts  für 
die  Einweihung  bezahlen,  sondern  bewirtete  auch  noch  alle 
Gäste  aus  eigenen  Mitteln.  Der  Grufs  lautete:  »Lange  lebe  das 
Vergnügen!"  Die  »Beamten"  hiefsen  »Steuermann“,  »Schiffs- 
geistlicher“ u.  s.  w.,  die  anderen  Brüder  »Argonauten.“  Das  Ge- 


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Verbreitung  und  jetziger  Stand. 


459 

schmeide  bestand  in  einem  grün  emaillierten  Silberanker.  Der 
Tempel  war  in  antikem  Stil  erbaut,  die  Ausstattung  originell. 
Nach  dem  Tode  des  Stifters  löste  der  Bund  sich  von  selbst  auf 
(1787)  und  vom  Tempel  ist  nichts  mehr  vorhanden. 

1877  schaffte  der  französische  Orofsorient  in  seinen  Logen 
das  Bekenntnis  des  Glaubens  an  Gott  ab,  das  1854  ins  Ritual 
aufgenommen  worden  war.  Dadurch  kam  es  zum  Bruch  zwischen 
dem  Grofsorient  und  der  Grofsloge  von  England.  Da  in 
Frankreich  die  Freimaurerei  gegenwärtig  sowohl  in  sozialer  als 
auch  in  politischer  Hinsicht  ungemein  einflufsreich  ist,  mufs  in 
ihr  die  Flauptstütze  der  Bewegung  gesucht  werden,  welche  der 
Geistlichkeit  die  Ausbildung  der  Jugend  zu  entziehen  trachtet. 
Im  Gegensatz  zur  englischen,  billigen  die  spanischen  und 
holländischen  Grofslogen  die  Ausmerzung  des  Gottesnamens  aus 
dem  Aufnahmeritual.  Überhaupt  ist  die  Freimaurerei  des 
europäischen  Festlandes  im  allgemeinen  auf  die  Ablenkung  des 
menschlichen  Geistes  von  den  positiven  kirchlichen  Glaubens- 
bekenntnissen gerichtet. 


Verbreitung  und  jetziger  Stand. 

Spanien  und  Portugal:  Im  Jahre  1726  erteilte  die 
Grofsloge  von  England  ein  Patent  für  die  Errichtung  einer  Loge 
in  Gibraltar.  Ein  Jahr  darauf  wurde  in  Madrid  eine  Loge  ge- 
gründet, welche  sich  vom  Ausland  unabhängig  erklärte  und  bald 
auch  in  Cadiz,  Barcelona,  Valladolid  und  anderen  Städten  Logen 
ins  Leben  rief.  Da  die  Inquisition,  die  Kirche  für  bedroht 
haltend,  den  Bund  verfolgte,  hüllte  er  sich  ins  tiefste  Geheimnis. 
Während  der  napoleonischen  Kriege  entwickelten  die  Logen  eine 
eifrige  politische  Thätigkeit.  Ferdinand  VII.  unterdrückte  sie 
gänzlich,  doch  erhielten  sich  einige  wenige  unter  anderen  Namen 
und  seit  1868  steigt  ihre  Zahl  immer  höher;  augenblicklich  giebt 
es  ihrer  in  Spanien  rund  370.  Der  spanischen  Grofsloge  unterstehen 
154,  dem  Grofsorient  von  Spanien  162,  dem  lusitanischen  Grofs- 
orient etwa  40  Logen.  Ungefähr  40  Logen  gehören  zu  ausländischen 
Grofslogen.  Spanien  zählt  gegenwärtig  rund  30000  Maurer.  In 
Portugal  entstanden  die  ersten  Logen  unter  französischer  Ägide, 
doch  wurden  bald  auch  mehrere  durch  englischen  Einflufs  ge- 
gründet Auch  hier  fielen  trotz  aller  Verborgenheit  zahlreiche 
»Brüder"  den  blutgierigen  Inquisitoren  in  die  Hände. 

Rufsland:  Anno  1731-  wagte  es  die  Freimaurerei,  sich 
der  dortigen  Willkürherrschaft  zu  widersetzen;  dennoch  blieb  sie 
unbehelligt,  denn  die  Behörden  mifsachteten  sie,  statt  sie  zu 


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Die  Freimaurerei. 


4b0 

fürchten.  Aber  angesichts  der  eigentümlichen  Regierungsverhält- 
nisse unter  Anna,  die  sich  von  dem  grausamen  Biron  beeinflussen 
liefs,  hielten  die  Maurer  Vorsicht  für  geboten.  1740  stiftete 
England  in  St.  Petersburg  eine  Loge  und  schickte  einen  Grofs- 
meister  dahin.  23  jahre  später  entstand  in  Moskau  die  Loge 
»Klio“.  Katharina  II.  erwog  den  Nutzen  und  den  Schaden,  den 
die  Begünstigung  bezw.  die  Verfolgung  des  Bundes  ihrer  Regie- 
rung bringen  könnte;  sie  entschied  sich  für  die  Förderung  und 
dadurch  wurde  die  Sache  zu  einer  Modeangelegenheit,  zum  Zeit- 
vertreib der  Vornehmen.  Logen  mit  den  prunkvollsten  Tempeln 
wurden  in  grofser  Zahl  geschaffen,  aber  der  fortschrittliche  Ur- 
zweck  der  russischen  Maurerei  ging  dabei  verloren  und  der 
Verlust  des  belebenden  Freiheitsgeistes  mufste  trotz  allen  äufseren 
Glanzes  zu  tötlicher  Schwindsucht  führen. 

Schweiz:  Unter  englischen  Auspizien  kam  1737  zu  Genf 
eine  Loge  zu  stände,  deren  erster  Grofsmeister  George  Hamilton 
war.  Zwei  Jahre  später  bildeten  die  in  Lausanne  lebenden  Aus- 
länder die  Loge  »zur  vollkommenen  Union  der  Ausländer“. 
Auch  in  Bern  wurden  Logen  errichtet,  aber  die  Ränke  der  Grofs- 
logen  der  Nachbarstaaten  der  Schweiz  hatten  langwierige  und 
heftige  Zwistigkeiten  im  Gefolge.  1765  schuf  die  Strikte  Obser- 
vanz in  Basel  die  Loge  »zur  Freiheit“;  sie  wurde  zur  Mutter- 
loge vieler  Schweizer  Logen,  nahm  als  solche  den  Namen 
»Deutschhelvetisches  Direktorium"  an  und  wählte  Lavater  zum 
Oberhaupt.  Eine  Zeitlang  erlitt  die  Freimaurerei  Verfolgungen 
und  wurde  verboten,  doch  lebte  sie  wieder  auf  und  im  Jahre 
1844  vereinigten  sich  die  kantonalen  Grofslogen  zur  Bundes- 
grofsloge  »Alpina“.  Es  heifst,  dafs  diese  einen  grofsartigen 
Tempel  errichten  will;  in  der  That  dürfte  ein  solcher  mehr  als 
sonstwo  am  Platze  sein  in  einer  Republik,  in  welcher  vier  grund- 
verschiedene Nationalitäten  in  Eintracht  und  Freiheit  Zusammen- 
leben. 

Schweden:  Dorthin  wurde  die  Maurerei  1 736  verpflanzt; 
nach  zwei  Jahren  verbot  König  Friedrich  ihre  Versammlungen 
bei  Todesstrafe;  nachträglich  stellte  er  sich  aber  selber  an  die 
Spitze.  1748  waren  bereits  viele  blühende  Logen  vorhanden. 
Sechs  Jahre  darauf  trat  mit  einem  Patent  der  Grofsloge  von 
Schottland  die  Grofsloge  von  Schweden  ins  Leben,  die  aber 
später  ihre  Unabhängigkeit  erklärte,  welche  dann  von  allen 
maurerischen  Vereinigungen  Europas  anerkannt  wurde.  Im 
ältesten  schwedischen  Ritual  kommt  das  Notzeichen  und  der 
Notschrei  der  Söhne  Adonirams  zum  erstenmal  in  Europa  vor. 
Die  schwedische  Maurerei  hat  sich  allmählich  zu  einem  eigenen, 
hierarchisch  eingerichtetem,  gnostisch-kabbalistischem  System  mit 
neun  Graden  herausgebildet,  welches  auf  den  Ordensmeister  als 


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Verbreitung  und  jetziger  Stand. 


161 


alleinigen  Bewahrer  des  Geheimnisses  hinausläuft.  Auch  die 
Grofsloge  von  Dänemark  arbeitet  nach  schwedischem  System. 
Dort  wurde  die  Freimaurerei  1792  von  Staatswegen  unter  den 
Grofsmeister  Prinzen  Karl  von  Hessen  gestellt. 

Polen:  Anno  1734  unterdrückt,  lebte  die  Freimaurerei 
unter  Stanislaus  August  mit  Hilfe  des  Grofsorients  von  Frank- 
reich wieder  auf.  1784  traten  die  polnischen  Logen  zu  einem 
Grofsorient  mit  dem  Sitz  in  Warschau  zusammen. 

Holland:  Unter  der  Ägide  der  Grofsloge  von  England 
wurde  1731  eine  sogenannte  Notloge  eigens  zu  dem  Zweck  ein- 
berufen, den  Herzog  von  Toskana  - nachmals  als  Franz  I. 
Kaiser  von  Deutschland  — einzuweihen.  Die  erste  regelrechte 
Loge  entstand  drei  Jahre  nachher  im  Haag;  1739  nahm  sie  den 
Titel  „Mutterloge"  an  und  bald  gab  es  in  Holland  und  dessen 
überseeischen  Niederlassungen  zahlreiche  Logen,  welche,  um  die 
Geistlichkeit  aus  dem  Schulwesen  zu  verdrängen,  viele  Schulen 
gründeten.  1756  erkannte  die  Staatsverwaltung  die  Maurerei 
unter  der  Bedingung  an,  dafs  sämtliche  Logen  des  Landes  der 
Haager  Mutterloge  unterstehen  müssen. 

Morgenland:  Auch  nach  der  Türkei  hat  sich  die  Frei- 
maurerei verirrt,  doch  hatte  sie  lange  um  ihren  Bestand  zu 
kämpfen.  Logen  wurden  in  Konstantinopel,  Smyrna  und  Aleppo 
errichtet  Die  türkischen  „Brüder"  sind  fortschrittlicher  gesinnt 
als  die  Masse  der  Orientalen;  sie  verwerfen  die  Vielweiberei  und 
lassen  Damen  zu  den  „Schwesterlogen"  (d.  h.  feierliche  Ver- 
sammlungen bei  aufserordentlichen  Anlässen  unter  Gestattung 
der  Anwesenheit  der  Schwestern,  Gattinnen  und  Bräute  der  Mit- 
glieder) unverschleiert  zu.  Die  ostindischen  Logen  unterstehen 
den  Grofslogen  von  England  und  Schottland.  In  Britisch-Afrika 
gab  es  schon  i.  J.  1735  eine  Loge;  jetzt  sind  solche  vorhanden 
im  Kapland,  auf  Mauritius  und  Sankt-Helena.  ln  anderen  Teilen 
Afrikas  haben  Madagaskar,  Algerien,  Tunis,  Marokko,  Kairo  und 
Alexandrien  Logen. 

Amerika:  Um  1745  erfolgte  die  Einführung  der  „könig- 
lichen Kunst"  in  Kanada  und  Westindien.  Nach  Errichtung  des 
brasilianischen  Kaiserthrones  entstand  zu  Rio  de  Janeiro  eine 
Grofsloge,  die  1825  den  Kaiser  zum  Grofsmeister  wählte.  In 
dem  letztgenannten  Jahr  kam  die  Grofsloge  von  Mexiko  zu  stände; 
während  die  Liberalen  und  die  Föderalisten  sich  dem  York-Ritus 
anschlossen,  bekannten  sich  die  Klerikalen  und  die  Zentralisten 
zum  schottischen  Ritus,  und  die  beiden  Parteien  befehdeten 
einander  aufs  heftigste.  Auch  in  Texas,  Venezuela  und  den 
hitzigen,  kampflustigen  Republiken  Südamerikas  fehlte  es  nicht 
an  Logen,  aber  viele  waren  kaum  etwas  andres  als  politische 
Klubs.  Ein  solcher  veranlafste  1875  die  Ermordung  Garcia 


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462 


Die  Freimaurerei. 


Morenos,  des  Präsidenten  der  Republik  Ecuador.  Als  man  dem 
Mörder  das  Leben  schenken  wollte,  wenn  er  seine  Mitschuldigen 
nenne,  antwortete  er:  »Dann  würden  meine  Genossen  mir  das 
Leben  nehmen,  und  ich  will  lieber  von  euch  erschossen,  als  von 
ihnen  erstochen  werden.“  Im  Gebiete  der  jetzigen  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  gab  es  schon  i.  J.  1729  Logen.  Diese 
unterstanden  bis  zum  Ende  des  Revolutionskrieges  der  Grofsloge 
von  England.  Gegenwärtig  hat  fast  jeder  einzelne  Staat  seine 
eigene  unabhängige  Grofsloge. 

Was  den  heutigen  Stand  des  Maurertums  betrifft,  so  läfst 
sich  darüber  begreiflicherweise  nichts  vollkommen  Verläfsliches 
wissen;  aber  wir  entnehmen  guten  deutschen  Quellen  die  nach- 
stehenden Einzelheiten. 

ln  Deutschland  arbeiten  etwa  380  Logen  teils  unabhängig, 
teils  unter  den  folgenden  Grofslogen,  welche  sich  seit  1872  zu 
einem  Grofslogenbund  mit  wechselndem  Vorsitz  vereinigt  haben: 
National-Mutterloge  zu  den  drei  Weltkugeln  in  Berlin;  Grofse 
Landesloge  der  Freimaurer  von  Deutschland  in  Berlin;  Grofse 
Loge  von  Preufsen,  genannt  Royal  York  zur  Freundschaft; 
Grofse  Mutterloge  des  eklektischen  Bundes  in  Frankfurt;  Grofse 
Loge  zu  Hamburg  nach  Schröderschem  System;  Grofse  Landes- 
loge von  Sachsen  zu  Dresden;  Grofse  Loge  zur  Sonne  in 
Bayreuth;  Grofsloge  des  Freimaurerbundes  zur  Eintracht  in 
Darmstadt.  In  Österreich,  wo  die  Freimaurerei  seit  1794  ver- 
boten ist,  haben  sich  zu  Wien  sieben  Logen  aufgethan,  die  aber 
auf  ungarischem  Boden  arbeiten  müssen.  In  Ungarn  haben  sich 
die  früheren  zwei  Grofslogen  1 886  vereinigt.  In  Grofsbritannien 
bestehen  drei  Grofslogen:  1.  die  Vereinigte  grofse  Loge  von 
England  zu  London  mit  rund  2000  Logen,  Grofsmeister  ist  der 
Prinz  von  Wales;  2.  die  Grofsloge  von  Schottland  in  Edinburg 
mit  etwa  540  Töchterlogen;  3.  die  Grofsloge  von  Irland  zu 
Dublin  mit  500  Logen.  In  Frankreich  hat  der  Grofsorient  über 
300,  der  Schottenritus  70,  die  Symbol-Grofsloge  rund  20  Logen. 
Der  Groot-Oosten  (Grofsorient)  von  Holland  zählt  82  Logen. 
An  der  Spitze  der  belgischen  Logen  steht  der  aus  den  Ab- 
gesandten der  einzelnen  Logen  gebildete  Grofsorient  von  Belgien 
zu  Brüssel  mit  14  Logen;  daneben  besteht  für  die  Hochgrade 
das  Hohe  Konzil  von  Belgien.  Die  Schweizer  Grofsloge  »Alpina» 
zählt  35  Logen;  die  Grofsloge  von  Dänemark,  deren  Ordens- 
meister Kronprinz  Friedrich  ist,  hat  zehn  Logen  unter  sich. 
Ordensmeister  der  Grofsen  Landesloge  von  Schweden,  welche 
22  Johannislogen  zählt,  ist  König  Oskar  II.  ln  Italien  besteht 
ein  Grofsorient  zu  Rom  mit  200,  in  Portugal  der  Grofsorient 
von  Lusitanien  mit  70  Logen,  Spanien  besitzt  drei  Grofslogen 
mit  weit  über  400  Logen.  Die  Grofsloge  für  Griechenland  zu 


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Verfolgungen. 


463 


Athen  zählt  10  Logen.  Es  giebt  ferner:  in  St.  John  die  Grofs- 
loge  von  Neu-Braunschweig  (32  Logen),  in  Hamilton  die  von 
Kanada  (350  Logen),  in  Montreal  die  von  Quebec  (fast  90  Logen), 
in  Halifax  die  von  Nova  Scotia  (rund  70  Logen),  in  Victoria 
die  von  Britisch -Columbia  (6  Logen),  in  Lima  die  von  Peru 
(10  Logen),  in  Valparaiso  die  von  Chile  (20  Logen),  in  Rio  de 
Janeiro  zwei  von  Brasilien  (170  Logen),  in  Caracas  die  von 
Venezuela  (40  Logen),  in  Montevideo  die  von  Uruguay  (34  Logen), 
in  Buenos  Ayres  die  von  Argentinien  (54  Logen),  in  Port  au 
Prince  die  von  Haiti  (18  Logen),  in  Santiago  die  von  Cuba 
(rund  70  Logen).  Liberia  zählt  sechs,  San  Domingo  elf,  Mexiko 
zwölf,  Manitoba  28,  Prince  Edwards  Island  10,  Luxemburg  2,  die 
australische  Kolonie  Victoria  12  Logen.  In  ganz  Australien  und 
Ozeanien  dürfte  es  gegenwärtig  etwa  200  Logen  geben,  ln  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  gab  es  nach  der  Schätzung 
von  1886  43  Grofslogen  mit  rund  8000  Töchterlogen  (darunter 
86  deutsche),  aufser  den  zahlreichen  Negerlogen.  Während 
damals  die  Zahl  der  dortigen  Maurer  auf  kaum  600000  an- 
genommen wurde,  soll  sie  nach  einer  für  das  Jahr  1899  ange- 
stellten  Berechnung  über  5800000  betragen  (?).  Nach  derselben 
Statistik  gäbe  es  in  Canada  und  Südamerika  4582000,  in  Mittel- 
amerika und  dessen  Inseln  22000,  in  Afrika  90000,  in  Asien 
und  Australien  zusammen  gegen  70000,  in  Europa  ungefähr 
8000000,  auf  der  ganzen  Erde  22  Millionen  Freimaurer  mit 
141  385  Logen.  (??) 


Verfolgungen. 

Die  Geheimnisthuerei,  mit  der  die  maurerische  Brüderschaft 
jederzeit  ihr  Thun  umgeben  hat,  war  für  sie  oft  mit  grofsem 
Nachteil  verbunden.  Die  Aufsenwelt  konnte  und  kann  nicht 
leicht  zu  dem  Glauben  veranlagt  werden,  dafs  es  in  Versamm- 
lungen, welche  mit  so  grofser  Eifersucht  geheim  gehalten  werden, 
wirklich  harmlos  zugehe;  vielmehr  mufs  sie  begreiflicherweise 
das  Gegenteil  annehmen,  denn  was  die  Öffentlichkeit  scheut,  wird 
allgemein  für  schlecht  oder  böse  gehalten.  Deshalb  verfolgten 
alle  Regierungen  die  Freimaurerei  in  der  Regel  nur  so  lange, 
als  sie  deren  Wesen  nicht  näher  kannten.  Sobald  sie  aber  ihre 
eigentliche  Beschaffenheit,  ihre  Zwecke  und  Ziele  kennen  lernten, 
unterstützten  sie  dieselbe  sogar,  da  sie  es  für  ausgeschlossen 
hielten,  dafs  Leute,  denen  das  bedeutungslose  Treiben  in  den 
Logen  Vergnügen  bereiten  kann,  Schlimmes  im  Schilde  führen 
könnten.  Eine  der  ersten  Verfolgungen  erlitt  die  Maurerei  1734 


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464 


Die  Freimaurerei. 


in  Holland.  Von  der  Geistlichkeit  aufgehetzt,  brach  ein  Haufe 
unwissender  Fanatiker  in  eine  Loge  ein,  deren  Einrichtung  und 
Ausschmückung  er  zerstörte.  Als  jedoch  der  Stadtschreiber  auf 
Anregung  des  Ordens  eingeweiht  worden  war,  erteilten  die 
Generalstaaten  nach  Prüfung  seines  Berichtes  dem  Bunde  ihre 
Genehmigung  und  bald  traten  diesem  zahlreiche  hervorragende 
Personen  bei.  Es  ist  freilich  oft  vorgekommen,  dafs  in  den 
Logen  Politik  getrieben  wurde  und  in  solchen  Fällen  hatten  die 
Verfolgungen  eine  gewisse  Berechtigung;  das  läfst  sich  jedoch 
von  den  gegen  die  eigentliche  Freimaurerei  gerichteten  Verfolgungen, 
mit  denen  allein  wir  es  hier  zu  thun  haben,  nicht  sagen. 

Im  Jahre  1738  erliefs  Papst  Klemens  XII.  gegen  den  Bund 
ein  Dekret,  welchem  ein  Jahr  darauf  ein  noch  strengeres  folgte, 
das  jeden  ertappten  Freimaurer  mit  Gütereinziehung  und  Todes- 
strafe bedrohte.  Daraufhin  begannen  in  allen  römisch  gesinnten 
Ländern  umfangreiche  Verfolgungen.  Doch  weigerte  sich  das 
Pariser  Parlamentsgericht,  die  Bulle  einzutragen  und  in  Dublin 
wurde  eine  der  Freimaurerei  günstige  Schrift  veröffentlicht.  Da- 
gegen setzte  Philipp  V.  von  Spanien  auf  die  Maurerei  lebens- 
längliche Galeeren  oder  den  Foltertod  und  liefs  eine  grofse 
Anzahl  von  Brüdern  verhaften  und  verurteilen.  Der  Grofs- 
inquisitor  Peter  Torrubia  trat  dem  Orden  1751  eigens  zu  dem 
Zwecke  bei,  ihn  verraten  zu  können.  Als  er  sich  mit  der  ganzen 
Organisation  desselben  in  Spanien  vertraut  gemacht  hatte,  liefs 
er  Mitglieder  von  97  Logen  einkerkern  und  foltern.  Ferdinand  VI. 
stellte  die  Freimaurerei  dem  Hochverrat  gleich  und  bestrafte  sie 
mit  dem  Tode.  Als  die  Franzosen  Spanien  eroberten,  wurde  die 
Freimaurerei  wieder  eingeführt  und  die  Mitglieder  der  Grofs- 
loge  von  Madrid  hielten  ihre  Versammlungen  im  Hauptsaal  des 
früheren  Inquisitionspalastes  ab.  Mit  der  Rückkehr  Ferdinands  VII., 
der  die  Inquisition  wieder  herstellte,  begann  auch  der  Aus- 
rottungsprozefs  von  neuem.  1814  wurden  25  der  Freimaurerei 
verdächtigte  Personen  in  Ketten  eingesperrt  und  die  Zahl  der 
späteren  Verhaftungen  war  so  grofs,  dafs  sie  sich  nicht  einmal 
annähernd  schätzen  läfst.  1824  befahl  ein  Gesetz  den  Frei- 
maurern, sich  zu  nennen  und  alle  ihre  Papiere  abzuliefern, 
widrigenfalls  sie  als  Verräter  behandelt  werden  würden,  ln  dem- 
selben Jahre  erliefs  der  Kriegsminister  eine  Kundmachung,  in 
welcher  alle  Maurer  für  vogelfrei  erklärt  wurden.  Drei  Jahre 
später  erfolgte  die  Hinrichtung  von  sieben  Mitgliedern  einer 
granadischen  Loge  und  1828  verurteilten  die  Gerichte  von 
Granada  den  Marquis  von  Lavrillana  und  den  Kapitän  Alvarez 
wegen  Gründung  einer  Loge  zur  Enthauptung.  Später  wurden 
Maurer  nicht  mehr  hingerichtet,  sondern  auf  die  Galeeren  geschickt 
und  noch  1854  kerkerten  die  spanischen  Behörden  Freimaurer  ein. 


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Verfolgungen. 


■465 


1735  errichteten  einige  adelige  Portugiesen  in  Lissabon 
eine  Loge,  aber  die  Pfaffen  begannen  alsbald  gegen  dieselbe  zu 
hetzen.  1743  liefs  die  Inquisition  einen  gebürtigen  Schweizer, 
Namens  John  Coustos,  verhaften,  in  einen  unterirdischen  Kerker 
werfen  und  in  drei  Monaten  neunmal  foltern , weil  er  die 
maurerischen  Geheimnisse  nicht  enthüllen  wollte;  zu  fünfjähriger 
Galeerenstrafe  verurteilt,  wurde  er  als  englischer  Unterthan  auf 
Betreiben  der  britischen  Regierung  vor  Ablauf  seiner  Strafzeit 
freigelassen.  1776  verhaftete  man  zwei  Maurer  und  behielt  sie 
über  vierzehn  Monate  im  Gefängnis.  1792  befahl  Königin 

Maria  I.,  dafs  alle  Freimaurer  der  Inquisition  ausgeliefert  werden; 
nur  wenige  Familien  konnten  sich  nach  New-York  retten.  1818 
erliefs  Johann  VI.  von  Brasilien  aus  ein  Edikt  gegen  alle  ge- 
heimen Gesellschaften  einschliefslich  des  Freimaurerbundes;  ein 
fünf  Jahre  später  erlassenes  noch  strengeres  Gesetz  bedrohte  die 
Maurer  mit  dem  Tode,  doch  wurde  nachträglich  die  Todesstrafe 
durch  Deportation  nach  Afrika  ersetzt. 

In  Österreich  führten  die  päpstlichen  Bullen  zu  Verfolgungen 
und  Verhaftungen;  darum  verbarg  sich  die  Maurerei  hinter  dem 
bereits  geschilderten  Orden  der  Möpse,  welcher  auch  in  Holland, 
Belgien  und  Frankreich  Verbreitung  fand.  1747  wurden  in  Wien 
30  Maurer  gefangen  gesetzt.  Da  Maria  Theresia  nicht  im  stände 
war,  die  Geheimnisse  des  Bundes  zu  ergründen,  ordnete  sie  die 
Verhaftung  sämtlicher  Maurer  an;  allein  Kaiser  Josef  II.,  der  selbst 
ein  Freimaurer  war,  machte  diese  Mafsregel  rückgängig,  denn  er 
kannte  die  Harmlosigkeit  des  Ordens.  1 794  forderte  Franz  I. 
auf  dem  Regensburger  Reichstag  die  Unterdrückung  sämtlicher 
Logen  in  ganz  Deutschland;  da  aber  die  übrigen  Staaten  dies  ab- 
lehnten, trat  das  Verbot  nur  in  Österreich  in  Kraft.  Die  Geschichte 
der  mittelitalienischen  Freimaurerei  im  achtzehnten  und  neunzehnten 
Jahrhundert  war  eine  lange  Leidenskette,  indem  fortwährend  in- 
folge der  Unduldsamkeit  der  Pfaffen  oder  des  Einschreitens  der 
Civilbehörden  zahlreiche  Brüder  verfolgt  und  bestraft  wurden. 

Übrigens  beschränkte  sich  die  Verfolgungssucht  nicht  auf 
katholische  Länder.  Sogar  in  der  Schweiz  machte  sie  sich  einst 
geltend,  indem  der  Rat  von  Bern  1745  ein  Strafgesetz  gegen 
Logenmitglieder  erliefs  und  es  1782  erneuerte;  selbstverständlich 
ist  es  längst  aufgehoben.  Während  jetzt,  wie  wir  weiter  oben  ge- 
sehen haben,  in  Schweden  der  König  an  der  Spitze  der  königlichen 
Kunst  steht,  verbot  Friedrich  I.  diese  bei  Todesstrafe  in  der 
ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts.  König  Friedrich  August  III. 
von  Polen  untersagte  1730  die  Freimaurerei  unter  Androhung 
schwerer  Strafen.  1757  nahm  die  Synode  von  Stirling  in 
Schottland  einen  Beschlufs  an,  der  allen  Freimaurern  die 
Segnungen  der  Religion  entzog.  Was  England  betrifft,  so  wurden 

Heckethorn-Katschcr,  Geheimbündc  u.  Geheimlehren.  30 


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466 


Die  Freimaurerei. 


1799  und  1840  vergebliche  Versuche  gemacht,  das  Parlament 
zu  gesetzlichen  Mafsregelrt  gegen  die  Freimaurerei  zu  bewegen. 

Auch  in  litterarischer  Hinsicht  ist  die  Freimaurerei  häufig 
heftig  angegriffen  worden.  Zu  den  ältesten  englischen  Angriffen 
gehört  »Die  Freimaurerei,  eine  hudibrastische  Dichtung"  (1723); 
sie  bietet  gröbstes  Geschütz  und  schildert  die  Brüder  als  Trunken- 
bolde und  Nachtschwärmer,  die  allerlei  niedrige  Bräuche  üben. 
Zwischen  1726  und  1760  erschienen  in  England  mehrere  wert- 
lose Werke  mit  angeblichen  Enthüllungen  der  maurerischen 
Geheimnisse;  die  Verfasser  hatten  aber  in  Wirklichkeit  keiner- 
lei thatsächliche  Kenntnis  derselben.  1768  veröffentlichte  ein 
fanatischer  Pastor  eine  vollkommen  unsinnige  Predigt  unter  dem 
Titel  »die  Freimaurerei  - der  Weg  zur  Hölle."  Von  den 
französischen  und  italienischen  Büchern  gegen  die  Brüderschaft 
seien  erwähnt:  »Die  geheimsten  Geheimnisse  der  Maurerei,“ 
»Entlarvt,"  »Der  Schleier  gelüftet,  oder  das  Geheimnis  der 
Förderung  der  Revolutionen  durch  die  Freimaurerei.“  Als  be- 
sonders furchtbar  wird  die  »königliche  Kunst“  hingestellt  in 
Robisons  »Beweise  einer  Verschwörung  gegen  alle  Religionen 
und  Regierungen  Europas  in  den  geheimen  Versammlungen  der 
Freimaurer,  llluminaten  und  Lesegesellschaften.“  Ähnlicher  Blöd- 
sinn wie  bei  Robison  findet  sich  in  Abbe  Barruels  »Denkwürdig- 
keiten zur  Geschichte  des  Jakobinismus,“  ein  aufserordentlich 
unkritisch  und  unehrlich  geschriebenes  Werk.  Auch  von 
protestantischer  und  jesuitischer  Seite  ist  vielfach  gegen  den 
Orden  geschrieben  worden,  so  von  Lindner  (»Mac-Benach,"  1818), 
Hengstenberg  und  Möller. 

Wohl  der  umfangreichste  litterarische  Angriff  ist  Dr.  E.  E. 
Eckerts  »Magazin  der  Beweisführung  für  Verurteilung  des  Frei- 
maurer-Ordens“  (vgl.  »Der  Wilhelmsbader  Konvent“),  1852  80 
in  drei  dicken  Bänden  erschienen.  Der  wütende  Verfasser  hält 
die  Maurerei  für  allgegenwärtig  und  erblickt  sie  sogar  in  den 
chinesischen  Geheimgesellschaften.  Er  glaubt  allen  Ernstes,  dafs 
nicht  nur  die  bayrischen  llluminaten  und  die  deutsche  Burschen- 
schaft, sondern  auch  die  Carbonari,  das  Junge  Italien,  die 
spanischen  Liberalen  und  die  französischen  Jakobiner  aus  dem 
Schofse  der  Freimaurerei  hervorgegangen  seien.  Wegen  seiner 
Angriffe  auf  hochstehende  Brüder  wurde  Eckert  aus  Berlin  aus- 
gewiesen. Aus  der  neuesten  Zeit  stammt  das  ebenfalls  drei- 
bändige, nicht  unwichtige  Werk  des  französischen  Paters  Deschamps 
»Die  Geheimbünde  und  die  Gesellschaft“  (»Les  societes  secretes 
et  la  Societd,“  Paris  und  Avignon  1882-83).  Dieser  Autor 
schreibt  alle  politischen,  sozialen  und  sittlichen  Mifsstände  der 
Welt  der  verborgenen  Thätigkeit  der  Freimaurerei  zu,  als  deren 
Ziel  er  die  Beseitigung  aller  Religion,  Moral  und  Gerechtigkeit 


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Verfolgungen. 


467 

bezeichnet.  Im  Jahre  1873  hatte  das  deutsche  Werk  »Die  ge- 
heime Fehde  der  Freimaurerei  gegen  Kirche  und  Staat"  von  der 
»königlichen  Kunst“  dasselbe  behauptet. 

Was  die  Kirche  betrifft,  so  hört  die  Maurerei  noch  immer 
nicht  auf,  in  ihren  Augen  ein  Popanz  zu  sein.  Papst  Pius  IX., 
der  übrigens  in  seiner  Jugend  selber  eingeweiht  worden  war, 
wetterte  1875  in  einer  Bulle  gar  gewaltig  gegen  den  Orden  und 
neun  Jahre  später,  kurz  nach  der  Einsetzung  des  Prinzen  von 
Wales  als  Qrofsmeister  Mark-Maurer,  erliefs  der  gegenwärtige 
»Statthalter  Christi  auf  Erden“  eine  Encyklika,  in  welcher  er  die 
Brüderschaft  als  verbrecherisch,  gottlos,  umstürzlerisch  u.  dgl. 
hinstellte.  Aus  dem  letzten  Jahrzehnt  stammt  das  geradezu 
idiotische  Buch  eines  Dr.  Hacks-Bataille  »Der  Teufel  im  19.  Jahr- 
hundert", das  des  gröbsten  Aberglaubens  voll  ist  und  besonders 
viel  von  der  angeblichen  Teufelsanbetung  der  Freimaurer  faselt 

An  das  Erscheinen  des  letztgenannten  Werkes  knüpft  sich 
die  tragikomische,  grofsartige  und  vorzüglich  gelungene  Irre- 
führung der  Pfaffenwelt  durch  den  Pariser  Zeitungsschreiber 
Gabriel  Jogand  vor  wenigen  Jahren.  Dieser  Schalk  veröffentlichte 
unter  dem  Pseudonym  Leo  Taxil  mehrere  Schriften,  in  denen  er 
sich  als  einen  zum  Katholizismus  bekehrten  Logenbruder  be- 
zeichnete  und  die  angeblichen  Geheimnisse  der  Freimaurerei  zu 
verraten  behauptete.  Er  fingierte  die  vorgeblich  ebenfalls  bekehrte 
Logenschwester  Mifs  Diana  Vaughan  und  liefs  sie  die  gräfslichsten 
Geschichten  über  das  Treiben  der  Freimaurer  erzählen,  so  z.  B. 
dafs  sie  dem  Satan  Mefsopfer  darbringen,  von  bösen  Geistern 
besucht  werden  etc.  Einmal  sei  ein  Teufel  in  Gestalt  eines 
Krokodils  erschienen,  habe  Klavier  gespielt  und  seine  Unterschrift 
»Bitru"  hinterlassen.  Franz  Brückner  schreibt  zu  diesem  Gegen- 
stand: »Die  fromme  Zeitschrift  „Pelikan“  in  Feldkirch  bot  sich 
der  nicht  existierenden  Mifs  als  Sprachrohr  für  die  Dummen 
unter  den  Deutschen  an,  und  ein  in  Frankreich  begründeter 
„Weltbund"  gläubiger  Katholiken  hielt  im  September  1896  in 
Trient  einen  internationalen  Kongrefs  ab,  der  den  Kampf  gegen 
die  Freimaurer  organisieren  sollte.  36  Erzbischöfe  und  Bischöfe 
haben  an  diesem  „zweiten  Trienter  Konzil"  teilgenommen,  darunter 
aber  glücklicherweise  kein  Deutscher.  Die  reichsdeutschen  katho- 
lischen Zeitungen  haben  den  Taxilschwindel  anfangs  skeptisch 
behandelt  und  sind  ihm  später  entschieden  entgegengetreten; 
vergebens  aber  haben  sie  die  glaubenseifrigen  österreichischen, 
französischen  und  italienischen  Kollegen  vor  dem  ihnen  drohenden 
greulichen  Reinfall  gewarnt,  den  ihnen  bald  darauf  Taxil  bereitet 
hat,  indem  er  in  öffentlicher  Versammlung  erklärte,  „er  habe  alles 
erlogen,  um  die  Leichtgläubigkeit  der  katholischen  Priester  blofs- 
zustellen."  - Es  stellte  sich  heraus,  dafs  nicht  nur  Mifs  Vaughan, 

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46S 


Die  Freimaurerei. 


sondern  sogar  auch  Dr.  Hacks-Bataille  eine  Erfindung  Taxils 
war,  dem  der  von  sechshundert  Priestern  beschickte  und  vom 
Kardinal  Agliardi  präsidierte  Anti-Freimaurerkongrefs  in  so  ergötz- 
licher Weise  aufgesessen  war.  Leider  sterben  die  Dummen  eben 
nie  aus  und  »blinder  Eifer  schadet  nur.“ 


Deutsches  und  Nachträge. 

Der  geschichtliche  Verlauf  der  Freimaurerei  in  Deutschland 
weist  im  grofsen  Ganzen  dieselben  Züge  auf  wie  ihr  allgemeiner 
Entwicklungsgang:  anfangs  die  reine  englische  Maurerei  (Gesellig- 
keit, Toleranz,  Wohlthätigkeit),  nachher  die  Verirrungen  des  Hoch- 
gradeunwesens, schliefslich  die  Pflege  der  Humanität  Kaum 
war  1733  in  Hamburg  die  erste  deutsche  Loge  entstanden,  so 
wurden  in  kurzer  Zeit  so  viele  andere  errichtet,  dafs  schon  nach 
vier  Jahren  Heinrich  Wilhelm  v.  Marschall,  Erbmarschall  von 
Thüringen,  zum  Provinzial-Grofsmeister  von  Obersachsen  ernannt 
wurde.  Sehr  gefördert  wurde  die  Bundessache  durch  den  Beitritt 
des  Kronprinzen  Friedrich  von  Preufsen  (1738).  Die  weitere 
Geschichte  bis  nach  dem  Wilhelmsbader  Konvent  haben  wir 
bereits  in  früheren  Kapiteln  mitgeteilt.  Nach  dem  Tode  des  « 

Herzogs  von  Braunschweig  erlosch  die  Strikte  Observanz  und 
nunmehr  machte  sich  in  der  deutschen  Brüderschaft  das  Streben 
nach  Rückkehr  zu  den  alten,  einfachen  Grundlagen  der  echten 
Freimaurerei  geltend.  Deutschland  übernahm  statt  des  stabil 
verbleibenden  England  die  Aufgabe,  diese  Rückkehr  durch  gründ- 
lichere Erforschung  des  Wesens  und  der  Geschichte  der  könig- 
lichen Kunst  anzubahnen.  Dahin  gehören  die  Bestrebungen  des 
eklektischen  Bundes,  welcher  1783  zu  Frankfurt  ins  Leben  trat. 

Ihm  folgte  ein  Jahr  darauf  die  Grofse  Nationalloge  zu  den  drei 
Weltkugeln,  welche  sich  mit  ihren  Töchterlogen  von  sämtlichen 
tnaurerisehen  Verbindungen  für  unabhängig  und  das  Wesen  der 
Freimaurerei  in  den  drei  Johannisgraden  für  abgeschlossen  er- 
klärte. Sie  fügte  zwar  noch  vier  Hochgrade  hinzu,  aber  blofs 
als  Erkenntnisstufen,  die  die  Kenntnis  der  verschiedenen  Systeme 
und  ihrer  Symbole  vermitteln  sollen,  ohne  irgend  welche  Sup- 
rematie zu  üben.  Auch  die  aus  der  Loge  Royal  York  hervor- 
gegangene Grofsloge  Royal  York  zur  Freundschaft  änderte  unter  « 

j.  A.  Fefsler  ihr  Ritual  und  ihre  Verfassung  ab  und  nahm  statt 
der  vier  höheren  Grade  sechs  Erkenntnisstufen  an:  Allerheiligstes, 

Justifikation,  Feier,  Übergang,  Heimat,  Vollendung.  Diese  sechs 
Stufen  wurden  später  auf  eine  reduziert.  Eine  noch  durch- 
greifendere Umgestaltung  machte  die  Grofsloge  von  Niedersachsen 
zu  Hamburg  durch,  indem  Schröder  alle  höheren  Grade  be- 


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Deutsches  und  Nachträge.  4b9 

seitigte,  nur  die  drei  symbolischen  Grade  beibehielt  und  das 
Reinmenschliche  zum  Prinzip  erhob.  So  entstand  das  Schrödersche 
oder  Hamburger  System.  1770thaten  sich  zwölf  auf  schwedischer 
Grundlage  errichtete  Logen  zur  Grofsen  Landesloge  Deutschlands 
zusammen.  Ferner  entstanden  noch  vier  Grofslogen:  1813  die 
Landesloge  von  Sachsen,  später  die  Grofsloge  zur  Sonne  in 
Bayreuth,  1846  die  Grofsloge  zur  Eintracht  in  Darmstadt,  endlich 
die  Grofse  Loge  des  Königreichs  Hannover,  die  sich  jedoch 
infolge  der  Ereignisse  von  1866  auflöste. 

Gegen  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  wurde  die  politische 
Bewegung  dem  Bunde  nachteilig,  indem  viele  thätige  Kräfte  sich 
zurückzogen.  Die  Revolutionszeit  1848-49  führte  vollends  zu 
Parteiungen  und  Stillstand.  Die  nachfolgende  Reaktion  war  trotz 
aller  Angriffe  nicht  geeignet,  eine  Besserung  herbeizuführen. 
Erst  die  seit  1850  erscheinende  maurerische  Wochenschrift 
»Bauhütte“  von  dem  bekannten  Fachschriftsteller  und  Verleger 
J.  G.  Findel  brachte  wieder  Leben  in  die  Logen,  indem  sie  sich 
an  die  Spitze  einer  reformatorischen  Bewegung  stellte.  An- 
fänglich verhielten  sich  die  meisten  Grofslogen  ablehnend,  all- 
mählich jedoch  entschlossen  sie  sich  zu  einer  zeitgemäfsen 
Abänderung  ihrer  Verfassungen  und  Rituale.  1861  entstand 
»der  Verein  deutscher  Freimaurer",  der  in  jährlichen  Wander- 
versammlungen für  zeitgemäfse  Ausgestaltung  des  Bundes,  Ein- 
führung eines  allgemeinen  Grundgesetzes,  gröfsere  Öffentlichkeit, 
Beseitigung  des  Dogmatismus,  des  Titelwesens,  der  Hochgrade 
und  anderer  Obeistände  eintrat,  vor  allem  auch  für  umfassende 
maurerische  Werkthätigkeit.  Diese  reformatorische  Bewegung 
bewirkte  1872  die  Gründung  eines  deutschen  Grofslogenbundes. 
Als  der  Verein  deutscher  Freimaurer  nach  der  Verdrängung 
Findels  aus  dem  Vorstand  zu  erschlaffen  begann,  rief  der 
Genannte  1 884  den  Lessingbund  deutscher  Freimaurer  ins  Leben. 

Im  August  1897  konstituierte  sich  in  Braunschweig  der 
Einheitsbund  deutscher  Freimaurer,  der  die  bestehenden  Gegen- 
sätze auf  der  Grundlage  des  Bekenntnisses  zum  Christentum 
überwinden  will.  Jedes  beitretende  Mitglied  mufs  das  folgende 
»Formular"  unterschreiben:  »Der  Einheitsbund  verfolgt  den 
Zweck,  die  in  der  deutschen  Maurerei  vorhandenen  Gegensätze 
zu  beseitigen  und  eine  für  das  Ansehen  und  den  Einflufs  der 
Maurerei  notwendige  Wesenseinheit  herbeizuführen.  Der  Ein- 
heitsbund stellt  sich  dabei  auf  den  Standpunkt  des  keine  Kon- 
fession ausschliefsenden,  aber  allen  Konfessionalismus  im  Bunde 
selbst  überwindenden  Humanitätsprinzips.  Die  Mitglieder  des 
Bundes  bekennen  sich  zu  dem  Grundsätze,  dafs  dieses  Humanitäts- 
prinzip seinen  Ursprung  habe  in  der  Lehre  Jesu  von  einem  alle 
Völker  und  alle  wahre  Gottesverehrung  umfassenden  Reiche  Gottes 


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470 


Die  Freimaurerei. 


auf  Erden,  und  dafs  der  symbolische  Tempelbau  nichts  anderes 
sei,  als  die  Arbeit  an  jenem  in  Jesu  Lehre  begründeten  Gottes- 
reiche. Der  Bund  erstrebt  eine  gesetzliche,  für  alle  Systeme  verbind- 
liche Deklaration,  welche  auf  jene  Lehre  Jesu  ausdrücklich  Bezug 
nimmt  und  damit  jede  Abweichung  von  der  gemeinsamen  Grund- 
lage und  jede  Mifsdeutung  des  maurerischen  Wesens  verhindert.“ 
Trotz  der  starken  Betonung  des  christlichen  Charakters 
der  Logen  wurde  in  der  bereits  in  einem  früheren  Kapitel 
erwähnten  Schrift  „Der  Stern  von  Bethlehem“  der  Streit  über 
die  Aufnahme  von  Juden  zu  Gunsten  der  letzteren  entschieden. 
Man  habe,  heifst  es  da,  die  judenaufnehmenden  Logen  bislang 
als  Humanitätslogen  bezeichnet  und  damit  den  rein  christlichen 
die  Humanität  mittelbar  abgesprochen;  nun  sei  aber  die  christliche 
Humanität  die  allein  echte  und  wahre  und  gerade  sie  „öffnet 
auch  dem  suchenden  Israeliten  die  Pforte  des  maurerischen 
Tempels,  wenn  er  daran  klopft.“ 

Es  wird  hier  am  Platze  sein,  einige  wichtige  Einzelheiten 
zur  Organisationsfrage,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
deutschen  Verhältnisse,  nachzutragen.  Innerhalb  der  Loge  herrscht 
das  allgemeine  „Priestertum,“  das  heifst  die  Gleichberechtigung 
sämtlicher  Brüder.  Alle  maurerischen  Ämter  entspringen  der 
freien  Wahl.  Die  Logen  eines  Bezirks  oder  Landes  bilden  eine 
Grofsloge  oder  einen  freien  Logenbund,  innerhalb  dessen  das 
möglichste  Mafs  von  Selbständigkeit  herrscht.  Die  Grofsloge  ist 
eine  Verwaltungsbehörde  zur  Unterhaltung  der  Verbindung 
zwischen  den  ihr  angehörenden  Logen,  zur  Schlichtung  von 
Zwistigkeiten  und  zur  Aufsicht  über  die  Einhaltung  von  Satzungen. 
Bei  den  Versammlungen  der  Grofsloge  ist  jede  Tochter-  oder 
Bundesloge  durch  ihren  Meister  vom  Stuhl  (Stuhlmeister)  oder 
durch  einen  freigewählten  Abgesandten  vertreten.  An  der  Spitze 
der  Grofsloge  stehen  der  Grofsmeister  und  die  „Beamten.“ 
Heutzutage  dürfen  sich  Logen  nicht  aus  eigener  Machtvollkommen- 
heit bilden,  vielmehr  brauchen  sie  zu  „gesetzmäfsigeni"  Bestand 
einen  Freibrief  (Konstitution)  seitens  einer  Grofsloge.  Nicht  gehörig 
konstituierte  Logen  heifsen  Winkellogen  und  ihre  Mitglieder 
geniefsen  den  „gesetzmäfsigen“  Logen  gegenüber  nicht  das  Recht 
der  Freizügigkeit  oder  des  Besuches.  Die  Bezeichnung  Johannis- 
logen für  die  regelrechten  rührt  daher,  dafs  sie  Johannis  den 
Täufer  als  Patron  verehren.  Logen,  die  während  eines  Krieges 
im  Lager  arbeiten,  heifsen  Eeldlogen.  Aufser  den  eigentlichen 
Mitgliedern  giebt  es  noch  1.  Ehrenmitglieder,  d.  h.  Brüder  aus- 
wärtiger Logen,  die  sich  um  die  Loge  oder  den  Bund  besonders 
verdient  gemacht  haben;  2.  „musikalische"  Brüder,  diezwar  keine 
Beiträge  zu  zahlen  pflegen,  wohl  aber  bei  den  Logenfeierlichkeiten 
musizieren;  3.  „dienende"  Brüder,  die  nicht  stimmfähig  sind  und 


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Die  Zwecklosigkeit  der  modernen  Freimaurerei. 


471 


bei  den  Versammlungen,  Banketten  und  dergl.  die  Aufwartung 
besorgen. 

Hat  ein  Aufnahmebewerber,  der  durch  einen  Bruder  dritten 
Grades  angemeldet  sein  mufs,  die  ihm  behändigten  Fragen  be- 
antwortet, so  wird  über  ihn  abgestimmt  und  er  erhält  nach  er- 
folgter Aufnahme  ein  Certifikat  als  Ausweis  beim  Besuch  fremder 
Logen.  Der  Übertritt  eines  Freimaurers  von  einer  Loge  in  eine 
andere  erfolgt  durch  »Affiliation"  (Freizügigkeit,  Angliederung). 
In  den  zweiten  und  dritten  Grad,  sowie  in  die  höheren  Grade 
geht  man  durch  besondere  »Beförderungslogen."  Die  meisten 
Grofslogen  oder  Logenbünde  stehen  untereinander  in  einem 
Verhältnis  gegenseitiger  Repräsentation  und  tauschen  ihre  Ver- 
handlungsprotokolle aus.  Gewisse  Grundgesetze  gelten  für  die 
ganze  Brüderschaft  im  allgemeinen,  aufserdem  jedoch  hat  jeder 
Logenbund  und  jede  einzelne  Loge  ihre  eigenen  Lokalgesetze. 
Die  »isolierten"  oder  unabhängigen  Logen  unterstehen  keiner 
Grofsloge.  Die  von  einer  Grofsloge  abhängigen  Logen  einer 
Provinz  heifsen  »Provinziallogen.“  Will  ein  Freimaurer  aus- 
treten, so  »deckt“  er  die  Loge,  d.  h.  er  erklärt  seinen  Abgang. 
Brüder,  die  ihre  Pflichten  nicht  erfüllen,  werden  »gestrichen"; 
wegen  sittlicher  oder  maurerischer  Vergehen  wird  man  »aus- 
geschlossen.“ Die  Aufnahme-  und  Beförderungslogen  nennt  man 
Arbeitslogen,  wobei  das  Wort  „Logen“  die  Bedeutung  von  „Ver- 
sammlungen“ hat.  Es  giebt  ferner  instruktions-,  Fest-  und 
Trauerlogen,  die  letzteren  zur  Erinnerung  an  verstorbene  Mit- 
glieder. Die  „Logentage“  pflegen  im  „ Logen kalender“  verzeichnet 
zu  sein,  welcher  der  „Logenliste“  - Verzeichnis  sämtlicher 
Brüder  angehängt  ist.  Nach  Fest-  und  Aufnahmeversamm- 
lungen hält  man  häufig  »Tafellogen,“  bei  denen  die  Brüder  in 
ihrer  Bekleidung  bleiben  und  ein  vorgeschriebenes  Ritual  beob- 
achten; Trinksprüche,  Musik  und  das  Absingen  sogenannter 
Freimaurerlieder  würzen  gewöhnlich  das  Mahl.  Das  Zusammen- 
speisen ohne  maurerische  Bekleidung  wird  „Brudermahl“  genannt. 

Die  Zwecklosigkeit  der  modernen  Freimaurerei. 

Welchen  Zweck  hat  die  königliche  Kunst  heutzutage?  Ist 
sie  gegenwärtig  nicht  ein  Anachronismus?  Hat  sie  sich  nicht 
überlebt?  Ist  ihre  Geheimthuerei  nicht  eine  Täuschung  oder 
eine  Komödie?  Unseres  Erachtens  sind  alle  diese  Fragen  im 
ungünstigen  Sinne  zu  beantworten.  Solange  die  Maurerei  rein 
technischer  Natur  war,  bot  sie  grofse  Vorteile.  Als  sie  spekulativ 
wurde,  erwies  sie  sich  anfänglich  als  noch  nützlicher,  denn  teils 
allein  teils  in  Verbindung  mit  anderen  Vereinigungen  widersetzte 
sie  sich  damals  dem  in  den  meisten  Ländern  Europas  vor- 


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472 


Die  Freimaurerei. 


herrschenden  politischen  Despotismus  und  bildete  der  kirchlichen 
Unterdrückungssucht  und  Dunkelmännerei  gegenüber  eine  Art 
Gegeninquisition,  weshalb  sie  von  protestantischen  und  römisch- 
katholischen  Staatslenkern  gleichmälsig  verfolgt  wurde.  Die 

grofsen  Fortschritte  der  neueren  Zeit  im  Gebiete  der  Menschen- 
freundlichkeit und  Duldsamkeit  sind  unzweifelhaft  der  Richtung 
zu  verdanken,  welche  die  spekulative  Freimaurerei  im  18.  Jahr- 
hundert einschlug  und  der  politischen  Thätigkeit,  die  sie  in  den 
meisten  Ländern  im  19.  Jahrhundert  entfaltete,  ln  Zeiten  ge- 
gründet, da  der  Besitz  religiöser  und  wissenschaftlicher  Kennt- 
nisse ein  Vorrecht  Weniger  war,  bewahrte  sie  diese  Kenntnis 
nach  Möglichkeit  vor  dem  Unkraut  der  Gleichgültigkeit  und  dem 
Ballast  des  Aberglaubens.  Jetzt  aber  ist  das  Bächlein  des 
Wissens  längst  zu  einem  unbegrenzten,  immer  höher  anschwellen- 
den Ozean  angeschwollen.  Da  die  moderne  Wissenschaft  ihre 
Entdeckungen  keineswegs  verheimlicht,  mufs  eine  Gesellschaft, 
die  irgend  welche  Kenntnisse  auf  ihre  Mitglieder  beschränkt 
sehen  will,  als  eine  mehr  oder  minder  rückschrittliche  betrachtet 
werden.  Wie  äufserte  sich  doch  Philo  um  1780  über  die 
damalige  englische  Freimaurerei?  »Die  Logen  nehmen  wahllos 
Mitglieder  auf,  spielen  mit  Geheimnissen,  ohne  dieselben  zu  ver- 
stehen, essen,  trinken,  verdauen  gut  und  geben  zuweilen  Almosen 
- so  sind  die  formalen  englischen  Logen  beschaffen.“  Und 
das  gilt  von  ihnen  noch  heute. 

Es  giebt  Tausende  von  ausgezeichneten  Männern,  die 
niemals  eine  Loge  betreten  haben  und  dennoch  echte  Freimaurer 
sind,  d.  h.  freisinnige,  aufgeklärte  Männer,  die  sich  mit  dem 
Studium  der  Natur  wie  mit  dem  sittlichen  und  geistigen  Fort- 
schritt der  Menschheit  beschäftigen  und  in  politischer  wie 
religiöser  Hinsicht  vorurteilsfreie  Kosmopoliten  sind.  Anderseits 
giebt  es  Tausende,  die  in  alle  maurerischen  Grade  eingeweiht 
und  trotzdem  keine  Freimaurer  sind,  weil  sie  den  Schein  für 
die  Wirklichkeit,  die  Mittel  für  den  Zweck,  die  Logenzeremonien 
für  das  Wesen  der  Freimaurerei  halten,  während  doch  die  Loge 
mit  all  ihren  Sinnbildern  nur  die  Form  ist,  in  die  sich  der 
maurerische  Gedanke  kleidet.  Diese  Form  nun,  welche  einst 
sehr  angemessen  ja  notwendig  war,  ist  gegenwärtig  veraltet  und 
unzeitgemäfs.  Das  Vorgeben  des  Besitzes  von  Geheimnissen  ist 
eine  ebenso  kindische  wie  schädliche  Schwäche.  Die  modernen 
Maurer  erklären  als  Gegenstände  ihres  Bestrebens  Bruderliebe, 
Beistand  und  Wahrheit;  diese  Dinge  können  unmöglich  geheimer 
Riten,  Überlieferungen  und  Zeremonien  bedürfen. 

Und  was  die  Wissenschaft  und  Gelehrsamkeit  betrifft,  die 
dem  Bunde  angeblich  eigen  sein  soll,  so  ist  es  damit  nichts. 
Die  Freimaurerei  hat  die  Welt  um  keinerlei  neue  wissenschaft- 


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Die  Zwecklosigkeit  der  modernen  Freimaurerei. 


473 


liehe  Thatsachen  oder  Grundsätze  bereichert.  Nicht  einmal  mit 
dem  Studium  längst  bekannter  Wahrheiten  befassen  sich  die 
Logen.  Sie  verpönen  religiöse  und  politische  Debatten  und 
dennoch  soll  die  Menschheit  dem  Maurertum  ein  gut  Teil  ihres 
Fortschrittes  zu  verdanken  haben.  Angeblich  würde  die  Welt, 
wenn  plötzlich  der  Freimaurerei  beraubt,  wieder  in  geistige 
Finsternis  zurücksinken.  In  Wirklichkeit  ist  es  nicht  denkbar,  dafs 
die  Entwickelung  der  Menschheit  gefördert  werden  kann,  wenn 
die  mit  den  bestehenden  politischen  und  religiösen  Systemen 
verknüpften  chronischen  Übel  nicht  behandelt  werden  dürfen. 
Wenn  die  Maurerei  lebensfähig  bleiben  und  sich  zu  Höherem 
aufschwingen  will  als  etwa  die  Odd  Fellows,  müssen  Logen  aus- 
schliefslieh  von  gebildeten  Personen  gegründet  werden  und  diese 
müssen  die  Sittenlehre  und  die  Philosophie  von  einem  anderen 
Standpunkt  auffassen  und  den  Mitgliedern  beibringen  als  von  dem 
scholastischen  und  materialistischen,  auf  welchem  heutzutage  die 
Wissenschaft  beniht;  die  letztere  dürfte  in  den  Logen  nicht  zu 
dem  gemacht  werden,  wozu  der  moderne  Materialismus  sie  ge- 
macht hat:  zur  Dienstmagd  der  leiblichen  Bequemlichkeit. 

Die  Freimaurerei  weist  auch  sonst  noch  viele  Schatten- 
seiten auf.  Nur  zu  leicht  und  zu  häufig  werden  charakterlose 
Personen  aufgenommen,  die  Satzungen  bleiben  in  hohem  Mafse 
unbefolgt,  die  reformfreundlichen  Brüder  werden  von  den  übrigen 
mit  scheelen  Blicken  angesehen,  die  Ausschliefsung  unwürdiger 
Mitglieder  ist  zu  sehr  erschwert,  es  sind  zu  viele  falsche  Riten 
vorhanden  und  die  echten  tragen  zu  sehr  das  Gepräge  des 
Trügerischen,  denn  sie  erregen  die  Neugier,  ohne  sie  je  zu  be- 
friedigen. Der  maurerische  Symbolismus  ist  kindisch  und  die 
dem  Kandidaten  offenbarten  Geheimnisse  sind  ungemein  ge- 
ringfügig. Die  wahre  Freimaurerei  spielt  gegenwärtig  in  den 
Logen  eine  äufserst  kleine  Rolle.  Gleich  dem  Klosterwesen  und 
dem  Rittertum,  ist  die  «königliche  Kunst“  überflüssig  geworden. 
Sie  hat  weder  politischen  Einflufs  noch  politische  Bestrebungen, 
besitzt  keinen  industriellen  oder  geistigen  Sammelpunkt  und  ist 
nicht  einmal  mehr  eine  geheime  Gesellschaft,  denn  ein  vom 
Staate  genehmigter  Bund  kann  nicht  geheim  genannt  werden. 
Wenn  sie  nicht  an  Altersschwäche  sterben  will,  mufs  sie  ihre 
Riten  und  Zeremonien  aufgeben,  die  weder  einfach  noch  grofs- 
artig  sind,  mufs  sie  auch,  wie  schon  bemerkt,  auf  ihre  Geheimnis- 
thuerei verzichten,  sich  überhaupt  gründlich  umgestalten.  Andern- 
falls werden  ihr  nicht  einmal  die  in  französischen  Logen  vor- 
kommenden maurerischen  Eheschliefsungen  helfen  können.  Uns 
liegen  Berichte  vor  über  zwei  solche  Vermählungen  ohne  die 
üblichen  kirchlichen  oder  Civiltrauungen.  Die  eine  fand  in  der 
Loge  La  France  Maijonnique  zu  Paris,  die  andere  in  einer 


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•174 


Die  Freimaurerei. 


Toulouser  Loge  statt,  beide  im  Jahre  1887.  Fünf  Jahre  vorher  ver- 
heiratete der  berühmte  Geograph  und  Edelanarchist  Elvsee  Reclus, 
der  auch  Freimaurer  ist,  zwei  seiner  Töchter  an  zwei  »Brüder" 
dadurch,  dafs  er  die  beiden  Paare  einfach  für  vermählt  erklärte. 

Ich  weifs,  dafs  viele  Freimaurer  über  die  herben  Worte, 
die  ich  mir  stellenweise  hinsichtlich  der  königlichen  Kunst  er- 
laubt habe,  entrüstet  sein  werden ; aber  erstens  konnte  ich  meine 
Überzeugung  nicht  unterdrücken  und  zweitens  wird  diese  von 
vielen  ehrlichen  Maurern  geteilt,  besonders  im  Hinblick  auf  das 
englische  Maurertum.  Ein  englischer  Bruder  schrieb  1798  in 
der  Zeitschrift  »Monthly  Magazine“:  »Der  Wirt,  der  stets  ein 
Bruder  ist,  fördert  die  sogenannte  Eintracht  durch  die  Beistellung 
feiner  Soupers  und  vortrefflicher  Getränke.  Das  hat  Trunkenheit 
und  lange  Nachtwachen  zur  Folge.  So  geht  es  in  zwei  Dritteln 
der  jetzigen  Logen  zu  . . . Hogarth  gehörte  dem  Bunde  an 
und  fungierte  1735  sogar  als  Ober- Haushofmeister;  dennoch 
läfst  er  in  seiner  »Nacht"  einen  berauschten  Stuhlmeister  vom 
Logenschliefser  heimgeleiten.*  Der  eifrige  Maurer  John  Yarker 
sagt  in  seinen  1872  erschienenen  »Bemerkungen  über  die  wissen- 
schaftlichen und  religiösen  Mysterien  des  Altertums“:  »Wie  die 
Brüderschaft  jetzt  geleitet  ist,  wird  sie  immer  mehr  zum  Paradies 
des  Lebemanns,  des  Wohlthätigkeitshcuchlers,  des  Erzeugers 
von  unbedeutendem  maurerischen  Flitter,  des  kaufmännischen 
Schwindlers  und  anderer  Quacksalber,  die  sich  auf  Grund  der 
aristokratischen  Allüren,  welche  sie  in  unsern  Bund  eingeschmuggelt 
haben,  Geld  oder  Einflufs  verschaffen.“ 

Das  Gros  der  tnaurerischen  Litteratur,  namentlich  der 
englischen,  taugt  nicht  viel.  Die  grofse  Unzulänglichkeit  der 
1 itterarischen  Seite  der  Freimaurerei  ist  von  vielen  gebildeten 
Maurern  anerkannt  worden  und  die  Anerkennung  führte  1884 
zur  Stiftung  der  Loge  »Quatuor  Coronati."  Da  deren  Mitglieder 
eine  tüchtige  litterarische  oder  künstlerische  Eignung  haben 
müssen,  gilt  es  als  hohe  Ehre,  ihr  anzugehören.  Sie  besteht 
hauptsächlich  aus  bekannten  maurerischen  Gelehrten  und 
Forschern  und  nimmt  eine  Stellung  ein,  welche  von  der  aller 
anderen  Logen  grundverschieden  ist.  Sie  beschäftigt  sich  ernst- 
lich mit  der  Verbreitung  wirklich  maurerischer  Kenntnisse,  sei 
es  durch  Vorträge  und  Debatten  in  der  Loge,  sei  es  durch  die 
Veröffentlichung  ihrer  Verhandlungen  oder  den  Neudruck  seltener 
und  wertvoller  Werke  über  die  Freimaurerei  in  einer  Sammlung 
(»Ars  quatuor  coronatorum“)  von  prächtig  ausgestatteten  Bänden. 
Mit  der  Loge  verknüpft  ist  ein  »Korrespondenz-Zirkel,"  der  in 
allen  Erdteilen  Mitglieder  besitzt  und  ebenfalls  die  Entwickelung 
der  königlichen  Kunst  anstrebt. 


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ZWÖLFTES  BUCH: 

Verschiepene 
anpere  Vereinigungen. 

(Alphabetisch  geordnet) 


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ABC  - Freunde. 

Der  angebliche  Zweck  dieses  französischen  Bundes  war 
die  Beschäftigung  mit  der  Kindererziehung,  der  wirkliche  aber 
die  Befreiung  der  Menschheit.  „ABC"  bedeutete  „abaisse“ 
(die  Aussprache  ist  im  französischen  die  gleiche);  die  Erniedrigten, 
die  erhöht  werden  sollten,  waren  das  Volk.  Die  Mitglieder  waren 
gering  an  Zahl,  jedoch  auserwählt.  Unter  der  Restauration  hatte 
die  Gesellschaft  in  Paris  zwei  Logen.  Victor  Hugo  erwähnt  sie 
im  3.  Teil  des  4.  Buches  seiner  «Miserables.» 


Abeliten. 

Eine  christliche  Sekte,  welche  im  4.  Jahrhundert  unserer 
Zeitrechnung  in  der  Gegend  von  Hippo  (Nordafrika)  bestand. 
Obgleich  verheiratet,  enthielten  sich  die  Mitglieder  des  ehelichen 
Umgangs,  denn  sie  glaubten,  dafs  auch  Abel  so  gelebt  habe, 
weil  die  Bibel  nicht  erwähne,  dafs  er  Kinder  gehabt  habe.  Um 
die  Sekte  zu  erhalten,  nahmen  sie  fremde  Kinder  an.  — Eine 
andere  Abeliten-Sekte  gab  es  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
in  Deutschland.  Sie  behauptete,  im  Besitze  aller  Tugenden  Abels 
zu  sein  und  hatte  geheime  Zeichen,  Sinnbilder,  Kennworte  und 
Einweihungsriten.  Die  Hauptversammlungen,  welche  zu  Greifs- 
wald abgehaltcn  wurden,  befafsten  sich  mit  moralischen  und 
I itterarischen  Debatten. 


Accoltellatori. 

1874  wurde  zu  Ravenna  ein  nichtpolitischer  Geheimbund, 
der  der  «Accoltellatori»  (Gurgelabschneider),  entdeckt  und 
eine  grofse  Anzahl  seiner  Mitglieder  vor  Gericht  gestellt  Man 
hatte  sein  Dasein  längst  vermutet,  aber  amtlicherseits  nicht  ein- 
zuschreiten gewagt.  Privatpersonen  überlieferten  in  mehreren 


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478 


Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Fällen  die  Mörder  erfolgreich  dem  Arm  der  Gerechtigkeit,  allein 

die  Anzeiger  erlitten  stets  bald  den  Rachetod.  In  den  meisten 

Fällen  bewog  Furcht  vor  Rache  die  Augenzeugen  der  Verbrechen, 

die  Aussage  zu  verweigern.  Ein  Ladenbesitzer,  der  bei  Gericht 

besonders  eifrig  gegen  die  Gurgelabschneider  aufgetreten  war,  « 

empfing  die  Nachricht,  dafs  er  sterben  müsse,  und  die  Mörder 

klebten,  um  ihre  That  zu  verhüllen,  in  derselben  Nacht  ein 

Plakat  an  die  Rollthüre  des  Ladens,  besagend,  der  Eigentümer 

sei  abgereist  und  das  Geschäft  zu  verkaufen.  Endlich  verriet 

ein  »Genosse“  das  Geheimnis  und  gab  der  Polizei  Aufschlufs 

über  einige  »Beseitigungen"  und  deren  Urheber.  Die  Bande 

war  allzu  zahlreich  geworden,  die  Leitung  verdächtigte  einige 

Mitglieder  der  Treulosigkeit,  liefs  sie  überwachen  und  umbringen. 

Der  angestrengte  Prozefs  endigte  mit  der  Verurteilung  der 
meisten  Angeklagten  zu  schweren  Zuchthausstrafen.  Ursprünglich 
hatte  es  nur  zwölf  »accoltellatori“  gegeben,  die  im  Cafe  Mazza- 
villani  regelmäfsige  Zusammenkünfte  abhielten,  um  Opfer  zu 
bestimmen  und  über  deren  Schicksal  zu  entscheiden. 


Akademie  der  Alten.  * 

Der  Oberst  Toux  de  Salverte  gründete  diesen  Orden  in 
Warschau  nach  dem  Vorbild  eines  gleichnamigen,  der  am  Anfang 
des  16.  Jahrhunderts  in  Rom  bestand.  In  seinen  geheimen 
Versammlungen  wurde  Okkultismus  getrieben. 


Almusseri. 

Die  Einweihungsriten  ähneln  einigermafsen  denen  der 
orphischen  und  kabirischen  Mysterien.  (Vergl.  das  Kapitel  »Die 
Wandlungen  der  Isislegende“).  Inmitten  eines  ungeheuren  Waldes 
erhebt  sich  ein  Tempel,  den  kein  Uneingeweihter  betreten  darf. 
Die  Aufnahmen  finden  einmal  jährlich  statt  Der  Kandidat 
simuliert  den  Tod  und  zu  einer  vorgeschriebenen  Stunde  umgeben 
ihn  die  Eingeweihten,  Trauerlieder  singend;  sodann  wird  er  in 
den  Tempel  getragen,  auf  eine  erwärmte  Kupferplatte  gesetzt  und 
mit  Palmöl  gesalbt,  weil  die  Ägypter  die  Palme,  der  sie  365 
Eigenschaften  zuschrieben,  der  Sonne  weihten.  Auf  dieser  Platte 
mufste  er  vierzig  Tage  bleiben;  seine  Verwandten  besuchten  ihn, 
um  ihn  wieder  zu  salben  und  nach  Ablauf  der  Probezeit  wird 
er  unter  Freudengesängen  nach  Hause  geleitet.  Da  man  voraus- 
setzt, dafs  er  durch  jene  Prozeduren  eine  neue  Seele  bekommen 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


479 


hat,  erfreut  er  sich  von  nun  an  bei  seinem  Stamme  hohen  An- 
sehens und  grofsen  Einflusses.  Einem  ähnlichen  Orden  begegnen 
wir  bei  den  senegambischen  Negern;  derselbe  heilst:  »Belly  Paaro.“ 
(Vgl.  weiter  unten.) 


Anarchisten. 

1868  führten  der  Russe  Michael  Bakunin  und  der  Belgier 
Victor  Dave  in  die  »Internationale"  das  anarchistische  Element  ein, 
welches  drei  Jahre  später  zur  Pariser  Kommune  führte.  Nach 
den  Streitigkeiten,  die  sich  1872  zwischen  den  deutschen  Sozial- 
demokraten und  den  Anarchisten  erhoben,  schlofs  der  sozial- 
demokratische Buchbinder  Johann  Most  sich  den  letzteren  an.  1879 
gründete  er  in  London  die  „Freiheit,“  ein  Wochenblatt  rötester  Sorte. 
Die  Rädelsführer  der  Hödelschen  und  Nobilingschen  Attentate 
auf  Kaiser  Wilhelm  I.  wurden  hingerichtet.  1885  rächten  sich 
die  Anarchisten  hierfür,  indem  sie  in  Frankfurt  den  hohen 
Polizeibeamten  Dr.  Rumpf  umbrachten ; nur  der  unbedeutendste 
der  Mörder,  der  22jährige  Julius  Lieske,  wurde  ermittelt  und 
enthauptet.  Most  gründete  einen  engeren,  ganz  geheimen  Kreis 
von  Propagandisten.  Als  die  »Freiheit"  die  Phönixpark-Morde 
(vgl.  »Irische  Geheimgesellschaften")  guthiefs,  wurde  das  Blatt 
unterdrückt;  Most  liefs  es  nun  in  der  Schweiz  und  später  in 
den  Vereinigten  Staaten  erscheinen,  wohin  er  1882  übersiedelte. 
Der  Anarchismus,  dessen  geheimes  Hauptquartier  sich  in  Chicago 
befand,  breitete  sich  in  der  Union  wie  auch  in  Europa  ziemlich 
rasch  aus  und  gipfelte  in  den  Dynamitattentaten  von  Chicago, 
in  den  Mordfällen  von  Strafsburg,  Stuttgart,  Wien  und  Prag. 

In  der  letztgenannten  Stadt  verurteilte  eine  geheime  Anar- 
chistenversammlung den  Polizeidirektor,  der  einige  der  Mörder 
hatte  verhaften  lassen,  zum  Tode,  und  das  Los,  wer  die  That 
ausführen  sollte,  traf  den  Handschuhmachergesellen  Drefsler. 
Dieser  beging,  um  nicht  zum  Mörder  zu  werden,  einen  Selbst- 
mord, schrieb  aber  vorher  seinen  Eltern  einen  Brief,  in  welchem 
er  das  Vorhandensein  des  Geheimbundes  enthüllte.  Das  ermög- 
lichte der  Polizei  die  Verhaftung  der  thätigsten  Mitglieder.  Im 
Juli  desselben  Jahres  wurde  in  Wien  ein  Schuhmacher  von  zwei 
Individuen  überfallen,  betäubt  und  eines  gröfseren  Geldbetrages 
beraubt.  Nach  einigen  Wochen  erwies  sich,  dafs  dieses  Ver- 
brechen von  einem  Anarchistenverein  ausging,  welcher,  wie  aus 
den  bei  den  verhafteten  Mitgliedern  Vorgefundenen  Flugschriften 
hervorging,  auf  die  Beseitigung  der  Herrscher,  der  Priester  und 
der  Kapitalisten  sowie  auf  die  Errichtung  einer  roten  Republik 
abzielte.  Innerhalb  dieses  Bundes  gab  es  Gruppen  von  fünf 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


bis  neun  Mitgliedern,  denen  die  Verpflichtung  oblag,  nach  dem 
Schneeballsystem  immer  neue  solche  Gruppen  ins  Leben  zu 
rufen.  Die  damalige  Gerichtsverhandlung  machte  ihm  ein  Ende 
und  es  ist  unsicher,  ob  heute  der  Anarchismus  überhaupt  noch 
über  organisierte  Vereinigungen  verfügt.  Die  Aufsehen  erregenden 
Attentate  der  letzten  Jahre  — in  der  Pariser  Madeleine-Kirche,  im 
Theater  zu  Barcelona,  in  der  Pariser  Deputiertenkammer,  gegen 
Canovas  del  Castillo,  Camot,  Kaiserin  Elisabeth  u.  s.  w. 
lassen  eher  auf  ein  selbständiges  Vorgehen  vereinzelter  Gewalt- 
anarchisten schließen  (Vaillant,  Ravachol,  Henry,  Caserio,  Angiolillo, 
Luccheni  u.  a.). 

Die  letzteren  dürfen  beileibe  nicht  in  einen  Topf  geworfen 
werden  mit  den  sogen.  Ideal-  oder  Edelanarchisten,  die  geradezu 
eine  gegenteilige  Richtung  vertreten,  nämlich  den  Grundsatz  der 
absoluten  Gewaltlosigkeit  im  Sinne  Christi.  Dieser  Partei,  die 
durchaus  nicht  organisiert  ist,  sind  die  unsinnigen  Gewaltthaten 
der  anderen  Richtung  ein  Greuel,  weil  dieselben  den  Durchbruch 
des  Prinzips  der  Gewaltlosigkeit  aufserordentlich  beeinträchtigen, 
indem  sie  immer  wieder  Gewaltrepressalien  hervorrufen.  Dem 
Edelanarchismus  huldigen  weit  mehr  Personen  als  dem  gewalt- 
tätigen, darunter  zahlreiche  hervorragende  Geister,  Tolstoi  an 
der  Spitze. 


Antifreimaurerische  Partei. 

Der  in  die  höchsten  Grade  der  Freimaurerei  eingeweihte 
Zeitungsschreiber  William  Morgan  veröffentlichte  1826  ein  die 
Geheimnisse  der  »königlichen  Kunst"  enthüllendes  Buch.  Bald 
darauf  verschwand  er  und  kam  nie  wieder  zum  Vorschein. 
Seine  Freunde  beschuldigten  die  Freimaurer,  ihn  in  einem  Boot 
entführt  und  dann  ermordet  zu  haben.  Jene  dagegen  behaupteten, 
er  habe  sich  im  Ontario-See  ertränkt,  und  sie  brachten  eine  Leiche 
bei,  welche  jedoch  als  die  eines  gewissen  Monroe  erkannt  wurde. 
Die  gerichtliche  Untersuchung  blieb  ergebnislos.  Die  Entrüstung 
über  das  Verbrechen  und  dessen  Straflosigkeit  führte  im  Staate 
New-York  zur  Entstehung  der  Gesellschaft  »Antifreimaurerische 
Partei",  die  den  Zweck  verfolgte,  alle  Freimaurer  von  den  öffent- 
lichen Ämtern  auszuschliefsen ; allein  sie  entartete  bald  zu  einer  Wahl- 
maschine. Etwa  fünfzig  Jahre  nach  dem  Tode  Morgans  ver- 
öffentlichte Thurlow  Weed,  angeblich  aus  eigener  Kenntnis,  einen 
ausführlichen  Bericht  über  die  Ermordung  Morgans  durch  die 
Freimaurer.  Das  Grab  des  Verschwundenen  wurde  1881  in  der 
Grafschaft  Batavia  (Staat  New-York)  entdeckt  und  ein  in  dem- 
selben Vorgefundener  Zettel  trug  den  Namen  des  Freimaurers 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen.  48! 

John  Brown,  der  seinerzeit  vom  Publikum  denn  auch  der  Teil- 
nahme an  dem  Verbrechen  geziehen  worden  war.  Anderseits 
erzählten  einige  amerikanische  Reisende,  sie  seien  in  Smyrna  mit 
Morgan  zusammengekommen,  der  dort  englischen  Unterricht  er- 
teilt habe.  Der  wirkliche  Sachverhalt  bleibt  nach  wie  vor  unklar. 


Antifreimaurer. 

Im  Jahre  1811  in  der  irischen  Grafschaft  Down  gegründet, 
bezweckte  diese  römisch-katholische  Geheimgesellschaft  die  Ver- 
treibung der  Freimaurer  ohne  Unterschied  des  Glaubens- 
bekenntnisses. 


Apokalypsen-Ritter. 

Augustinus  Gabrino  aus  Brescia  stiftete  diesen  Orden 
1693  zur  Verteidigung  der  Kirche  gegen  den  erwarteten  Anti- 
christ. Als  am  Palmsonntag  im  Petersdom  zu  Rom  der  Chor 
den  Gesang  „Quis  est  iste  rex  gloriae?"  anstimmte,  stürzte  sich 
Gabrino,  ein  Schwert  schwingend,  mit  dem  Rufe:  »Ego  sum  rex 
gloriae",  zwischen  die  Choristen.  Als  er  das  Gleiche  auch  in 
der  Salvator-Kirche  that,  wurde  er  in  ein  Irrenhaus  gesteckt. 
Dennoch  bestand  der  Bund  weiter,  bis  ihn  ein  eingeweihter 
Holzschnitzer  bei  der  Inquisition  anzeigte,  welche  die  Ritter 
einkerkerte.  Die  letzteren,  obgleich  nur  Gewerbetreibende  und 
Arbeiter,  trugen  zumeist  ein  Schwert  — auch  bei  der  Arbeit  — 
und  auf  der  Brust  einen  siebenstrahligen  Stern  mit  einem 
Anhängsel,  welches  das  vom  Heiligen  Johannes  in  der  Apokalypse 
gesehene  Schwert  darstellen  sollte.  Der  Orden  wurde  beschuldigt, 
politische  Ziele  zu  verfolgen;  sicher  ist  nur,  dafs  sein  Gründer 
die  Vielweiberei  einführen  wollte  und  sich  »Monarch  der  Heiligen 
Dreifaltigkeit"  nannte.  Er  war  eben  verrückt  .... 


Arbeitsritter. 

Der  1869  von  dem  philadelphischen  Schneider  Uriah  Stephens 
gegründete  geheime  »Orden  der  Arbeitsritter"  (»Knights  of 
labour")  hatte  ursprünglich  blofs  die  Bestimmung,  einen  bereits 
bestandenen  Zuschneiderverein  zu  ergänzen.  Demgemäfs  wurden 
anfangs  nur  Zuschneider  aufgenommen,  aber  schon  nach  ein  bis 
zwei  Jahren  fanden  auch  andere  Mitglieder,  »sojourners“  (=  Gäste, 
Fremde)  genannt,  Aufnahme.  1873  wurde  ein  Hauptausschufs 

Heckethorn-Kattcher.  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  31 


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482 


Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


gewählt  und  ein  Ritual  festgestellt,  dessen  Geheimhaltung  jeder 
»Ritter»  eidlich  versprechen  mufste.  Die  Bundesbeamten  hiefsen 
„Meister- Arbeiter,  Würdiger  Werkführer,  Verehrungswürdiger 
Weiser,  Berichtender  Schriftführer,  Finanz-Sekretär,  Schatzmeister, 
Würdiger  Inspektor,  Almosenier,  Unbekannter  Ritter,  Innerer 
Knappe,  Aufserer  Knappe“  u.  s.  w.  Jede  Industrie  hatte  eigene 
örtliche  Logen  mit  eigenen  Beamten.  Diese  örtlichen  Logen 
und  die  Bezirkslogen  entsandten  zu  den  grofsen  Jahresversamm- 
lungen Delegierte.  Die  strenge  Geheimthuerei  wurde  unter  dem 
Einflufs  der  katholischen  Kirche  allmählich  gelockert,  namentlich 
nach  Stephens’  Rücktritt  vom  Amte  des  Grofsmeister-Arbeiters 
(1879).  Nach  wenigen  Jahren  verwandelte  sich  der  Orden  gänz- 
lich in  einen  öffentlichen  mit  gewerkvereinlichen  und  Unter- 
stützungszwecken. Stephens'  Nachfolger  war  der  bekannte  Pow- 
derley,  von  welchem  der  Clevelander  „Wächter  und  Anzeiger" 
Ende  1899  das  Folgende  schrieb:  „Wenn  es  je  einen  Arbeiter- 
verband gegeben  hat,  der  Grofses  für  die  Arbeiterschaft  hätte 
leisten  können,  so  war  es  dieser  Verband.  In  der  Mitte  der 
achtziger  Jahre  war  er  sozusagen  allgewaltig.  Er  brauchte  fast 
nur  zu  wünschen,  um  es  geschehen  zu  sehen.  Aber  ein 
Powderley,  derselbe  Hohlkopf,  Dünkeling  und  Schwindler,  den 
MacKinley  und  Kompagnie  für  seinen  Arbeiterverrat  zum  General- 
kommissär des  Einwanderungswesens  ernannten,  richtete  in  wenigen 
Jahren  zu  Grunde,  was  Uriah  Stephens  im  Geiste  als  die  Macht 
sah,  die  die  Arbeiter  erlösen  würde.  ...  Es  wäre  wahrscheinlich 
anders  gekommen,  wenn  das  amerikanische  Volk  nicht  so  sehr 
zur  Heldenverehrung  hinneigte.  Das  traurige  „Pülverle"  war 
eine  Zeit  lang  der  reine  Halbgott  für  die  „Ritter.*  Als  sie 
entdeckten,  was  für  ein  erbärmlicher  Geselle  er  sei,  da  war  es 
zum  Retten  schon  zu  spät.  Heute  sind  die  Tage  der  Arbeits- 
ritter dahin." 


Areoiten. 

Tahitischen  Ursprungs,  ist  dieser  Geheimbund  auf  den 
Gesellschafts-Inseln  verbreitet.  Er  besitzt  eine  besondere  Genea- 
logie und  Hierarchie  sowie  eigne  Überlieferungen.  Die  Mit- 
glieder halten  sich  für  die  Abkömmlinge  des  Gottes  Oro-Tetifa 
und  sind  in  sieben  — nach  manchen  Quellen  in  zwölf  -- 
Grade  eingeteilt,  welche  sich  durch  verschiedenartige  Tättowierung 
unterscheiden.  Es  handelt  sich  da  um  eine  ähnliche  Vereinigung 
wie  die  der  altägyptischen  Priesterschaft,  doch  werden  auch 
Laien  zugelassen.  Die  Oberhäupter  erlangen  die  höchsten  Grade 
sofort,  während  die  gewöhnlichen  Sterblichen  vor  ihrer  Ein- 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


483 


weihung  erst  viele  Erprobungen  durchmachen  müssen.  Die 
Mitglieder  erfreuen  sich  vieler  Vorrechte  und  hohen  Ansehens; 
sie  werden  als  die  Besitzer  alles  Wissens  und  die  Vermittler 
zwischen  Gott  und  den  Menschen  betrachtet,  auch  fürchtet  man 
sie  als  die  Handhaber  des  Tabu,  einer  Art  Acht  und  Bann,  wie 
wir  ihr  bei  den  altgriechischen  Hierophanten  und  dem  päpst- 
lichen Stuhl  (Exkommunikation)  begegnen.  Obgleich  die  Zere- 
monien abstofsend  und  unsittlich  sind,  verbirgt  sich  hinter 
denselben  eine  Grundlage  edler  Gedanken,  so  dafs  wir  die 
gegenwärtigen  Riten  wohl  für  Entartungen  eines  einstigen  reineren 
Zeremoniells  halten  dürfen.  Die  Einweihungslehrcn  beziehen 
sich  auf  die  Zeugungskraft  der  Natur;  deshalb  spielt  die  Sonnen- 
gottlegende bei  den  Festlichkeiten  eine  grofse  Rolle  und  zur 
Zeit  der  Wintersonnenwende  wird  eine  an  die  Mysterien  des 
Altertums  erinnernde  Bestattungsfeier  abgehalten.  In  ganz  Poly- 
nesien glauben  die  Eingeborenen  an  eine  höchste  Gottheit 
Namens  Taaroa  oder  Tongola  oder  Tangaroa,  von  der  die 
Eingeweihten  die  folgende  Hymne  singen:  »Er  war;  er  wurde 
Taaroa  genannt  Er  rief,  aber  niemand  antwortete.  Er,  das 
einzige  Urwesen,  verwandelte  sich  in  das  Weltall.  Er  ist  das 
Licht,  der  Keim,  die  Grundlage.  Er,  der  Unvergängliche,  ist 
grofs  - er,  der  das  Weltall  erschaffen  hat,  das  grofse  Weltall.* 


Belly  Paaro. 

So  heifsen  bei  den  Guinea-Negern  die  Mysterien,  welche 
jedoch  nur  einigemale  in  einem  Jahrhundert  gefeiert  werden. 
Der  Aufnahmebewerber  wird,  nachdem  er  jedes  Kleidungsstück 
und  alle  Edelmetallgegenstände  abgelegt,  in  einen  grofsen  Wald 
geführt,  wo  die  alten  Männer,  die  der  Einweihung  Vorsitzen, 
ihm  einen  neuen  Namen  geben,  während  er  den  Gott  Belly 
besingt  und  lebhafte  Tänze  vollführt.  Schliefslich  empfängt  er 
viel  theologische  und  mystische  Belehrung.  Als  Neuling  mufs 
er  fünf  Jahre  in  vollständiger  Einsamkeit  verbringen  und  wehe 
dem  Weibe,  das  sich  dem  geheiligten  Wald  zu  nähern  wagt! 
Nach  Ablauf  der  Probezeit  wird  dem  Eingeweihten  eine  Hütte 
zugewiesen  und  man  vertraut  ihm  die  geheimsten  Lehren  der 
Sekte  an.  Von  nun  an  kleidet  er  sich  anders  als  die  Stammes- 
genossen; sein  Leib  ist  mit  Federn  geschmückt  und  an  seinem 
Hals  sind  die  von  den  Einweihungseinschnitten  herrührenden 
Narben  sichtbar. 


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4S4  Verschiedene  andere  Vereinigungen. 

Bockreiter. 

Um  1770  war  das  Limburgische,  insbesondere  die  Gegend 
von  Mersen,  der  Schauplatz  seltsamer  Vorgänge.  Kirchen  wurden 
ausgeraubt,  Schlösser  niedergebrannt  und  allenthalben  Plünderungen 
begangen.  Die  Ursache  lag  in  dem  Umstand,  dafs  das  Landvolk 
das  schwere  Joch  des  Feudalismus  abzuschütteln  trachtete. 
Nächtlicherweile  versammelten  sich  an  einsamen  Orten  kühne 
Männer  und  gingen  dann  auf  Streifzüge  aus,  welche  überall 
Schrecken  verbreiteten.  Das  Volk  rief:  »Die  Bockreiter  kommen!“ 
Dieser  Name  kam  teilweise  daher,  dafs  die  Leute  Bocksmasken 
trugen.  In  solchen  Nächten  wurde  der  Knecht  zum  Herrn  und 
überliefs  sich  mit  wildem  Behagen  der  Racheübung  für  das  Un- 
recht, das  er  tagsüber  erlitten  hatte.  Bei  Tagesanbruch  ver- 
schwanden die  Bockreiter  und  kehrten  zu  ihrer  Arbeit  zurück. 
Mit  der  Zahl  der  Unzufriedenen  nahm  auch  die  der  Bockreiter 
zu  und  diese  wurden  schliefslich  so  zahlreich,  dafs  sie  mehrere 
Ausfälle  gleichzeitig  unternehmen  konnten.  Man  glaubte  von 
ihnen,  dafs  sie  mit  dem  Teufel  verbündet  seien,  der  sie  in 
Gestalt  eines  Bockes  von  Ort  zu  Ort  führe. 

Die  Einweihung  fand  in  folgender  Weise  statt.  Während 
einer  finstern  und  stürmischen  Nacht  zündete  man  in  einer 
kleinen,  in  dichtem  Wald  gelegenen  Kapelle  eine  Lampe  an. 
Der  von  zwei  Paten  eingeführte  Kandidat  mufste  dreimal  auf 
allen  Vieren  das  Innere  der  Kapelle  durchlaufen  und  dann  recht 
viel  von  einer  starken  gegohrenen  Flüssigkeit  trinken.  Nun  setzte 
man  ihn  rittlings  auf  einen  mit  Angeln  versehenen  hölzernen 
Bock,  der  immer  schneller  hin  und  hergeschaukelt  wurde.  Das 
starke  geistige  Getränk  und  die  heftige  Bewegung  machten  den 
Mann  bald  schwindelig,  zuweilen  sogar  rasend ; kein  Wunder, 
wenn  man  ihm  nachher  leicht  einreden  konnte,  dafs  er  auf  des 
Teufels  Kruppe  durch  die  Luft  geritten  sei.  Fast  zwanzig  Jahre 
lang  erfüllten  die  Bockreiter  das  Limburgische  mit  Angst;  weder 
die  zahlreichen  Verhaftungen  Verdächtiger,  noch  die  häufigen 
Hinrichtungen  vermochten  dem  Unfug  zu  steuern.  Zwischen 
1772  und  1774  verurteilte  das  Gericht  von  Foquemont  allein 
rund  400  Bockreiter  zum  Galgen  oder  zum  Vierteilen.  Erst  um 
das  Jahr  1780  gelang  es,  den  Bund  auszurotten. 


Cambridger  Geheimgesellschaft. 

Im  Jahre  1886  bildete  eine  Anzahl  junger  Leute  unter  der 
Führung  des  Geistlichen  Erncst  John  Heriz-Smith  in  der  eng- 
lischen Universitätsstadt  Cambridge  den  Geheimbund  der  »Genossen 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


485 


des  Heiligen  Johannes."  Zehn  Jahre  später  soll  die  Mitglieder- 
zahl bereits  über  tausend  betragen  haben.  Der  Zweck  war  an- 
geblich die  Einprägung  hochkirchlicher  Grundsätze  und  die 
Förderung  der  Öhrenbeichte.  Dem  Aufnahmebewerber  wurden 
die  Hände  und  die  Augen  verbunden;  kniend  mufste  er  schwören, 
dem  Oberhaupt  in  allen  Dingen  Gehorsam  zu  leisten  und  nichts 
über  die  Gesellschaft  zu  enthüllen.  Wer  ungehorsam  war,  wurde 
auf  seinem  Zimmer  an  ein  Tischbein  gebunden.  Anfänglich 
trugen  die  Mitglieder  offen  ein  Abzeichen  mit  den  Buchstaben 
L und  D (Love,  Duty  = Liebe,  Pflicht);  später  trugen  sie  es 
unter  ihren  Kleidern  verborgen,  was  ihnen  zu  dem  Spitznamen 
„Bauchbinder“  verhalf.  Ob  diese  Vereinigung  noch  besteht 
oder  nicht,  haben  wir  nicht  ermitteln  können. 


Cougourde. 

Eine  zur  Zeit  der  Restauration  in  Aix  (Provence)  entstan- 
dene, aber  auch  in  anderen  Teilen  Frankreichs  verbreitete  Gesell- 
schaft von  Liberalen.  Sie  bestand  nur  ganz  kurze  Zeit.  „Cou- 
gourde“ bedeutet  „Kürbisflasche.“ 


Die  Dreizehn. 

Balzacs  fruchtbarer  Einbildungskraft  verdanken  wir  „Les 
Treize,"  die  erfundene  Geschichte  einer  Gesellschaft  von  dreizehn 
Personen,  die  sich  unter  dem  ersten  Kaisertum  mit  furchtbaren 
Eiden  verpflichteten,  einander  zu  unterstützen  — zu  welchem 
Zweck,  wagt  der  Autor  nicht  zu  enthüllen.  1857  entstand  in 
Bordeaux  ein  nichtgeheimer  „Verein  der  Dreizehn“  und  in 
London  wurde  vor  wenigen  Jahren  ein  gleicher  gegründet.  Diese 
beiden  haben  das  Ziel,  durch  gutes  Beispiel  auf  die  Ausrottung 
des  mit  der  Zahl  dreizehn  verknüpften  Aberglaubens  hinzuwirken. 
Interessant  ist  der  nur  wenigen  bekannte  Ursprung  dieses  Aber- 
glaubens. In  dem  altindischen  Spiel  Karten  nämlich,  welches  aus 
78  Blatt  bestand,  deren  erste  22  besondere  Namen  führten,  war 
die  13.  Karte  mit  „Tod"  bezeichnet. 


Duk-Duk. 

Eine  Art  Geheimgericht  auf  den  neupommerschen  Inseln. 
Die  Mitglieder  heben  Strafgelder  ein  und  sprechen  Recht,  wobei 
sie  scheufsliche  Masken  tragen  oder  sich  das  Gesicht  mit  Kreide 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


bemalen.  Zuweilen  bringen  sie  jemand  zur  Strafe  um,  oder 
sie  setzen  sein  Haus  in  Brand.  Sie  erkennen  einander  an 
geheimen  Zeichen.  Uneingeweihte,  die  bei  ihren  Festlichkeiten 
betroffen  werden,  sind  dem  Tode  verfallen.  Ähnliche  Ver- 
bindungen giebt  es  in  West-Afrika;  vgl.  weiter  unten  »Mumbo- 
Dschumbo.“ 


Egbo-Gesellschaft.  (Obeah.) 

Ist  unter  einigen  Kongo-Stämmen  im  Schwang.  Egbo, 
auch  Ekpe  genannt,  wird  für  eine  geheimnisvolle  Person  gehalten, 
die  im  Sumpfdickicht  lebt,  woher  die  Eingeweihten  ihn  zu  jeder 
grofsen  Feierlichkeit  bringen,  um  ihn  nachher  wieder  zurück- 
zuführen. Er  ist  mit  dem  bösen  Geist  oder  Satan  identisch. 
Seine  Anbetung  heifst  Obeahismus;  Ob  oder  Obi  ist  der  alt- 
ägyptische Name  für  den  bösen  Geist  und  viele  wilde  Stämme 
beten  den  Teufel  an.  In  den  Bethäusern  der  Egbogesellschaft 
stehen  hölzerne  Bildsäulen,  denen  hohe  Verehrung  gezollt  wird, 
weil  die  Eingeweihten  mit  ihrer  Hilfe  weissagen  zu  können 
glauben.  Bei  gewissen  Festen  tragen  sie  schwarze  gehörnte 
Holzmasken,  deren  Anblick  den  Weibern  bei  Todesstrafe  verboten 
ist.  Der  höchste  der  drei  Grade  soll  mit  so  grofsem  Einflufs 
verbunden  sein,  dafs  für  die  Erlangung  desselben  zwanzig-  bis 
dreifsigtausend  Mark  gezahlt  werden. 


Erlösungsorden. 

Ein  geheimer  Ritterbund,  der  in  seiner  Einrichtung  dem 
Malteserorden  nachgebildet  war.  Er  bestand  lediglich  in  Marseille, 
wo  er  von  einem  sizilianischen  Emigranten  begründet  wurde. 
Sein  Zweck  ist  unbekannt. 


Fraticelli. 

Diese  hauptsächlich  in  der  Lombardei  verbreitete  Sekte 
soll  unter  den  erschwerendsten  Kasteiungen  und  Versuchungen 
die  gröfste  fleischliche  Enthaltsamkeit  geübt  haben.  Da  sie  aber 
aufserdem  gegen  die  Willkür  der  Päpste  und  die  Mifsbräuche 
der  Priesterschaft  predigte,  eröffnete  Papst  Klemens  V.  einen 
Kreuzzug  gegen  sie  und  liefs  sie  durch  Feuer,  Schwert,  Hunger 
und  Kälte  ausrotten. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen.  487 

Grofse  Armee  der  Republik. 

Ein  rein  militärischer  Geheimorden,  der  nach  dem  Bürger- 
krieg in  den  Nordstaaten  der  Union  gestiftet  wurde,  um  armen 
Veteranen  und  deren  Familien  Unterstützung  zu  gewähren. 
Das  Oberhaupt  heifst  „Generalkommandant",  die  Zentralbehörde 
„Nationallager",  die  Sektionen  werden  „Posten"  genannt.  Im 
Jahre  1887  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder  370000. 


Grüne  Insel. 

Entstand  1855  in  Wien.  Die  bei  den  Versammlungen 
gebrauchte  Sprache  bildete  eine  Parodie  des  einstigen  Ritterstils. 
Die  Mitglieder  waren  zumeist  hervorragende  Litteraten  und  Künstler, 
die  sich  in  origineller  Weise  unterhalten  wollten  — einen  anderen 
Zweck  hatte  die  Sache  nicht.  Woher  der  Name  rührte,  wissen 
wir  nicht.  Doch  scheint  es  sich  um  ein  Wiederaufleben  des 
„Ritterordens“  (vergl.  weiter  unten)  gehandelt  zu  haben. 


Hanfraucher. 

Auf  dem  Hauptplatze  von  Kaschia-Kalemba,  der  Hauptstadt 
der  Eingeborenen  von  Baschilange-Baluba  in  Afrika,  wird  von 
eigens  dazu  bestellten  Greisen  ein  heiliges  ewiges  Feuer  unter- 
halten. Dieselben  Leute  haben  auch  die  Aufgabe,  Chiamba 
(Hanf)  zu  bauen  und  für  Rauchzwecke  herzurichten.  Auf 
Sansibar  ist  die  Pflanze  als  Changi  oder  Chang  bekannt.  Sie 
wird  sowohl  in  gewöhnlicher  Weise  von  Einzelpersonen  als  auch 
in  feierlicher  Weise  zum  Zeichen  der  Freundschaft  geraucht. 
Angeklagten  gegenüber  dient  ihr  Genufs  als  eine  Art  Gottesgericht. 
Als  Sinnbild  der  Freundschaft  gilt  ihr  Rauchen  für  einen  religiösen 
Ritus.  Dieser  heifst  „Lubuku"  und  wird  von  einer  Vereinigung 
geübt,  deren  Haupt  der  jeweilige  König  ist.  Die  Satzungen,  die 
Erkennungszeichen  und  die  Thätigkeit  werden  ebenso  geheim 
gehalten  wie  die  Ziele  und  Zwecke.  Den  Einweihungsriten  hat 
keine  uneingeweihte  Person  je  beigewohnt,  doch  läfst  sich  aus 
gewissen  äufsern  Anzeichen  auf  ihre  Natur  schliefsen.  Das 
Hanfrauchen  schädigt  die  Raucher  aufserordentlich.  Von  dem 
losen,  ungebundenen  Verkehr  zwischen  den  Geschlechtern  lassen 
sich  manche  Schlüsse  ziehen.  Auf  die  Zügellosigkeit  des 
„Lubuku“  deuten  auch  die  Hochzeitsgebräuche  hin,  welche  drei 
Nächte  dauern  und  die  Züchtigkeit  öffentlich  in  der  abstofsendsten 
Weise  verletzen.  Die  Einweihungsriten  werden  gewöhnlich  vom 


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4S8  Verschiedene  andere  Vereinigungen. 

König  selbst  oder  von  dessen  Schwester  auf  einer  nahe  von 
Luluaburg  befindlichen  Insel  des  Luluaflusses  vorgenommen. 
Das  öffentliche  Rauchen  beginnt  damit,  dafs  ein  Häuptling  oder 
Ältester  das  vorbereitete  Hanfkraut  in  die  Pfeife  (., Kinsu  dhiamba") 
legt,  ein  paar  Züge  thut  und  sie  dann  weiterreicht.  Die  Pfeife 
besteht  aus  einer  kleinen  Lehmschale,  welche  in  eine  hohle 
Kürbisflasche  eingefügt  ist,  an  deren  oberes  Ende  der  Raucher 
den  Mund  legt,  um  den  Rauch  in  grofsen  Zügen  einzuatmen, 
bis  ihm  derselbe  zu  Kopf  steigt  und  ihn  rasend  macht. 


Harngari. 

Eine  1848  unter  den  Deutschen  Nordamerikas  entstandene 
Geheimgesellschaft.  Die  Gründer  behaupteten,  von  einem  alten 
deutschen  Ritterorden  abzustammen.  Es  giebt  etwa  200  Logen 
mit  16000  Mitgliedern.  Zu  den  Hauptzwecken  gehört  die  Ver- 
breitung der  deutschen  Sprache;  wozu  da  die  kindische  Geheitn- 
thuerei  dienen  soll,  ist  unerfindlich. 


Heldin  von  Jericho. 

Es  ist  dies  eine  Art  Grad  in  Amerika,  der  ausschliefslich 
Royal-Arch-Freiniaurern  (vgl.  »Die  Freimaurerei")  sowie  deren 
Gattinnen  oder  Witwen  verliehen  wird.  Das  Ritual  beruht  auf 
der  Geschichte  Rahabs  im  VI.  Kapitel  des  Buches  Josuah.  Das 
erste  Zeichen  — man  läfst  ein  Taschentuch  zwischen  den  Lippen 
herabhängen  - bildet  eine  Nachahmung  der  roten  Leine,  die 
Rahab  vom  Fenster  herabliefs,  um  den  Kundschaftern  zur  Flucht 
zu  verhelfen.  Das  grofse  Notzeichen  besteht  im  Erheben  des 
rechten  Armes,  wobei  man  das  Taschentuch  zwischen  Daumen 
und  Zeigefinger  herabhängen  läfst.  Bei  der  Einweihung  legt 
eine  männliche  »Heldin"  — jedoch  nicht  der  Gatte  der  Kandi- 
datin — die  Hand  auf  die  Schulter  der  letzteren  und  sagt: 
»Mein  Leben,“  worauf  die  Kandidatin  antwortet:  »für  das 
deinige".  Den  weiteren  Satzanfang  »Wenn  du  nicht  enthüllst“ 
ergänzt  die  Kandidatin  mit  den  Worten  »diese  unsere  Angelegen- 
heit". Sodann  wird  der  Dame  das  Wort  »Rahab"  ins  Ohr  ge- 
flüstert, worauf  sie  einen  Verschwiegenheitseid  leistet.  Nun  teilt 
man  ihr  mit,  dafs  Rahab  den  Orden  gestiftet  habe;  in  Wirklich- 
keit jedoch  dürften  die  Stifter  die  Mörder  William  Morgans 
(vgl.  »Antifreimaurerische  Partei")  gewesen  sein,  in  deren  In- 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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teresse  es  gelegen  haben  mochte,  ihre  weiblichen  Angehörigen 
schwören  zu  lassen,  die  etwa  zu  ihrer  Kenntnis  gelangenden  ver- 
brecherischen Handlungen  von  Freimaurern  zu  verheimlichen. 


Huslanawer. 

So  nannten  die  einstigen  Eingeborenen  von  Virginien  die 
Mysterien  ihrer  Priester  und  das  Noviziat,  welches  ihre  Laien  vor 
der  Einweihung  in  dieselben  durchmachen  mufsten.  Der  Aufnahme- 
bewerber  wurde,  nachdem  man  seinen  Körper  mit  Fett  gesalbt,  in 
die  Versammlung  der  Priester  geführt,  die  grüne  Zweige  in  der 
Hand  hielten.  Heilige  Tänze  wechselten  mit  düsterem  Geschrei 
ab.  Fünf  Jünglinge  geleiteten  den  Aspiranten  durch  eine  Doppel- 
reihe von  mit  Ruten  bewaffneten  Männern  bis  zu  einem  ge- 
wissen Baum,  wobei  sie  ihn  mit  ihren  Leibern  schützten  und 
die  ihm  zugedachten  Rutenstreiche  auffingen.  Inzwischen  richtete 
seine  Mutter,  die  ihn  als  tot  beweinte,  den  Scheiterhaufen  für  das 
fingierte  Opfer  her.  Der  Baum  wurde  gefällt,  sein  Astwerk  ab- 
gehauen und  zu  eiiier  Krone  für  das  Haupt  der  Kandidaten  ge- 
formt, dieser  aber  mit  Hilfe  eines  starken  Betäubungsmittels,  des 
»visozean“,  in  einen  somnambulanten  Zustand  versetzt,  der 
längere  Zeit  andauerte.  Nach  seinem  Wiedererscheinen  be- 
trachtete sein  Stamm  ihn  als  einen  neuen  Mann,  der  vermeintlich 
höhere  Kräfte  und  Kenntnisse  besafs  als  die  Nichteingeweihten. 


Indianische  Gesellschaften. 

Fast  alle  Indianerstämme,  die  einst  die  ungeheuren  Ebenen 
von  Nordamerika  durchstreiften,  hatten  geheime  Gesellschaften 
und  heilige  Mysterien;  da  aber  die  verschiedenen  Stämme  reli- 
giöse Zeremonien  und  Sinnbilder  von  einander  zu  entlehnen 
pflegten,  wiesen  dieselben  grofse  Ähnlichkeiten  auf,  obgleich  sie 
sich  bei  einzelnen  Stämmen  durch  besondere  Eigentümlichkeiten 
unterschieden.  Bei  sämtlichen  Eingeborenen,  wie  ja  überhaupt 
bei  allen  Wilden  Afrikas,  Amerikas  und  Polynesiens,  war  der 
Tanz  ein  Bestandteil  des  Gottesdienstes.  Die  Stämme  der  roten 
Indianer  besafsen  durchweg  Bethäuser,  welche  allerdings  die  ver- 
schiedensten Namen  führten,  wie  Beratungssäle,  Kiwas,  Medizin- 
hütten u.  s.  w.  Die  meisten  Stämme  unterhielten  ein  heiliges 
Feuer,  welches  jährlich  einmal  ausgelöscht  wurde,  um  sofort 
wieder  angezündet  zu  werden.  Die  Glaubenslehren  und  Riten 
der  Golfstaaten-Indianer  ähnelten  denen  der  alten  Juden  so  sehr, 
dafs  manche  Ethnologen  und  Geschichtschreiber  allen  Ernstes 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


glaubten,  diese  Stämme  seien  mit  den  verlorenen  zehn  Stämmen 
Israels  identisch.  Die  Tscherokesen,  Delawaren  und  Tschippewas 
führten  ihre  Aufzeichnungen  auf  sechs  Zoll  langen  Stäben,  die 
in  Bündeln  aufbewahrt  wurden.  Diese  mit  Sinnbildern  und 
Schriftzügen  bedeckten  Stäbe  hiefsen,  wenn  im  Alltagsleben  ge- 
braucht, »Kepnewin»,  dagegen  »Keknowin",  wenn  in  den 
Mysterien  verwendet.  Der  bemerkenswerteste  Bericht  findet  sich 
im  »Walum-Olum"  (rotes  Kerbholz);  er  enthält  in  Bildersprache 
die  Schöpfungsmythe  und  die  Sage  von  den  Wanderungen  der 
Stämme.  Solchen  Bilderaufschreibungen  begegnen  wir  bei  jedem 
Stamm.  Besonders  umfassend  sind  diejenigen  der  Odschibwas; 
sie  zeigen  das  Innere  einer  Medizinhütte  mit  dem  grofsen  Geist, 
einem  Einweihungskandidaten  mit  Fedemkrone  und  Otterfell- 
beutel, dem  Baum  mit  der  die  Medizin  liefernden  Wurzel,  den 
als  Gegenleistung  für  die  Zulassung  dargebrachten  Geschenken, 
einem  im  Himmel  umhergehenden  Indianer,  einer  Trommel,  einem 
Raben,  einer  Krähe  u.  s.  w. 

Auch  die  irokesischen  Mysterien  waren  umfassend,  aber 
man  weifs  nichts  Näheres  über  sie ; doch  scheint  es,  dafs  sie  den 
Zweck  hatten,  Manabozko  für  das  Verschwinden  des  Tschibiabos 
zu  trösten,  der  nachmals  zum  Beherrscher  der  Toten  gemacht 
wurde.*)  Wir  haben  es  da  mit  einer  auffallenden  Parallele  zur 
Persephone-Sage  zu  thun.  Die  Irokesen  bestanden  ursprünglich 
aus  fünf,  später  aus  sieben  verschiedenen  Stämmen  und  ihre 
nationale  Organisation  beruhte  nicht  auf  Blutsverwandtschaft, 
sondern  auf  einer  künstlichen,  willkürlichen  Brüderschaft  mit 
Zeichen  und  Gegenzeichen  nach  Art  derjenigen  der  modernen 
Geheimgesellschaften.  Die  Dakotas  hatten  zahlreichere  und  aus- 
geprägtere Geheimverbindungen  als  die  Irokesen,  doch  waren 
manche  derselben  entweder  blofs  sozialer  oder  blofs  religiöser 
Natur.  Dr.  Franz  Boos,  ein  bekannter  Schilderer  der  Gebräuche 
der  Alaskaner,  hat  viele  ihrer  Vereinigungen  beschrieben;  bei 
einigen  vererbt  sich  die  Mitgliedschaft  durch  Geburt.  Die 
Mysterien  der  Indianer  beweisen,  dafs  die  Menschen  überall  von 
denselben  Trieben,  Bestrebungen  und  Furchtgefühlen  beherrscht 
werden  und  dafs  sich  diese  Empfindungen  allenthalben  in  mehr 


*)  Nach  der  indianischen  Legende  war  Manabozko  ein  Mann  von 
wunderbarer  Geburt,  der  die  roten  Stämme  das  Lesen,  das  Schreiben, 
das  Ausroden  der  Wälder  und  das  Ausstreuen  von  Saatkorn  lehrte.  Bei 
den  Odschibwas  am  südlichen  Ufer  des  Oberen  Sees  hiefs  er  Hiawatha, 
welcher  Name  aus  Longfellows  berühmter  Dichtung  bekannt  ist.  Sein 
Freund  Tschibiabos,  ein  Musiker,  war  der  indianische  Apollo,  der  Be- 
herrscher des  Lichtlandes.  In  den  Prosaerzählungen  der  Rothäute  wird 
Hiawatha  ganz  anders  geschildert  als  von  Longfellow,  nämlich  als  Ge- 
wohnheitslügner, als  grausam  und  hinterlistig. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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oder  minder  gleichartigen  Sitten,  Glaubenslehren  und  Zeremonien 
äufsern. 


Die  Jäger. 

Unter  diesem  Namen  bildete  sich  1837  in  Kanada  nach 
dem  ersten  Aufstand  eine  Gesellschaft  behufs  Herbeiführung 
einer  zweiten  Erhebung.  Sie  wurde  von  den  Vereinigten  Staaten 
unterstützt.  Macleod,  ein  Aufständischer  aus  Ober-Kanada,  kam 
nach  St  Albans,  dem  Mittelpunkt  der  geheimen  Thätigkeit  des 
Bundes,  und  liefs  sich  in  sämtliche  Grade  einweihen,  die 
er  dann  in  Ober -Kanada  verbreitete.  Es  gab  vier  Grade: 
Jäger,  Racket,  Biber,  Adler.  »Adler»  hiefs  das  Oberhaupt  und 
dieser  Rang  entsprach  dem  eines  Obersten,  während  der  »Biber» 
ein  Hauptmann  war,  der  sechs  »Rackets»  befehligte.  Jedes  Racket 
zählte  neun  Mann  und  die  Biber-Kompagnie  bestand  aus  siebzig 
»Jägern.»  Wer  aufgenommen  werden  wollte,  mufste  sich  durch 
drei  Jäger  bei  einem  Biber  einführen  lassen.  Der  Einweihung 
gingen  furchteinflöfsende  Erprobungen  und  schreckliche  Eide 
vorauf.  Die  Vereinigung  dauerte  zwar  nur  zwei  Jahre,  zeichnete 
sich  aber  durch  manche  Heldenthat  im  Felde  aus  und  viele  ihrer 
Mitglieder  starben  auf  dem  Blutgerüst. 


jehu-Gesellschaft. 

Entstand  während  der  grofsen  Revolution  zuerst  in  Lyon 
und  bezweckte,  die  Ausschreitungen  der  Schreckensherrschaft 
durch  noch  gröfsere  Gewalttätigkeiten  zu  rächen.  Der  Name 
war  der  des  Königs,  den  Eliseha  mit  der  Aufgabe  betraute,  die 
Sünden  des  Hauses  Ahab  zu  bestrafen  und  alle  Baalspriester  zu 
vernichten,  d.  h.  die  Verwandten,  Freunde  und  Werkzeuge  der 
Schreckensmänner.  Von  Unwissenden  wurde  diese  Verbindung 
irrtümlich  »Jesusgesellschaft“  genannt,  obgleich  sie  ganz  Frankreich 
mit  Angst  und  Mord  erfüllte.  Sie  verschwand  unter  dem  Kon- 
sulat und  dem  Kaisertum,  tauchte  jedoch  1814  15  unter  dem 

Namen  »Maria  Theresienritter»  oder  auch  »Sonnenritter»  wieder 
auf  und  verriet  Bordeaux  an  die  Engländer.  Die  Mörder  des 
Bürgermeisters  von  Toulouse,  des  Generals  Ramel  und  des 
Marschalls  Brune  waren  Mitglieder  dieses  Geheimbundes. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Kalifornische  Gesellschaft. 

Mehrere  nordkalifomische  Stämme  haben  Geheimbünde, 
welche  entweder  in  eigenen  Logen  oder  in  Estufas*)  sich  ver- 
sammeln und  allerlei  Mummenschanz  treiben,  um  die  Weiber  zu 
erschrecken.  Die  Männer  geben  vor,  mit  dem  Teufel  in  Verkehr 
zu  stehen.  Um  dies  glaubhaft  zu  machen,  erfüllen  sie  den  Ver- 
sammlungsraum mit  fürchterlichem  Geschrei  und  Geheul.  Zu- 
weilen rennt  ein  als  Teufel  verkleidetes  Mitglied  wie  ein  Wahn- 
sinniger durch  das  Dorf  und  bemüht  sich,  widerspenstige  Frauen 
und  Kinder  nach  Möglichkeit  zu  erschrecken.  Obgleich  dieser 
Gebrauch  seit  undenklichen  Zeiten  herrscht,  lassen  sich  die 
Weiber  noch  immer  foppen. 


Karpokratier. 

Eine  von  Karpokrates,  der  unter  Kaiser  Hadrian  in  Alexan- 
drien lebte,  gegründete  religiöse  Vereinigung,  die  auf  dem  Grund- 
satz beruhte,  dafs  die  Seele  sich  über  die  abergläubischen  Religions- 
bekenntnisse und  die  Gesellschaftsgesetze,  von  denen  sich  die 
untergeordneten  Geister  in  Fesseln  schlagen  lassen,  erheben 
müsse,  um  durch  innere  Einkehr  mit  der  höchsten  Gottheit  ver- 
bunden zu  werden.  Die  Sekte  erhielt  sich  bis  zum  sechsten 
Jahrhundert  und  errichtete  auf  der  Insel  Kephalonia  dem  Sohne 
des  Karpokrates,  Epiphanes,  einen  Tempel.  Die  Mitglieder  er- 
kannten sich,  indem  sie  einander  beim  Händeschütteln  die  Hand- 
fläche mit  den  Fingerspitzen  kitzelten. 


Klöbbergöll. 

So  heifsen  auf  den  mikronesischen  Inseln  gewisse  Ver- 
bindungen, welche  in  besonderen  Gebäuden  wohnen  und  ver- 
pflichtet sind,  ihren  Häuptlingen  gewisse  Dienste  zu  leisten,  zu 
denen  namentlich  die  Gefolgschaft  auf  kriegerischen  Streifzügen 
gehört.  Dieselbe  Inselwelt  kennt  auch  eine  Art  weiblicher  Klubs, 
deren  Mitglieder  bei  Festlichkeiten  zu  Ehren  fremder  Gäste  die 
Bedienung  übernehmen. 


*)  Estufa  = geheizter  unterirdischer  Raum,  von  den  Pueblaindianern 
als  Zusammenkunftsort  benützt. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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Know-Nothings. 

Die  antiausländische  und  antikatholische  Geheimpartei  dieses 
Namens  wurde  1852  in  der  nordamerikanischen  Union  behufs 
Beeinflussung  der  Präsidentenwahlen  ins  Leben  gerufen  und  ver- 
schwand schon  nach  vier  Jahren  von  der  Bildfläche.  1888  lebte 
sie  mit  zahlreichen  Geheimlogen  wieder  auf  und  entfaltete  eine 
eifrige  Thätigkeit,  besonders  in  den  Staaten  New-York  und  Kali- 
fornien. Sie  veranstaltete  viele  grofse  Versammlungen  zur  Unter- 
stützung des  Präsidentschaftskandidaten  Hewitt,  der  das  Prinzip 
verfocht,  dafs  Einwanderer  erst  nach  2ljährigem  Aufenthalt 
stimmberechtigt  werden  sollten.  Die  Nichts-Wisser  erlitten  aber 
eine  Niederlage,  indem  bekanntlich  Harrison  gewählt  wurde. 


Kurnaische  Mysterien. 

Die  einstigen  Einweihungsriten  der  australischen  Kurnai 
bei  Beginn  der  Mannbarkeit  ähnelten  denen  der  tasinanischen 
Stämme  und  der  O-ki-pah  (vgl.  weiter  unten).  Die  Einzelheiten 
sind  unbekannt,  doch  kann  man  auf  deren  Natur  aus  der  That- 
sache  schliefsen,  dafs  alle  von  Europäern  untersuchten  Kurnai- 
Jünglinge  auf  den  Schultern,  den  Schenkeln  und  den  Brustmuskeln 
tiefe  Narben  aufwiesen.  Auffallend  ist  der  Umstand,  dafs  ein  bei 
den  Einweihungen  benutztes  Werkzeug  demjenigen  glich,  das  zu 
den  heiligen  Gegenständen  der  eleusinischen  Mysterien  gehörte. 
Die  Kurnai  nannten  es  »turndun.“  Es  war  ein  flaches,  an  einen 
Riemen  befestigtes  Holzstück  zum  Herumwirbeln,  welches  ein 
zum  Abschrecken  der  Weiber  bestimmtes  Schnarren  erzeugte. 
Der  Mann,  der  dieses  Instrument  einer  Frau  zeigte  oder  die  Frau, 
die  es  absichtlich  oder  zufällig  erblickte,  wurde  hingerichtet. 
Auch  die  südafrikanischen  Kaffern  und  die  Eingeborenen  Neu- 
seelands pflegten  es  zu  gebrauchen. 


Ludlamshöhle. 

Eine  1818  entstandene  Wiener  Scherzgesellschaft,  so  genannt 
nach  Oehlenschlägers  bekanntem  Stück.  Die  Mitglieder  hiefsen 
Leichen,  die  Aufnahmebewerber  Schatten.  Die  letzteren  mufsten 
sich  einer  komischen  Prüfung  unterziehen  und  fanden  nur  dann 
Aufnahme,  wenn  sie  sich  sehr  unwissend  zeigten.  Der  Ludlams- 
höhle gehörten  zumeist  Litteraten  an  und  ihr  Zweck  war  lediglich 
Unterhaltung.  Dennoch  wurde  sie  schon  nach  acht  Jahren  von 
der  Polizei  aufgelöst. 


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■404  Verschiedene  andere  Vereinigungen. 

Magierorden. 

Dieser  soll  im  18.  Jahrhundert  als  eine  Abart  des  Rosen- 
kreuzertums  bestanden  haben.  Angeblich  trugen  die  Mitglieder 
die  Tracht  der  Inquisitoren. 


Maharadschas. 

Aus  Werken,  deren  Verfasser  dem  indischen  Priesterorden 
der  Maharadschas  angehörten,  sowie  aus  den  Glaubenslehren  der 
Wallabhacharia-Sekte  geht  hervor,  dafs  Wallabhacharia  für  eine 
Fleischwerdung  des  Gottes  Krischna  gehalten  wurde  und  dafs 
die  Maharadschas  als  Nachkommen  Wallabhacharias  dieselbe  Art 
der  Fleischwerdung  durch  Erbfolge  für  sich  in  Anspruch  nehmen. 
Der  Krischnadienst  dieser  Priesterschaft  ist  ein  äufserst  zügelloser. 
Die  einem  höchsten  Wesen  schuldige  Liebe  und  Unterwürfigkeit 
wird  auf  diejenigen  Personen  übertragen,  welche  die  lebenden 
Fleischwerdungen  des  Gottes  zu  sein  behaupten.  Demgemäfs 
üben  die  Priester  unbegrenzten  Einflufs  aus  über  ihre  weiblichen 
Anhänger,  die  es  als  grofse  Ehre  betrachten,  zeitweilig  die  Gunst 
der  lüsternen  Maharadschas  zu  erringen.  Der  Glaube  an  die 
Berechtigung  der  Ansprüche  dieser  Sekte  wirkt  in  verhängnisvoller 
Weise  auf  die  häuslichen  Beziehungen  zwischen  Gatte  und 
Gattin  ein.  Eine  1 862  vor  dem  obersten  Gerichtshof  zu  Bombay 
stattgehabte  Verhandlung  gegen  Maharadschas  brachte  zu  Tage, 
dafs  das  reichste  und  gröfste  Handelsgemeinwesen  der  mittel- 
und  westindischen  Hindus  einen  aufserordentlich  verderbten 
Priester  als  Gott  anbeteten.  Noch  jetzt  verschreiben  sie  ihm 
beim  Eintritt  in  die  Sekte  Leib,  Seele  und  Eigentum.  Ihre 
Thorheit  geht  so  weit,  dafs  sie  das  Wasser,  in  welchem  er 
gebadet  hat,  gierig  austrinken.  Die  Maharadschas,  deren  es  in 
Indien  gegenwärtig  70-80  geben  mag,  tragen  auf  der  Stirne 
ein  Zeichen,  welches  aus  zwei  senkrechten  roten  Linien  besteht, 
die  an  der  Nasenwurzel  in  einen  Halbkreis  auslaufen  und  in 
der  Mitte  einen  roten  runden  Fleck  haben. 


Mano  Negra. 

Die  »Schwarze  Hand",  ein  südspanischer  agrarsozialistischer 
Geheimbund,  stammt  aus  dem  Jahre  1830  und  verdankte  ihr 
Entstehen  der  Thatsache,  dafs  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter 
ihrer  kommunalen  Rechte  beraubt  wurden,  indem  man  die 
Ländereien,  auf  denen  sie  Holz  schlagen  und  Vieh  weiden  lassen 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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durften,  weit  unter  dem  Werte  an  die  geriebenen  Dorfadvokaten, 
die  sogenannten  »Kaziken",  verkaufte,  die  sich  grofsen  politischen 
Einflusses  erfreuen.  Da  die  Käufer  in  vielen  Fällen  nicht  das  zum 
Bebauen  des  Bodens  nötige  Geld  besafsen,  verfielen  die  Land- 
arbeiter dem  ärgsten  Elend  und  dieser  Zustand  verursachte  zahl- 
reiche Unruhen.  Die  Mitglieder  der  Schwarzen  Hand  verpflichteten 
sich  eidlich  zur  Bestrafung  ihrer  Unterdrücker  mit  Stahl,  Fe  ler 
oder  Gift.  Auf  die  Geheimhaltung  der  Gesellschaftsthätigkeit 
wurde  so  grofses  Gewicht  gelegt,  dafs  auf  deren  absichtliche 
oder  unabsichtliche  Enthüllung  der  Tod  stand.  Die  Organisation 
umfafste  Oberhäupter,  Mittelpunkte,  Kassen  und  Geheimgerichte; 
die  letzteren  verhängten  sowohl  über  Bundesmitglieder  als  auch 
über  Grundherren  und  Wucherer  angemessene  Strafen,  zuweilen 
auch  den  Tod.  Um  der  Entdeckung  zu  entgehen,  wechselten 
die  Mitglieder  ihre  Namen  häufig,  bedienten  sich  einer  Chiffern- 
schrift  und  hielten  sich  an  das  Buch  der  Vorsichtsmafsregeln, 
welches  alle  erdenklichen  Fälle  in  Betracht  zog.  Besonders  thätig 
war  die  Mano  Negra  zwischen  1880  und  1883,  namentlich  in 
Andalusien,  und  das  veranlafsie  die  Regierung,  die  strengsten 
Mafsregeln  zu  ergreifen  und  viele  Mitglieder  vor  Gericht  zu 
stellen.  Die  von  dem  Bunde  hervorgerufene  Bewegung  hatte 
ihre  einzige  Triebfeder  im  Hunger  der  Bauern  und  blieb  rein 
spanisch;  die  Bemühungen  ausländischer  Anarchisten,  auf  dieselbe 
Einflufs  zu  gewinnen,  waren  vergeblich. 


Melanesische  Gesellschaften. 

Auf  Neu-Guinea,  den  Salomons-lnseln,  den  Neu-Hebriden, 
den  Fidschi-Inseln,  auf  Neu-Kaledonien  u.  s.  w.  giebt  es  zahl- 
reiche Geheimgesellschaften;  da  jedoch  ihre  Geheimnisse  bekannt 
sind,  haben  sie  nichts  Schreckliches  an  sich.  Die  Leute  treten 
ihnen  bei,  aber  mehr  zum  Scherz.  Die  Logen  dienen  als  Klubs, 
in  denen  gut  gegessen  und  getrunken  wird;  Fremde  dürfen 
anwesend  sein,  nur  Frauen  werden  zumeist  nicht  zugelassen. 
Die  Mehrheit  der  jungen  Leute  läfst  sich  einweihen,  weil  es 
zum  guten  Ton  gehört;  wer  nicht  eingeweiht  ist,  dessen  soziales 
Ansehen  leidet.  Als  die  Zeremonien  und  Lehren  noch  Geheim- 
nisse waren,  glaubten  die  Aufsenstehenden,  dafs  die  Eingeweihten 
mit  den  Geistern  der  Toten  verkehrten;  in  dieser  Meinung 
wurden  sie  dadurch  bestärkt,  dafs  aus  den  Logen  nicht  selten 
sonderbare  und  unheimliche  Geräusche  drangen  und  dafs  zu- 
weilen Gestalten  in  scheufslicher  Verkleidung  erschienen,  die  man 
für  Geister  hielt.  Jetzt  aber  weifs  man  bereits  allgemein,  dafs 
die  letzteren  nichts  anderes  sind  als  lebende  Mitglieder  mit 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


seltsam  verzierten  und  bemalten  Hüten  aus  Baumrinde,  welche 
den  ganzen  Kopf  bedecken  und  daher  auf  den  Schultern 
sitzen,  während  die  übrige  Kleidung  in  langen,  phantastisch 
geschmückten  Mänteln  aus  Baumblättern  besteht.  Man  weifs 
auch,  dafs  die  unnatürlichen  Geräusche,  von  denen  sich  die 
Eingeborenen  früher  erschrecken  liefsen,  durch  das  Reiben  des 
dicken  Endes  eines  Palmblattfächers  an  einem  flachen,  glatten 
Stein  erzeugt  werden.  Eiei  der  Einweihungsfeierlichkeit  wird  be- 
züglich der  angeblichen  Mitteilung  geheimer  Kenntnisse  ähnlich 
verfahren  wie  bei  manchen  europäischen  Gesellschaften.  Es 
handelt  sich  auch  dort  hauptsächlich  um  die  Bezahlung  von 
Gebühren.  Doch  giebt  es  solche  Vereinigungen,  in  denen 
die  Aufnahmebewerber  unangenehme  Erprobungen  zu  erdulden 
haben.  So  z.  B.  in  der  i»Welua,  wo  der  Kandidat  sich  mit 
dem  Gesicht  nach  abwärts  in  ein  seiner  Gestalt  genau  angepafstes 
Erdloch  legen  mufs,  worauf  sein  Rücken  mit  angezündeten 
Kokosnufswedeln  beworfen  wird;  rühren  kann  er  sich  nicht,  zu 
schreien  wagt  er  nicht  und  er  mufs  es  sich  gefallen  lassen,  die 
Narben  der  erhaltenen  Wunden  als  Zeichen  seiner  Mitgliedschaft 
zu  tragen.  Nach  der  Einweihung  verlebt  er  einige  Zeit  — in 
manchen  Vereinigungen  volle  hundert  Tage  - in  Abgeschlossen- 
heit, wobei  er  die  Aufgabe  hat,  den  Backofen  zu  bedienen  und 
in  der  Loge  die  grobe  Arbeit  zu  verrichten.  Der  im  Aller- 
heiligsten erteilte  Unterricht  bezieht  sich  hauptsächlich  auf  die 
gottesdienstlichen  Tänze,  welche  die  Eingeweihten  an  bestimmten 
Festtagen  öffentlich  vollführen.  Die  Geister,  deren  Anwesenheit 
in  den  Versammlungen  vermutet  wird,  heifsen  Duka.  In  Florida 
wird  die  Beratung  mit  den  Geistern  „Palu-Duka"  genannt.  Die 
Loge  („Salagoro “)  liegt  gewöhnlich  an  einem  versteckten  Ort  in 
der  Nähe  des  Dorfes  unter  hohen  Bäumen.  Frauen  dürfen  sich 
ihr  unter  keinen  Umständen  nähern.  Verlarvte  Gestalten  be- 
wachen den  Zugang,  der  durch  orangenfarbenes  Obst,  auf 
Schilfrohr  gesteckt,  und  durch  gewisse  Verbotzeichen  kenntlich 
gemacht  ist.  Jede  Gesellschaft  verleiht  ihren  Mitgliedern  ein 
anderes  Abzeichen,  das  entweder  aus  Biumen  oder  aus  Blättern 
besteht.  Wer  ein  solches  Abzeichen  trägt,  ohne  Mitglied  zu  sein, 
wird  bestraft. 


Menschliche  Leoparden. 

In  der  Nähe  der  britischen  Niederlassung  Sierra  Leone 
(Westafrika)  besteht  unter  jenem  Namen  ein  menschenfresserischer 
Geheimbund,  der  Knaben  ankauft,  mästet  und  tötet,  um  sie 
zu  backen  und  zu  verspeisen.  Auch  Reisende  werden  über- 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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fallen  und  womöglich  zu  dem  gleichen  Zweck  umgebracht.  Im 
August  1895  wurden  im  Imperilande  wegen  dieses  Verbrechens 
fünf  »menschliche  Leoparden“  hingerichtet,  die  sich,  mit  einer 
Leopardenhaut  bekleidet,  im  Busch  zu  verstecken  und  Vorbei- 
kommende zu  erschlagen  pflegten.  Einer  von  ihnen  war  ein 
Sonntagsschullehrer  — ein  Beweis,  dafs  seine  Bekehrung  zum 
Christentum  nicht  sehr  gründlich  war.  Es  heifst,  dafs  die  An- 
gehörigen dieser  Vereinigung  einen  Götzen  Namens  Bufina  an- 
beten, den  sie  manchmal  befreundeten  Stämmen  zu  Wahrsage- 
und  Beschwörungszwecken  leihen.  Die  Bezeichnung  „Leoparden" 
soll  auch  daher  rühren,  dafs  sie  in  die  Leiber  ihrer  Opfer  drei- 
zackige Gabeln  oder  scharfspitzige  Messer  versenken,  welche  wie 
Leopardenklauen  aussehen.  Auch  sonst  ist  die  westafrikanische 
Küste  reich  an  geheimen  Verbindungen,  in  welche  Knaben  und 
Mädchen  schon  mit  zehn  oder  zwölf  Jahren  eingeweiht  werden; 
allein  das  einzige  Interesse,  das  sie  bieten,  ist  der  Beweis  der 
überall  verbreiteten  menschlichen  Sehnsucht  nach  dem  Geheimnis- 
vollen und  der  ebenso  allgemeinen  Bereitwilligkeit  der  Medizin- 
männer, Schamanen,  Bonzen,  Marabuts,  Priester  u.  s.  w.,  jener 
Sehnsucht  entgegenzukommen. 


Minas. 

Eine  räuberische  Geheimgesellschaft  zu  Schahdschahanpur 
in  Vorderindien.  Diese  Stadt  gehörte  früher  den  Rohilla-Patans, 
die  1774  von  den  Engländern  besiegt  wurden.  Die  Minas  sind 
die  Nachkommen  der  Rohilla-Häuptlinge.  Da  ihre  Landschaft 
vollständig  von  unabhängigen  Eingeborenenstaaten  umgeben  ist, 
gelingt  es  ihnen  leicht,  sich  den  Behelligungen  der  britisch- 
indischen Polizei  zu  entziehen.  Sie  überlassen  den  kleinen 
Häuptlingen  einen  Teil  ihrer  Beute  und  werden  dafür  von  den- 
selben begünstigt  und  beschützt.  Man  glaubt,  dafs  ihre  Or- 
ganisation einigermafsen  der  der  Garduna  ähnelt.  (Vgl.  „Die 
Garduna.») 


Moderne  Druiden. 

Die  Mitglieder  dieser  anno  1781  in  London  gegründeten 
Gesellschaft  geben  vor,  die  Nachfolger  der  alten  Druiden  zu  sein. 
Sie  ist  auch  in  Nordamerika  und  Australien  verbreitet,  hat 
maurerische  Riten  und  nennt  ihre  Logen  Grotten.  Es  giebt  drei 
Grade  und  mehrere  Erzkapitel.  In  den  Vereinigten  Staaten  giebt 
es  dreizehn  Grofsgrotten  und  92  Grotten,  von  denen  24  englisch 
und  die  übrigen  deutsch  sind.  Die  letzteren  veröffentlichen  ihre 

Heckethorn-Katscher,  Geheimbünde  u.  Geheimlehren.  32 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Verhandlungen,  die  ersteren  halten  sie  geheim.  Der  Orden,  der 
lediglich  ein  Wohlthätigkeitsverein  ist,  soll  1872  von  Amerika 
aus  in  Deutschland  eingeführt  worden  sein. 


Mumbo-Dschumbo. 

Die  Mundingos,  ein  oberhalb  der  Gambiaquellen  lebender 
Eingeborenenstamm  hat  eine  geheime  Verbindung,  welche  lebhaft 
an  die  weiter  oben  geschilderte  „Kalifornische  Gesellschaft“  er- 
innert. Wenn  die  Männer  mit  den  Weibern  Streit  bekommen, 
wird  der  Götze  Mumbo-Dschumbo,  auch  Mamma- Dschamba 
genannt,  herbeigeholt  - eine  acht  bis  neun  Fufs  hohe  Gestalt 
aus  Baumrinde,  mit  einem  langen  Stock  angethan  und  mit  einem 
Strohwisch  gekrönt.  Ein  Mitglied  der  Geheimgesellschaft  fungiert, 
unter  dem  langen  Rock  versteckt,  als  Richter.  Selbstverständlich 
fallen  seine  Entscheidungen  fast  immer  zu  Gunsten  der  Männer 
aus.  Wenn  die  Weiber  ihn  kommen  hören,  rennen  sie  davon 
und  verbergen  sich;  aber  er  läfst  sie  holen  und  sie  müssen  sich 
niedersetzen  und  nach  seinem  Belieben  singen  oder  tanzen. 
Weigert  sich  eine  zu  erscheinen,  so  wird  sie  mit  Gewalt  vor- 
geführt und  gepeitscht.  Bei  der  Aufnahme  mufs  man  feierlich 
schwören,  das  Geheimnis  keinem  Uneingeweihten,  am  wenigsten 
einem  Weib  mitzuteilen.  Da  Kinder  geschwätzig  zu  sein  pflegen, 
wird  kein  Knabe  unter  16  Jahren  zugelassen.  1727  enthüllte 
der  König  von  Dschagra  seiner  ungemein  neugierigen  Gattin  die 
Bundesgeheimnisse  und  sie  plauderte  dieselben  weiter  aus;  die 
Folge  war,  dafs  beide  von  Mitgliedern  der  Gesellschaft  getötet 
wurden. 


Odd  Fellows. 

Ein  um  die  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  in  England  gegrün- 
deter Orden,  dessen  Einweihungsriten  anfänglich  von  ebenso 
grausamer  Art  waren  wie  die  der  Mysterien  des  Altertums.  Der 
Kandidat  wurde  mit  allerlei  theatralischen  Behelfen  erschreckt 
und  mufste  einen  Verschwiegenheitseid  leisten.  Der  Orden  hat 
Erkennungszeichen,  Händedrücke,  Kenn-  und  Losungsworte. 
„Fides",  eines  dieser  Worte,  wurde  Buchstabe  für  Buchstabe  aus- 
gesprochen. Eines  der  Zeichen  bestand  darin,  dafs  man  die 
rechte  Hand  auf  die  linke  Brust  legte  und  dabei  sagte:  „Auf 
meine  Ehre.“  Ein  anderes  Zeichen  war  das  Anfassen  des  linken 
Ohrläppchens  mit  dem  Daumen  und  dem  Zeigefinger  der  rechten 
Hand.  Die  jetzt  gebräuchlichen  Zeichen,  Worte  etc.  kennen  wir 
nicht,  denn  dieselben  werden  jedes  halbe  Jahr  gewechselt  und 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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streng  geheim  gehalten.  Der  Orden,  welcher  1819  in  die  Ver- 
einigten Staaten  eingeführt  wurde,  hat  drei  Grade  - den  »weifsen,“ 
den  »blauen"  und  den  »scharlachroten“  — sowie  einen  weib- 
lichen Grad  namens  »Rebekka.»  In  sogenannten  »Lagern» 

werden  auch  Hochgrade  verliehen.  Die  Odd  Fellows  tragen  in 
den  »Logen»  weifse,  mit  den  Farben  ihres  Grades  eingefafste 
Schürzen,  in  den  »Lagern»  schwarze  mit  dergleichen  Verzierung. 


O-Kih-Pa. 

So  hiefs  eine  jährlich  einmal  abgehaltene  Feier  bei  dem 
jetzt  bereits  ausgestorbenen  roten  Indianerstamm  der  Mandanen; 
dieselbe  hatte  drei  Zwecke:  1.  die  Erinnerung  an  das  Aufhören 
der  Sintflut  wachzuerhalten,  2.  den  Stiertanz  zu  tanzen,  damit  es 
recht  viel  Büffel  gebe  (offenbar  eine  Anspielung  auf  die  Frühlings- 
Tag-  und  Nachtgleiche,  den  Stier  des  Tierkreises),  3.  den  Mut 
und  die  Ausdauer  der  jungen  Leute,  die  im  Laufe  des  Jahres 
mannbar  geworden  waren,  mittels  grofser  Entbehrungen  und 
Folterungen  zu  erproben.  Ein  Teil  der  letzteren  wurde  insgeheim 
in  der  Medizinhütte  zugefügt,  aufserhalb  welcher  das  »Grofse 
Boot,»  die  mandanische  Arche,  stand,  in  das  nur  die  »Geheimnis- 
männer" einen  Blick  werfen  durften.  Catlin  wohnte  Folterungen 
bei,  die  darin  bestanden,  dafs  man  unter  die  Rücken-  oder 
Brustmuskeln  des  Opfers  Holzstäbe  schob  und  es  an  denselben 
von  der  Decke  herabhängen  liefs,  wobei  man  es  herumdrehte, 
bis  es  in  Ohnmacht  fiel.  Nun  wurde  der  Bedauernswerte  ab- 
genommen; aber  kaum  hatte  er  sich  erholt,  jagte  ihn  die  aufsen 
versammelte  Menge  durch  das  Dorf.  Während  des  Laufens  trat 
er  unablässig  auf  die  Stricke,  welche  an  den  in  seinem  Körper 
steckenden  Holzstäben  befestigt  waren.  Dadurch  wurden  die 
Wunden  schliefslich  so  grofs,  dafs  die  Stäbe  von  selbst  heraus- 
fielen. Das  O-Kih-Pa  endete  mit  einem  Trinkgelage  und  mit 
lasterhaften  Ausschreitungen.  Die  Dakota-Sioux  üben  noch  jetzt 
die  gleichen  barbarischen  Riten,  aber  in  milderer  Form. 


Pantheisten. 

Eine  im  18.  Jahrhundert  in  Deutschland  und  England  be- 
standene Vereinigung,  welcher  Bolingbroke,  Hutne  und  andere 
Berühmtheiten  angehörten.  Ihr  Zweck  war  die  Diskussion  der 
in  Tolands  »Pantheistikon“  enthaltenen  Lehren.  Der  irische 
Deist  John  Toland  nahm  schon  vor  zweihundert  Jahren  in  seinem 
Werke  »das  Christentum  nicht  geheimnisvoll“  die  »höhere 

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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Kritik“  unserer  Tage  vorweg.  Er  besuchte  Deutschland  wieder- 
holt und  seine  Schriften  erregten  dort  dasselbe  Aufsehen  wie  in 
England.  Die  Notwendigkeit,  sich  mit  seinen  Lehren  insgeheim 
zu  befassen,  rührte  daher,  dafs  sie  irrtümlich  für  atheistisch  ge- 
halten wurden.  Daher  hielten  die  »Pantheisten"  jeden  Unein- 
geweihten, sogar  die  Dienerschaft,  von  ihren  Versammlungen 
fern,  welche  zur  Zeit  der  Sonnenwenden  und  der  Tag-  und 
Nachtgleichen  stattfanden. 


Patriotischer  Orden  der  Söhne  Amerikas. 

1847  in  Philadelphia  gestiftet,  unterbrach  diese  Gesellschaft 
ihre  Thätigkeit  während  des  Bürgerkrieges,  nahm  dieselbe  jedoch 
nach  dessen  Beendigung  wieder  auf.  Gegenwärtig  giebt  es  über 
200000  »Söhne  Amerikas.“  Blofs  geborene  Amerikaner  werden 
zugelassen,  denn  der  Bund  bezweckt  die  Verbreitung  nur  ameri- 
kanischer Prinzipien.  Genau  genommen,  ist  er  ein  Wohlthätigkeits- 
verein  und  hat  keine  Geheimnisse,  sondern  nur  geheime  Sinn- 
bilder und  Erkennungszeichen.  Seine  Logen  heifsen  »Feldlager." 


Phi-Beta-Kappa. 

Dieser  Orden,  dem  nur  Universitätshörer  beitreten  können, 
soll  nach  einigen  Quellen  ein  Ableger  der  Weishauptschen 
Illuminaten  sein.  Das  Losungswort  lautet:  <Puoao<pia  Bim  KvßtQYtfnjg, 
d.  h.:  die  Philosophie  ist  der  Leitstern  des  Lebens.  Die  Anfangs- 
buchstaben der  drei  Worte  dieses  Satzes  bilden  den  Namen  des 
Bundes,  welcher  das  Ziel  verfolgt,  statt  der  Religion  die  Philo- 
sophie zur  Richtschnur  der  menschlichen  Handlungen  zu  machen. 
Der  1776  in  den  Vereinigten  Staaten  entstandene  Orden  hatte 
geheime  Zeichen  und  Händedrücke,  die  jedoch  nach  seiner  Um- 
wandlung in  einen  öffentlichen  Verein  (1830)  bekannt  gemacht 
wurden.  Als  Erkennungszeichen  legte  man  zwei  Finger  der 
rechten  Hand  auf  den  linken  Mundwinkel  und  strich  dann  damit 
übers  Kinn.  Beim  Händedruck  blieben  die  Daumen  aufsen  und 
die  Gelenke  wurden  sanft  gedrückt.  Die  silberne  oder  goldene 
Medaille,  für  die  der  Kandidat  zu  zahlen  hat,  wird  an  einem 
rosenroten  oder  blauen  Band  getragen.  Sie  weist  die  Buchstaben 
Ph,  B und  K sowie  sechs  Sterne  und  eine  Hand  auf.  Die 
Sterne  bedeuten  die  Zahl  der  Universitäten,  an  denen  der  Verein 
heimisch  ist.  Die  Kehrseite  der  Medaille  zeigt  die  Buchstaben 
S.  P.  (=  Societas  Philosophiae)  und  das  Datum  der  Einführung 
des  Ordens  in  die  Vereinigten  Staaten. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen.  SOI 

Phintias-Ritter. 

Dieser  Orden  wurde  1 864  in  Washington  gestiftet  und 
verbreitete  sich  bald  in  den  Vereinigten  Staaten.  Als  sein  Zweck 
wird  die  Pflege  der  Freundschaft  nach  dem  Vorbild  von  Dämon 
und  Phintias  angegeben.  Obgleich  er  sich  für  einen  Geheimbund 
erklärt,  ist  er  eigentlich  nur  ein  gewöhnlicher  Wohlthätigkeits- 
verein;  da  jedoch  in  seinem  Schofse  eine  „Uniform-Linie“ 
besteht,  welche  wesentlich  militärischer  Natur  ist,  mag  er  immer- 
hin auch  ein  geheimes  Nebenziel  verfolgen.  Die  militärischen 
Übungen  stehen  im  vollsten  Einklang  mit  der  Taktik  der  Unions- 
Armee;  Offiziere  der  letzteren  fungieren  denn  auch  bei  den 
Prüfungsübungen  als  Entscheidungsrichter.  Die  „Uniform-Linie" 
zählt  über  30000  Mitglieder. 


Pilger. 

Das  Vorhandensein  dieser  Gesellschaft  wurde  1825  zu 
Lyon  infolge  der  Verhaftung  eines  der  Mitglieder  entdeckt,  eines 
preußischen  Schuhmachers,  bei  dem  man  den  gedruckten  Ordens- 
katechimus  fand,  der  dem  freimaurerischen  nachgebildet  war, 
obgleich  es  sich  hier  hauptsächlich  um  religiöse  Reformen  handelt. 


Portugiesische  Gesellschaften. 

Im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  entstanden  in  Portugal 
mehrere  politische  Geheimbünde,  darunter  die  „Septembristen“, 
die  „Chartisten“,  die  „Miguelisten"  (Anhänger  Don  Miguels) 
etc.,  doch  waren  alle  unbedeutend  und  von  kurzer  Dauer. 


Purrah. 

In  der  Gegend  zwischen  dem  Sierra  Leoneflufs  und  dem 
Kap  Monte  giebt  es  fünf  Fulah-Susu-Stämme,  welche  zusammen 
eine  Art  Föderativrepublik  bilden.  Jede  Kolonie  hat  ihre  eigene 
Regierung,  aber  alle  sind  einer  Einrichtung  unterworfen,  die  sie 
„Purrah“  nennen.  Es  ist  das  eine  Kriegervereinigung,  die  einer- 
seits lebhaft  an  die  heilige  Feme,  anderseits  infolge  ihrer  Ein- 
weihungsriten an  die  alten  Mysterien  erinnert  Jede  der  fünf 
Ansiedelungen  hat  ihre  besondere  „Purrah“  mit  25  Mitgliedern. 
Gemeinsam  ist  ihnen  die  Grofse  Purrah  — das  höchste  Gericht 
— in  welches  die  fünf  Purrahs  je  fünf  Vertreter  entsenden. 


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S02 


Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Der  Kandidat  für  die  Mitgliedschaft  der  Purrah  mufs 
mindestens  dreifsig,  bei  der  grofsen  Purrah  sogar  fünfzig  Jahre 
alt  sein  und  alle  seine  Verwandten  innerhalb  der  Purrah  müssen 
für  sein  Verhalten  Bürgschaft  leisten.  Sie  erklären  eidlich,  ihn 
opfern  zu  wollen,  falls  er  während  der  Einweihungserprobungen 
zurückweichen  oder  nach  seiner  Zulassung  die  Geheimnisse  und 
Grundsätze  des  Bundes  enthüllen  sollte.  Er  wird  in  einen 
heiligen  Hain  gebracht,  wo  er  monatelang  in  vollständiger  Ein- 
samkeit zubringen  mufs  und  weder  sprechen  noch  die  ihm  zu- 
gewiesene Hütte  verlassen  darf.  Bei  einem  etwaigen  Versuch, 
letzteres  zu  thun  und  in  den  Wald  einzudringen,  wird  er  sofort 
getötet.  Nach  mehreren  Monaten  beginnen  die  eigentlichen  Er- 
probungen, deren  letzte  Stadien  fürchterlich  sein  sollen.  Der 
heilige  Hain  ist  von  scheufslichem  Geheul  erfüllt,  angekettete 
Löwen  und  Leoparden  bedrohen  den  Prüfling,  an  vielen  Stellen 
taucht  Feuer  auf  und  nachts  werden  regelrechte  Brände  in  Scene 
gesetzt  — alles,  um  den  Mut  und  die  Entschlossenheit  des 
Aspiranten  auf  die  Probe  zu  stellen.  Versucht  ein  neugieriger 
Uneingeweihter  den  heiligen  Wald  zu  betreten,  so  verliert  er 
ohne  Umstände  das  Leben.  Nach  Leistung  eines  Verschwiegen- 
heits-  und  Gehorsams-Eides  seitens  des  Neulings  erfolgt  dessen 
Einweihung. 

Verrat  der  Geheimnisse  oder  Auflehnung  gegen  die  Befehle 
der  Stammes-Purrah  oder  der  Grofsen  Purrah  zieht  den  Tod 
nach  sich.  Zuweilen  erfolgt  die  Ermordung  im  Hause  des 
Opfers.  Plötzlich  und  unerwartet  tritt  ein  verlarvter  und  be- 
waffneter Krieger  mit  den  Worten  ein:  „Die  Purrah  verfügt 
deinen  Tod.“  Alle  Anwesenden  weichen  zurück,  niemand  leistet 
Widerstand  und  der  Schuldige  wird  umgebracht.  Die  Stammes- 
Purrah  verhandelt  über  die  in  ihrer  Kolonie  begangenen  Ver- 
brechen, vollzieht  ihre  eigenen  Urteile  und  schlichtet  auf  gütlichem 
Wege  Streitigkeiten  zwischen  mächtigen  Familien.  Nur  sehr 
selten  versammelt  sich  die  Grofse  Purrah  zur  Aburteilung  von 
Verrätern  oder  Ungehorsamen.  Zu  ihren  Aufgaben  gehört  es 
auch,  den  Kriegen,  welche  zuweilen  zwischen  mehreren  Fulah- 
Susu-Stämmen  ausbrechen,  ein  Ende  zu  machen.  Von  dem 
Augenblick  des  Zusammentritts  des  höchsten  Gerichts  bis  zum 
Fällen  der  Entscheidung  vergeht  gewöhnlich  ein  Monat,  während 
welcher  Zeit  es  jedem  Krieger  der  beteiligten  Stämme  bei 
Todesstrafe  verboten  ist,  das  Blutvergiefsen  fortzusetzen.  Der 
schuldig  gesprochene  Stamm  mufs  sich  nach  der  Urteilsfällung 
vier  Tage  lang  plündern  lassen.  Die  Vollstrecker  des  Urteils 
gehören  den  neutralen  Niederlassungen  an;  sie  sind  mit  Dolchen 
bewaffnet,  mit  scheufslichen  Masken  verlarvt  und  tragen  brennende 
Fackeln.  Sie  treffen  in  den  verurteilten  Dörfern  vor  Tages- 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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anbruch  ein,  töten  alle  Einwohner,  die  nicht  die  Flucht  ergriffen 
haben,  und  schleppen  alles  bewegliche  Eigentum  von  Wert  weg. 
Die  Beute  wird  in  zwei  Teile  zerlegt,  deren  einen  der  durch 
den  Überfall  geschädigte  Stamm  erhält,  während  der  andere  von 
der  Grofsen  Purrah  unter  die  Urteilsvollstrecker  verteilt  wird. 
Wird  eine  Familie  so  mächtig,  dafs  sie  Beunruhigung  hervorruft, 
so  versammelt  sich  die  Grofse  Purrah  zu  einer  Beratung  und 
verurteilt  sie  in  der  Regel  zu  plötzlicher  Plünderung,  welche 
dann  nächtlicherweile  von  maskierten  und  verkleideten  Kriegern 
bewirkt  wird. 

Dieser  Geheimbund  versetzt  die  Bevölkerung  der  betreffen- 
den Gegenden  und  der  Nachbargebiete  in  Furcht  und  Schrecken. 
Die  Neger  der  Bai  von  Sierra  Leone  sprechen  von  der  Purrah 
nie  ohne  Scheu  und  Zurückhaltung,  denn  sie  glauben,  dafs  alle 
Mitglieder  Zauberer  seien  und  mit  dem  Teufel  in  Verbindung 
stehen.  Die  Purrah  thut  nichts  zur  Zerstreuung  dieser  Vorurteile, 
denn  dieselben  verhelfen  ihr  zu  einer  Macht,  an  die  niemand 
zu  rühren  wagt.  Die  Mitglieder  erkennen  einander  an  gewissen 
Worten  und  Zeichen;  ihre  Zahl  wird  auf  etwa  sechstausend 
geschätzt. 


Rebekkaiten. 

Entstanden  um  1 843  in  Wales  und  bezweckten  die  Beseitigung 
der  Oktroischranken.  Die  Mitglieder  trieben  sich  in  weifser 
Kleidung  zur  Nachtzeit  umher  und  rissen  die  Mautthore  nieder. 
Das  Oberhaupt  der  Gesellschaft  wurde  Rebekka  genannt  --  in 
Anlehnung  an  die  Bibelstelle  Genesis  XXIV,  60.  Die  Rebekkaiten 
wurden  von  der  Regierung  unterdrückt. 


Ritterorden. 

Von  Friedrich  v.  Gone,  einem  Ritter  von  der  Strikten 
Observanz,  gegründet,  bezweckte  der  „Ritterorden“  die  Ver- 
spottung des  mittelalterlichen  Rittertums,  obgleich  der  Stifter 
selbst  an  die  Abstammung  der  Freimaurerei  vom  Templerorden 
glaubte.  Die  Gründung  erfolgte  1771  in  Wetzlar.  Die  Mit- 
glieder legten  sich  Ritternamen  bei,  Goethe  z.  B.  hiefs  Götz  von 
Berlichingen.  Sie  hielten  die  „Vier  Haimonskinder“  für  sym- 
bolisch und  Goethe  schrieb  dazu  einen  Kommentar.  Behufs 
Lächerlichmachung  der  maurerischen  Hochgrade  teilte  sich  die 
Gesellschaft  in  vier  Grade:  Übergang,  Übergang  des  Übergangs, 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Übergang  des  Übergangs  zum  Übergang,  Übergangs-Übergang 
zum  Übergang  des  Übergangs.  Die  Bedeutung  dieser  scheinbar 
tiefsinnigen  Bezeichnungen  kannten  natürlich  nur  die  Eingeweihten. 


Rothäute. 

Während  des  englisch-amerikanischen  Krieges  riefen  einige 
amerikanische  Patrioten  im  Jahre  1812  die  Gesellschaft  der 
Rothäute  ins  Leben,  die  ihren  Symbolismus  den  Indianern  ent- 
lehnte. Demgemäfs  hiefsen  die  Logen  »Stämme“,  die  Ver- 
sammlungsräume »Wigwams“,  die  Zusammenkünfte  »Beratungs- 
feuer“ u.  dgl.  m.  Bei  festlichen  Anlässen  erschienen  die 
Mitglieder  in  indianischer  Tracht.  Viele  Deutsch -Amerikaner 
traten  bei,  sagten  sich  aber  später,  als  die  Yankee-Mitglieder  sie 
von  oben  herab  ansahen,  wieder  los  und  bildeten  eine  neue 
Verbindung,  der  sie  den  Namen  »Unabhängiger  Orden  der 
Rothäute“  gaben.  Die  drei  Grade  der  Deutschen  hiefsen: 
Schwarze,  Blaue,  Grüne,  die  der  Yankees:  Jäger,  Soldaten,  Haupt- 
leute. In  »Lagern“  wurden  auch  Hochgrade  verliehen.  Nach 
Beendigung  des  Unabhängigkeitskrieges  (1814)  verloren  die 
beiden  Orden  ihren  politischen  Anstrich  und  verwandelten  sich 
in  Wohlthätigkeitsvereine.  Gegenwärtig  zählen  sie  zusammen 
ungefähr  40000  Mitglieder. 


Salpeterer. 

Die  Grafschaft  Hauenstein  im  Grofsherzogtum  Baden  bildet 
ein  Dreieck,  dessen  Basis  der  Rhein  zwischen  Säckingen  und 
Waldshut  ist.  Im  18.  Jahrhundert  forderte  der  Abt  des  reichen 
Benediktiner-Klosters  St.  Blasien,  welches  als  Scheitelpunkt  des 
Dreiecks  gelten  kann,  von  den  Hauensteinern  Frondienste.  Sie 
lehnten  sich  dagegen  auf  und  traten  zu  einem  Geheimbund 
zusammen,  der  sich  »Salpeterer"  nannte,  weil  sein  Oberhaupt 
Fridolin  Albiez  ein  Salpeterhändler  war.  Mit  Unterstützung 
Österreichs  obsiegte  der  Abt  1755,  allein  die  Gesellschaft  ent- 
stand im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  von  neuem,  diesmal  um 
in  Kirche  und  Schule  fortschrittliche  Tendenzen  zu  bekämpfen. 
Gegenseitige  Zugeständnisse  machten  i.  J.  1 840  dem  Kampf  und 
dem  Geheimbund  ein  Ende.  In  Tirol  gab  es  eine  ähnliche 
Vereinigung,  und  zwar  die  der  »Manharter",  so  genannt  nach 
ihrem  Anführer  Manhart;  mit  Hilfe  des  Papstes  gelang  es  ihr, 
der  Ausbreitung  der  Reformation  in  Tirol  erfolgreichen  Wider- 
stand zu  leisten. 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


S05 


Sich -Fanatiker. 

Das  Wort  „Sich“  oder  »Sikh“  bedeutet  soviel  wie  Jünger 
oder  ergebener  Anhänger.  Das  Vorhandensein  einer  religiösen 
Sekte  dieses  Namens,  deren  Prophet  Nanuk  war,  wurde  zuerst 
im  Jahre  1510  bekannt.  Etwa  200  Jahre  nachher  brachte  der 
Prophet  (Guru)  Govindu  militärischen  Geist  in  die  Sekte  und 
fügte  zu  deren  heiligem  Buche  »Granth"  das  Schwert.  Auf  dem 
Höhepunkt  ihrer  Macht  standen  die  Sikhs  von  1 798  — 1 839. 
Sie  machten  sich  durch  das  Tragen  eines  blauen  Gewandes 
kenntlich,  weil  Krischnas  Bruder  Bala  Ram  stets  als  blaugekleidet 
dargestellt  wird.  Auch  trugen  sie  langes  Haar,  lange  Bärte  und 
mufsten  Stahl  in  irgend  einer  Form  bei  sich  haben.  Gegen- 
wärtig kleiden  sich  die  gewöhnlichen  Sikhs  ausschliefslich  weifs. 
Sämtliche  Mitglieder  bildeten  zusammen  die  heilige  Brüderschaft 
Chalsa  (=  die  Geretteten  oder  Befreiten),  innerhalb  welcher  alle 
gesellschaftlichen  Unterschiede  aufhörten.  Die  wilden,  fanatischen 
Akalis  waren  und  sind  zugleich  Soldaten  und  Priester,  die  haupt- 
sächlich in  ihrem  grofsen  Tempel  zu  Amritsar  (=  »Quelle  der 
Unsterblichkeit")  beschäftigt  sind,  wo  sie  die  Bekehrten  einweihen. 
Diese  bekommen  fünf  Waffen  — Schwert,  Feuerschlofsgewehr, 
Bogen,  Pfeil,  Pike  — und  es  wird  ihnen  eingeschärft,  gewisse 
Tugenden  zu  üben  und  den  Verkehr  mit  gewissen  schismatischen 
Sekten  zu  vermeiden.  Da  nach  der  Überlieferung  Govindu  un- 
mittelbar nach  seinem  Tode  ausrief:  »Wo  immer  fünf  Sichs  bei- 
sammen sein  werden,  werde  ich  gegenwärtig  sein",  gehören  zum 
Vollzug  der  Einweihungsriten  ihrer  fünf.  Die  Sichs  dürfen  Fleisch 
essen,  jedoch  nicht  das  der  Kuh,  denn  dieses  Tier  ist  ihnen 
ebenso  heilig  wie  den  Hindus. 

Die  fanatische  Sikh-Bewegung,  von  der  wir  hier  im  be- 
sonderen sprechen  wollen  und  von  welcher  die  Öffentlichkeit 
i.  J.  1872  durch  die  bekannten  Kuka-Morde  Kenntnis  erhielt, 
wurde  vor  einigen  Jahrzehnten  durch  den  Sich  Ram-Singh  be- 
gonnen, der  sein  Hauptquartier  in  einem  Dorf  des  Ludhiana- 
bezirks  hatte.  Es  heifst,  dafs  er  mehr  das  Ritual  als  den 
Glauben  seiner  Landsleute  habe  umgestalten  wollen.  Seine  An- 
hänger scheinen  überdies  etwas  von  den  islamitischen  Tanz- 
derwischen gelernt  zu  haben,  denn  sie  arbeiteten  sich  auf  ihren 
Versammlungen  in  religiöse  Verzückungen  hinein,  welche  sich 
in  unheimlichem  Geheul  Luft  machten.  Die  Männer  und  die 
Weiber  vollführten  mit  einander  eine  Art  wilden  Kriegstanzes, 
wobei  sie  unartikulierte  Laute  ausstiefsen  und  allmählich  ihre 
ganze  Kleidung  abwarfen.  Ram  Singh  hatte  im  alten  Sich-Heer 
gedient  und  eine  Anzahl  seiner  Emissäre  in  die  Armee  des 
Maharadscha  von  Kaschmir  eingereiht;  man  sagt,  dafs  dieser 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


Herrscher  ein  ganzes  Regiment  von  Kukas  habe  besolden  wollen, 
dafs  aber  aus  irgend  einem  Grunde  nichts  daraus  geworden  sei. 
Vielleicht  fürchtete  er,  dafs  im  Laufe  der  Zeit  der  politische 
Einflufs  der  neuen  Rekruten  ihm  oder  seinen  britischen  Ver- 
bündeten über  den  Kopf  hätte  wachsen  können. 

Ram  Singhs  Sekte  vermehrte  sich  sehr  rasch;  mit  Hilfe 
seiner  Stellvertreter  (Soubahs),  deren  er  im  Pendschab  etwa 
zwanzig  hatte,  brachte  er  es  schliefslich  auf  rund  100000  An- 
hänger, meist  Handwerker,  Arbeiter  und  noch  niedriger  stehende 
Personen,  die  nichts  zu  verlieren  hatten  und  in  übertriebenen 
Vorstellungen  von  künftigem  Reichtum  schwelgten.  Die  Macht 
ihres  Führers  über  sie  war  so  grofs,  dafs  sie  seine  Befehle  mit 
derselben  Bereitwilligkeit  vollzogen  wie  im  Mittelalter  die  Assassinen 
jene  des  Alten  vom  Berge.  (Vgl.  »Die  Assassinen“.)  Wollte  er 
einem  noch  so  entfernten  Stellvertreter  eine  Botschaft  zukommen 
lassen,  so  vertraute  er  den  Brief  einem  seiner  Jünger  an,  der  in 
vollem  Lauf  bis  zur  nächsten  Station  eilte  und  sie  einem  anderen 
zur  Weiterbeförderung  übergab,  dieser  einem  dritten  u.  s.  w. 
Um  sein  Ansehen  bei  seiner  Sekte  zu  steigern,  wufste  Ram  Singh 
seinen  Namen  in  geschickter  Weise  in  eine  Stelle  der  Sikh- 
Bibel  einzufügen,  und  zwar  dort,  wo  von  dem  künftigen  Er- 
scheinen eines  neuen  Propheten  oder  Lehrers  die  Rede  ist.  Man 
hat  Grund  zu  der  Annahme,  das  Hauptziel  dieses  Mannes  habe 
darin  bestanden,  mit  Hilfe  einer  Religionsbewegung  den  Sichs 
wieder  zu  ihrer  alten  Oberhoheit  in  Pendschab  zu  verhelfen. 
Den  Fanatismus  seiner  Leute  stachelte  er  durch  die  Behauptung 
auf,  ihr  Feldzug  sei  gegen  die  Mörder  der  heiligen  Kuh  ge- 
richtet, womit  die  europäischen  Eroberer  gemeint  waren.  Die 
Erhebung  wurde  schnell  unterdrückt,  die  kleine,  kaum  300  Mann 
zählende  Bande  der  bewaffneten  Jünger  Rams  vernichtet,  die 
Rädelsführer  aus  Kanonen  geschossen. 

Die  Sikhs  zerfallen  in  zahlreiche  Sekten,  deren  bedeutendste 
die  Gowind-Sinhi-Gemeinde  ist.  Übrigens  nehmen  die  Sikhs 
als  eine  geheime  Religionssekte  immer  mehr  ab. 


Silberkreis- Ritter. 

Die  geheime  Verbindung  dieses  Namens  entstand  1893  in 
den  Rocky  Mountains  und  war  gegen  die  Aufhebung  der  Silber- 
prägung gerichtet.  Für  den  Fall  der  Aufhebung  drohten  die 
Mitglieder,  den  Staat  Colorado  zu  zwingen,  aus  der  Union  zu 
treten  und  sich  mit  der  Silber  ausprägenden  Republik  Mexiko  zu 
vereinigen.  Damals  wimmelten  die  Weststaaten  von  Geheim- 
gesellschaften, die  sich  mit  der  Secessionsfrage  befafsten;  viele 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


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von  ihnen  sollen  bewaffnet  gewesen  sein  und  bei  Mond- 
schein Exerzierübungen  abgehalten  haben.  Die  Mitglieder  erkannten 
einander  an  geheimen  Zeichen  und  Worten.  Die  Aufhebung 
der  Shermanschen  Akte  im  August  des  genannten  Jahres  machte 
den  Silberkreis-Rittern  und  allen  ähnlichen  Verbindungen  ein 
Ende. 


Sonderbare  Gesellen. 

Es  sind  das  die  deutschen  Odd  Fellows,  jetzt  auch  Freie 
Gesellen  oder  Helfende  Brüder  genannt.  Während  die  eng- 
lischen keine  anderen  Geheimnisse  haben  als  ihre  Zeichen,  Kenn- 
worte und  Händedrücke,  stehen  die  deutschen  in  enger  Ver- 
bindung mit  der  Freimaurerei  und  sind  gegen  Priestertum,  Aber- 
glaube und  Fanatismus  gerichtet.  Die  Einführung  des  Ordens 
in  Deutschland  erfolgte  1870  und  allmählich  fand  er  Eingang 
in  Frankreich,  Holland,  Schweden,  Spanien,  Schweiz,  Mexiko, 
Peru,  Chili  und  Polynesien.  Gegenwärtig  zählt  er  über  fünfzig 
Grofslogen  mit  rund  8000  Logen,  die  englischen  nicht  mit- 
gerechnet. 


Sophisier. 

In  Ägypten  gründeten  1 798  — 99  mehrere  französische 
Generale  den  „Heiligen  Orden  der  Sophisier“  („Anhänger  der 
Weisheit").  , Trotz  der  Geheimthuerei  kam  seine  Thätigkeit  teil- 
weise an  den  Tag.  Näheres  darüber  findet  sich  in  einem  Buche, 
das  den  Titel  führt:  ,,  Melanges  relatifs  ä l’ordre  sacre  des 
Sophisiens,  etabli  dans  les  Pyramides  de  la  Republique  fran^aise," 
aber  nur  teilweise  gedruckt  ist. 


Stern  von  Bethlehem. 

Die  Mitglieder  dieses  Ordens  behaupten,  derselbe  sei  be- 
reits im  1.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  gestiftet  worden. 
Im  1 3.  Jahrhundert  bestand  er  als  der  mönchische  Bethlehemiter- 
Orden,  welcher  eng  verbunden  war  mit  der  von  der  Kaiserin 
Helena  im  Jahre  330  erbauten  Nativitätskirche,  in  deren  Mitte 
sich  die  Grotte  der  Geburt  Christi  befindet.  Der  Marmorfufs- 
boden  dieser  Grotte  weist  einen  eingelegten  Stern  auf  — zur 
Erinnerung  an  den  Stern  von  Bethlehem.  1257  in  England  ein- 
geführt, wurde  der  Orden  bald  zu  einem  Wohlthätigkeitsverein, 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


dessen  Mitglieder  sich  «Ritter  des  Sterns  von  Bethlehem"  nannten. 
1408  erhielt  das  weibliche  Geschlecht  die  Beitrittserlaubnis.  Ein 
gewisser  Giles  Cory  aus  London  brachte  den  Orden  1681  nach 
Amerika,  doch  führte  die  dreizehn  Jahre  später  erfolgte  grausame 
Hinrichtung  des  Grofskomturs  (»wegen  der  Abhaltung  von 
Versammlungen  in  den  toten  Stunden  der  Nacht“)  zur  Auflösung 
des  amerikanischen  Zweiges.  A.  Grofs  aus  Newcastle-on-Tyne 
rief  ihn  1869  zu  New-York  von  neuem  ins  Leben;  1884  wurde 
der  Rittertitel  abgelegt,  sodafs  der  Bund  jetzt  »Orden  des  Sterns 
von  Bethlehem"  heifsL 


Tabakologische  Gesellschaft. 

Ais  im  Jahre  531  die  Tänzerin  Theodora  die  Gemahlin 
Justinians  I.  wurde,  wollte  sie  sich  mit  Philosophen  umgeben, 
namentlich  mit  Pythagoräern.  Weil  die  Philosophen  es  für  unter 
ihrer  Würde  hielten,  sich  unter  kaiserlichen  Schutz  zu  stellen, 
wurden  sie  verfolgt  und  ihre  Lehranstalten  geschlossen.  Auch 
verbot  man  ihnen,  sich  zu  versammeln;  deshalb  kamen  sie  ins- 
geheim zusammen:  anfangs  in  einem  verfallenen  Ceres-Tempel  am 
Ufer  des  llissos,  später  in  einem  von  ihnen  selbst  errichteten 
achteckigen  Tempel  am  Fufse  des  Hymettos.  Sie  nannten  sich 
Pednosophen,  worunter  sie  »Kinder  der  Weisheit“  verstanden. 
Ihr  Symbol  war  die  Anemone;  wie  diese  Blume  der  Sage  nach 
dem  Blute  des  von  einem  wilden  Eber  verwundeten  Adonis  ent- 
sprofs,  so  erhob  sich  in  den  Augen  der  Pythagoräer  die  Philo- 
sophie verjüngt  aus  der  vom  Aberglauben  verfolgten,  Philosophie. 
Anfänglich  liefs  man  auch  Weiber  und  Kinder  zu,  vertraute 
ihnen  aber  die  Geheimnisse  nur  teilweise  an. 

Das  Erkennungszeichen  bestand  im  Kreuzen  der  Arme  auf 
der  Brust,  wobei  ein  Zeigefinger  die  Lippen  berühren  mufste. 
Das  Losungswort  war:  »Theus-Theos»  (=  »Hoffnung  auf  Gott“). 
Nur  wenige  Mitglieder  kannten  den  wirklichen  Namen  des  Ober- 
hauptes, die  übrigen  kannten  dieses  blofs  unter  einem  Pseudonym. 
Der  Bund  fristete  sein  Leben  bald  in  diesem,  bald  in  jenem 
Lande.  Was  insbesondere  England  betrifft,  so  verbot  Karl  II.  1672 
alle  Geheimgesellschaften,  was  die  Pednosophen  veranlafste,  sich 
nunmehr  »Tabakologen"  zu  nennen  und  die  Tabakpflanze  als 
Sinnbild  zu  erwählen,  weil  deren  rote  Blüte  sie  an  die  von 
Justinian  und  anderen  verfolgte  Philosophie  erinnere  (!).  ln 
ihren  Sitzungen  besprachen  sie  vornehmlich  akademische  Gegen- 
stände und  man  kann  sagen,  dafs  die  Tabakologische  Gesellschaft 
das  Urbild  der  modernen  Akademien  war.  Sie  zerfiel  in  vier 
Grade  und  zählte  viele  hervorragende  Männer  zu  ihren  Mit- 


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gliedern.  In  der  Loge  wurden  dreieckige  Schürzen  getragen. 
Gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  verfiel  der  Orden  in  Eng- 
land und  seine  Papiere,  Protokolle  und  Geheimnisse  gelangten 
in  die  Hände  eines  französischen  Marquis,  der  sie  seinem  Sohn 
hinterliefs,  nach  dessen  Tod  sie  ein  gewisser  Dussin  erbte. 
Dieser  rief  den  Bund  in  Poitiers  wieder  ins  Leben  (1806)  und 
derselbe  erhielt  sich  dann  42  Jahre  lang.  Der  Bau  und  die 
Verarbeitung  des  Tabaks  bildeten  den  Gegenstand  symbolischer 
Unterweisungen  und  den  Städten,  in  denen  es  Logen  gab, 
wurden  die  Namen  von  Gegenden  beigelegt,  welche  ob  ihrer 
feinen  Tabaksorten  berühmt  sind.  Im  Volksmund  hiefsen  die 
Mitglieder  »Schnupfer." 


Teppa. 

Als  das  Scheitern  der  carbonaristischen  Verschwörung,  be- 
sonders des  Erhebungsversuches  zu  Macerata,  zur  vorübergehenden 
Unterdrückung  des  Carbonaribundes  führte,  sah  die  italienische 
Jugend  ihre  Hoffnung,  sich  durch  Bekämpfung  und  Vertreibung 
der  Österreicher  auszuzeichnen,  bitter  getäuscht.  Während  nun 
die  ruhigeren  Elemente  sich  in  das  Unabänderliche  fügten  und 
zu  ihren  Alltagsbeschäftigungen  zurückkehrten,  suchten  die  Hitz- 
köpfe unter  den  Carbonari  für  ihren  Überschwang  Auswege, 
indem  sie  allerlei  Vereinigungen  gründeten,  die  zuweilen  recht 
verwerflich  waren.  Hierher  gehörte  die  »Compagnia  della  Teppa“ 
(»Rasengesellschaft"),  1818  in  Mailand  entstanden.  Die  nach- 
folgenden Einzelheiten  darüber  entnehmen  wir  hauptsächlich  dem 
Rovanischen  Buche  »Cento  Anni,"  dessen  Quelle  die  Mitteilungen 
des  Bundesmitgliedes  Milesi  waren,  welche  als  ziemlich  zuver- 
lässig gelten  können. 

Über  den  Ursprung  des  Namens  der  Gesellschaft  gehen 
die  Ansichten  auseinander.  Nach  der  einen  stammte  er  daher, 
dafs  der  Plüsch , aus  dem  die  Hüte  der  Mitglieder  gefertigt 
wurden,  so  kurz  und  glatt  geschoren  sein  mufste  wie  ein  Rasen  ; 
die  zweite,  viel  einleuchtendere  Erklärung  geht  dahin,  dafs  die 
Versammlungen  im  Beginn  auf  dem  prachtvollen  Rasen  der 
Piazza  Castello  zu  Mailand  stattfanden.  Die  Mitglieder  ver- 
pflichteten sich,  jeden  Mann,  dem  sie  nach  Sonnenuntergang  auf 
der  Strafse  begegneten,  zu  prügeln.  Dieser  Unfug  richtete  sich 
in  erster  Reihe  gegen  Männer,  die  im  Besitze  schöner  Gattinnen 
waren,  deren  Entführung  aus  ihrer  Wohnung  oder  deren  Ver- 
feindung mit  ihren  Männern  im  Interesse  einzelner  Mitglieder 
lag;  zuweilen  war  die  Sache  sogar  mit  der  schönen  Frau  ab- 
gekartet. Da  mit  dem  Empfang  einer  solchen  Tracht  Prügel 


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eine  gewisse  Lächerlichkeit  verbunden  war,  pflegten  die  Opfer 
sich  nur  selten  zu  beklagen.  Selbstverständlich  kamen  bei  diesen 
Überfällen  oft  auch  die  Angreifer  schlecht  weg.  Die  öster- 
reichische Polizei  kannte  das  Treiben  der  „Teppa“  genau,  drückte 
aber  beide  Augen  zu,  denn  sie  hielt  es  für  angezeigter,  dafs  die 
Jugend  ihren  Überschufs  an  Thatkraft  in  solcher  Weise  bethätige, 
als  in  politischen  Verschwörungen  gegen  Österreich.  Und  so 
hätten  die  Raufbolde  ihr  Treiben  wohl  noch  recht  lange  fort- 
setzen können,  wenn  sie  nicht  durch  die  andauernde  Straflosigkeit 
allzu  übermütig  geworden  wären.  Der  folgende  Vorfall  zwang 
die  Polizei  schliefslich  zum  Einschreiten. 

In  der  Pennacchiaristrafse  lebte  ein  Zwerg  des  Spitznamens 
Qasgiott  als  Blumenmacher.  Trotz  seiner  Oewaltthätigkeit  und 
Streitsucht  glaubte  er  ein  geradezu  unwiderstehlicher  Liebling  der 
Damenwelt  zu  sein.  Eines  Nachts  beklagte  sich  in  der  genannten 
Strafse  ein  Mädchen  bei  dem  herkulisch  gebauten  Teppamitglied 
Milesi  über  einen  rohen  Angriff  Oasgiotts.  Milesi  prügelte  den 
Zwerg  tüchtig  durch  und  brachte  ihn  in  ein  Wirtshaus,  wo  er 
ihn  dem  Oberhaupt  der  „Rasengesellschaft,''  Baron  Bontempo, 
vorführte.  Auf  Milesis  Antrag  liefs  der  Freiherr  den  Zwerg, 
„um  dessen  Blut  abzukühlen,“  bei  schmaler  Kost  auf  seinem 
Landsitz  Simonetta  (bei  Mailand)  einsperren.  Dieser  Einfall 
brachte  die  „Teppa"  auf  den  Gedanken,  alle  Zwerge  der  Stadt 
aufzuspüren  und  bald  befanden  sich  ihrer  zwölf  im  Gewahrsam 
zu  Simonetta.  Kühner  werdend,  gingen  die  Kerle  nun  weiter. 
Zu  den  Bemäntelungen  ihrer  unerquicklichen  Thätigkeit  gehörte 
nämlich  das  Vorgeben,  dafs  es  ihre  Pflicht  sei,  Unrecht  gut- 
zumachen, welches  vom  Gesetz  nicht  gerächt  wird.  Demgemäfs 
richteten  sie  ihr  Augenmerk  auf  jene  berechnenden  Weiber,  die 
durch  ihre  Ränke  und  ihre  Verschwendungssucht  zahlreiche  junge 
Leute  wie  auch  verheiratete  Männer  zu  Grunde  richten,  ohne  dafs 
sie  von  Gesetzes  wegen  bestraft  werden  konnten.  Damals  gab  es 
in  Mailand  viele  solche  Damen,  darunter  hochstehende,  und  es 
wollte  den  Rasenmännern  scheinen,  als  wären  dieselben  eine 
passende  Gesellschaft  für  die  eingesperrten  Zwerge.  Gedacht, 
gethan,  zehn  Damen  wurden  mit  List  oder  Gewalt  nach  Simo- 
netta  entführt  und  zu  den  Zwergen  gesellt,  von  denen  sie  in 
entsetzlicher  Weise  belästigt  wurden.  Es  ist  begreiflich,  dafs  die 
Damen  sich  weder  die  Entführung  noch  die  Zumutungen  der 
Zwerge  ruhig  gefallen  lassen  wollten.  Tags  darauf  machten  die 
Urheber  des  Unfugs  diesem  ein  Ende,  indem  sie  die  männlichen 
und  die  weiblichen  Gefangenen  befreiten.  Da  die  geschlossenen 
Wagen  nach  und  von  Simonetta  grofse  Umwege  machten, 
wufsten  die  Häftlinge  nicht,  wo  sie  waren;  trotzdem  kam  man 
der  Sache  auf  die  Spur,  denn  eine  solche  Angelegenheit  konnte 


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man  nicht  durchführen,  ohne  zahlreiche  Personen  ins  Geheimnis 
zu  ziehen.  Überdies  schrien  die  betroffenen  Damen  laut  nach 
Rache  und  viele  junge  Leute  aus  achtbaren  Familien,  die  der 
Teppa  nur  aus  Neugier  oder  sonstigen  nichtigen  Gründen  bei- 
getreten waren,  erklärten  sich  zu  Aufschlüssen  bereit,  als  sie 
sahen,  wie  arg  es  der  Geheimbund  trieb.  Da  die  Polizei  nicht 
länger  alle  fünf  gerade  sein  lassen  konnte,  schritt  sie  eines  Tages 
— es  war  im  Jahre  1821  — zur  Verhaftung  von  60  Mitgliedern 
der  Teppa  und  zu  ihrer  Einkerkerung  im  Markuskloster  oder  in 
den  Gefängnissen  von  Szegedin  und  Komorn.  Auch  nachher 
wurden  noch  viele  verhaftet,  während  andere  auf  Grund  von 
empfangenen  Warnungen  die  Flucht  ergriffen.  So  endete  die 
«Rasengesellschaft“  nach  kaum  vierjährigem  Bestand. 

Was  die  Erkennungszeichen  betrifft,  so  grüfste  der  eine 
mit  gefalteten  Händen,  worauf  der  andere  seine  rechte  Hand  so 
an  die  Seite  hielt,  als  wollte  er  das  Heft  seines  Schwertes  er- 
greifen. Es  gab  nur  zwei  Grade:  «Bruder»  und  »Hauptmann." 
Jeder  Hauptmann  mufste  vier  neue  Mitglieder  gewinnen.  Der 
Bund  war  in  zwei  grofse  Mittelpunkte  geteilt:  den  der  »Adeligen" 
und  den  der  »Gemeinen.“ 


Theosophen. 

ln  der  »Einleitung»  wie  auch  an  anderen  Stellen  dieses 
Buches  haben  wir  angedeutet,  was  unter  echter  Theosophie  zu 
verstehen  ist.  Da  »Theos»  so  viel  heifst  wie  Gott,  kann  die 
Theosophie  nichts  anderes  sein  als  die  »Weisheit  des  Lichtes.“ 
Die  Erforschung  des  Lichtes  bildet  die  einzige  Weisheit,  denn 
das  Licht  ist  der  Urstoff  und  die  einzige  wirkliche  Wesenheit. 
Aber  jene  Erforschung  mufs  wissenschaftlich  getrieben  werden, 
sonst  ist  sie  Schwindel.  Und  lediglich  schwindelhaft  sind  die 
Lehren  der  sonderbaren  Schwärmer,  die  sich  heutzutage  unver- 
froren für  Theosophen  ausgeben  und  die  Welt  mit  ihren  Vereinen 
und  Veröffentlichungen  behelligen.  Der  moderne  theosophische 
Betrug  ist  vornehmlich  in  Ostindien,  England  und  den  Vereinigten 
Staaten  zu  Hause.  Die  Lehren  der  Anhänger  von  Helene  Blavatsky 
und  Annie  Besant  beruhen  durchweg  auf  dem  Übernatürlichen, 
Unbekannten;  sie  sind  unwissenschaftlich  und  verdienen  keine 
Beachtung.  Unsere  heutigen  Theosophen  beziehen  ihre  Ein- 
gebungen von  den  Mahatmas  - unsichtbaren  Weisen,  die  die 
Macht  besitzen,  alle  Weltgeheimnisse  zu  lösen.  Wie  seltsam 
und  bedauerlich,  dafs  noch  nie  ein  Mahatma  geneigt  oder  im 
stände  war,  der  Menschheit  auch  nur  eine  einzige  wissenschaftliche 
Thatsache  zu  offenbaren!  Diese  Geheimlehrer  sagen:  »Der  Geist 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


geht  von  Brahma  aus  durch  die  verschiedenen  Stoffformen,  die 
sich  gleichzeitig  entwickeln  und  in  der  spirituellen  Welt  mit  der 
höchsten,  in  der  materiellen  mit  der  niedrigsten  Form  beginnen. 
Diese  niedrigste  Form  ist  der  modernen  Wissenschaft  noch 
unbekannt“  (Wieso  kennt  man  dann  ihr  Vorhandensein  über- 
haupt?) »Der  Zeitraum,  in  welchem  diese  Entwicklung  vor  sich 
geht,  umfafst  Millionen  von  Epochen.“  (Wie  kann  man  das 
wissen?)  »So  entstehen  allmählich  Mahatmas  und  Adepten  und 
werden  zu  Planetengeistern,  welche  das  Entstehen  anderer 
künftiger  Planeten  leiten."  (Welch  phrasenhafte  Hirngespinste!) 
»Die  Weisen  verkünden  ferner  die  Vergangenheit  und  Zukunft 
dieser  Erde  und  anderer  Planeten,  die  Entwicklung  des  Lebens 
durch  elementare,  mineralische,  pflanzliche,  tierische  und  mensch- 
liche Formen  hindurch.“  (Und  doch  lassen  sie,  gleich  den 
spiritistischen  Medien,  den  armen  Sterblichen  niemals  auch  nur 
die  geringste  nützliche  Belehrung  zukommen!)  »Jede  Kalpa 
oder  grofse  Periode  ist  in  vier  Zeitalter  oder  Jugas  geteilt,  deren 
jedes  viele  Jahrtausende  umfafst.  Gegenwärtig  befinden  wir  uns 
im  Kali-Jug,  dem  Zeitalter  der  Dunkelheit,  welches  vor  fünftausend 
Jahren  anfing.“  (Woher  schöpfen  die  Theosophen  ihre  Kenntnis 
von  den  früheren  Zeitaltern  und  vom  Anfang  des  jetzigen?!) 
Wir  lassen  noch  eine  kostbare  kosmologische  Stelle  folgen: 
»Unsere  Erde  bildet  eines  der  Glieder  in  der  Kette  von  sieben 
Planeten;  sie  allein  befindet  sich  auf  der  sichtbaren  Fläche, 
während  die  sechs  anderen  Planeten  sich  in  anderen  Sphären 
befinden  und  daher  unsichtbar  sind.“  Um  alles  in  der  Welt 
— wenn  sie  unsichtbar  sind,  wie  konnten  die  „Weisen"  sie 
ausfindig  machen?! 

So  sieht  das  tolle  Zeug  aus,  welches  die  wohlgenährten 
indischen  Priester,  fälschlich  „Weise"  genannt,  teils  zu  ihrer 
Unterhaltung,  teils  behufs  Verdummung  ihrer  abergläubischen 
Schafe  ausgeheckt  haben  und  welches  jetzt  in  Europa  und 
Amerika  nachgebetet  wird!  Verrückt  gewordene  Esoterik,  auf 
den  Kopf  gestellte  Mythologie,  religiöser  Schutz  tobsüchtiger 
Narren,  der  Vorläufer  der  erotischen  Mönche  und  neurotischen 
Nonnen  des  Christentums  — das  ist  die  Kost,  die  man  den 
Mitgliedern  der  theosophischen  Gesellschaften  auftischt.  Das  Ge- 
wäsch dieser  Leute  bildet  einen  Faustschlag  ins  Gesicht  der 
modernen  Bildung.  Unsere  heutigen  Theosophen,  die  blinden 
Anhänger  blinder  Führer  sind  so  wenig  Theosophen  wie  die 
Astrologen  Astronomen  waren.  Bei  den  einen  wie  bei  den 
anderen  verwandelt  sich  das  Gold  der  Wissenschaft  in  das  Blech 
der  Quacksalberei.  Es  scheint  denn  auch,  dafs  wenigstens  die 
amerikanischen  Theosophen  bereits  zur  Einsicht  gelangt  sind, 
wie  schlecht  dieser  Name  auf  sie  pafst;  sonst  würden  sie  den- 


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Verschiedene  andere  Vereinigungen.  513 

selben  nicht  aufgegeben  und  im  März  1898  mit  «Allgemeine 
Brüderschaft“  vertauscht  haben. 


Utopia.  (Allschlaraffia.) 

Vor  fast  einem  Jahrhundert  zu  Prag  gegründet,  fand  diese 
Gesellschaft  so  grofsen  Anklang,  dafs  sie  1885  in  Deutschland, 
Österreich,  Ungarn,  der  Schweiz  und  anderen  Ländern  bereits 
85  Logen  zählte  und  1876  in  Leipzig,  sechs  Jahre  später  in 
Prag  Bundesversammlungen  abhalten  konnte.  Der  Oberschlaraff 
jeder  Loge  wird  »Uhu«  genannt,  bei  freudigen  Kundgebungen 
rufen  die  Mitglieder  «Aha!",  bei  Verletzungen  der  Satzungen 
schreien  sie  «Oho!“  Es  giebt  drei  Grade:  Knappen,  Junker, 
Ritter;  die  Gäste  heifsen  Pilger.  Die  Zusammenkünfte  bezwecken 
heitere  Unterhaltung  und  es  geht  dabei  oft  recht  witzig  her. 
Die  Logen  der  verschiedenen  Länder  stehen  untereinander  in 
Verbindung  und  die  «Schlaraffen“  geniefsen  innerhalb  der 
«Utopia“  überall  das  gleiche  Aufnahme-  und  Freizügigkeitsrecht 
wie  die  Freimaurer  innerhalb  des  Freimaurerbundes. 


Vendicatori. 

Dieses  Geheimgericht  entstand  um  1 1 86  auf  Sicilien  und 
rächte  öffentliches  Unrecht,  wobei  es  in  ähnlicher  Weise  verfuhr 
wie  die  heilige  Feme  und  die  Beati  Paoli.  Schliefslich  liefs 
König  William  II.,  der  Normanne,  den  Grofsmeister  Adiorolphus 
hinrichten  und  zahlreiche  »Rächer»  brandmarken. 

Verrückte  Ratsherren. 

Ein  1809  durch  Dr.  Ehrmann  zu  Frankfurt  a.  M.  gestifteter 
komischer  Orden,  dessen  Diplome  in  scherzhaftem  Latein  ab- 
gefafst  und  mit  einem  grofsen  Siegel  versehen  waren.  Zu  den 
Mitgliedern  gehörten  u.  a.  Jean  Paul,  Arndt,  Goethe,  lffland, 
wie  auch  mehrere  Damen.  Nach  dem  Ausstellcn  des  hundertsten 
Diploms  löste  sich  die  Gesellschaft  auf  (1820). 


Wahabis. 

Die  indische  Sekte  dieses  Namens  erregte  in  den  Jahren 
1871  —72  grofse  Aufmerksamkeit,  weil  man  sie  der  Teilnahme 
an  der  Ermordung  Lord  Mayos  und  des  Kalkuttaer  Oberrichters 
Norman  beschuldigte.  Ihr  Stifter  war  ein  1787  verstorbener 
mohammedanischer  Reformator  Namens  Abdul  Wahab,  der  um 

Heckcthorn-Katscher,  Geheimbüntlc  u.  Geheimlchren.  33 


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514 


Verschiedene  andere  Vereinigungen. 


17-40  in  Nedschd  auftauchte  und  von  den  Türken  einen  grofsen 
Teil  Arabiens  eroberte.  »Wahab"  bedeutet  »Spender  von 
Segnungen“  und  ist  einer  der  Beinamen  Gottes;  demgemäfs  heifst 
»Abdul  Wahab"  etwa  so  viel  wie  »Diener  des  Allgütigen".  Die 
Wahabis  nahmen  Mekka  und  Medina  ein  und  vertrieben  die 
Türken  beinahe  aus  dem  Lande  des  Propheten.  Ihre  Lehre, 
nach  welcher  Mohammed  einen  Anspruch  auf  Verehrung  hat, 
erinnert  an  den  Socinianisinus.  Um  1818  schwand  die  Macht 
dieser  wilden  Reformer  in  Arabien  dahin,  um  jedoch  in  Indien 
wieder  aufzuleben.  Dort  war  ihr  Führer  ein  gewisser  Seid 
Ahmad.  Ursprünglich  ein  gottloser  Soldat  der  räuberischen 
Banden  Emir  Chans,  des  ersten  Nabobs  von  Tonk,  ging  er  1816 
nach  Delhi,  um  dem  Reehtsstudium  obzuliegen,  wobei  seine 
glühende  Einbildungskraft  den  neuen  Gegenstand  gierig  einsog. 
Er  war  oft  in  Betrachtungen  versunken  und  diese  arteten  in 
epileptische  Verzückungen  aus,  welche  ihm  allerlei  Visionen  vor- 
spiegelten. Nach  drei  Jahren  verliefs  er  Delhi  als  ein  neuer 
Prophet,  dem  in  Patna  und  Kalkutta  bewundernde  Massen 
lauschten,  denen  der  von  ihm  verkündete  »göttliche“  Befehl,  die 
Ungläubigen  zu  erschlagen  und  die  Truppen  der  Ausländer  zu 
verjagen,  gar  wohl  gefiel.  1823  scharte  er  auf  dem  Wege  von 
Bombay  nach  Kohilchand  ein  Heer  von  Gläubigen  um  sich  und 
schlug  sein  Hauptquartier  in  den  Bergen  im  Nordosten  von 
Peschaur  auf.  Der  Sektenmittelpunkt  zu  Patna  lieferte  dem  auf- 
ständischen Lager  immer  neue  Fanatiker  und  sammelte  das  er- 
forderliche Geld  unter  den  Anhängern  Sei'ds.  Die  Hauptlehre 
der  Wahabis  richtet  sich  gegen  alle  Andersgläubigen,  namentlich 
aber  gegen  die  Herrschaft  ürofsbritanniens,  welches  sie  für  den 
Hauptunterdrücker  des  Islam  halten.  Die  Regierung  hat  gegen 
diese  Rebellen  mit  Hilfe  afghanischer  Stämme  zwanzig  blutige 
Feldzüge  geführt,  ohne  sie  gänzlich  überwinden  zu  können.  Sie 
bilden  daher  eine  nicht  zu  unterschätzende  Gefahr,  und  es  unter- 
liegt keinem  Zweifel,  dafs  sie  bei  etwaigen  feindlichen  Angriffen 
auf  Indien  den  Engländern  sehr  unangenehm  werden  könnten, 
obgleich  die  große  Mehrheit  der  indischen  Mohammedaner  den 
fanatischen  Wahabis  gleichgültig  oder  antipathisch  gegenübersteht. 


Wiedergeburt,  allgemeine. 

Eine  Vereinigung  von  Patrioten  aus  verschiedenen  Ländern, 
die  zwischen  1815  und  1820  in  der  Schweiz  eine  Zufluchts- 
stätte gefunden  hatten.  Diese  Leute  trugen  sich  mit  weitaus- 
greifenden Plänen,  liefsen  es  aber,  wie  das  bei  Patrioten  vorzu- 
kommen pflegt,  beim  Gerede  bewenden. 


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ANHANG. 

(Nachträge,  Quellenverzeichnis,  Sachregister.) 


33* 


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I.  Nachträge  des  Herausgebers. 

1.  Zum  Kapitel  „Mexikanische  Mysterien“. 

Der  bekannte  deutsche  Okkultist  Leopold  Engel  in  Dresden 
schreibt  mir:  „Als  Quelle  für  die  mexikanischen  Mysterien  möchte 
ich  Ihnen  Prescotts  „Eroberung  von  Mexiko“  empfehlen.  Hecke- 
thorns  Angaben  decken  sich  durchaus  nicht  mit  denen  Prescotts. 
Die  Erzählungen  von  der  Menschenhaut  sind  unrichtig.  Ebenso 
die  Angabe,  dafs  der  Gott  Huitzolipochtli  Vitzliputzli  hiefs;  der 
letztere  Name  ist  lediglich  eine  mittelalterliche  deutsche  Ver- 
stümmelung. Aufserdem  war  H.  der  Gott  des  Krieges  und  der 
Nationalgott  der  Azteken." 

2.  Zu  den  Kapiteln  „Gnostiker"  und  „Ketzer“. 

Seit  kurzem  besteht  zu  Toulouse  (Südfrankreich)  ein  später 
Nachsprofs  der  einstigen  Gnostiker,  „die  gnostische  Kirche  von 
Frankreich",  die  seit  Neujahr  1900  eine  kleine  Monatsschrift, 
„Le  Reveil  des  Albigeois“  (=  „Das  Erwachen  der  Albigenser“) 
herausgiebt,  welche  von  „Sophronius,  Bischof  von  Beziers, 
Koadjutor  Seiner  Gnaden  des  Patriarchen"  redigiert  wird.  In 
Nr.  1 lese  ich  u.  a.: 

„Die  gnostische  Kirche  umfafst  zweierlei  Mitglieder:  Ge- 
nossen und  Vollkommene  Christen.  Die  ersteren  sind  jene,  die 
die  Wassertaufe  empfangen  haben  und  denen  wir  die  esoterische 
Lehre  des  Erlösers  anvertrauen,  d.  h.  die  in  den  synoptischen 
Evangelien  enthaltene,  bestehend  im  Glauben  an  einen  Gott  und 
die  Unsterblichkeit  der  Seele,  ferner  in  der  evangelischen  Moral 
und  in  dem  Willen,  nach  Kräften  beizutragen  zur  Errichtung 
eines  gerechten  Reiches  Gottes  auf  Erden.  Der  gnostischen 
Kirche  können  alle  Spiritualisten  beitreten,  d.  h.  alle,  die  im 
Namen  der  Vernunft  die  landläufigen  Glaubenslehren  - mit 
Ausnahme  des  Glaubens  an  Gott  und  die  Unsterblichkeit  — 
verwerfen.  Demgemäfs  dürfen  sich  uns  auch  die  Freisinnigen 


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51S 


Nachträge. 


unter  den  Protestanten  anschliefsen Dagegen  betrachten 

wir  als  außerhalb  unsrer  Kirche  stehend:  1.  die  Materialisten, 
welche  ja  übrigens  außerhalb  jeder  Kirche  stehen;  2.  die  Israeliten 
und  die  Muselmanen,  die  übrigens,  wenn  sie  wollten,  nicht  viel 
aufzugeben  brauchten,  um  zu  uns  zu  gehören;  3.  die  orthodoxen 
Gräco-Latiner,  die  verfallenden  Stützen  einer  unreinen,  verderbten 
Gnosis.  »Vollkommene  Christen"  nennen  wir  jene,  die  die 
Feuer-  und  Geistestaufe  empfangen  haben;  ihnen  lehren  wir  die 
Gesamtheit  der  erleuchtenden  und  reinigenden  Geheimnisse.  . . . 
Die  gnostische  Religion  beruht  auf  der  allgemeinen  Überlieferung 
und  der  Gesamtheit  der  Beobachtungswissenschaften,  unterscheidet 
sich  daher  wesentlich  vom  sogenannten  rechtgläubigen  Katho- 
lizismus und  Protestantismus,  der  sich  lediglich  auf  die  Bibel 
stützt.  Die  gnostische  Kirche  bekämpft  nicht,  wie  die  römische, 
die  moderne  Kultur.  Auch  kennt  sie  nicht  das  Sakrament  der 
Ehe  und  gestattet  daher  die  Scheidung  innerhalb  der  Grenzen 
der  Landesgesetze.  Sie  anerkennt  die  jeweilige  Regierungsform 
jedes  Volkes;  speziell  in  Frankreich  unterstützt  sie  die  Republik, 
weil  diese  dem  Evangelium  besser  entspricht  als  die  Monarchie.“ 
Patriarch  ist  »Synesius“,  hinter  welchem  Namen  sich  Fahre 
des  Essarts  verbirgt;  er  nennt  sich  »gnostischer  Patriarch,  Primas 
der  Albigenser,  Bischof  von  Montsegur,  Grofsmeister  des  Ordens 
zur  Taube  des  Heiligen  Geistes"  und  hat  ein  Buch  u.  d.  T. 
»Der  gnostische  Baum"  geschrieben.  Eine  zweite  einschlägige 
Schrift,  »Katechismus  der  gncstischen  Kirche",  hat  den  bereits 
erwähnten  »Sophronius"  zum  Verfasser;  ich  entnehme  einer 
Anzeige  desselben,  dafs  die  Neu-Gnostiker  fünf  Sakramente  haben 
und  »die  jüdischen  Schriften  des  Alten  Testaments,  die  Akten 
der  Apostel  und  die  Epistel  des  Neuen  Testaments  verwerfen.“ 


3.  Zum  Kapitel  »Martinismus". 

Der  oben  genannte  Herr  Engel,  der  auch  Herausgeber 
des  Illuminatenorgans  »Das  Wort"  ist,  schreibt  mir:  »Wer  hat 
Herrn  Heckethorn  weisgemacht,  dafs  die  Martinisten  ausgestorben 
seien?  Der  Orden  besteht  noch  immer,  hat  seinen  Sitz  in  Paris 
und  zählt  in  Deutschland  viele  Anhänger,  die  mir  persönlich 
sehr  wohl  bekannt  sind." 


4.  Zum  Kapitel  »Die  Freimaurerei  in  England“. 

In  dem  Londoner  Fachblatt  »The  Freemason«  lese  ich,  dafs 
die  sogenannte  Charte  Ethelstans  apokryph  und  »die  Kölnische 
Handschrift  eine  Fälschung“  sei. 


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Nachträge. 


519 


5.  Zu  »Camorra“  und  »Maffia". 

Anläfslich  der  Aufsehen  erregenden  Affaire  Palizzolo-Mirri 
(Dezember  1899  und  Januar  1900)  brachte  die  europäische 
Presse  zahlreiche  Notizen  und  Artikel  über  die  »Camorra11  und 
die  »Maffia".  Es  handelte  sich  um  Enthüllungen  über  die  1892 
während  einer  Eisenbahnfahrt  erfolgte  Ermordung  des  Bank- 
direktors Notarbartolo.  Sofort  nach  dem  Bekanntwerden  des 
Verbrechens  bezeichnete  die  öffentliche  Meinung  Siciliens  einen 
gewissen  Palizzolo  als  den  Anstifter  und  Besteller  der  Missethat. 
Auch  mehrere  Polizeiberichte  lauteten  in  gleichem  Sinne.  Trotz- 
dem blieb  der  Genannte  nicht  nur  ganz  unbehelligt,  sondern 
wurde  auch  zum  Zeichen  des  Vertrauens  seiner  Mitbürger  wieder- 
holt in  den  Gemeinderat  und  das  Abgeordnetenhaus  gewählt. 
Erst  volle  sieben  Jahre  später  gelang  es  den  eifrigen  Bemühungen 
des  Sohnes  Notarbartolos,  die  Wahrheit  an  den  Tag  zu  bringen; 
mehrere  Verwaltungs-  und  Gerichtsbeamte  hatten  den  Mut,  dem 
jungen  Mann  bei  der  Aufdeckung  des  aus  Rachsucht  hervor- 
gegangenen Verbrechens  mit  ihren  Aussagen  an  die  Hand  zu 
gehen.  Im  Zusammenhang  hiermit  seien  einige  interessante 
Stellen  aus  einer  römischen  Korrespondenz  vom  25.  Dezember 
1899  angeführt,  die  wir  im  »Pester  Lloyd"  lesen: 

»Die  Ursachen  der  fast  unglaublichen  Vorfälle  sind  in  ab- 
normen lokalen  Umständen  zu  suchen.  Es  wäre  eine  zu  lang- 
wierige Aufgabe,  diesen  Verhältnissen  auf  den  Grund  zu  gehen. 
Hier  sei  deshalb  nur  erwähnt,  dafs  die  Folgen  der  Jahrhunderte 
langen  Fremdherrschaft,  sowie  die  Verhältnisse  des  territorialen 
Grundbesitzes  (Latifundien)  wesentlich  zu  diesen  Mifsständen  bei- 
getragen haben.  Doch  sind  dies  eben,  wie  gesagt,  lokale  Er- 
scheinungen und  man  kann  sie  gerechterweise  nicht  generalisieren. 
Weder  kann  man  von  »Maffia“  und  »Camorra"  als  von  zwei 
mit  einander  zusammenhängenden  Erscheinungen  sprechen,  noch 
kann  behauptet  werden,  dafs  ihr  Einflufs  sich  auf  ganz  Italien 
erstrecke.  Das  ist,  Gott  sei  Dank,  durchaus  nicht  der  Fall. 
»Maffia“  und  »Camorra“  sind  zwar  beide  sehr  bedauerliche  und 
verdammenswerte  Einrichtungen,  die  mit  allen  Mitteln  zu  be- 
kämpfen sind ; sie  weisen  auch  den  gemeinsamen  Zug  auf,  dafs 
ihre  Mitglieder  sich  gegenseitig  schützen  und  bei  ihren  Mit- 
bürgern Angst  und  Schrecken  erwecken.  Damit  aber  hört  auch 
jede  Ähnlichkeit  zwischen  beiden  auf,  denn  in  betreff  ihres  Sitzes, 
ihres  Wirkungskreises  und  ihrer  Zwecke  sind  »Maffia“  und 
»Camorra"  von  einander  grundsätzlich  verschieden.  Nur  dem 
Umstande,  dafs  das  Gebiet  von  Neapel  und  die  Insel  Sicilien 
eine  Zeit  lang  zusammen  das  Königreich  der  »Due  Sicilie" 
bildeten,  ist  es  zuzuschreiben,  dafs  man  zwischen  beiden  gewöhn- 


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520 


Nachträge. 


lieh  keinen  oder  einen  kaum  merklichen  Unterschied  macht  In 
Wirklichkeit  aber  sind  der  kontinentale  und  der  insulare  Teil 
Süditaliens  in  ihrem  Wesen  und  in  der  Natur  ihrer  Bevölkerung 
gründlich  verschieden.  Dies  spiegelt  sich  auch  in  den  sozialen 
Krankheiten  wieder,  welche  an  den  beiden  von  der  Natur  so 
reich  gesegneten  Gegenden  seit  langer  Zeit  haften.  Die  »Ca- 
morra" hat  ihren  Sitz  ausschliefslich  in  der  Grofsstadt  Neapel 
und  deren  nächster  Umgebung.  Sie  besteht  allerdings  aus  Geheini- 
bünden  mehr  oder  minder  gefährlicher  Verbrecher;  aber  infolge 
des  heiteren  Charakters  der  Bevölkerung  zeigt  sie  eine  weniger 
düstere,  in  manchen  Fällen  möchte  ich  sagen,  beinahe  eine  ge- 
mütliche Schattierung.  Der  Camorrist  ist  ein  Dieb,  ein  Gauner, 
doch  nur  im  äufsersten  Falle  wird  er  zum  Mörder.  Die  »Maffia" 
dagegen  ist  eine  rein  sicilianische  Erscheinung,  deren  Macht  sich 
übrigens  nicht  einmal  über  ganz  Sieilien  erstreckt.  Die  drei 
östlichen  Provinzen  (Messina,  Catania,  Siracusa)  sind  frei  von 
ihr:  ihre  Rolle  gelangt  hauptsächlich  in  Palermo  und  in  den 
nahen  Bezirken  zur  Geltung,  ln  den  Adern  der  dortigen  Be- 
völkerung fliefst  bekanntlich  jetzt  noch  viel  morgenländisches 
(sarazenisches)  Blut,  und  das  erklärt  zur  Genüge,  dafs,  neben 
manchem  eigentümlich  edlen  Zuge,  die  »Maffia"  ein  so  schauer- 
liches Gepräge  trägt.  Der  »Maffioso“  scheut  sich,  wie  die  jetzt 
besprochene  Affaire  neuerlich  bewiesen  hat,  nicht,  seinen  Feind 
auf  kurzem  Wege  kalt  zu  stellen,  und  darin  wird  er  durch  die 
Furcht  seiner  Mitbürger  leider  nur  zu  oft  unterstützt.  Aber  im 
ganzen  übrigen  Königreich  Italien,  nördlich  und  östlich  von 
Neapel,  ist  von  »Maffia"  und  »Camorra"  keine  Spur.  Auch  mit 
der  Anarchistenbewegung,  welche  ja,  wie  jedermann  weifs,  keine 
italienische,  sondern  eine  internationale  ist,  haben  jene  Ein- 
richtungen nichts  Gemeinsames  und  sie  sind  eben  so  wenig  mit 
den  vorjährigen  bedauerlichen  Unruhen  in  Italien  in  irgend- 
welchen Zusammenhang  zu  bringen.  Die  letzteren  wurden  in 
vereinzelten  Gegenden  der  Halbinsel  durch  das  offenbare  Elend 
der  Bevölkerung,  in  Mailand  aber,  nebenbei  gesagt,  eine  der 
blühendsten  Städte  Europas,  durch  sozialistisch-republikanische, 
auch  wohl  klerikale  Umtriebe  verursacht.  Der  Wiederholung 
solcher  Vorfälle  vorzubeugen,  hatte  das  Ministerium  Pelloux 
eine  Reihe  von  gesetzgeberischen  Bestimmungen  in  Vorschlag 
gebracht,  welche  aber  mit  der  kürzlich  durch  die  italienische 
Kammer  votierten,  gegen  die  »Maffia“  und  »Camorra“  gerichteten 
Motion  nichts  zu  thun  haben.  Die  ersten  Maßnahmen  sind  von 
der  Kammer  zwar  nicht  verweigert  worden,  sind  jedoch  infolge 
der  Obstruktion  der  äußersten  Linken  leider  nicht  zur  Ab- 
stimmung gelangt.  Das  ist  gewifs  sehr  bedauerlich;  dafs  aber 
damit  das  römische  Parlament  »sich  selber  zum  Verbündeten  der 


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Nachträge. 


S2I 


«Maffia»  und  der  «Camorra»  machte",  erscheint  mir  als  eine 
mindestens  gewagte  Behauptung.  Wie  so  manche  andere  in 
Europa,  hat  vielleicht  auch  die  italienische  Volksvertretung  ver- 
schiedene berechtigte  Vorwürfe  verdient  — diesen  Vorwurf  aber 
gewifs  nicht." 

Teilweise  im  Widerspruch  mit  diesen  Ausführungen  und 
auch  mit  denen  Heckethorns  stehen  die  folgenden,  denen  wir  in 
einer  Januar-Nr.  von  »Am  Deutschen  Herd“  (1900)  begegnen: 

»Sicilianische  Schriftsteller  haben  in  diesen  Tagen  darauf  hin- 
gewiesen, dafs  die  Maffia  ein  Verbrecherbund  sei,  welcher  die 
Tugend  der  „omertä"  oder  Mannhaftigkeit  zur  Geltung  bringen 
solle.  Auf  diese  Tugend  legt  der  durch  seine  Raufboldnatur 
bekannte  messergewandte  Italiener  einen  grofsen  Wert.  »Haupt- 
sächlich aber,“  schreibt  Dr.  Zacher  aus  Rom,  »äufsert  sich  die 
»omertä"  in  der  Selbstsicherheit,  die  zur  Sühnung  eines  Unrechts 
keiner  Polizei  bedarf,  und  im  Schweigen,  damit  nicht  die  Polizei 
sich  einmische  und  so  die  Privatrache  unmöglich  mache.“ 

Später  erfand  man  für  die  Personen,  deren  ganzes  Gehaben 
zeigte,  dafs  sie  omertä  besäfsen  und  übten,  den  Ausdruck 
maffioso,  aus  dem  das  Hauptwort  maffia  abgeleitet  wurde,  das 
zuerst  die  Zahl  derer  bezeichnete,  die  an  einem  Orte  die  Grund- 
sätze der  omertä  bekannten.  Dann  erst  nannte  man  so  den 
Geheimbund,  der  das  sicilianische  Leben  vergiftet,  obschon 
Kenner  der  Verhältnisse  versichern,  dafs  es  sich  um  einen 
Geheimbund  eigentlich  nicht  handle,  da  die  Maffia  keine  Statuten 
oder  Hierarchie  besitzt.  Diesem  Mangel  hilft  aber  das  starke 
Solidaritätsgefühl  aller  maffiosi  ab,  und  so  kann  es  sich  wohl 
ereignen,  dafs  sich  zu  bestimmten  Zwecken  ein  Hauptgauner 
der  Maffia  bedient,  so  dafs  es  den  Anschein  hat,  als  handle  eine 
geschlossene  Gesellschaft.  Praktisch  entwickeln  sich  auch  Grad- 
unterschiede, je  nach  der  Gröfse  der  omertä,  die  einem  maffioso 
eignet.  Das  geht  auch  daraus  hervor,  dafs  die  Novizen,  die 
eintreten  wollen,  in  einem  »dichiaramento“,  einem  Messer- 
zweikampf, ihren  Mut,  das  Haupterfordernis  zur  omertä,  be- 
weisen müssen. 

Aufser  dem  Solidaritätsgefühl  und  der  Verpflichtung  zur 
gegenseitigen  Hilfe  bindet  die  einzelnen  maffiosi  auch  — die 
Furcht.  Freilich,  man  hatte  ja  seine  Exempel.  So  sitzt  ein 
Bauer  friedlich  vor  der  Thür  seines  Hauses,  hinter  der  nahen 
Gartenmauer  blitzt  plötzlich  ein  Gewehrlauf,  ein  Schufs,  dessen 
Knall  schnell  verweht,  und  alles  ist  wieder  still.  Und  kein 
Schwurgericht  befafst  sich  mit  dem  Mörder.  Jede  Woche  fast 
berichtet  die  sicilianische  Presse  von  solchen  Exekutionen,  auch 
in  der  letzten  Woche  noch.  Und  da  sollen  sich  die  Sicilianer 
nicht  vor  der  Maffia  fürchten!  In  dem  Prozefs  Notarbartolo 


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522 


Nachträge. 


erleben  wir  es  täglich,  dafs  es  dem  Präsidenten  des  Mailänder 
Schwurgerichtes  nicht  gelingt,  einen  Zeugen  zum  Reden  zu  bringen. 

In  Palermo  blüht  die  Maffia  am  üppigsten,  hier  hat  sie 
nicht  blofs  die  Aufgabe,  die  omertä  zu  üben,  sondern  einigen 
hohen  Herrn  als  Hilfe  bei  ihren  „geschäftlichen“  Expeditionen 
zu  dienen.  In  den  letzten  Jahren  hörte  man  so  oft  von  Ent- 
führungen reicher  Leute  — alle  diese  Raubexpeditionen  wurden 
von  hochstehenden  Personen  in  einem  der  ersten  Klubs  Palermos 
angeordnet. 

An  anderer  Stelle  wurde  schon  berichtet,  wie  der  Deputierte 
für  Palermo  II,  Palizzolo,  als  Haupt  der  Maffia  bezeichnet  wurde. 
Wie  grofs  seine  Macht  ist  und  war,  hat  gleichfalls  der  Mailänder 
Prozefs  ergeben.  So  schaltete  Palizzolo  nach  der  Ermordung 
des  Exdirektors  der  Bank  von  Sicilien,  Notarbartolo,  in  der  Bank 
unumschränkt,  und  als  er  gröfsere  Unterschleife  beging  und  die 
Bankbeamten  ihn  deshalb  bei  dem  Direktor  Herzog  de  la  Ver- 
dura  denunzierten,  zuckte  dieser  nur  die  Achseln.  Und  der 
Herzog  de  la  Verdura  ist  Senator  des  Königreichs!  Die  Macht 
der  Maffia  und  ihres  Häuptlings  Palizzolo  ist  deshalb  so  grofs, 
weil  sie  im  Parlament  grofsen  Einflufs  haben.  Palizzolo  und 
alle  seine  Vorgänger  waren  nämlich  stets  ministerielle  Abgeordnete. 
So  erklärt  es  sich,  dafs  nach  1893,  dem  Jahre,  in  welchem 
Notarbartolo  ermordet  wurde,  in  Palermo  fünf  Staatsanwälte 
einander  folgten. 

Von  Palizzolo  erzählte  dieser  Tage  der  Abgeordnete  de 
Eelice  in  den  Wandelgängen  der  Kammer,  dafs  er  einst  mit  dem 
gefürchtetsten  Briganten  Siciliens,  Leone,  zusammen  in  seiner 
Theaterloge  in  Palermo  erschien.  Obgleich  auf  die  Ergreifung 
des  Briganten  ein  hohes  Lösegeld  stand,  wagte  kein  Polizist,  den 
durch  den  mächtigen  Palizzolo  geschützten  Mann  zu  fassen.» 

Der  soeben  genannte  berühmte  Abgeordnete  und  Schrift- 
steller de  Eelice  hielt  im  Dezember  1899  eine  Budgetrede,  über 
die  wir  in  der  Eranke-Wortmannschen  Halbmonatsschrift  „Neues 
Leben“  die  nachstehenden,  sehr  interessanten  Mitteilungen  finden: 

„Der  Redner  wurde  zum  furchtbaren  Ankläger  der  Polizei, 
die  er  als  Mitschuldige,  ja  Beschützerin  der  Maffia  hinstellte.  Er 
teilte  die  Maffia  in  verschiedene  Schichten  ein.  Die  erste  ist  die 
Maffia  des  niederen  Volkes,  die  zweite  die  Polizei  und  die  dritte 
die  Maffia  in  gelben  Glacehandschuhen.  Die  sicilianischen 
Bauern,  so  fuhr  er  fort,  sind  von  Natur  nicht  verbrecherisch, 
aber  durch  die  Maffia  werden  sie  zu  Verbrechern,  um  sich  selbst 
zu  schützen;  denn  jeder,  der  nicht  zur  Maffia  gehört,  wird  von 
dieser  verfolgt.  Der  sicilianische  Aufstand  im  Jahre  1 894  war 
ja  auch  nur  eine  Revolte  der  Bauern  gegen  die  Maffia  und 
deren  Leiter,  und  die  „fasci",  die  von  der  Regierung  als  auf- 


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Nachträge. 


523 


rührerische  Verbindungen  bekämpft  wurden,  nichts  anderes,  als 
eine  Art  von  Schutzvereinigungen  gegen  die  Maffia.  Ministerpräsident 
Giolitti  mufste  selbst  zugeben,  dafs  sich  nach  der  Entstehung 
der  »sozialistischen0  Fasci  die  Zahl  der  Diebstähle  in  Sicilien 
gemindert  habe. 

Als  Beispiel  für  die  Schreckensherrschaft  der  Maffia  führte 
de  Felice  an,  dafs  jeder  Bauer,  der  noch  nicht  »maffioso“  sei, 
eine  unsichere  Existenz  führe;  von  dem  Augenblicke  aber,  wo 
er  nach  einigen  Verbrechen  würdig  befunden  werde,  zur  Maffia 
zu  gehören,  finde  er  sofort  eine  Anstellung  als  »eampiere"  mit 
fixem  Gehalt.  Dann  berührte  de  Felice  die  auch  schon  früher 
bekannte  Thatsache,  dafs  im  Maffiagebict  die  Opfer  von  Dieb- 
stählen sich  nie  an  die  Polizei  wenden,  weil  das  doch  nutzlos 
sei,  sondern  immer  an  die  Maffia  selbst.  Ein  Staatsanwalt  in 
Catania,  der  angegangen  wurde,  den  Urheber  eines  Diebstahls 
von  600000  Lire  auf  Kosten  der  Ban  ca  dei  depositi  e sconti  zu 
verfolgen,  sagte:  »Ich  kenne  den  Mann,  aber  ich  müfste  ihn 
ohne  Haftbefehl  fangen;  denn  wenn  ich  zuerst  den  Haftbefehl 
erlasse,  liefse  die  Polizei  den  Schuldigen  entwischen."  Aber 
de  Felice  ging  noch  weiter;  er  fuhr  fort:  »Der  Diebstahl  im 
Bureau  des  Appellhofs  von  Palermo,  der  Einbruch  bei  der 
Herzogin  von  Beauffremont,  der  andere  im  Palazzo  Lanza  und 
die  Plünderung  des  Leihhauses  in  Palermo  wurden  von  der 
Polizei  organisiert,  welche  den  Gewinn  mit  der  Maffia  teilte!“ 

Ein  anderer  Fall:  In  Catania  erschofs  jemand  einen  andern 
und  stellte  sich  dann  den  Carabinieri  mit  folgendem  Geständnis: 
»Der  Mann,  den  ich  mordete,  war  ein  Haupt  der  Maffia;  neben 
ihm  kommandierte  ein  Polizeiinspektor,  der  mit  ihm  Halbpart 
machte.  Ich  wollte  mir  die  Belästigungen  der  Beiden  nicht 
gefallen  lassen;  zur  Strafe  dafür  verurteilte  mich  heute  das 
Gericht  zur  Polizeiaufsicht.  Da  verlor  ich  die  Geduld;  vom 
Gericht  ging  ich  zum  Waffenhändler  und  dann  schofs  ich  den 
Delinquenten  nieder.  Wenn  ihr  mir  nicht  glauben  wollt,  so 
geht  in  das  Haus  des  Toten  und  ihr  findet  die  Beweise!" 
Und  thatsächlich  wurde  die  Verbindung  zwischen  Polizei  und 
Maffia  festgestellt.  Ebenso  wurde  sie  festgestellt  in  dem  be- 
kannten Falle,  wo  falsche  Banknoten  in  Masse  hergestellt  wurden, 
und  das  Schönste  ist,  dafs  mit  der  Untersuchung  des  Falles  der 
Polizeiinspektor  betraut  wurde,  der  in  diesem  falschen  Banknoten- 
Syndikate  präsidierte.  (!!!) 

Des  weiteren  erklärte  de  Felice,  dafs  die  Maffia  die  poli- 
tischen Wahlen  in  Sicilien  mache  und  deshalb  jeder  Richter,  der 
gegen  die  Geheimbrüder  vorgehe,  sofort  strafversetzt  würde. 
So  erkläre  er  es  sich  auch,  dafs  Palizzolo  bei  jeder  einzelnen  Wahl 
sich  nicht  die  Mühe  zu  nehmen  brauchte,  ein  Wahlkomitee  zu 


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524 


Nachträge. 


bilden,  denn  er  verfüge  ja  über  das  ständige  Komitee  der  Maffia. 
Nachdem  de  Felice  dann  noch  an  das  Verschwinden  der  be- 
kannten vier  abtrünnigen  »maffiosi“  erinnert  hatte,  deren  Leichen 
1897  in  einer  Tropfsteinhöhle  bei  Palermo  gefunden  wurden, 
wies  er  mit  Nachdruck  auf  die  Thatsache  hin,  dafs  der  mut- 
mafsliche  Mörder  Notarbartolos,  Fontana,  weder  von  der  Polizei 
vigiliert,  noch  überhaupt  verfolgt  wurde;  man  habe  ihn  sogar 
entwischen  lassen.  Schliefslich  erzählte  er,  dafs  die  Regierung 
in  einem  Wahlkreise  der  Provinz  Catania  die  dort  nicht  mehr 
bekannte  Maffia  von  neuem  einführte,  um  ihrem  Kandidaten  zu 
helfen.  Es  wurden  nicht  nur  Verbrecher  aus  der  Zwangshaft 
oder  der  Polizeiaufsicht  entlassen,  sondern  man  schickte  auch 
besonders  tüchtige  »maffiosi“  mit  Waffen  und  Geld  in  das  beste 
Wirtshaus  des  Hauptortes  im  Wahlkreise,  wo  sie  sichs  auf  fremde 
Kosten  wohl  sein  liefsen,  weil  »ein  Unterstaatssekretär  ihre  Hilfe 
nötig  hatte.“ 


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II.  Quellen -Verzeichnis. 


Allgemeines. 

Castro,  G.  de.  II  Mondo  Segreto.  9 Bände.  Milano,  1864. 

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Marras,  A.  P.  Secret  Fraternities  of  the  Middle  Ages.  London,  1865. 
Ordens-Verbindungen.  Das  Ganze  aller  Geheimen  Ordensverbindungen. 
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Apuleius.  Les  Metamorphoses , ou  l’äne  d’or.  Traduites  en  Fran^ais 
par  Victor  Betoland.  Paris,  1873. 

Bacchus  Elucidated;  or,  The  Gospel  according  to  the  Fleathen.  London, 

1864. 

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Beal,  S.  A Catena  of  Buddhist  Scriptures,  from  the  Chinese.  London, 
1871. 

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London  1807. 

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Persia. 

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Kohl  rausch.  Deutsche  Geschichte. 

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Troos.  Sammlung  merkwürdiger  Urkunden  für  die  Geschichte  des 
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1795.  (Anonym;  aber  man  weifs,  dafs  der  Verfasser  der  Qiefsener 
Gerichtsdirektor  v.  Grolmann  war,  der  zu  den  Ordensmitgliedern 
gehörte.) 

Nachtrag  von  Weitern  Originalschriften,  die  llluminatensekte  betreffend. 
München,  17S7. 

Anhang  zu  den  Originalschriftcn  des  Illuminatenordens.  Frankfurt  und 
Leipzig,  1787. 

In  Verite  sur  les  Societes  secretes  en  Allemagne.  Paris,  1S19. 

Drei  Aussagen  über  die  innere  Einrichtung  des  Illuminatenordens.  1786. 
Erste  Warnung.  Schreiben  an  Utschneider.  I7S6. 

Grofse  Absichten  des  Ordens  der  Illuminaten.  München,  1786. 
Weishaupt,  A.  Das  verbesserte  System  der  Illuminaten.  Frankfurt,  1787. 
Das  Geheimnis  der  Bosheit  des  Stifters  des  llluminatismus.  München, 
17S7. 

System  und  Folgen  des  Illuminatenordens.  München,  1787. 

Der  Tempel  des  Vorurteils,  oder  Erholungsstunden  eines  Illuminaten. 
1794. 

Eine  Rede  über  den  Illuminatenorden.  Regensburg,  1799. 

Über  den  Illuminatenorden.  1799. 

Manifest  der  unbekannten  Ordens-Obern.  1793. 


Inquisition. 

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Beggi,  F.  H.  Criminal  History  of  the  Popes.  London,  1S64. 

Fereal,  M.  V.  de.  Mysteres  de  lTnquisition  et  d'Autres  Societes  Se- 
cretes d’Espagne,  ornes  de  200  dessins.  Paris,  1846. 

Mistcri  dell’  Inquisizione.  Parigi,  1847. 

Platina,  B.  The  Lives  of  the  Popes.  Translated  by  P.  Rycaut.  Folio. 
London,  16S5. 

Bonni,  F.  L’Inquisizione  e i Calabro-Valdesi.  Milano,  1864. 
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III.  Alphabetisches  Sachregister. 


A. 

ABC-Freunde  (Frankreich)  . . Hl 

Abeliten  (Afrika) Hl 

Aecoltellatori  (Italien)  . . . 477 

Adamiten  ■. 111 

Adler-  und  Pelikanritter  . . 4 IQ 

Adoptionslogen 449 

Ägyptischer  Bund,  geheimer  . All 
„ Logen  (Cagliostro)  liL> 
„ Mysterien  ...  13 

Afrikanische  Bauherren  . . . 433 
Akademie  der  Alten  (Polen)  . US 
Albigenser  7S,  114. 120, 128:  Nach  trag 

Alchimisten 132 

Allgemeine  Aurora  . . . . 1 Tu 
„ Brüderschaft  . . .313 

„ Wiedergeburt  (Frank- 
reich   3ü3 

Allgemeine  Wiedergeburt 

(Schweiz) 314 

Allschlaraffia  (Utopia)  . . - 313 
Almusseri  (Afrika)  . ...  4IS 
Alombrados  (Spanien)  . . . 241 
Alte  Mysterien  4 12  pass.,  12  — 05 

Alter  Orden  der  Hibernier  . 334 
„ Refonnirter  Ritus  . . . 328 
„ (und  angenommener) 

Schotten  ritus  398, 42  s,  430,437 
Amerikanische  Jäger  (Italien)  . 313 
Ammazzatori  (Totschläger)  . . 3o3 

Ams 1Ü2 

Anarchisten 479 

Anhänger  der  Weisheit  . . . 509 

Ansairih 109 

Antifreimaurer  (Irland)  . . . 4SI 
Antifreimaurcrische  Partei 

(Amerika) 1SD 

AntinapoleoniscneGesellschaften  iül 

Antitakten SO 

Apokalypse  ....  so,  90,  111 


Apokalypsenritter  (Italien)  . . 1SJ 
Arbeitsritter  (Amerika)  . . . 481 
Archenseefahrer  (England)  . . 433 
Areoiten  (Gesellschaftsinseln)  4S2 

Argonauten-Orden(  Deutschland  1 4 5S 
Armenische  Gesellschaften  . 333 

Asiatische  Brüder 1 S2 

Assassinen  . . . . 98.  42b,  328 

Aulen 121 

Aurora,  allgemeine  . . . . 170 

Ausdauer-Orden  (Frankreich)  132 

Ausrotter  (Italien) 324 

Avignoner  Illuminaten  . . . 108 

B. 

Babismus  (Babisten)  . . . 312 

Bacchische  Mysterien  ...  12 

Bandmänner  (Irland)  . . . 331 

Bauchbinder 433 

Bauhof  der  Weltkugel  und  des 

Ruhmes  (Frankreich)  . 432 
Beati  Paoli  (Italien)  . . . . 137 

Belly  Paaro  (Afrika)  ....  133 

Bergmänner  (Frankreich)  . . 362 
Beschützer  des  Glaubens 

(Spanien)  . . . 278,  2SÜ 
Bettler,  Strolche,  Diebe  . . . 221 
Bezirk  der  goldnen  Orchidee 

(Giina) 212 

Bidani-Derwische  . . . .110 
Blaukreuz-Orden  (Österreich)  113 

Bockreiter  (Deutschland)  . . 4S4 

Boehme,  Jakob 1 hl 

Bogumilen 112 

Bojarenbund  (Rufsland)  . . 333 

Brahminen 22 

Brenner  (Chauffeurs) ....  126 
Bruderhand  (Mano  fraterna)  . 212 


Brüderschaft  Christi  (Österreich)  113 
Burschenschaft(Deutschland)  311,466 


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Alphabetisches  Sachregister. 


537 


C. 

Calderari  (Italien)  . . . 304.  345 
Cambridger  Geheimgesellschaft 

(England) 434 

Camorra  207,  2 io,  217:  Nachtrag 
Caravats  (Irland)  . ....  3 3 I 
Carbonari  . . 291.  339,  385,  4M 
Chartisten  (Portugal)  . . . äfll 
Chauffeurs  (Frankreich)  . . 196 
Chinesische  Geheimbünde  271.  466 
„ Mysterien.  . . . il 
Christi  Brüderschaft  (Österreich)  113 
Christliche  Mysterien  . .87—92 

Circumcellier  114 

Clan,  s.  Klan. 

Clermontsches  Hochkapital  430,  431 
Communistes  Revolutionnaires 

(Frankreich)  ....  309 


Compagnonnage,  s.  Französische 
Gesellenverbindungen 
Comuneros  (Spanien)  . 278,  344 
Concepcionistas  (Spanien)  . . 278 


Cougourde  (Frankreich)  . . 4s4 

D. 

Damen  vom  heiligen  Johannes 

zu  Jerusalem  . . . . 4 41 

Decisi  (Italien) Hfl 

Delphische  Priesterschaft 

(Italien)  ....  344,  345 
Derwische  .......  ilfl 


Deutsche  Geheimgesellschaften 
U.  dgl.  120,  133-137, 
137-188  pass.,  235-237. 

241  -250,  258—268.  308 
—312;  Freimaurerei  pass.; 

4S9,  495,  505-506,  509.  414 
Deutsche  Gesellen  verbind  urigen  253 


Deutscher  Bund 311 

„ Ritterorden  . . 120 

Deutsche  Studenten  ....  266 

„ Union 2ifl 

Diebe,  Bettler,  Strolche  . . 221 
Dionysische  Mysterien  ...  442 

Donatisten 114 

Dreieinigkeitsverein  (China)  . 222 

Dreizehn,  die 484 

Drescher  (Irland) 354 

Druiden 32 

„ moderne 421 

Drusen 125 

Dschains 35 

Duk-Duk  (Neupommern)  . . 4M 
E. 

Egbo-Gesellschaft  lObeah)  . 456 
Eichenbursche  (Irland)  . . . 341 


Einleitung  (Allgemeines  über 
Mysterien,  Geheimgesell- 
senaften,  Geheimlehren)  1 
Einunddreifsig,  die  (Italien)  . 364 
Eklektischer  Bund  . 39S,  462,  468 
Eleusinische  Mysterien  ...  43 

Emanationisten  . . . .69—83 

Engelsbrüder 165 

Enkrafiten Ilfl 

Erhabene  Erwählte  Ritter  . . 4ifl 

Erleuchtete  Theosophen  . . 169 

Erlösungsorden  (Frankreich)  . 436 
Esoterische  und  exoterische  Ge- 
heimlehren . . 35.  5o.  59 

Essener  (Essaer) 31 

Europäische  Patrioten  (Italien)  34A 

F. 

Farmassoni  (Rufsland)  . . . 4il 
Familie  der  Himmelskönigin 

(China) '211 

Familien,  die  (Frankreich)  . . 36S 
Feme  (Fehme,  Vehme),  heilige 

(Deutschland)  . . . 135 

Fenier  (Fenischer  Bund)  . . 355 
FenischeSchwesternverbindung  355 

Fesslerscher  Ritus 323 

Flammender  Stern  (Orden)  . 436 
Frankreich,  das  wiedergeborene  432 


FranzösischeGeheimbündelüü  - 200. 
365-  369.  479,48,8,493, 

503;  Freimaurerei  pass. 
Französische  Gesellenverbin- 
dungen   251 

Französischer(„moderner")  Ritus  328 

Fraticelü  (Italien) 436 

Freie  Gesellen,  s.  Sonderbare 
Gesellen. 

Frei  maurerei  80, 2SQ.308.3 1 7,344,379, 
387  -474  475,  482,  490. 

515;  Nachtrag 

Freiwillige  Ritter 121 

Freunde  der  Pflicht  (Italien)  . 345 

„ Gottes  (Schweiz)  . - 117 

„ Griechenlands  (Italien)  547 

„ vereinigte  (Frankreich)  169 

Freundschaftsorden  (Deutsch- 
land;   368 

Friedlichen,  die  (Italien)  . . 342 
Fünf,  die  (Italien)  . . , . 347 

G. 

Garduna  (Spanien)  . . .201.  422 
Geheimer  ägyptischer  Bund  . 444 
Geheimgerichte  133-  153;  siehe 
auch  Belly  Paaro,  Duk- 
Duk,  Kalifornische  Gc- 


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538 


Alphabetisches  Sachregister. 


Seilschaften, Purrah,Vendi- 
catori. 

Gelbmützen  (China)  . . . . .'7 1 
Geniatrie,  s.  Kabbala. 

Genossen  des  heiligen  Johannes  4su 
Georg, Söh  ne  des  hei  I igen  (Irland)  354 
Oesellenverbindungen  . 251  -268 
Gesellschaftsfeindliche  Vereini- 
gungen 1 82  - 232 ; s.  auch 
Assassinen  u.  Derwische. 
Ghi-hin-Bund  (China)  . . . 223 

Ghulat-Sekte 23 

Giardiniere  (Gärtnerinnen)  . 3118 
01ückseligkeitsorden(Frankreich)452 
Gnostiker  (Gnostizismus)  78,14  7,128; 

Nachtrag. 

Goldene  Lilie  (China)  . . . 277 
Gormogonen  (Gormonen) . . 458 
Gottes  Freunde  (Schweiz)  . . 112 
Grabgespenster  (Frankreich)  . 3QQ 
Griechische  Geheimbünde  28J  -291 
„ Mysterien  . . . 46 

Grofsbaumeister 414 

Grofse  Armee  der  Republik 

(Amerika) 182 

Grüne  Insel  (Österreich)  . . 482 
Guerinets  (Frankreich)  . . .241 

Gute  Vettern,  s.  Carbonari. 

Gy m nosophisten  (Nackte  W eise)  22 

H. 

Hadcridscheh-Derwische  . . 110 
Halle  des  blauen  Lotus  (China)  222 
Hamburger  System,  s.  Schröder- 
sches  System. 

Handelnde  Gesellschaft  (Frank- 
reich)   362 

Hanfraucher  (Afrika)  . . . 482 

Harmonieorden  (Deutschland)  435 
Harngari  (Amerika)  ....  48S 
Heiligen  Glaubens,  Gesellschaft 
des  (Italien),  s.  Sanfedisten. 
Heldin  von  Jericho  ....  48S 
Helfende  Brüder,  s.  Sonderbare 
Gesellen. 

Hemdlose  (Frankreich)  . . . 366 

Hermetische  Gesellschaft  . i on 

Hermetischer  Ritus  . . . 169 

Hetairia  (Griechenland)  . . 281 
„ Philomuse  (Griechen- 
land)   281 

Hibernier,  Alter  Orden  der  . 334 
Höllische  Gesellschaft  (Italien)  3o5 
Hungbund,grofser(China)272-226 
Huseanawer  (Amerika)  . . . 482 


L 

Iberische  Brüderschaft  . . . 45b 

Ibrahim-Derwische  . . . . 111! 

Illuminaten  (Avignon)  . . . los 

„ (Bayern)  . 241,  4oü 

„ (Belgien)  . . . 241 

„ (Frankreich)  . . 248 

„ napoleonfreundliche364 
„ (Rächer  des  Volkes l 304 

Indianische  Gesellschaften  4S9,  482 

Inquisition 1411 

Internationale  ....  370,  422 
Irische  Geheimbünde  350  - 3oi,  481 
„ Republikanische  Brüder- 
schaft,  s.  Fenier. 

„ Unüberwindliche  . . 332 
Irokesische  Mysterien  . . . 490 
Ischmacliten  . . . S5  — 1 10.  121 
Italienische  Freimaurerei  . . 441 
„ Gesellschaftenl37  ■- 

139,207  220,291  -30S. 

338  -350.  364  - 365,  477, 

481,  486,  509 - 51  1,  513; 
Nachtrag. 

Italienische  Litteraten  . . . 332 
„ Unabhängigkeit  . 364 
„ Verbündete  (Plato- 

nica) 364 

Italienische  Verschwörung  der 

Söhne  des  Todes  . . 365 

J- 

Jäger,  die  (Amerika)  ....  421 
„ amerikanische  (Italien)  343 
ahreszeiten,  die  (Frankreich)  368 

' akobiterinnen 431 

’ ammabos 33 

japanische  Mysterien  ...  53 

elmgesellschäft  (Frankreich)  . 421 
Jesuiten  u.Jesuitenkongregationen223 
' ohanniter  . . . 120,  121,  128 

\ ohanniterinnen 451 

Junges  Deutschland  ....  3112 


„ Italien  ....  346,  466 

„ Polen 3S6 

Jungtürken 384,  386 

Jurassischer  Arbeiterbund  . . 123 

K. 

Kabbala 62 

Kabirischc  Mysterien  ...  42 

Kaderidsche-Derwische  . . . 110 
Kadoschritter 416 


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Alphabetisches  Sachregister. 


539 


Kainianer,  Kainiten  . . . . 119 

Kairo,  Loge  von 42h 

Kaiser  vom  Morgen-  u.  Abend- 
land, Konzil  der . . . 459 
Kaiserliche  Adoptionsloge  der 

freien  Ritter  . . 450,  459 
Kalifornische  Gesellschaft  . . 492 

Karpokratier 492 

Katnarer  ....  1 Io,  12S,  14J 
Kelle,  die  (Italien)  . . . . 441 
Kettengesellschaft  (Dänemark)  452 

Ketzer 113-120 

Klan-na-gael 599 

Kleeblätterorden  (Frankreich)  455 
Klerikat  der  Tempelherren  39S,  424 
Klöbbergöll  (Mikronesien)  . . 422 
Knownothings  (Amerika)  . . 495 
Königin  von  Preufsen,  Ritter 

der 510,  514 

Königsanhängcr  (Spanien)  . . 22S 
Ko-lao-Hui-Gesellschaft  (China)  21h 
Kommune  (Frankreich)  . . . 524 


Kommunistische  Gesellschaften  4h2 
Kongregationen,  s.  Jesuiten  und 
Römisch  . . . 

Konkordisten  (Deutschland)  . 511 
Konsistoriale  (Italien)  . . . 54S 
Konstitutioneller  Bund  (Frank- 


reich)   3h2 

Kosmopoliten  .(Italien)  . . . 545 
Krata  Rcpoa  (Ägypten)  . . 4ü 

Ku-klux-klan  (Amerika)  . . . 1 52 

Kunstbrüder  (Italien)  . . . 545 

Kumaische  Mysterien  . . . 493 

L 

Landesverteidiger  (Italien)  . . 545 
Landliga  (Irland)  .....  559 

Latiner  (Italien) 559 

Laxe  Observanz 452 

Leoparden,  menschliche  (Afrika)  49h 

Liebeshöfe 119 

Liebhaber  des  Vergnügens 

(Spanien) 453 

Literarisch  - wissenschaftlicher 
Verein,  s.  Tugendbund. 
Literaten,  italienische  . . . 559 
Ludlamshöhle  (Österreich) . . 495 
Luziferianer 141 

M. 

Mährische  Brüder  . . . . 456 
Mafia  (Italien)  217-220;  Nachtrag. 
Magier  (Persien)  . TT  . . 12 

Magierorden 494 

Maharadschas  (Indien)  . . . 494 


Mala  Vita  (Italien)  . . . . 21h 
Malteserritter,  s.  Johanniter. 

Mamma  Dschambo  (Afrika)  . 49S 

Manharter  (Tirol) 594 

Manichäer,  Manichäismus  . . 74, 
120,  128.  419 
Mano  Fratema  (Italien) . . . 219 
Mano  Negra  (Spanien)  . . . 494 
MariaTheresienritter  ( Frankreich)  494 

Maroniten 409 

Marssöhne  (Italien)  ....  545 
Martinisten,  Martinismus  170; 

Nachtrag. 

Maurerstochter  (Amerika  . . 455 
Mazzini-Barbiere  (Italien)  . . 3h5 
Melanesische  Gesellschaften  . 495 

Memphisritus 424 

Menschenrechte  (Frankreich)  . 5122 
Menschliche  Leoparden  (Afrika)  49li 

Messalianer 119 

Mexikanische  Mysterien  54 ; 

Nachtrag. 

Miguelisten  (Portugal)  . . . 501 
Militärische  Orden  . . 120- 121 

Minas  (Indien) 492 

Mineros  (Spanien)  ...  254 
Misraimritus  ....  398,  422 
Mithras-Anbeter  ....  23,  112 

Mittelpunkte 559 

Moderne  Druiden  ....  492 

„ Tempelritter  (Polen)  559 

S”"  e (Deutschland)  . . ■ 451 
Maguires  (Amerika)  354,  555 
Moselklub  (Deutschland)  . . 598 
Mucker  (Deutschland)  . . . 255 
Mumbo-Dschumbo  (Afrika)  . 495 

Mysterien 4-12 

ii  ägyptische  . . . 33  - 411 

„ alte 17-05 

„ chinesische  ...  51 

„ druidische  ....  59 

„ griechische  ...  40 

„ irokesische  . . . 499 

„ japanische  ....  55 

„ kumaische  . . . 495 

„ mexikanische  54; 

Nachtrag. 

„ peruanische  . . . 5S 

„ der  Quiches  ...  55 

„ der  Skandinavier  . 95 

„ der  Virginier  . . 491 

Mystiker 157  — ISS 

N. 

Nachtrag 

Nackte  Weise  (Gymnosophisten)  29 


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540 


Alphabetisches  Sachregister. 


Napoleonische  Gesellschaften  321 
Nationale  Freimaurerei  . . . 312 
Nationalliga  (Irland)  . . . 322 
Nationalloge  zu  den  drei  Welt- 
kugeln (Deutschland)  . 398, 
462.  -tos 

Nationalritter  (Italien)  . . . 321 
Neue  Französische  Liberale  . 3 üb 

Neue  Heilige 23 

Neue  Kirche  des  himmlischen 
Jerusalem  (auch  Neu- 


jerusalem)   1 60 

Neue  Reform  Frankreichs  . . 3oo 
Nichtwisser,  s.  Knownothings. 
Niederreifser  (Weifse  Bursche)  352 
Nihilisten,  Nihilismus  31S,  331 
Noachiten  (Noachiden, Archen- 
seefahrer)   US 

Norden,  der  (Rufsland)  . . üü 
Nuseirijeh  (Anis,  Ansairih)  . 122 


0. 

Obeahgesellschaft  (Egbo)  . . -ISO 
Oblonika  (Italien)  ....  212 
Observanz,  laxe  . . . 397,  132 
„ strikte  ....  132 

Odd  Fellows 12S 

Öffentliche  Wohlfahrt,  Bund 

für  die  (Rufsland)  . . 3M 
O-ki-pa  (Amerika)  ....  122 

Omladina 321 

Ophiten M 

Orangisten  (Irland)  ....  332 
Orchidee,  goldne  (China)  . . 212 
Ordnung  und  Fortschritt 

(Frankreich)  ....  307 
Orient,  Rat  der  Ritter  vom  . 430 
Orphischer  Bund 32 


P. 

Palladium  der  Damen  (Frank- 


reich!   431 

Pantheisten,  die 122 

Patarini  (Patari)  ...  77,  141 


Patricksbursche,  St.  (Irland)  . 332 
Patrioten,  europäische  (Italien!  512 
„ vereinigte(Frankreich)  325 
Patriotische  Gesellschaft  ( Polen)  3S2 
„ Reformer  (Italien)  312 
Patriotischer  Orden  der  Söhne 

Amerikas SM 

Pednosophen 3os 

Pe-lin  Kiao  (China)  . . . . 271 
Penel  opes  Gefährti  nnen  ( Frank- 
reich)   131 

Pepuzianer Sl) 


Peruanische  Mysterien  ...  SS 
Phansigars,  s.  Thugs. 

Phi  - Beta  - Kappa -Gesellschaft 

(Amerika) 5M 

Philadelphier  (Abruzzen)  . . 312 
„ (Besamjon)  . . 321 
„ (Engelsbrüder)  . 125 
„ ( Swedenborgsche)  IM 

Philaletiker  (Wahrheitssucher)  122 
PhilosophischerSchottenritusl  09,398 


Phintiasritter S2J 

Pilger  (Frankreich)  ....  S21 
„ weifse  (Italien)  . . . 312 
Platonika  (Italien)  ....  3M 


Politische  Geheimgescllschaften 

2b9  — 386 

Polnische  Gesellschaften  379  3S1, 
401,  IM 

Portugiesische  Gesellschaften  459, 
465,  S21 


Prinz  von  Rose-Croix  . . . — 112 
Provinzen,  die  (Frankreich)  . 322 
Purrah  (Afrika) 501 


Q- 

Quarmatiten 90 

Quatuor  Coronati 121 

Quiches-Mysterien  ....  iS 

R. 

Rächer  (Vendicatori)  . . . 513 
Rasengesellschaft  (Italien)  . . S2 2 
Ratsherren,  verrückte  (Deutsch- 
land)   513 

Rebekkaiten  (Wales)  ....  503 
Rechtsbursche  (Irland)  . . . 332 
Reformiter  Ritus  (Rektifiziertes 

System) 32S 

Regenbogenloge  (Frankreich)  132 
Revolutionärer  Klub  (Italien)  321 
Rifadscheh-Derwisehe  ...  112 
Ritterder  Königin  von  Preufsen  310. 

311 

„ vom  Orient  ....  132 

„ und  Damen  der  Freude  131 
„ „ Ketzer  . . . 113- 129 

„ „ Nymphen  von  der 

Rose  (Frankreich)  . . 133 
Ritterorden,  der  (Deutschland)  323 
„ deutscher  . . . 120 
Rittertum  ......  120- 129 

Römisch  - katholische  Aposto- 
lische Kongregation  . 31S 
Roschenia 103,  122 


r 


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Alphabetisches  Sachregister. 


541 


Rose-Croix,  Prinz  von  . . . 419 

Rosenkreuzer LU 

Rosenorden  (Deutschland)  . . 454 
Rotes  Kreuz  von  Konstantin 

und  Rom 412 

Rote  vom  Berge  (Frankreich)  IM 
Rothäute  (Amerika)  ....  504 
Royal-Arch-Maurerei  . . 411 

Royal  York  zur  Freundschaft 

(Deutschland)  . . 462.  4M 
Russische  Geheimbünde  121  - 
235,  318  — 338,  382-3S4, 

457,  4 50-  400 

„ Ritter  . . . 3S3,  411 

S. 

Sabazische  Mysterien  ...  42 

Salpeterer  (Deutschland)  . . 524 

Sam-tian-üesellschaft,  s.  Ghi- 
hin-Bund. 

Sanfedisten  (Italien)  . . 348-  350 
Schnur-Anäher  (Irland;  . . 344 

Schön  herrsche  Theosophen 

(Deutschland)  . . . 2 33 

Schottenritus,  alter  und  ange- 
nommener 398,  428,  430,  457 
Schottenritus,  philosophischer  169. 


3QX 

Schottinenkapitel  von  Frank- 
reich, souveränes  . . 412 
Schrödersches  System  398.  462,  4M 
Schulgesellschaft  (Frankreich)  . 332 
Schwarze  Hand,  s.  Mano  Negra. 

» Nadel  (Frankreich)  . 363 
Schwarzflaggen  (China)  . . . 221 
Schwarzfiifse  (Irland)  ....  114 
Schwarze  Ritter  (Deutschland) 

311,  342 

Schwarzer  Orden  (Deutschland)  309 
Schwedischer  Maurer-Ritus  . . 321 
Schweizer  Gesellschaften  117,  460 
465,  514 

Selvaggi  (Wilde) 364 

Senfkornorden 4 46 

Sensenmänner  (Polen)  . . . 122 
Septembristen  (Portugal)  . . 501 
Shanavests  (Irland)  ....  114 

Sicarii  (Mörder) 364 

Sicherheitsbund  (Rufsland) . . 382 
Sich-Fanatiker  (Sikhs)  . . . 5ü5 
Silberkreisritter  (Amerika)  . . 523 
Skandinavische  Mysterien  . . 63 

Skopzen  (Ru Island)  . . . . 22.S 
Slawische  Gesellschaften  . . 323 
Söhne  Amerikas,  Patriotischer 

Orden  der 522 


Söhne  der  Witwe  (Manichäer)  24 
120.  413 

Söhne  des  Heiligen  Georg  (Ir- 
land)   154 

Söhne  des  Todes  (Italien)  . . 335 
Sonderbare  Gesellen  ....  4»7 

Sonnenritter 363,  413 

Sophisierorden 532 

Spanische  Geheimbünde  140-152, 
273  281,453.450,459,404,494  49.4 

Stahlherzen  (Irland)  . . . . 34 1 
Stern  von  Bethlehem.  . . . .407 
Stierkopfgesellschaft  (Frankreich)  121 
St.  Patricksbursche  (Irland)  . 152 

Strahlen  (Italien) 132 

Strikte  Observanz  . . . 397,  412 
Strolche,  Bettler,  Diebe  . . . 221 
Studenten,  deutsche  ....  222 

Sufismus 423 

Swedenborg,  F.manuel  . . . 165 
„ -Ritus  . . 169,  331 

T. 


Tabakologische  Gesellschaft  . 50S 
Tagesanbruchbursche  (Irland) . 351 
Tempeldamenbund  ....  423 
Tenipelherrenklerikat  . . 389,  124 
Tempelritter,  moderne  (Polen)  122 
Templerorden  (Tempelherren) 

120,  122 

Teppa-Gesellschaft  (Italien)  . 509 
Terroristen,  die  (Italien).  . . 135 

Teufelsanbeter 112 

Theoretische  Brüder  . . . . iss 

Theosophen,  erleuchtete.  . 1 69 

„ Schönherrsche  . 236 
Theosophie,  moderne  . . . .511 

Therapeutiker S1 

Th’ien-Hau-Hoi’h  (China)  . . 2U 
Thugs,  Thags,  Thagismus(l  ndien ) 1 91 
Tibetanische  Religion  ...  54 

Tiroler  Geheimbund  ....  332 
Todesgesellschaft  (Italien)  . . 135 
Totschläger  (Ammazzatori) . . 3o5 
Travaillcurs  egalitaires  . . . 333 

Treue  Polen 122 

Trinitarier  (Italien)  s.  Calderari 
Trinosophisten  (Frankreich)  . 439 

Troubadours 78,  112 

Tsing-lien-kiao  (China)  ...  221 
Tugendbund  (Deutschland)  . 122 

U. 

Unabhängige  (Italien)  . . . 141 


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5-12 


Alphabetisches  Sachregister. 


Unabhängiger  Orden  der  Rot- 
häute (Amerika)  . . . 5(14 
Unbedingte  (Deutschland)  . . 511 

Union,  deutsche 2io 

Union,  heilige  (Italien)  . . . IM 
Unionisten  (Deutschland)  . . 5ü9 

Unitä  Italiana 565 

llnterirdisches  Prag  ....  5S2 
Unüberwindliche,  irische  . . 159 
Utopia,  s.  Allschlaraffia 

V. 

Valentinianer SD 

Vehine,  s.  Feme  (Fehme) 
Vendicatori  (Italien)  . . . . 515 
Verbündete,  italienische,  s.  Pla- 
tonika 

Vereinigte  Freunde  (Frankreich)  IM 
„ Irländer 151 


„ Patrioten  (Frankreich)  465 

„ Slawen  (Rufsland)  . 1X1 

Verlorener  Sohn  (Frankreich , . 25b 
Verrückte  Ratsherren  (Deutsch- 
land)   511 

Verteidiger  (Irland)  . ...  151 
Volksfreunde  (Frankreich)  . . 5i>7 
Vollkommenheitsritus  . . . lux 

W. 

Wahabis  (Indien) ili  j 


Wahrheitsfreunde  (Frankreich) 
Wahrheitssucher  (Frankreich)  . IM 
Waldenser  ......  117,  LU 

Weisheitsloge  (Ägypten)  . . 42b 
Weifsc  Bursche  (Niederreifser.  450 
Weifse  Lilie  (China'.  . . 271,  275 
Weifse  Pilger  (Italien)  . . . IM 
Weifsfiifse  (Irland)  ....  Ml 

Wölfischer  Ritterorden  (Italien)  IIS 
Weltkugeln,  drei  (National löge)  Mi 
462.  4bs 

Welu  (Melanesien) MS 

Wiedergeburt,  allgemeine(Frank- 

reich) 465 

Wietiergeburt,  allgem.  (Schweiz)  511 

Wilde  (Selvaggi) 164 

Witwe,  Söhne  der,  s.  Manichäer 
Wohlthätigkeitsritter  ....  445 
Wunder  bare  Vereinigung(China)  211 

Y. 

Yorkritus 1S9 

Z. 

Zerstörungsengel  (Spanien)  . • 2Sü 
Zinzendorfscher  Ritus  . 5S9,  4 44 

Zohariten 21 

Zoroastrismus 1 1 

Zweigeschlechtige  Maurerei 

44S.  449  — 456 


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5dti5cfgc 


neu««  aus  bem  Dcrlagc  ber  Kenaeriiben 

BiitbbünMung,  (Sebbarbt  unb  IDilifd;  in  Ccip3ig 


Dr.  2!lar  Uamtcr, 


©a*i  fcaii3ä|lfdjc  tEljcntcr  ber  (ß  egentu  art. 

VII!  unb  199  3.  in  feinfter  3u«ftattuno.  preis  brefrfj.  4 2U.,  «letj.  Qtb.  S .'II. 

«uf  ®rimb  oon  '.Bcobadjtungcn,  bic  itt  ifSarib,  aljo  oor  beni  ciflciit- 
lidjen  fforum  bev  fran.fßfijdicn  'Tramatif,  getoonnen  mürben,  frijilbert  ber 
Sterfaffer  bab  franaöfijrfjc  Sdjaufpielrcpcrtoivc  bev  granjofen,  beffen  t)cr- 
»orrogeiibfte  Erflcugniffc,  ferner  bic  groücii  Srtjaufpiclbirfjter  bev  neueren 
geit,  unb  frf)iicfi(id)  bic  [erteil  ffianblungcn  innerhalb  ber  iungbvamatiftf)cu 
Sdpdc  ffraufrcirf)S.  ffllit  Harem  ÜbcrjdiauungäocrtnOgcn  *cigt  Dr.  Banner 
überall  bie  gufatnmenljäuge  üroijdjen  Biil)ne  unb  Seben,  meift  er  bie  Cuetlen 
narb,  aus  betten  fid)  bieje  ober  jene  flfirfjtuttg  cntroicfcln  tonnte.  ?lud)  einige 
'firoben  aub  befonberb  midjtigcn  Xramen  fiitb  beigegeben,  baneben  geiftoollc 
Berglcitfjc  jmiidjeu  ben  Stoffgebieten  ber  franftöfifafen  Xramatit  unb  ber» 
■jenigen  aubercr  Bölfer,  namentlid)  ber  bcntfdjcn,  gezogen.  Dr  Banner  ift 
oolltonuncn  SWeifter  beb  oon  if)tii  bargeftcUten  Etcgcitftaiibc«,  mit  frei  n gef  ii  1)1 
unb  mol)lgefd;ulter  Mvitif  tuetfi  er  and)  bent  ünicit  bie  oerfdficbcncn  Ent- 
roirflungbftufen  beb  Iramab  unferer  'Jiadjbarn  tiar  ju  ntadjen. 

Dr.  ijans  yartlj. 

Unter  fiUIirfjcm  Fimmel. 

Uilber  aus  bem  (Orient  unb  aus  Italien. 

CtnMlt:  Orient:  Srnprna  — Cin  fleinaftatifc&c*  Dorf  — Sijra  — ®on  'Ätijeii 

nad)  bfm  iidopomtf*  — Xie  Srnprniotirincn  — Sltbfner  ütübcvboßcn  — SHerftubieu  im  Orient.  — 
51n#  Italic« : ^tojaifdie«  au«  Morn  — ^ic  fticra  oon  Wrotta  ^errata  — Tic  OJräfui  Mirafiori  — 
fiUerfeden  in  :Mom  — Tie  Familie  3iomafo  — 11  ProfeABore  — La  fesiA  d«*l  »anto  — ^Jur 
Wcfdjtdjte  be$  rbmifdjcn  Rarncoal«  — Mafia  unb  Camorra  — ?(u*  ber  ftrpubUt  San  Marino 
— (Sin  Seebab  an  ber  Äbria  — sJlu4  ben  Annalen  bet  päpftli($cn  SHrmee. 

VIII  u.  218  6.  greift  brof cb.  2 Itt.,  eleg.  0«&-  3 ***• 

Ein  prädjtigeb  Budj,  roddjcb  jeber  SJefer  befriebigt  aub  ber  £>anb 
legen  roirb.  5)ab  'Jfeue  SB  i eit  er  Journal  äujfert  fid)  3-  ®-  barüber 
folgcnbcrmaficn:  ffrifd),  farbenooll,  attidjaulid)  unb  — toaljr!  $ab  finb 
bic  beiuorftcdjcnbftcn  Wertmale  biefeb  Budicö,  beffen  Sdiilbcriingcn  fid)  in 
Stoei  leile  gruppieren,  bereu  erfter  bem  Orient,  ber  arocite  italicnifrfjen 
guftfinbeit  gemibmet  erfdjeint.  Xer  Stevfaffer  madit  fiel)  in  ber  Einleitung 
über  bie  gcjürdjtetcn  IHmtbreifc»  unb  3d)iiell3ug0'Etl)iiogvapl)cn  luftig  unb 
er  jeigt  tfjnen  in  ber  ffolgc,  wie  man’«  ntadicn  muff.  ffreilidt  bat  man 
ein  paar  Äleinigtciten  nötig,  locitn  man  Südicr,  roic  bas  oovliegenbe, 
fdjreibcn  luitl : Wcnnuc,  buvd)  lang  jährige  Slutopfic  enoorbene  Kenntnis 
bon  Uattb  unb  Leuten,  eine  reidje  'Palette  unb  baS  Sluge  beb  iffoctcn. 

(Otto  ?3clircn6. 


£iafrtö.  — 


(Ein  altnorbifcbes  f}elöengeöid?t. 

250  3.  ßr.  8°.  £rd*  brofd?.  4 Jtl.,  (1(0.  $eb.  5 JIT. 


Otto  Sefjrcnb,  ber  beveitb  eine  oon  ber  Mvitif  anerfnnnte  poetijdjc  'Bear- 
beitung bev  Sage  Oon  Söielanb  bent  Stfmticb  gcbidjtct  bQt.  flieht  in  feinem 
Sigfrib  eine  eigenartige  larftelluug  ber  befannten  Sage  in  it)rer  altnorbijritcn 
Wcftalt,  fo  bnf)  mir  oon  betn  guten  Erfolge  and)  biefer  iid)tung  überzeugt  fntb. 
Seine  Spradjc  ift  ntarfig  unb  formgeioanbt,  feine  Xarftcliung  an(d)aulid) 
unb  runl)rf)aft  bidjtcrifd).  ©er  ifreube  an  beutfritev  Sage  bat  unb  fid) 
einen  littcrnrifd)cn  Wctuif)  bereiten  will,  betn  empfehlen  mir  „Sigfrib". 


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Dr.  2ticl?arö  21lat?rcnlj©l(j : 

^eneloit,  <£r5&lfdjaf  bon  Cnmbrai. 

(Ein  tebcnsbilii. 

1896.  VIII  unb  188  Seiten.  frei*  brcfd?.  4 211. 

Gin  frebenlbilb  be*  Crtbilcbof#  von  (Sambrai,  ba4  auf  ctngebenbem  Stubium  bcr  öerfe 
beifelbcn  unb  bcr  leitgenöffHchcn  vittcratur  beruht,  unb  um  fo  banfeniwerter  «ft,  al»  c«  an  einer 
jaxcfmäfcigen  Biographie  in  brutidjer  Sprache  bitber  noch  fehlt,  2ütr  baben  c»  hier  mit  einer 
objetttven,  auo  elfter  \>anb  gef&Öpften  x arftcUwng  ju  tbun,  bic  auch  bic  Schwächen  At*nelon* 
nicht  ocrfdjwcigt , aber  Doch  al»  Cnbcrgebnt#  ein  Btlb  ictcbnct,  bem  ber  unbefangene  freier  feine 
Sympathie  nicht  verjagen  fann.  — 

Strang  ^riffpar^er. 

sein  Sehen  unb  Situiffcn.  Illit  portrat  unb  ^afftmile. 

18 JO.  prei»  brofdy.  4 Ml.  Jn  Qatbfranj  $eb.  ö 21?. 

Xer  Berfaffcr  legt  in  biclem  Buche  bem  Bublifum  eine  ^ubildumpfcbrift  vor,  me  lebt  feinem 
ihorfcberfleifc  tur  größten  (2b te  gereicht  unb  eine  wahrhafte,  verbienftoaUe  Bereicherung  ber 
biirftigen  WrtUparjer  vittcratur  bebrütet  fritterar.  SJlcrfur  XI.  5. 

Scanne  parc 

in  (Sefcbidite,  Scgenhc  unb  Dichtung. 

1890.  prel»  brofd?.  4 211.  3«t  l)albfraitj  geb.  5 21?. 

Cine  treffliche,  beachtenswerte  freiftuitg  ift  bie  Monographie  von  SR.,  ber  feine  Stubien 
über  bie  Jungfrau  von  Orleanl  noch  burct»  etngebenbe  Aorjcbungen  auf  ber  IJarifer  National« 
bfbliotbtf  vcrpoUftdnbigte.  Scharf  (cheibct  er  bic  gcrabr  hier  fo  üpptg  wucbmtbe  l'cgenbe  von 
ber  beglaubigten  (Hcfchicbtc  unb  giebt,  frei  van  polittlcber  unb  rcligidfer  Voreingenommenheit, 
eine  Xarfiellung  ber  Zbätigfctt  unb  wirtlichen  Bebeutung  Johanna«. 

Xbtolog.  ^abre«ber.  Bb.  X. 

3ean:3acqucö  lioitlTeau. 

Cebcu,  fßciftcscittroicfcluiig  unb  fynipttpcrfc.  IlTit  porträt. 

1889.  £rel#  brofd?.  4 21?.  3«  Qalbfranj  geb.  .»  21?. 

Xie  Arbeit  von  ®i.  ift  cine  iebr  vcrbtmfhtoHe.  Sie  fußt  auf  grünblichen  Äenntniffen 
unb  eigenen  CucUcnftubicit  in  nicht  geringem  Ilmfange.  Xü#  vorliegenbo  tferf  zeichnet  ftch  bann 
ganj  beionberf  bureb  unparteiliche  XarftcUung,  fcharfe  unb  lebcnbiae  Cbarafteriftif  au».  Xer 
elegante  Stil  macht  t*a*  BJerf  &u  einer  anprbenben  freftüre. 

Blätter  für  litterar.  Unterhaltung.  1890.  Sir.  18. 

prof.  Dr.  Unten  (Dljont, 

(«nmöjüflc  bcr  ücutfdicit  frittcratHVflcfrifidjtc. 

(Jm  fieitfaben  für  höhere  Schulen.  Xrittc,  vermehrte  Auflage. 

VI  unb  178  Seiten,  f>rei*  brofdj.  1 211.  40  f>f.,  in  cßanglcmcn  geh.  ? 2??.  80  fpf. 

Xa»  Buch  «fl  lein  tiotfcner  freitfaben  im  gewiV  n heben  Sinne  bei  Sorte#.  Wan  merft 
e»  ihm  überall  an,  baß  fein  Berfaffcr  au#  bem  Vollen  feböpft  unb  mit  ben  neueften  Aorftbungcn 
wobt  vertraut  ift.  Xaui  ntrgenb»  biirfttger  Stil,  tanbern  eine  Auibrucf  »weife,  bie  ben  poctifch 
beanlagten  Verfaffer  erfennen  läßt.  Xic  „tfkunbtüge"  reichen  bi»  ju  beit  Ke  tieften;  ein  ausführliche» 
ÜHcgifter  erleichtert  bie  ^mechtfinbung. 

Dr.  S.  211.  -picnt, 

.lttartiu  ißrcif. 

Perfuib  ;u  einer  (Sefdjidjte  feines  fchens  unb  Dichtens. 

5DJit  Porträt  unb  2 Abhebungen. 

2.  Auflage.  frei*  brofd?.  3 2t?.,  In  fyilbfeber  ach.  4 21t. 

trine  bingebertbe,  liebevolle  Arbeit  unb  ein  wertvoller  Beitrag  *ur  jeitgcnbfftfchrn  fritte* 
ratur.  Xa«  Breinfthe  Buch  bilbet  gleichseitig  eine  (frgdnjung  tu  ber  gegenwärtig  erfefcemenben 
Oefamt  Aufgabe  ber  (Hrciffchen  Alcrfe 


MF”  (3“  bejfetjcn  burd?  alle  UuchbanMuitgcn. 


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